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In 70.000 Jahren sind auf der Erde nur noch wenige Regionen bewohnbar – in abgedichteten Arealen, in Kuppelstädten. Längst ist die Wissenschaft zu einem Spiel der Computer geworden, die Technik läuft im Verborgenen ab. Der Held der Geschichte, Andres, genannt Ramses, wird als Bibliothekar im Dienste der Regierung eingesetzt und merkt, dass er damit in politische Machenschaften und Intrigen einbezogen ist, die ihn zu überfordern drohen. Daneben aber wird er auch auf andere Erscheinungen aufmerksam, in denen sich ein umwälzendes Ereignis andeutet, dessen Sinn und Auswirkungen ihm verschlossen bleiben. »Science-Fiction ist ein Musterbeispiel für ›kontrollierte Fantasie‹, also jene Art von kreativem Denken, das nicht in Phantasmagorien abgleitet, sondern – ohne deshalb weniger fantastisch anzumuten – den Zusammenhang mit der Wirklichkeit bewahrt.« (Herbert W. Franke in Polaris 6)
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Seitenzahl: 317
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Herbert W. Franke
SF-Werkausgabe
Herbert W. Franke
Band 20
hrsg. von Hans Esselborn
und Susanne Päch
Herbert W. Franke
ENDZEIT
Science-Fiction-Roman
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke
Band 20
hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Copyright © 2024 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
www.art-meets-science.io
Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de
Die Originalausgabe ist 1985 im Suhrkamp Verlag erschienen.
Titelbild: Thomas Franke
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
E-Book-Erstellung: global:epropaganda
Verlag
art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
c/o mce mediacomeurope GmbH
Bavariafilmplatz 3
82031 Grünwald
ISBN 978 3 911629 19 5
Noch hing die Sonne tief am Horizont, ein orangeroter Ball, der unbeweglich an einen flachen, gelben Himmel geheftet schien und doch stetig an Höhe gewann, aus dem dünnen Staubmeer auftauchte, das als trüber Schleier über der Senke lag. Von Minute zu Minute nahm der Druck der Hitze und des Lichtes zu, lastete auf den riesigen Flächen getrockneten Schlamms – durch Risse zu tellergroßen aufgewölbten Kacheln zerbrochen –, erzeugte dicht über dem Boden eine nahezu greifbar verdichtete Schicht aus aufgeheizter Luft, an der sich die Horizontlinie mehrfach spiegelte und dem Mann, der sich müde dahinschleppte, in der Reglosigkeit der Landschaft irritierende Wellenbewegung vortäuschte.
Unter seinen Füßen das knirschende Geräusch zerbröckelnder Lehmkonkretionen, hinter ihm eine Scherbenspur, von der Staub aufstieg wie Dampf und sich in einer träge schwankenden Wolke aufgewirbelter Teilchen verlor.
Von Zeit zu Zeit blieb Andres stehen, atmete tief, ohne Erholung zu finden, blinzelte in die flirrende Helligkeit, die durch seine Augen ins Gehirn zu dringen schien und es mit Schmerz überschwemmte, nestelte an der Tasche seiner Jacke und holte das Peilgerät heraus – das Letzte, was ihm geblieben war. Dort irgendwo hinter ihm, am Rande der Senke, hatte er seinen Traktor zurücklassen müssen und mit ihm die Ausrüstung, die letzten Vorräte an Lebensmitteln und Wasser. Am Rücken, auf einem Traggestell, trug er einen Wasserbehälter – eine leichte Last, denn nur noch ein geringer Rest warmer, schal schmeckender Flüssigkeit war übrig geblieben. Trotzdem konnte er nicht widerstehen, einige volle Züge davon zu trinken.
Das Wasser belebte ihn, aktivierte die letzten Spuren von Spannkraft, die sein Körper noch enthielt. Jetzt erst konnte er sich zu einer Messung aufraffen. Er zog den Reflektor aus dem Kästchen, entfächerte ihn, steckte das Verbindungskabel zur Recheneinheit ein und richtete die Parabolantenne gegen den Himmel. Er war zu müde, um eine genaue Peilung vorzunehmen, doch er wusste ungefähr, auf welcher Linie sich der Satellit bewegte, und ein kurzer Kontakt genügte, um das Signal einzufangen. Schon nach wenigen Sekunden kam das piepsende Geräusch; er konnte Richtung und Entfernung ablesen. Fünfundzwanzig Kilometer, auf plus/minus zehn Meter genau. Andres blickte seinen Weg zurück, verglich mit dem eingebauten Kompass: Die Richtung stimmte. Auch an der Entfernungsangabe bestand kein Zweifel, und doch hatten die auf der Flüssigkristallanzeige rot schimmernden Ziffern noch eine andere Bedeutung: dass das Ziel nahe war und doch wieder unfassbar weit.
Mit seinem Raupenfahrzeug wäre diese letzte Strecke Wegs eine Kleinigkeit gewesen, aber das Gefährt lag dort irgendwo hinter dem Horizont mit erschöpften Batterien, halb im Sand vergraben … Er musste sich auf sein Ziel konzentrieren, das dort irgendwo hinter einem Vorhang aus spiegelnder Luft und Staub liegen mochte. Er packte das Navigationsgerät zusammen, steckte es ein, machte sich träge wieder auf den Weg.
Die Sonne stieg höher, erbarmungslos regnete die Wärme herab, brachte Unruhe in das Staubmeer, setzte lokale Wirbel in Bewegung, die aus dem Nichts heraus zu entstehen schienen, seltsame rauschende und pfeifende Töne von sich gaben, gebündelte Energie, langsam dahinwandernd.
Andres ging unentwegt weiter, so müde er war, so spürte er doch noch genügend Kraft, um vorwärtszukommen. Er war die halbe Nacht hindurch gewandert, hatte gehofft, den größten Teil der Strecke noch während der Dunkelheit zurückzulegen, doch hatte ihn ein Netz tief eingekerbter Gräben aufgehalten, zu Umwegen gezwungen, auf der Suche nach Stellen, an denen er über die Rinnen hinwegspringen konnte, ohne Gefahr, an den brüchigen Rändern einzubrechen. Natürlich enthielten die Eintiefungen keine Spur von Feuchtigkeit mehr, das System der Rinnen mündete in der Senke aus gehärtetem Schlamm, auch dieser war trocken, von der Sonne zu Ziegeln gebrannt. Fünfhundert Meter unter dem Meeresspiegel – wie sich das anhörte! Aber das Meer war ausgetrocknet, das Wasser verdampft, zum Teil in den Weltraum hinaus: Verloren für immer.
Das Spiel der Luftspiegelungen wurde stärker, der alte Trug der Fata Morgana, erstaunlich realistisch das Bild weiter, wellendurchlaufener Wasserflächen, blau, farblos schwarz, darüber milde glitzernde Reflexe. So täuschend der Eindruck war, so gern er sich ihm überlassen hätte, so bemühte er sich, die Sinne wach zu halten, die Kontrolle über Gedanken und Gefühle. Er musste seine Aufmerksamkeit auf den Boden lenken, der nun holpriger wurde, da und dort größere Lehmplatten, deren aufragende Ränder Stufen bildeten, hin und wieder Fährten von Tieren, Pfoten, mit Krallen bewehrt, Schleifspuren zu Stein verfestigt, und dann stieß er auf ein Feld dahingebreiteter Knochen, keine ganzen Skelette mehr, doch wie von einem Präparator mit Sachkunde angeordnet, die Wirbel zu einer Kette gelegt, rechts und links aufgereihte Rippenbögen, daneben wieder klobige Röhrenknochen, gesäumt von kleineren, für den Laien nicht identifizierbaren Stücken, gekrümmte Krallen, noch immer gefährlich anzusehen, auf Raubtiere deutend. Und da und dort die Überreste von Köpfen, Schädeldach, Stirnbein, Kiefer, die hellweiß aus der fahlen Knochenmasse heraus schienen. Was waren das für Tiere? Andres wusste es nicht, obwohl er – um sich abzulenken – darüber nachdachte. Auf Reste von Fischen war er oft gestoßen, Schuppenkleider, die Strähnen von Flossen, doch hatte es offenbar – in der letzten Phase der Vertrocknung – auch noch Landtiere gegeben.
Andres musste wieder auf den Weg achten; obwohl er noch nicht weit gegangen war, vielleicht zwei oder drei Kilometer, sehnte er sich schon wieder nach einer Rast, die aber hier, inmitten des Glutkessels, sinnlos und gefährlich gewesen wäre. So hoffte er auf den Rand der Senke, an dem er zwar gewiss keine Schatten spendenden Gewächse erwarten durfte, aber vielleicht doch eine Felserhebung, die vor der direkten Sonneneinstrahlung schützte. Wahrscheinlich markierte das Knochenfeld die tiefste Stelle dieses letzten Meeresrests, damals ein sich immer weiter einengendes wasserbedecktes Areal, dann nur noch ein Sumpf, zuletzt nur noch ein feuchter Fleck inmitten einer sterbenden Landschaft, Zuflucht des in die Enge getriebenen Getiers. Er merkte, dass es wieder leicht bergauf ging, spähte in die Ferne, um das Anzeichen einer Küste zu finden, doch der flach streifende Blick fing lediglich das blaue Weben des erhitzten Luftmeeres ein, verfälschtes Abbild des Himmels.
Was hatten seinerzeit die Beduinen gesehen, als sie die Wüste durchquerten? – Oasen, Palmenhaine, Brunnen? In Wirklichkeit vielleicht nur ein paar vertrocknete Agaven, ein wenig verdörrtes Gebüsch, doch von der Luftspiegelung vergrößert, vervielfältigt. Andres erwartete keine Palmen, keine Oasen. Und doch blickte er gespannt, ja fast verzweifelt in die Ferne, versuchte, das flirrende Weben zu durchdringen … Irgendein Signal, ein Hinweis … Hinweis wofür? Er wusste es nicht. Alles, woran er sich halten konnte, war der eindeutige Schriftzug der Buchstaben und Ziffern, der Koordinaten: ein Ort einsam und versteckt, verlassen und leer, wie es eben nur in der Wüste der trockenliegenden Meere möglich war, von der Fläche her größer als alle alten Kontinente zusammengenommen. Manchmal stiegen aus den mattblauen Wellen Gebäude empor, metallisch schimmernde Dächer, flach abgesetzte Türme, dann wieder tauchten Gitterkonstruktionen auf, Plattformen, Schienenkonstruktionen einer Hochbahn, Röhrenschlangen, auf Masten gestützt … Und wenn er sich auch davor hütete, diese Dinge als Wahrheit zu nehmen, so flackerte doch immer wieder Erwartung auf, jäh aktivierte Spannung – die Hoffnung, endlich Antwort auf alle offenen Fragen zu bekommen! –, doch diese wie Blasen aufschwellenden Wünsche verschwanden ebenso schnell, wie sie gekommen waren – sobald die Phantomgebilde ins Zittern gerieten, im blauen Vorhang der Luft zerrannen …
Andres wanderte zwei Stunden, drei Stunden – die Sonne stand über ihm wie ein Fallbeil, zu dem er nicht aufzusehen wagte. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, nahm einige Schlucke Wasser, vergewisserte sich, dass er noch immer die Richtung hielt.
Gegen Mittag erreichte er den Hang der ehemaligen Küste. Er war so matt, dass es ihm kaum gelang, die von den letzten Wasserständen geschaffenen Stufen zu überwinden. Auf halber Höhe blieb er liegen, wälzte sich in eine schattige Einkehlung, war zu müde, zum Wasserbehälter zu greifen. Er schlief ein.
Sie hatten ihn gerufen, und er war gekommen.
Im Schleusenraum der Kuppel musste er längere Zeit warten – so lange dauerte die Überprüfung, die Sicherungen waren streng.
Als er ein paar Minuten zuvor durch einen ziehharmonikaartig ausgezogenen Gang direkt aus dem Container ins Kuppelinnere getreten war, hatte er einen letzten Blick auf die Stadt werfen können: die sich wie Berge erhebenden Wabenbauten der Wohngebiete, die er in den letzten fünfzehn Jahren nicht mehr verlassen hatte. In der anderen Richtung konnte er durch eine matt getönte Glaswand hindurch ins Innere der Kuppel sehen: die Gartenlandschaft, die inmitten von Grünflächen liegenden Freizeitbauten – Kaffeehäuser, Konzerthallen, Theater, mehrere Freilichtbühnen, dazwischen in Lauben eingebettete Tisch- und Stuhlreihen, die zum die ganze Stadt umfassenden Restaurations- und Versorgungssystem gehörten. Hinter dem Park die hochragenden Regierungsgebäude mit ihren abenteuerlichen Formen – jedes für sich zugleich das Denkmal des Architekten, der es entworfen hatte. Fast unscheinbar wirkte dagegen der historische Stadtkern, halb Fußgängerzone, halb Museum, der – soweit er nicht sowieso erhalten war – nach alten Plänen sorgfältig nachgebaut worden war.
Seinerzeit, während der obligatorischen fünf Jahre der Berufsausübung, hatte Andres hier gearbeitet – als Bibliothekar. Er hatte keine Ahnung, warum man ihn noch einmal einberufen hatte; eigentlich hatte er damit gerechnet, den Rest seines Lebens im Wohnzentrum zu verbringen, an die Versorgungsanlage angeschlossen, durch das medizinische System betreut, durch den Kommunikator mit sämtlichen Plätzen der Welt verbunden und somit freier Herr aller Entschlüsse. Er war sich nicht darüber im Klaren, ob ihm diese Unterbrechung willkommen war oder nicht. Auf der einen Seite hatte er seine Tätigkeit aufgeben müssen, die Beschäftigung mit babylonischer Keilschrift, die sein Hobby war, die Besichtigungsfahrten und Abenteuerprojektionen an der 3-D-Wand, sportliche Übungen am Universal-Motivator und Meditation im Schwarzen Trog. Seine Zeit war so ausgefüllt, dass er die freie Bewegung in der Kuppel, die er immerhin fünf Jahre lang erlebt hatte, kaum vermisste. Auf der anderen Seite … Im Gegensatz zu manchen seiner Kollegen hatte er nichts dagegen gehabt, sich für einige Zeit auch einer dynamischen Ordnung zu unterwerfen, einen Beitrag zu leisten für die sorglose Existenz, die der Menschheit dank uneingeschränkter Energiereserven gewährleistet war. Wenn man auch nie wissen konnte, ob man in Wirklichkeit nicht nur an einem Simulationsprogramm teilnahm – als Vorbereitung für die Übernahme echter Aufgaben –, so hatte er doch eine Art Genugtuung dabei empfunden, die eigene Leistungsfähigkeit zu erproben und eine nicht unerhebliche Belastbarkeit festzustellen. Dazu kam aber schließlich auch der Aufenthalt in den Kuppelräumen, die Möglichkeit des direkten Kontakts mit anderen, die ungehinderte Bewegung im überdachten Raum, die einen gewissen Ausgleich für die eingesetzte Mühe bildeten. Es sollte sogar einige geben, denen diese Art zu leben so wertvoll erschien, dass sie alle möglichen Tricks anwandten, um die Zeit der beruflichen Betätigung zu verlängern. Das gelang aber nur wenigen: jenen, die so wichtige Aufgaben zu erfüllen hatten – und sich dabei ungewöhnlich gut bewährten! –, dass man nicht auf sie verzichten konnte.
Ein Gongsignal riss ihn aus seinen Überlegungen. Ein grünes Lämpchen über der Tür zeigte an, dass die elektrische Sperre aufgehoben war. Er sah, dass draußen eine Droschke stand, zweisitzig mit Polsterlehne ohne Wand, jedoch durch einen weiß und blau gestreiften Baldachin überdacht. Er schützte vor unmittelbar einstrahlendem Licht, sei es von der Sonne, wenn sie an schönen Tagen durch das Kuppeldach schien, sei es durch die Nuklearleuchte an der Kuppelspitze, die in trüben Stunden freundliche Helle spendete. Rasch trat er durch die Sperre und setzte sich.
»Willkommen in Orlando 8! Ich bin DISY, das Dienstleistungssystem. Wir wünschen einen angenehmen Aufenthalt. Bitte lehnen Sie sich zurück, die Fahrt beginnt.« Die Stimme klang freundlich und warm, jedes Wort wurde betont gesprochen, längst war man davon abgekommen, kleine Fehler und Stockungen einzuprogrammieren, um nicht erkennen zu lassen, dass es eine synthetische Stimme war. Und niemand fühlte sich dadurch gestört.
»Wohin fahren wir?«, fragte Andres.
»Staatssekretär Adonis wird Sie empfangen. Die Herren erwarten Sie im Foyer, Trakt fünf. Bitte halten Sie sich fest.«
Nach der Luftlinie gemessen, musste sie nicht mehr als fünfhundert Meter zurücklegen, doch das Straßennetz nahm Rücksicht auf die Parkanlagen und führte in weit ausschweifenden Kurven hindurch. Die Droschke setzte sich in Bewegung, so sanft, dass die ausgesprochene Mahnung im Nachhinein geradezu lächerlich wirkte. Andres sank tief in die Polsterung und genoss den Anblick: ein schöner Tag, die Spazierwege belebt, ein Großteil der Stühle besetzt, da und dort das leise Rauschen der Ballonräder durch Musik übertönt. Die meisten Menschen schienen zu Fuß unterwegs zu sein, nur wenige Droschken kamen ihnen entgegen. Da Wege und Straßen getrennt angelegt waren, dazwischen farbenfrohe Blumenbeete, fiel Andres ein hochgewachsener magerer Mann mit langer blonder Mähne auf, der an einer Straßenkehre stand und ihnen entgegensah. Kurz blickten sie einander in die Augen, dann machte der Unbekannte ein paar rasche Schritte, fasste mit den Händen nach der Lehne und schwang sich mit einem Sprung hinauf. Einen Augenblick lang kämpfte er mit dem Gleichgewicht, dann ließ er sich neben Andres ins Polster sinken.
»Dort vorn nach links … Er soll abbiegen …«, sagte der Mann etwas atemlos. Und als Andres ihn erstaunt ansah, ohne zu reagieren, fügte er drängend hinzu: »Rasch, geben Sie den Befehl! Er ist auf Ihre Stimme fixiert.« Andres hatte kaum Zeit zu überlegen, sie waren der angekündigten Stelle schon nahe, und so gehorchte er unwillkürlich, gab Anweisung, im geforderten Sinn abzubiegen.
Der Unbekannte lehnte sich – befriedigt, wie es schien – zurück. Er kramte in den Taschen seiner Jacke, holte eine etwas zerdrückte Zigarre heraus und zündete sie umständlich an. »Keine Sorge, Sie erreichen schon noch Ihr Ziel. Wir machen nur eine kleine Rundfahrt, nicht mehr als fünf Minuten. Das fällt nicht auf. Übrigens – ich bin Cliff. Cliff Bernstein. Daran erkennen Sie meine künstlerischen Neigungen. Ich dirigiere alle klassischen Symphonien vor der Kamera, ein Erlebnis, sage ich Ihnen.«
»Was wünschen Sie von mir?« Erst jetzt kam Andres dazu, die naheliegende Frage zu stellen.
»Ach ja, verständlich, dass Sie die Art meiner Annäherung verwundert. Natürlich habe ich meine Gründe, auf diese Art Verbindung mit Ihnen aufzunehmen – dafür muss ich mich entschuldigen. Aber es geschieht zu Ihrem Besten. Was Sie hier sehen –«, er machte eine weit ausholende Bewegung mit der Hand, »täuscht eine längst verspielte Ruhe vor. In den letzten zehn Jahren – Sie müssen wissen, dass ich zu den Fortschrittlichen gehöre –, in den letzten zehn Jahren also haben sich Anzeichen dafür ergeben, dass die Periode des Friedens auf der Erde bald zu Ende ist. Es bedarf radikaler Änderungen, um den bevorstehenden Verfall aufzuhalten. Dagegen aber wehrt sich eine Gruppe von Konservativen, die ihre Privilegien um jeden Preis erhalten wollen …« Die letzten Worte hatte Cliff rascher gesprochen, nun unterbrach er sich und deutete auf den Fahrweg nach vorn. »Sollen wir noch eine Runde machen? Lieber nicht! Fahren Sie dort geradeaus, ich werde abspringen. Jedenfalls wollte ich Sie warnen: Man wird Sie in die Auseinandersetzungen einbeziehen, Sie haben eine entscheidende Rolle im Intrigenspiel. Nehmen Sie sich in Acht, ich melde mich wieder!« An der Biegung, wo die Droschke das Tempo verringerte, sprang er ab, winkte Andres kurz zu, lief ein paar Schritte über den Rasen und war schon zwischen den Bäumen verschwunden.
Der Wagen fuhr nun geradeaus, es gab nur noch wenige Wege rechts und links, und auf diesen sah man nur selten einen Menschen. Sie hatten das Regierungsgelände erreicht.
Andres war nicht gerade beunruhigt, doch der Genuss der Fahrt war ihm verleidet. Er dachte wieder darüber nach, warum man ihn gerufen haben könnte. Handelte es sich um eine Übung? Gehörte die Warnung des Unbekannten, der sich Cliff genannt hatte, dazu? In den letzten Jahren hatte er sich immer wieder in Abenteuerspiele eingeschaltet, war Detektiv, Trapper, Agent, Raumfahrer und vieles andere gewesen … Schien es nicht typisch für den Handlungsaufbau solcher Spiele, dass zu Anfang geheimnisvolle Zeichen auftraten, Andeutungen von Unheil, unerklärliche Geschehnisse, geheimnisvolle Personen? Das alles diente der Herausforderung, der Steigerung der Spannung, der Aktivierung der Kräfte, ob es nun ein Spiel war oder eine Prüfung. So war er über das Auftauchen des Unbekannten gar nicht so erstaunt, fast erschien es ihm selbstverständlich, eben von den immer wieder durchlebten Abenteuern her gewohnt. Nur wenn er voraussetzte, dass es sich hier ja unter Umständen auch um eine Realsituation handeln könnte, wäre Verwunderung am Platz gewesen. Doch er fragte sich, ob es überhaupt Kriterien gab, um Wirklichkeit und Täuschung auseinanderzuhalten. Geruhsam ließ er sich in die Polsterung sinken.
Wie schon angekündigt, erwarteten ihn einige Herren im Foyer des Innenministeriums. Der dunkelhäutige Mann mit den klassisch schönen Gesichtszügen, der auf ihn zu trat und ihn den anderen vorstellte, war Stig Adonis. Auf der Anrichte waren Gläser mit einer dicken gelben Flüssigkeit vorbereitet, offenbar ein alkoholisches Getränk, das Andres nicht kannte. Schon nach wenigen Minuten spürte er, dass ihn ein Schwindelgefühl erfasste. Er merkte, wie seine Konzentrationsfähigkeit nachließ, dass er Mühe hatte, sich die Namen des Empfangskomitees zu merken. Die Gesichter verschwammen vor seinen Augen, schienen alle gleich diffus und maskenhaft auszusehen, ihre Anzüge waren von neutralem Schwarz, selbst die einzige Frau, von der er sich nur den Namen Cordula merkte, hatte sich bei der Farbwahl ihrer Kleidung auf schwarz und weiß beschränkt. Dann stand er vor einem zur Fülle neigenden älteren Mann, merkte selbst, dass er bei einigen nichtssagenden Phrasen, die er mit ihm wechselte, ins Stottern kam und erfuhr erst nachher, dass es der Regierungschef Dolf Buckminster gewesen war. Dann fand er sich gemeinsam mit Adonis und Buckminster an einem niedrigen Tischchen in der Ecke des Raums, tief in Fauteuils versunken und meilenweit von den andern getrennt, irgendwo hinter ihm auch Cordula, die ihm gelegentlich etwas zuflüsterte, was er nicht verstand. Es schien sich um ein einführendes Gespräch zu handeln, um die Aufgaben, die er zu erfüllen hatte, um die Gründe, die seine Mitwirkung wünschenswert erscheinen ließen. Aber vielleicht sprachen sie auch nur über Theateraufführungen und Konzerte, über Gesellschaftstratsch und empfehlenswerte Restaurants. Andres hielt ein weiteres Glas mit dem gelben Getränk in der Hand, das ihm immer besser schmeckte und ihn zu erfrischen schien. Plötzlich war er ganz glücklich, fühlte sich schon einbezogen in diese Gemeinschaft, es schmeichelte ihm, dass er von der höchsten Führungsspitze der Weltregierung empfangen wurde.
»Ihr könnt euch auf mich verlassen«, sagte er, »ich werde mein Möglichstes tun, ohne Zweifel!« Cordula und Adonis hatten ihn untergehakt, sie führten ihn durch lange Gänge, ein paar Treppen hinauf und hinunter, hielten sich längere Zeit in einem dämmrig erleuchteten Raum auf, gingen dann wieder durch Gänge und über Treppen bergauf und bergab. Irgendwie verabschiedete er sich dann von ihnen, wobei er nur merkte, dass er nicht die richtigen Worte des Danks fand. Dann schloss sich die Tür hinter ihm, er lag auf einer Couch, umgeben von Rosarot, und schlief ein.
Als er erwachte, lagen die Lider so schwer über seinen Augen, dass er lange brauchte, um sie ein wenig heben zu können. Zuvor versuchte er, sich zu konzentrieren, sich des Erlebten zu entsinnen; dabei kam ihm immer wieder die milchig-gelbe Flüssigkeit in den Sinn, die er getrunken hatte – vermutlich Alkohol, der, wie er gemeint hatte, seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt wurde. Schon der Gedanke an dieses Getränk verursachte ihm Übelkeit, er merkte, dass er den Geschmack noch an der Zunge, zwischen den Zähnen, an den Lippen hatte und dass sich die Übelkeit bis zum Eklat verstärken musste, wenn es ihm nicht gelang, an etwas anderes zu denken. Fast gewaltsam riss er die Augenlider auf – und war wieder von jenem zuckersüßen Rosarot umgeben, an das er sich dunkel erinnerte. Erschöpft machte er die Augen zu und schlief erneut ein.
Als er wieder aufwachte, fühlte er sich besser, sein Kopf schmerzte nur noch schwach, dafür hatte er brennenden Durst. Er setzte sich auf, blickte umher: Der Raum, in dem er sich befand, war in cremigen Farben gehalten, vor allem das auffällige Rosarot, dazwischen viel Weiß und ein wenig Gold. Die Couch rosafarben, ebenso die Bespannung der Stühle, die Tischdecke, der Teppich, die Vorhänge, die Wand. Dazu kamen weiß lackierte Möbel mit goldenen Leisten und Schlössern, auf gedrechselte Beine gesetzt – Schränke, mehrere Tischchen mit Glaseinsätzen, ein Klavier in Flügelform, ein dreifacher Spiegel, an dem goldgefärbte Blumensträuße, Kränze, Kiefernzapfen und Ähnliches hingen oder steckten. Er stand auf und versank bis zu den Knöcheln in einem rosafarbenen Teppich aus synthetischem Lamafell, die Haare struppig und doch weich, eine Art Rasen, in dem man baden konnte, schwimmen, sich rundum wälzen …
Da der Raum keine Wasserleitung enthielt, wollte er sich nach Nebenräumen umsehen, wohin einige Türen zu führen schienen, doch erwiesen sie sich alle als versperrt. Einige Zeit hindurch versuchte er vergeblich, den Verschlussmechanismus zu finden, doch reagierten sie weder auf Druck noch auf ein gesprochenes Wort. Es musste doch in diesem Raum, so altertümlich er auch eingerichtet war, einen Kommunikator geben! Er tastete die Wände ab, blickte hinter die Vorhänge, hinter die Möbel – nichts! Laut gab er einige Befehle, verlangte, dass die Türen geöffnet würden, dass man ihm Erfrischungsgetränke brächte, dass sich zumindest jemand melden sollte … Auch diese Versuche blieben vergeblich. Er wartete einige Zeit, überlegte, sein Durstgefühl wurde nahezu unerträglich. Er versuchte, das Fenster zu öffnen, was ihm aber nicht gelang – der Riegel ließ sich nicht bewegen, die mattundurchsichtigen Scheiben, durch die diffuses Licht einfiel, waren aus stahlhartem Kunstglas und hielten seinen Schlägen stand. Er wütete im Zimmer, riss Schranktüren und Läden auf, verstreute die herausquellenden Kleider und Kosmetikartikel über den Boden. Dann legte er sich wieder auf die Couch, verzweifelt, resignierend, dazwischen wieder angestrengt überlegend – ohne Ergebnis.
Aus seinem halben Dämmerzustand riss ihn ein abrupt einsetzendes Summen. Er setzte sich auf, lauschte. »He, Schlafmütze, bist du endlich wach!«
»Wer bist du? Hilf mir hier heraus, ich verdurste.« Andres’ Stimme war heiser, er hätte sie selbst nicht wiedererkannt.
»Oh! Dich hat es ja ganz schön erwischt. Warum öffnest du den Deckel nicht? Du kannst mich ja nicht sehen.«
Es musste ein Mädchen sein, das da sprach. Eine helle Stimme – vielleicht noch ein Kind, doch die Person, mit der er sich unterhielt, war Andres im Moment gleichgültig – ihm ging es darum herauszukommen, seinen Durst zu löschen.
»Welchen Deckel, zum Teufel!«
Ein helles Lachen war die Antwort. »Den vom Klavier natürlich, du Dummkopf!«
Andres lief zum Flügel, riss den Deckel hoch. Mit ihm gemeinsam hob sich ein holografischer Bildschirmrahmen aus der Versenkung, und von diesem lachte ihm, überlebensgroß, das Gesicht eines Mädchens entgegen. Andres sah jetzt, dass es kein Kind mehr war, wenn die Achtzehn- oder Zwanzigjährige, die ihm da entgegensah, auch noch manche kindliche Züge aufwies: eine glatte zimtfarbene Haut, ein hübsches, fröhliches Gesicht, ein angeschminktes Kussmündchen, eine kurze, nur eine Spur zu breite Nase und zu zwei kurzen Zöpfen geflochtenes schwarzes Haar.
»Ich bin Isa«, sagte sie. »Und du bist Andres – ich weiß.«
Einen Moment lang vergaß Andres seinen quälenden Durst, seine Neugier überwog. »Wer bist du? Was soll das alles?«
Isa lachte. »Ich muss jetzt Schluss machen. Vielleicht melde ich mich wieder einmal – du bist nett, Andres.«
»Halt!«, rief Andres. »Wo bin ich hier? Wie komm’ ich hier heraus?« Der Bildschirm wurde dunkel, doch die Stimme klang immer noch hell: »Du bist in Ossips Wohnung. Die Automatik ist jetzt eingeschaltet – die Türen sind offen. Lebe wohl!« Kurze Zeit noch der summende Ton, dann Stille.
Als Andres an die nächste Tür trat, öffnete sie sich von selbst. Vor ihm lag ein großes Zimmer, keinerlei Ähnlichkeit mit dem rosaroten Boudoir: der Arbeitsraum eines Mannes, schwerer Schreibtisch, Bücherschränke, Ledersofa, Vorhänge aus besticktem Samt. Der Kommunikator in einem Wandschrank eingebaut, hinter bunt gefasstem Glas, als gelte es, ihn zu verbergen. Was waren das für Leute, die hier gewohnt hatten? Sollte das jetzt seine Wohnung sein?
Andres ging ins rosarote Zimmer zurück, versuchte es mit einer anderen Tür – und hatte Glück. Er stand in einem Badezimmer, auch dieses in Rosa, Weiß und Gold, doch was ihn viel mehr interessierte, waren die Armaturen der Badewanne, der Brause, des Waschbeckens. Er nahm einen Becher vom Glasbord, drehte das Wasser auf und trank in tiefen Zügen.
Die Sonne hatte den Zenit überschritten, ihre sengenden Strahlen fielen in steilem Winkel von Westen ein. Allmählich drangen sie auch in die Nische, in der sich Andres verkrochen hatte, heizten sie auf wie einen Backofen. Er wälzte sich einige Male unruhig hin und her, dann wachte er auf. Er stellte fest, dass er um keine Spur munterer war als vor dem Beginn seiner Rast. Im Gegenteil: Er hatte das Gefühl, nur noch eine kraft- und willenlose Masse zu sein, der Hitze und der Trockenheit schutzlos ausgesetzt, dazu verurteilt, inmitten dieser riesigen Wüste, die einst ein Meer gewesen war, zu verdorren, zur Mumie zu werden, passend zu den anderen Spuren von erloschenem Leben, die doch nichts anderes bekundeten als dessen Vergänglichkeit. Hinter seinen Augen lag ein dumpfer Druck, die Helligkeit überschwemmte ihn wie eine brennende Flüssigkeit, rosarot – er konnte die Dinge ringsum nur durch einen Schleier erkennen, der alles unwirklich erscheinen ließ – vielleicht ein Hologramm, plastisch und doch nicht fassbar, die Projektion eines dreidimensionalen Bildes, die sich von einem Moment auf den anderen abschalten ließ und lediglich die leere Dämmerung einer Bühne zurückließ.
Andres hatte es schwer, in die Wirklichkeit zurückzufinden; und die Umstände waren nicht dazu angetan, ihm das leicht zu machen. Er hatte schwer geträumt, ohne sich an Einzelheiten erinnern zu können, und in seinem Traum hatten sich Gegenwart und Erinnerung vermischt. Plötzlich verspürte er quälenden Durst, und sein Verlangen nach Wasser war so stark, dass es seine Lähmung überwinden half; er tastete nach der Wasserflasche, berührte den heißen, weich gewordenen Kunststoffbehälter, der aber immer noch einen Rest schaler Flüssigkeit enthielt. Er nahm sich fest vor, nur einen Schluck zu trinken, und nahm dann einen zweiten und einen dritten, irgendetwas war stärker als sein Wille – er trank, bis sich kein Tropfen mehr heraussaugen ließ. Dann warf er die Flasche – wie es die Cowboys in den Filmen tun – in flachem Bogen hinter sich.
Und wieder spürte er die Wirkung der lebensspendenden Feuchte, die von seinem Gaumen aus, der Speiseröhre, dem Magen, in den Körper einsickerte, das dick gewordene Blut verdünnte, in Bewegung brachte. Er erhob sich auf die Knie, stemmte sich an der Felswand empor, stand dann schwankend, doch ohne sich zu stützen, da. Hinter ihm lag die Mulde, die er vorher durchquert hatte: jetzt ein See aus erhitzter Luft, die das Licht so stark brach, dass er nicht auf den Boden blicken konnte. Er wandte sich um, Richtung nach Osten, wo das Ziel lag, dem er nun schon sehr nahe sein musste. Er setzte seine Peilantennen in Funktion, überzeugte sich davon: Noch fünf oder sechs Kilometer, das müsste zu schaffen sein. Er überlegte kurz, ob er die Nacht abwarten sollte, das letzte Stück seines Wegs unter Sternenschein zurücklegen, während der Abendstunden, in denen es zwar nicht kühl wurde – die Hitze strahlte dann vom Boden aus in die Höhe, in den leeren Abgrund des Himmels hinaus –, die aber wenigstens von der Geißel der Sonne befreit waren, von der tödlichen Hitze, dem alles überflutenden Licht. Doch er verwarf diesen Gedanken – weil ihn die Wartezeit nur noch müder gemacht hätte, ausgedörrter, jetzt, da er kein Wasser mehr hatte. Er ließ das Traggestell und den Behälter liegen, nahm nur noch sein Peilgerät mit. Er setzte sich in Bewegung.
Es ging bergauf. Hier, an einer früheren Uferzone, musste sich das Leben relativ lang gehalten haben. Andres hatte Mühe, sich einen Weg durch vertrocknetes, aber immer noch mit scharfen Dornen versehenes Gestrüpp zu bahnen, da und dort lagen Baumstämme herum, die unter seinen Füßen nachgaben, zu einer pulvrigen Masse zerfielen. Bei einigen der gestürzten Baumriesen war das Astwerk noch erhalten, weiße Arme mit gespreizten Fingern, die nach dem Himmel griffen. Davon hingen Fäden wie Wolle herunter, vielleicht die Reste von Schlinggewächsen, Schmarotzer, die ihre Wirte nicht lang überlebt haben mochten.
Andres hatte das Gebüsch hinter sich gelassen, an seinen Kleidern klebten abgebrochene Zweige, dürre Blätter, Kletten und Dornen. Er machte sich nicht die Mühe, sie herunterzustreifen.
Es ging bergauf, die Reste der Pflanzen blieben unten zurück, der Hang war steil, die Stufen, aus geschichtetem Gestein gebildet, hoch. Endlich erreichte er den Kamm der Erhebung: Vor ihm ein Plateau, rechts und links von flachen Bergen gesäumt. Frühere Inseln? Sicher nicht, solange das Meer sein Bett noch erfüllt hatte, bevor der Mensch eine seiner letzten natürlichen Reserven, das Wasser, verlor und sich das Klima zu ändern begann. Wielang lag diese Zeit zurück? Sechzigtausend Jahre? Siebzigtausend? Die Senkung des Meeresspiegels hatte so langsam eingesetzt, dass niemand eine genaue Zeitangabe machen konnte. Von den Menschen, die in den Wohnsilos lebten, wäre auch keiner auf die Idee gekommen, danach zu fragen. Hier aber war das ganz anders: Hier war der Schauplatz des Geschehens. Leben, das aus dem Wasser gekommen war … Im Wasser hatte es seine letzte Zuflucht gefunden – einmal abgesehen vom Menschen, der außerhalb der Entwicklung stand. Und wenn das Wasser in den letzten Jahrtausenden auch nur noch eine dicke Salzbrühe gewesen war, so hatte es doch Tiere gegeben, die sich angepasst hatten, denen selbst hier noch ein ihnen gemäßer Lebensraum gegeben war.
Jetzt gab es hier kein Wasser mehr, nur die durch Kohlendioxid angereicherte Luft, in der die Stimmen hoch und quäkend klangen, wenn man sich nicht über Funk verständigte.
Wasser, das auf die Wärmezufuhr der Sonne reagiert hatte wie ein Schwamm, der alles in sich aufsaugt, ohne sich äußerlich zu verändern. Ein Puffer zwischen Luft und festem Boden, ein Reservoir, das im Sommer Kühle spendete, im Winter Wärme … Eine dichte Wolkendecke, Jahrtausende hindurch nahezu geschlossen, der Erdball in trübem Dämmerlicht versunken, und dann, ein langsamer, aber unumkehrbarer Prozess, ihre Auflösung bis auf kleine Reste schwefelgelber Schwaden. Jetzt, ohne das schützende Nass, brannte die Sonne auf den wehrlosen Planeten herab, heizte die Luft auf, und dort, wo einst tropisches Leben gediehen war, erstreckte sich eine endlose tief gelegene Wüste. Die erhitzte Luft stieg empor, mischte sich mit kühleren Schichten der Atmosphäre, bildete Wirbel, die wie geschlagene Reifen über das Land jagten, sich mit vielen anderen vereinigten: Sturmfronten, die über das Land rasten und alles niederwalzten. Sie rissen scharfe Sandteilchen hoch, trieben sie über den Boden, der an manchen Stellen schon glatt geschliffen war wie Eis, peitschten sie auf jeden Fels, der sich über die Oberfläche erhob und sich dem Sturm entgegenstellte. Andres sah die Spuren dieses gigantischen Sandstrahlgebläses, das sich von Zeit zu Zeit ohne sichtbare Ursache heraus einschaltete und wie eine zerstörerische Jagd über die Plateaus raste: Felstürme, gedreht und gewunden wie durch den Meißel eines Bildhauers, manche Figuren alten indianischen Totempfählen ähnlich, andere spitz zulaufende Türme, die an gefährliche, Angreifern aus der Luft entgegengerichtete utopische Waffen erinnerten. Doch die Windschliffe fanden sich – etwas unscheinbarer – auch am Boden, und Andres hatte Mühe, in der manchmal sanft geriffelten, manchmal auch kugelig durchhöhlten, aber immer glatten Bodenfläche Halt zu finden. Erst als er, etwa eine Stunde später, in tiefere Regionen kam, änderte sich das Bild: Durch eine linkerhand nach der Ferne zu ansteigende Felswand geschützt lag hier ein Tal, in dem sich der vom Wind vertragene Sand gefangen hatte, ein riesiges Feld von Rissen durchzogenen Felsbodens, auf dem – mit der hohen Seite dem Berg zugewandt – eine Unzahl kleinerer und größerer Dünen lagen.
Von einer flachen Erhebung am Rande des Dünenfelds herab suchte Andres den Horizont ab. Gab es irgendwo eine Stadt, eine Häusergruppe oder auch nur ein bescheidenes, einzelstehendes Gebäude, das darauf hindeutete, dass er das Ziel erreicht hatte? Weit und breit nicht der geringste Hinweis darauf.
Wieder holte Andres sein Peilgerät heraus, richtete den Reflektor gegen den Himmel. An der Richtigkeit der Angabe bestand kein Zweifel: Er war am Ziel. Er war an jenem Ort angekommen, an den sich alle Hoffnung geknüpft hatte: die Lösung aller Probleme, der Schlüssel zur Zukunft. Es waren die Koordinaten, die die Maschine ausgegeben hatte, das Ergebnis jahrhundertelanger Berechnungen, das Resultat von Kalkülen, so kompliziert, dass sie niemand mehr verstand, die Information, so wertvoll, dass Jahrtausende hindurch lethargische Menschen wieder zur Aktivität erwachten – bereit waren, ihr Leben einzusetzen, das eigene und jenes von anderen. Waren sie einem Phantom nachgejagt, hatte das Verständnis wirklich nicht gereicht? War die Interpretation falsch?
Wieder von Neuem anfangen?
Seine letzten Reserven waren erschöpft, er hatte alles gegeben, was er aufbringen konnte. Nun war er angekommen. Er ließ sich zu Boden sinken, Arme und Beine ausgestreckt, das Gesicht der Sonne zugewandt.
Sein Weg war zu Ende.
Andres hatte den Durst gelöscht, das Wasser kühl und geschmacklos, er hatte es in die Waschmuschel laufen lassen, sein Gesicht hineingetaucht. Nun saß er wieder im rosaroten Zimmer, das ihm gründlich missfiel. Warum war er hiergeblieben? – vielleicht aus einer gewissen Trägheit heraus, einem Beharrungsvermögen, das einen den Platz behalten lässt, den man einmal eingenommen hat.
Obwohl die Mikrofone des Kommunikators seine Stimme von jeder Stelle des Zimmers aufgenommen hätten, stellte er sich doch unwillkürlich vor den Bildschirm, der nun dunkel war bis auf ein blinkendes Licht: EINGESCHALTET UND AUFNAHMEBEREIT.
»Wo bin ich?« Er zögerte kurz, besann sich darauf, dass er auf diese unpräzise gestellte Frage wahrscheinlich eine unbrauchbare Antwort bekommen würde, die Raumnummer vielleicht oder auch bloß eine auf Tausendstel Bogensekunden genaue Angabe der geografischen Koordinaten. Darum setzte er eine zweite Frage hinzu: »Wem gehört diese Wohnung?«
»Es ist deine Wohnung«, antwortete die Automatenstimme sanft.
»Diese Einrichtung …« Andres fixierte einen Punkt an der Wand, die, obwohl weiß tapeziert, von einem rosaroten Abglanz überhaucht zu sein schien. »Wer hat früher hier gewohnt?«
»Die Wohnung gehörte Ossip 315, genannt Turandot.«
Andres ging einige Schritte zurück, ließ sich vorsichtig auf dem Sofa nieder und suchte doch unwillkürlich erschreckt nach Halt, als er tief in der weichen Fülle des Schaumstoffs einsank. »Wer ist Ossip? Wer war das Mädchen, mit dem ich vorhin sprach? Was habe ich hier zu tun?«
»Bist du mit der Lufttemperatur einverstanden? Soll ich das Licht etwas dämpfen? – der helle Schein scheint dich zu stören? Möchtest du Musik hören?«
»Ich möchte wissen, was meine Aufgabe ist.« Die Automatik blieb still, vielleicht bedeutete ihr die Frage ein schwieriges Problem, zu dem der Computer mehr Rechenzeit benötigte. Oder gab es administrative Schwierigkeiten? Andres setzte hinzu: »Ich bin Andres 822, genannt Ramses. Ich wurde hierher beordert, Einberufung zum Sonderdienst. Dazu keine weiteren Angaben. Ich möchte wissen, was ich hier zu tun habe.«
»Links von dir, die kleine Tür, führt zum Speiseraum. Du bist an das IB-System angeschlossen, hast freie Wahl der Kontaktpersonen und bist an keine Ausgangszeiten gebunden. Soll ich das Menü verabreichen?«
Hatte ihn der Computer nicht verstanden? Nützte es, Ungeduld oder Ärger zu zeigen? Andres erhob ein wenig die Stimme: »Ich habe eine Frage gestellt, ich bitte um Antwort!«
Wieder eine längere Pause. Dann antwortete die Stimme: »Hier spricht DISY, das Dienstleistungssystem. Ich habe den Auftrag, all deine persönlichen Wünsche zu erfüllen. Wünschst du ein Videospiel? Benötigst du einen Stimmungsspray? Vielleicht etwas Dämpfendes, Beruhigendes?« Andres blickte auf, das Licht auf dem Bildschirm blinkte stetig … War da eine Süffisanz im Ton gewesen? Erlaubte sich das System, ihn zu verspotten? Er war sich nicht sicher. »Meine Frage –«
»Deine Frage kann ich nicht beantworten. Meine Kompetenz beschränkt sich auf persönliche Dienstleistungen. Deine Frage liegt auf einer höheren Konkordanzebene. Ich bin weder befugt noch in der Lage, sie zu beantworten.«
»Und wer kann sie beantworten?«
»Auch diese Frage übersteigt meine Möglichkeiten. Ich bin DISY, das Dienstleistungssystem.«
Andres blieb einige Minuten tief ins Sofa vergraben sitzen, er hatte sich gut erholt, nur eine träge machende Müdigkeit saß ihm in den Gliedern, und er musste seinen Willen zusammennehmen, um sich aus seiner bequemen, doch die Bewegung hindernden Position zu befreien. Zerstreut machte er sich daran, die Wohnung zu untersuchen. Er ging in den Nebenraum mit den Möbeln aus nachgeahmter Eiche, der Kunststoff schwer und gediegen, teures Material. Er öffnete die Laden des Schreibtisches, die Türen der Schränke und Kästchen; er fand Schachteln mit noch verschlossenen, unbenutzten Mikrofilmpackungen, Stöße von Xerox-Farbpapier, mehrere Laser-Schreibgriffel und ein Tele-Steuergerät. In einem Wandschrank, hinter Bücherattrappen verborgen, stand eine Batterie von Flaschen. Er öffnete einige Verschlüsse, schnüffelte … verspürte die ekelhafte Ausdünstung von Alkohol.
Durch eine gepolsterte Tür kam Andres in einen weiteren Raum, der einen überraschenden Gegensatz zur düsteren Atmosphäre des Arbeitszimmers bildete. Das vorherrschende Material war Glas – an den Wänden standen Glasschränke, im Raum verteilt Vitrinen, und in der Raummitte, auf einem Podest mit Spiegelboden erhob sich eine große Glasfigur, der Torso einer nackten Frau. Rundherum waren mehrere aus weichem Plastikmaterial gefertigte Bänke verteilt, von denen man, zum Zentrum gewandt, die Statue betrachten konnte, nach der andern Richtung guten Ausblick auf die Vitrinen hatte, deren Inhalt durchaus bemerkenswert war: altmodische Puppen, Zinnfiguren, Modelle von Flugzeugen und Raketen, eine ganze Sammlung winziger Videospiele, eine Reihe der Größe nach geordneter Kaleidoskope und außerdem eine Menge von Dingen, deren Sinn nicht ohne Weiteres erkennbar war – beispielsweise Systeme aus Glasröhren, durch die – auf unerklärbare Weise bewegt – buntfarbene Kugeln rollten.
Auch ein Schlafzimmer gehörte zur Wohneinheit: ein riesiges, ovales, ein Stück in die Wand hineingebautes Bett, mit einer schwarzen Seidendecke bespannt, darum herum, auf einer eingelassenen Schiene beweglich, zwei niedrige Nachtschränkchen mit schalenförmiger Oberfläche, Muscheln nachempfunden. Die Wände mit Schränken verkleidet, ovale Spiegel in die Türen eingelassen, und auch die Decke eine riesige gewölbte Spiegelfläche, so geformt, dass sie im Zentrum – dem Bett – liegende Gegenstände vergrößert wiedergab. In den Schränken selbst Unmengen von kleinen Kissen, zusammengerollten Decken, Schlafanzügen und Morgenmänteln, ein ganzes Fach voll Flakons – belebende Essenzen, Parfüms, Massageöle, Salben, Behälter mit verschiedenfarbigen Pillen.
Da und dort lagen teuer und extravagant anmutende Kleidungsstücke verstreut, auf dem Bett, auf dem Teppich, auf dem Toilettentisch. Sie deuteten auf Luxus, ein verschwenderisches Leben – befremdlich für einen, der zwar gut versorgt, doch, auf die ihm zugestandenen Angebote angewiesen, immerhin beschränkt gelebt hatte. Keinerlei persönliche Gegenstände allerdings, nichts, was auf den Charakter, die Stellung der Personen schließen ließ, die hier gewohnt hatten.
Vom Eichenzimmer aus konnte man eine Diele erreichen, und von dieser wieder schien eine Tür nach außen zu führen; Andres hatte bisher davon abgesehen, sie zu benutzen, doch jetzt – obwohl er die wenigstens noch überblickbare Umgebung der Wohnung vermissen würde – entschloss er sich zu einem Streifzug durch das Gebäude – irgendwo würde sich jemand finden, der ihm Auskunft geben könnte.