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»Er zögerte nur kurz, dann atmete er tief ein. Er spürte, wie die Flüssigkeit die Nase hinaufstieg, durch die Luftröhre, die Lungen füllte. Hatte er Angst vor dem Gefühl des Erstickens?« Vorstoß in den Weltraum. Wird die Menschheit dieser Aufgabe gewachsen sein? Das »Institute for Advanced Education« ist eine Ausbildungsstätte besonderer Art. Mitten in der Wüste, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, soll hier die Elite von morgen geschult werden. Zu den Mitteln, die eingesetzt werden, gehören harter körperlicher Drill ebenso wie ein erbarmungsloses Überlebenstraining. Dazu kommen aber auch neue Methoden der Adaption: die moderne Simulationstechnik, der chirurgische Eingriff. Die Ausfallquote ist hoch, nur wenige sind den enormen Anforderungen gewachsen. Und so manch einer ist von der »Schule für Übermenschen« nicht mehr zurückgekehrt … Wo liegen die physischen und psychischen Grenzen des Menschen? Sind seine evolutionären Kapazitäten erschöpft, oder ist er einer Anpassung an jene besonderen Aufgaben fähig, die die lebensfeindlichen Räume der Tiefsee und des Weltraums mit sich bringen? Frankes »Schule für Übermenschen« ist eine Lektüre, die einen in den Bann schlägt und zum Nachdenken anregt.
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Seitenzahl: 332
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Herbert W. Franke
SF-Werkausgabe
Herbert W. Franke
Band 13
hrsg. Hans Esselborn & Susanne Päch
Herbert W. Franke
SCHULE FÜR ÜBERMENSCHEN
Science-Fiction-Roman
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke
Band 13
hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Copyright © 2024 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
www.art-meets-science.io
Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de
Die Originalausgabe ist 1980 im Suhrkamp Verlag erschienen.
Titelbild: Thomas Franke
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
E-Book-Erstellung: global:epropaganda
Verlag
art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
c/o mce mediacomeurope GmbH
Bavariafilmplatz 3
82031 Grünwald
ISBN 978 3 911629 12 6
DER MENSCH IST NICHTS!
SEIN WILLE IST ALLES!
AUSBILDUNG VON ASTRONAUTEN –
AQUANAUTEN – SPELÄONAUTEN …
Noch längst hat der Mensch sein biologisches Endstadium nicht erreicht. Seine Reserven an ungenutzten Fähigkeiten liegen brach. Es bedarf nur der richtigen Mittel, um sie zu aktivieren. Das IFAE-Institut bedient sich der modernsten wissenschaftlichen und technischen Methoden, um den Menschen auf die großen Aufgaben vorzubereiten, die die Tiefsee, die Region des Unterirdischen und der Weltraum von ihm fordern. Jedermann ist aufgerufen! Jedermann hat die Chance, über sich selbst hinauszuwachsen – jedermann kann zur Elite unserer technischen Welt von morgen gehören! Es ist gewiss nicht leicht, die eigene Trägheit zu überwinden, den Weg frei zu machen für einen Höhenflug, der die endgültige Lösung aus einer Umgebung des Mittelmaßes und der Beschränkung bedeutet. Lassen Sie sich von Spezialisten helfen und leiten! Vertrauen Sie sich unseren erfahrenen Ausbildern an, die neue Menschen aus Ihnen machen werden!
MENS SANA IN CORPORE SANO
Es wird Ihnen das einmalige Erlebnis zuteilwerden, die Steigerung Ihres Willens und Ihres Glaubens an sich selbst bewusst zu erleben. Nehmen Sie unsere Hilfe an – und wir öffnen Ihnen den Weg in einen Raum, in dem die Floskel »unmöglich!« keine Bedeutung mehr hat.
Anmeldungen werden nur aufgrund einer bestandenen Aufnahmeprüfung angenommen. Tauglichkeitsattest unseres Vertrauensarztes ist mitzubringen! Wenden Sie sich an die Landesbüros des IFAE-Instituts – Liste auf der Rückseite.
Preis für eine achtwöchige Ausbildung: 6.000 Dollar.
Auszug aus den Vertragsbedingungen siehe Rückseite
IFAE – Institute for Advanced Education
Der eingetragene Teilnehmer bestätigt durch seine Unterschrift, dass er die Haftung für seine geistige und körperliche Integrität selbst übernimmt. Das IFAE-Institut haftet nur für Schäden, die aus grob fahrlässigem Verhalten des Personals bzw. Versagen der eingesetzten Anlagen entstehen; der Nachweis eventuell eingetretener Pflichtverletzungen ist durch den Teilnehmer zu erbringen; Gerichtsstand Los Alamos. Anträge zur Erstattung von Körperschäden können nur berücksichtigt werden, wenn sie von unserem Vertrauensarzt gegengezeichnet sind. Das IFAE-Institut behält sich vor, Bewerber bzw. Teilnehmer, die sich als ungeeignet erweisen, ohne Rückerstattung des Beitragsgelds vom Lehrgang zu dispensieren. Jeder Teilnehmer hat eine Person zu benennen, die ihn im Fall eingeschränkten Handlungsvermögens rechtlich zu vertreten hat. Der Teilnehmer verpflichtet sich, über die Mittel und Methoden der ihm zuteilgewordenen Ausbildung strengstes Stillschweigen zu bewahren.
Das Schwebeboot wirbelte eine riesige gelbbraune Wolke auf – feiner Wüstensand, der nur langsam wieder zu Boden sank.
Zwei Stunden war Rod schon unterwegs – zwei Stunden in sengender Hitze, die trotz der tief hängenden Sonne unvermindert anhielt Rod hatte ein Tuch über Mund und Nase gebunden und eine Sonnenbrille aufgesetzt. Doch all das half wenig. Die Augen tränten, der Hals war trocken, in der Kehle spürte er kratzenden Sand.
Der Weg war durch rot bemalte Stangen gekennzeichnet, alle fünfhundert Meter eine. Stundenlang war es schnurgerade dahingegangen, doch nun setzten leichte Windungen ein. Die Wüste, bisher eben wie eine Tischplatte, wurde eine Spur abwechslungsreicher. Einige flache Hügel, da und dort eine Felsnase, die aus dem Sand hervorragte, gelegentlich sogar eine Gruppe Säulenkakteen … Das alles Anzeichen dafür, dass er sich seinem Ziel näherte.
Rod ließ das Gaspedal, das er bisher stetig durchgedrückt hatte, ein wenig zurückfedern. Der helle Heulton der Luftdüsen wurde zu einem tieferen Rauschen. Noch einige leichte Windungen, eine kaum merkliche Neigung des Wegs … dann setzte sich die eintönige Sandwüste wieder fort, ein Hitzemeer unbewegter Luft unter einem flachen, weißblauen Himmel. Weiter vorn aber, noch halb hinter dunklen Streifen von Luftspiegelungen verborgen, ein Metallzaun, einige Wachttürme, die grauen Rechtecke von Gebäuden. Rod hatte sein Ziel erreicht.
Nur an einer Stelle war das Maschengitter unterbrochen – eine Einfahrt, durch eine Schranke verschlossen, ein überdachter Verschlag für den Wachtposten. Rod parkte das Schwebeboot neben einigen anderen auf einer Abstellfläche, gekennzeichnet durch Ölflecken und herumliegenden Schrott.
Er trat an die Pforte und holte das magnetisch markierte Kennkärtchen heraus, das man ihm zugeschickt hatte. Der Mann in braungelb gefleckter Uniform steckte es in den Schlitz der Kontrollanlage und las die Anweisungen auf dem Sichtschirm. Dann winkte er: »In Ordnung! Im Büro melden!«
Rod nahm seinen Koffer auf und trat ein. Er wandte sich gegen das Zentrum des umfriedeten Geländes, dorthin, wo einige lang gestreckte zwei- oder dreistöckige Gebäude eine Art Hufeisen bildeten. Über dem Hof, den sie teilweise umschlossen, wehte eine Fahne mit dem Symbol der geballten Faust.
Unwillkürlich griff Rod an seine Brusttasche; dort hatte er den Prospekt verstaut, durch den er erstmals auf dieses Unternehmen aufmerksam geworden war … er – oder die anderen … er erinnerte sich nur dunkel … unwillkürlich pfiff er eine Melodie vor sich hin …: IFAE – Institute for Advanced Education. Jetzt funktionierte sein Gedächtnis wieder, er kannte den Inhalt auswendig:
DER MENSCH IST NICHTS!
SEIN WILLE IST ALLES!
Ausbildung von ASTRONAUTEN
AQUANAUTEN
SPELÄONAUTEN …
Das Gelände war genauso öd und trostlos wie die Wüste, die es umschloss. Kein Schatten, kaum Vegetation. Sandflächen, von Betonwegen durchzogen, da und dort größere, rau zementierte Flächen.
Rod näherte sich einer Gruppe von Männern, die alle dieselbe braun oder gelb gefleckte Uniform trugen. Ein paar saßen auf grob gezimmerten Bänken und starrten ins Leere. Andere standen herum, Colaflaschen oder Zigaretten in der Hand. Als sich Rod ihnen näherte, blickten sie nur kurz auf.
Ein wenig zögernd ging Rod den Hauptweg entlang. Durch seine zivile Kleidung und durch sein Köfferchen unterschied er sich von den anderen und war auf den ersten Blick als Neuankömmling erkennbar. Und wenn auch alle so taten, als nähmen sie von ihm keine Notiz, so merkte er doch, dass sie ihn aus den Augenwinkeln heraus beobachteten.
Rechts von Rod eine Hinderniswand, eine Reihe von Hürden, ein Graben. Links ein Bassin – vielleicht für Schwimmübungen –, doch es war nur halb mit schmutzig braunem, schlammigen Wasser gefüllt. In der trüben Brühe trieben Stofffetzen, Papier, eine Uniformmütze.
Am Beckenrand standen zwei Männer in den üblichen einfachen Uniformen und blickten Rod entgegen. Obwohl sie keine feindliche Haltung erkennen ließen, schien es ihm, als wollten sie ihm den Weg versperren. Knapp vor ihnen musste er stehen bleiben.
Es war eher ein Instinkt, der ihn warnte, als ein konkretes Anzeichen einer Gefahr. Er blickte sich um – auch in der Umgebung hatte sich nichts verändert. Rod hatte lediglich den Eindruck, dass sich einige der herumstehenden Männer ein wenig gedreht hatten – so, dass sie nun ihm zugewandt standen. Als sie sein Blick traf, wandten sie sich wie ertappt zur Seite.
Der eine der beiden am Becken, der Kleinere von ihnen, trat einen Schritt auf Rod zu: »Hallo, eben erst angekommen?«
Nun wandte sich auch der Zweite an Rod: »Blöde Frage, nicht wahr?« Er drehte sich zu seinem Kollegen um: »Mensch, Joe, das siehst du doch, dass der neu ist. Warum erst lange fragen?«
Der Kleinere kam noch ein wenig näher an Rod heran: »Hast du gehört, was er sagt? Meinst du, dass meine Frage blöde ist?« Rod stellte seinen Koffer behutsam ab, zog ein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn. »Aber nein, gar nicht«, antwortete er.
Der Größere stieß den Kleineren mit dem Ellenbogen an. »Ein netter Bursche, nicht? Ein friedlicher Mensch!« Er lächelte Rod betont freundlich an. »Das ist Joe 1, und ich bin Joe 2.« Auch Rod stellte sich vor. Dabei sah er sich verstohlen um, doch noch immer schien es, als nähme niemand von ihrem Gespräch Notiz; trotzdem kam es Rod vor, als wären einige der Leute unauffällig näher gekommen.
»Einen schönen Koffer hast du da«, sagte Joe 1. Er streckte die Hand aus und hob den Koffer auf. »Ziemlich schwer – was schleppst du da mit dir herum?«
Joe 2 boxte ihn leicht in die Seite. »Aber Joe, das geht dich doch nichts an!«
Joe 2 wandte sich wieder an Rod: »Nimm es ihm nicht übel! Er ist ein netter Bursche. Er will dir nur helfen: den Koffer tragen. Aber ich glaube, das werde lieber ich selbst besorgen.«
Joe 2 versuchte, Joe 1 den Koffer wegzunehmen. Joe 1 hielt ihn fest, und so zerrten sie hin und her. Stirnrunzelnd beobachtete Rod, dass sie sich dabei allmählich dem Beckenrand näherten. Plötzlich ließ Joe 1 den Griff los – gerade als ihn Joe 2 mit einer gespielt ungeschickten Bewegung zu fassen versuchte. Der Koffer wäre ins Becken gefallen, wenn Rod sich nicht blitzschnell gebückt und ihn an sich genommen hätte. Er hatte im Reflex gehandelt und fragte sich sofort, ob es ein Fehler gewesen war.
Wie auf einen Schlag standen die beiden still. Ihre Mienen hatten sich verändert – nun sahen sie unfreundlich und drohend aus.
»Was fällt dir ein –«, sagte Joe 1, »warum reißt du mir den Koffer aus der Hand? Wie leicht hätte er ins Wasser fallen können!« Joe 2 nickte bekräftigend. »Ich fürchte, das war nicht richtig, Rod. Du hast Joe gekränkt!«
Joe 1 trat hinter Rod, legte ihm den Unterarm über den Hals und versuchte, ihn mit einem Ruck hintenüberzuziehen. Er legte seine ganze Kraft in diese Aktion, und somit traf es ihn umso überraschender, als er überhaupt keinen Widerstand spürte – denn auch Rod hatte sich hintenüberfallen lassen. Beide stürzten in den Sand, doch Rod war sofort wieder auf den Beinen. Und als nun Joe 1 offen auf ihn losging, fasste er ihn links und rechts am Kragen, drehte sich um und schleuderte ihn mit einem Überwurf in den Schlamm des Beckens.
Erst jetzt kam Joe 2 dazu, seinem Freund zu helfen, doch Rod stand abwehrbereit da. Er konzentrierte sich voll auf den Gegner und bemerkte deshalb nicht, dass eine weitere Person nähergekommen war. Erst als Joe 2 zur Seite blickte und zögerte, sah er einen hochgewachsenen, bleichen Mann, der neben ihnen stand und sie streng ansah. Er trug eine braungelb gefleckte Uniform wie alle anderen, und nur an den goldenen Schulterstücken konnte man erkennen, dass er einen höheren Rang hatte. Umso auffälliger war eine Art Tornister, den er am Rücken geschnallt trug.
Plötzlich veränderte sich der Gesichtsausdruck von Joe 2. Er trat zurück, machte eine entschuldigende Handbewegung und grinste Rod an: »Das wirst du uns doch nicht übel nehmen, Kumpel! Es war bloß ein kleiner Spaß, den wir mit allen Neuen machen. Aber du hast dich fabelhaft aus der Affäre gezogen, wirklich gut!«
Der Mann, über dessen führende Position bei Rod kein Zweifel bestand, musterte ihn kurz durch seine dunkle Brille und sagte: »Zu gut, scheint mir.« Dann drehte er sich am Absatz um und ging mit betont aufrechter Haltung und steifen Schritten davon.
Heute wieder ein Neuer. Macht einen guten Eindruck. Ruhig, überlegend. Entschlusskräftig. Eigentlich erstaunlich, dass sie ihn an einem Kurs teilnehmen lassen. Überprüfen, ob die Angaben stimmen!
Draußen flimmert das Licht. Wüste – Wildnis aus Hitze und Sand. Vom Menschen unberührt. Es war richtig, dass wir hierhergezogen sind. Ein Camp am Rande der Stadt, am Abend gehen die Leute in die Diskotheken … unmöglich!
Der Sinn für das Echte … Wer hat heute noch Fantasie? Die Stadt, die Zivilisation … Gesetze, Vorschriften, Regeln. Technische Überwachung, Sicherheitsbestimmungen. Vom Bahnsteigrand zurücktreten! Die Baustelle nicht betreten! Das lähmende Netz der Sicherheit. Kein Grund zur Wachsamkeit. Schlaf. Die Lebensgeister ersticken …
Hier, die Wüste – freier Raum! Der Mensch in urwüchsiger Umgebung. Kraft, um sich durchzusetzen. Der Wille zu überleben.
Was für ein Unterschied zwischen dem Sammler und Jäger prähistorischer Zeit und dem Zivilisationsprodukt von heute! Differenz: einige Tausend Jahre. Nichts mehr von dem zu erkennen, das seinerzeit den Kampf ums Dasein bestehen half. Aber so rasch verkümmert das Ererbte nicht. Es tritt zurück, wird verdeckt, aber es bleibt lebendig. Man muss es wiedererwecken!
Die Hitze … ich habe niemand merken lassen, welche Schwierigkeiten sie mir bereitete. Diese Lähmung in den Gliedern, diese Kopfschmerzen. Doch ich habe Haltung bewahrt. Ich habe meine Schwäche überwunden. Heute … sie macht mir kaum noch etwas aus. Morgen Mittag werde ich wieder eine Stunde lang hinausgehen, in die Sonnenglut, und ich bin überzeugt davon, dass ich kaum noch Müdigkeit spüren werde, dass es mir Vergnügen bereiten wird – ein Spaziergang …
Der Mensch passt sich an. Diese wunderbare Fähigkeit, sich anzupassen. Kein Tier ist so anpassungsfähig wie der Mensch. Hitze, Kälte, Wüste, Urwald, Wasser, Eis … keine Hindernisse für die Sucher, die Eroberer … Einige Generationen – dann ist das Terrain annektiert. Neugier, Fernweh, Expansionsdrang … abstrakte Ziele, und doch so real! Stärker als die archaischen Triebe, die es zu überwinden gilt. Die immer wieder überwunden werden.
Anpassung – wie weit geht sie? Ein Wesen, für die Anpassung programmiert. Wo sind ihre Grenzen? Auf dem Festland? In den Höhen und Tiefen der Erde? Oder ist die Wandlungsfähigkeit unbegrenzt, Adaption an das völlig Fremde, an das Feindliche, Tödliche?
Der Mensch schickt sich an, die Fesseln zu sprengen, die ihm auferlegt wurden. Er besteigt die höchsten Gipfel, stößt in die Tiefen des Meeres hinab, bevölkert die Ödnis des ewigen Eises, dringt in die unterirdischen Labyrinthe der Höhlen ein. Und nun, der nächste Schritt der Entwicklung: der Vorstoß in den Weltraum! Ein gewaltiger Impuls! Ein ungeheures Ziel! Mobilisierung ungeahnter Reserven. Veränderung zu grundsätzlich Neuem!
Wird die Menschheit dieser Aufgabe gewachsen sein? Wenn ich sie beobachte, wenn ich sehe, wie schwer es ihnen fällt, sich an dieses bisschen Hitze und Sand anzupassen … Welche Überwindung es sie kostet, sich über die Hürden der Gewohnheit hinwegzusetzen! Es wird nicht leicht sein, den unterdrückten Willen zu aktivieren. Jahrhunderte voll Duckmäusertum und Untertanengeist! Auch das eine Art der Anpassung …
Ferne Himmelskörper, fremde Planeten … Eine Erwartung, eine Verheißung! Der Mensch soll nicht an dieser Aufgabe scheitern. Es ist unsere Pflicht, ihn darauf vorzubereiten. Die Müden, die Schwachen … Soll man Rücksicht auf sie nehmen? Strategie des geringsten Widerstandes – nein! Wir müssen uns an die Starken halten, an die Ungebrochenen! Was da am Wege liegen bleibt … was spielt es schon für eine Rolle?
Der Mond, der Mars, die Monde des Saturns … Ein Katzensprung ins Nichts! Fast noch daheim … Die überwältigende Leere, die faszinierende Einsamkeit … Kristalline Materie, unbekannte Gesteinsarten, ein fremdartiger Chemismus … Das alles eigentlich noch recht vertraut. Modellsituation auf der Erde: einige letzte Reservate der Wildnis – die Wüste Gobi, die Hochtäler der Anden, die innere Antarktis …
Was mag uns noch beschieden sein? Was wartet dort irgendwo oben, außen, auf den Zugriff des Menschen? Ist es vorstellbar, oder entzieht es sich allen unseren Erwartungen, unseren Ahnungen?
Sich auf das Unbegreifliche einzustellen … der Mensch bringt es zuwege. Die Fantasie – Wegbereiter eines Vorstoßes, der über alle Grenzen hinausgeht.
Wird sich unsere Vorstellung vom Fantastischen als stimmig erweisen? Oder steht uns eine Konfrontation bevor, die uns in die Abgründe des Undenkbaren, Unbegreifbaren führt?
Die zerrissenen Flächen ausgelaugter Gesteine, übereinandergetürmte Felsmassen, in den Himmel greifende Gipfel … Höhlensysteme in Kalk, in Eis, in Kristall – dreidimensionale Welt, ewige Dunkelheit, gefrorene Ewigkeit … Tiefsee, Wasser, flüssiges Methan, Leichtmetallschmelzen … Räume der Physik und Chemie, Aggregation nur bis zum Kristall – nichts weiter … oder Geburtsstätte seltsamer Lebewesen, Evolution des Andersartigen, Entstehung von Intelligenz, von Bewusstsein?
Bisher: isolierte Bereiche, Schauplätze von Prozessen, unabhängig voneinander, abgeschieden … Es wird der Mensch sein, der die Trennung aufhebt, der die Wände durchbricht. Ein ungeheures Geschehen, das sich damit einleitet …
Ein schwaches Wesen, Wasserstoff, Sauerstoff, Kohlenstoff, Stickstoff, etwas Schwefel und Phosphor, Magnesium und Eisen … Zellen, von verletzlichen Häuten umkleidet, Gewebe, in erschreckender Weise den schwächsten Einflüssen von außen unterworfen … Und doch, die Lösung des Geheimnisses – Adaption!
Haben wir es nötig, auf Naturerscheinungen zu warten? Tausende Generationen, Millionen von Jahren … Das Uhrwerk antreiben, die Zeiger vorstellen … Es gibt verschiedene Methoden. Kreuzung und Auslese, selektive Reproduktion verschollener Eigenschaften … viel zu langsam, nicht effektiv! Dadurch wird nur das Alte, Überholte, wiederbelebt nichts Neues, kein Fortschritt! Die modernen Mittel der Genetik? Neuzusammensetzung von Chromosomen, chemische Synthese der Erbinformation? Ein aussichtsreicher Weg – er wird der Schlüssel sein zum Weltraum. Der Mensch wird den nächsten Schritt der Evolution tun.
Wie wird er aussehen, der homo superior? Der Herrenmensch, der Kraftprotz, der Eierschädel? Nein! Lächerliche Vorstellungen, irregeleitete Fantasie! Der nächste Schritt der Evolution führt nicht zur Einheit, sondern zur Vielfalt. Der Kiemenmensch, der unter Wasser lebt; der Mensch mit Schuppenhaut, die harte Strahlung absorbiert; der Mensch mit Saugnapfgliedern, der sich die Wände hinaufbewegt; das Superhirn, direkt an den Manipulator angeschlossen … Tausend Erscheinungsbilder, doch ein einziges Wesen: homo superior.
Doch alles das braucht Zeit. Die Wissenschaft arbeitet zu langsam. Die Pioniere können nicht warten. Das Tor zum Weltraum hat sich geöffnet – diese Chance müssen wir nutzen.
Der Vorstoß wird uns nicht gleich in die fernsten Fernen führen. Erst der erste Schritt, dann der zweite … Selbst die Planeten unseres Sonnensystems bieten Anreiz genug, Gelegenheit, sich zu bewähren. Und selbst diese Gelegenheit: verschenkt! Keine Rücksicht auf gesundes Erbgut, keine Selektion! Bei Tieren eine Selbstverständlichkeit: Herauszüchtung wertvoller Eigenschaften, Unterdrückung des Schwachen, Kranken. Beim Menschen – chaotische Mischung der Gene, das Ergebnis: Degeneration. Dabei wäre es doch so einfach: gezielte Auswahl der Ehepartner für jene wenigen, Tüchtigen … für die anderen: Zeugungsverbot. Einige Generationen, und der Mensch hätte sich von den Unterlassungssünden seiner Ahnen erholt …
Das wäre erst der Anfang! Parthenogenese, Eingriff in die Erbsubstanz, und noch einiges mehr – die Wege sind vorgezeichnet, die Weichen gestellt.
Aber noch ist es nicht so weit. Noch müssen wir auf das naturgegebene Potenzial zurückgreifen, das in uns gespeichert liegt. Schulung, Training, Unterricht, psychologische Verstärkung – sukzessive Gewöhnung von Körper und Geist an die Aufgaben, die uns bevorstehen. Wir kennen sie noch nicht, aber sie werden Großes von uns fordern. Und wir werden Größe beweisen.
Rod hatte die Formalitäten erledigt, hatte sich einschreiben lassen, hatte Essenscoupons bekommen, war eingekleidet worden, und schließlich hatte man ihm einen Schlafplatz zugewiesen – eine einfache Bettstatt, auf einem Eisengestell montiert. Dazu gehörte die Hälfte eines Spinds.
Inzwischen war der Abend herangekommen, und Rod war froh, dass er erst morgen am Lehrgang teilnehmen musste. Denn er war müde von der Fahrt, und außerdem konnte es ihm nur recht sein, wenn er Gelegenheit hatte, sich ein wenig umzusehen.
Zunächst einmal suchte er die Kantine auf, denn inzwischen verspürte er einen gesunden Appetit.
Es war kaum möglich, an den langen Metalltischen Platz zu finden. Die meisten Plätze waren von jungen Männern in den gelbbraunen Uniformen besetzt, wie jetzt auch Rod eine trug. Da und dort auch eine Frau darunter. Offenbar handelte es sich dabei nicht um Lehrgangsteilnehmer, sondern um Angehörige des ständigen Personals. Zwar trugen sie keine Uniform, aber die zweckmäßige Kleidung, meist Jacken und Hosen aus grobem Stoff, wirkten genauso unpersönlich.
Rod trat an die Ausgabe. Er steckte einige Coupons in die Automaten und drückte die Tasten für ein Menü, das aus Trockenfleisch und Bohnen bestand, ein Stück Brot und ein Glas Mineralwasser. Er stellte Teller und Gläser auf ein Tablett und suchte sich einen Platz.
Das Essen war lauwarm und geschmacklos, doch das Mineralwasser schien gut gekühlt zu sein, denn das Glas besetzte sich innerhalb von kurzer Zeit mit Tautropfen. Als es Rod an den Mund setzte, prostete ihm ein Mann an der gegenüberliegenden Tischseite zu – ein riesiger, freundlich blickender Schwarzer.
»Lass dir’s schmecken, Kamerad, ehe dir der Appetit vergeht!«, sagte er.
Rod nickte ihm zu und ließ die kühle Flüssigkeit die Kehle hinunterrinnen. Eine Wohltat nach der Durststrecke des Tages!
»Nicht gerade was für Feinschmecker«, antwortete Rod. »Aber ich bin ja nicht zur Erholung hier.«
»Mein Name ist Bruce«, sagte der Schwarze. »Ich hab’ dich noch nicht gesehen. Seit wann bist du da?«
Auch Rod nannte seinen Namen. »Eben komm’ ich von der Anmeldung«, erklärte er. »Morgen geht’s los.«
»Bist du schon eingeteilt? Bei wem musst du dich melden?«
Rod holte einen Zettel aus seiner Brusttasche, entfaltete ihn und las: »Arbeitsgruppe 5, Ausbilder Hacker.«
Bruce verzog das Gesicht, als hätte er auf einen schmerzenden Zahn gebissen. Dann warf er Rod einen kurzen Blick zu, beugte sich über seinen Teller und begann wieder zu essen.
Rod richtete sich auf, legte Gabel und Messer beiseite. »Was bedeutet das? Lernt man nichts bei ihm?«
Rod hatte nicht bemerkt, dass die um ihn herumsitzenden Männer dem Gespräch gelauscht hatten, und so war er erstaunt, als sie plötzlich in lautes Gelächter ausbrachen.
Rod drehte sich halb zu den anderen hinüber. »Was soll das heißen? Warum lacht ihr? Macht doch den Mund auf!«
Die anderen taten so, als hätten sie nichts gehört. Nur Bruce murmelte: »Lass dich überraschen!«
Rod blickte nach rechts und nach links. Neben ihm saß ein kleinerer südländischer Mann, über den Teller gebeugt.
Rod tippte ihm leicht an den Arm: »Na los – was ist mit Hacker?«
Der andere schaute nicht auf, schnitt sich eine große Scheibe Fleisch herunter, schob sie in den Mund. Man verstand ihn kaum, als er sprach: »Mann, was willst du von mir? Hacker ist okay.« Er kaute, schluckte. Dann richtete er sich ein wenig auf, blickte in die Runde. »Oder seid ihr anderer Ansicht?«
Die Leute rückten etwas unruhig auf den Bänken hin und her, beugten sich über ihre Teller. »Gewiss, er ist okay.«
Rod zuckte die Achseln. Na schön, dachte er, ich werde ihn sicher noch rechtzeitig kennenlernen. Die Hälfte seines Mahls ließ er stehen, doch das Mineralwasser trank er bis zum letzten Tropfen.
Neben der Kantine lag ein Aufenthaltsraum. Dorthin zogen sich die meisten nach dem Essen zurück, blätterten in alten Illustrierten oder sahen sich die Filme an, die über einen Videorekorder abgespielt wurden. Rod blickte nur kurz hinein und entschloss sich dann, sich lieber noch ein wenig im Gelände umzusehen.
Er ging den Gang entlang, trat durch eine Tür in einen schmalen Hof. Links und rechts schmucklose Gebäudefronten.
Inzwischen war es dunkel geworden. Da und dort warfen Lampen trübe Lichtflecken auf Boden und Wände.
Die meisten Fenster waren dunkel, nur in einem Raum zu ebener Erde schienen sich Menschen aufzuhalten; dahinter brannte Licht, und gelegentlich bewegte sich ein Schatten über die Mattglasscheiben.
Rod trat näher und versuchte hindurchzuschauen – außer einigen verschwommenen Flecken nichts zu erkennen.
Er blickte sich nach links und nach rechts um … Niemand schien in der Nähe zu sein. Er zog sein Taschenmesser heraus und zwängte die Klinge in die Ritze zwischen Fenster und Fensterrahmen. Die Riegel ließen sich leicht zur Seite schieben. Mit beiden Händen griff Rod an den Rahmen und zog ihn Millimeter um Millimeter heraus. Ein feiner Spalt wurde frei, und in dem Moment hörte Rod eine Art Sprechgesang, eintönig, rhythmisch skandiert.
»Die Evolution – ist noch nicht zu Ende.
Der Mensch – wächst – mit seinen Aufgaben.
Die Selektion – ist das Mittel zur Auslese.
Die technische Welt – verlangt einen neuen Menschen …« Zuerst war nicht zu erkennen, was innen vor sich ging. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und stieg dann auf eine schmale Wandleiste … Nun erst konnte er den Souterrainraum überblicken. Es schien sich um eine Art Trainingshalle zu handeln. In mehreren Reihen nebeneinander waren die Fragmente von Fahrrädern montiert – Lenkstangen, Sitze, Pedale –, nur die Räder fehlten. Alle Geräte, ungefähr zwanzig Stück, waren besetzt. Sie saßen in den Sätteln, die Hände auf die Lenkstangen gestützt, und jeder trat in die Pedale, als ginge es um Sieg oder Untergang. Der Schweiß rann ihnen vom Gesicht – sie schienen der Erschöpfung nahe.
Die im Chor halb gesprochenen, halb gesungenen Worte wurden immer leiser, durch keuchende Atemzüge unterbrochen. Vor ihnen stand breitbeinig ein Ausbilder – an der silbernen Litze am Kragen erkennbar. Er dirigierte den Chor mit heftigen Bewegungen der Faust. Wenn er bemerkte, dass einer der Männer die Beine von den Pedalen nahm oder sich nicht mehr am Herunterleiern der Sprüche beteiligte, hob er eine Pfeife und entlockte ihr gellende Töne. Trotzdem verstummte der Gesang allmählich.
»Eine traurige Gesellschaft! Wohl schon müde – was? Braucht ihr eine Erfrischung? Die könnt ihr haben!«
Der Ausbilder drehte sich zu einem Schaltpult, schob einen Hebel herunter. Fast augenblicklich begann Wasser von der Decke herabzuregnen – aus tausend kleinen Düsen an einer stangenförmig gewundenen Rohrleitung. In Sekundenschnelle waren die Männer durchnässt, die Kleidung wurde schwer, der Stoff der Hosen lag als zähe Masse auf den Beinen und machte das Treten der Pedale zur Qual.
»Ist es jetzt angenehmer? Wozu doch eine Feuerlöschanlage gut ist!«
Er setzte die Pfeife an die Lippen, gab damit den Takt an – schneller als zuvor.
Plötzlich schrak Rod zusammen … Er bemerkte eine Bewegung neben sich, drehte sich zur Seite. Neben ihm stand ein Mädchen, das Haar blond und kurz geschnitten, eine Jeansbluse, ein einfacher Leinenrock.
»Hast du das Fenster geöffnet? Was machst du hier?«
»Es stand offen«, antwortete Rod. So gut es die mangelhafte Beleuchtung erlaubte, musterte er das Mädchen; es hatte ein hübsches, doch ein wenig hartes Gesicht. Es musste vielleicht neunzehn oder zwanzig Jahre alt sein. Das Mädchen streckte sich, um den Fensterflügel zu erreichen, versuchte den Flügel herunterzuziehen.
»Was geht hier vor?«, fragte Rod. Er brauchte seine Stimme nicht zu dämpfen, denn die schrillen Pfiffe und das Rauschen des Wassers übertönten ihre Unterhaltung.
Das Mädchen machte eine abwehrende Handbewegung. »So hilf mir schon!«
Gemeinsam schlossen sie das Fenster. Das Mädchen beugte sich zur Verriegelung, bemerkte die Kratzer, die Rods Taschenmesser hinterlassen hatte. Sie blickte ihn missbilligend an: »Man merkt, dass du noch neu hier bist.«
Rod überlegte kurz. Dann sagte er: »Ah, jetzt weiß ich wieder, wo wir uns gesehen haben: im Sekretariat. Du heißt Ruby, nicht wahr?«
»Wieso weißt du es?«
»Ich habe gehört, wie du dich am Telefon gemeldet hast. Was dagegen?«
Ruby blickte ihn aufmerksam an, lächelte flüchtig. »Es ist besser, du verschwindest hier.« Sie drehte sich um und ging den Weg entlang, den Rod vorhin gekommen war.
Rod folgte ihr, und sie sah sich nicht um, tat so, als merkte sie es nicht. Als sie den Aufenthaltsraum betrat, trat auch Rod ein. Und als sie sich auf einen Hocker vor einem Spielautomaten setzte, stellte sich Rod neben sie. Sie warf einige Münzen ein. Die Beleuchtung hinter den bunt bedruckten Glasscheiben leuchtete auf. Noch immer nahm sie keine Notiz von ihm.
Ein großer Teil der Belegschaft schien sich nun hier aufzuhalten. Die Sessel vor dem Bildschirm waren alle besetzt, einige hatten sich an kleinen Tischen zusammengesetzt und spielten Karten. Andere standen in Gruppen herum, nippten an ihren Gläsern, unterhielten sich.
Rod beugte sich zu Ruby. »So sag doch schon, was das zu bedeuten hat. Warum darf man das Fenster nicht öffnen?«
»Es ist kein Geheimnis dabei«, sagte Ruby. »Die Leute haben Strafdienst, das ist alles. Wahrscheinlich waren sie schlapp und faul untertags. Die meisten von ihnen sind schlapp und faul.«
Energisch zog sie an einem Hebel. Von der Federkraft getrieben, setzte sich die Kugel in Fahrt, schnellte längs einer Führungsschiene dahin, bis sie ein Hindernis erreichte und dann auf einem Zickzackweg tiefer rollte.
»Und warum soll ich das nicht sehen?«, erkundigte sich Rod.
»Du kannst es ruhig sehen –«, meinte Ruby, »wirst es noch früh genug erleben. Glaub nicht, dass du ohne Strafpunkte bleibst. Niemand bleibt ohne Strafpunkte. Nein, nein, es ist etwas anderes: Du hast das Fenster geöffnet.«
»Ist das verboten?«
»Alles ist verboten, was nicht erlaubt ist. Für alle Eigenmächtigkeiten gibt es eine Sonderbehandlung. Eigentlich hättest du eine besonders harte Strafe verdient: Beschädigung des Materials, Sabotage … Du wirst schon noch drauf kommen.«
Rubys Kugel war durch eine Öffnung am unteren Rand der Spielfläche verschwunden. Nun griff Rod nach dem Hebel, ließ eine Kugel emporschnellen. Vom Pult aus betätigte er die Schleudervorrichtungen, mit denen sich die Kugel immer wieder antreiben ließ. Einige Minuten lang konzentrierten sie sich auf das Spiel, versuchten möglichst viele Punkte zu erreichen. Nach einer Weile sagte Rod: »Ein bisschen hart geht es hier schon zu, nicht wahr?«
Ruby musterte Rod abschätzend. »Hast du nicht gesagt, dass du ein Raumfahrer bist? Na hör mal, das sind doch keine Milchjungen!«
»Es ist nicht mein erstes Ausbildungslager, wenn du das meinst, und es wird auch nicht mein letztes sein. Aber einer, der hier war, hat mir einiges erzählt, was mir gar nicht gefällt. Ich habe jedenfalls vor, die Augen offen zu halten.«
»Tu, was du für richtig hältst, aber lass mich zufrieden!« Sie sah ihn nicht gerade freundlich an, aber sie hatte nichts dagegen, dass er bei ihr blieb und das Spiel fortsetzte.
Inzwischen waren zwei Männer in die Nähe gekommen – offenbar wollten auch sie sich am Spielautomaten beschäftigen. An ihren silbernen Litzen erkannte Rod, dass es sich um Ausbilder handelte, und wenn er bisher eines gelernt hatte, so war es, dass man sich diesen gegenüber stets entgegenkommend verhielt.
»Komm«, sagte er, »wir trinken was!«
»Warum sollte ich mich von dir einladen lassen?«, antwortete Ruby von oben herab. »Du glaubst wohl, du bist der einzige Mann hier im Camp! Ganz schön eingebildet!«
Ruby drehte sich um, ging auf einige Ausbilder zu, die sich an einem Tisch niedergesetzt hatten. Sie begrüßten das Mädchen laut und holten ihm einen Sessel heran. Ruby setzte sich und genoss demonstrativ die ihr gezollte Bewunderung.
Rod hatte das unangenehme Gefühl einer erlittenen Niederlage. Nachdenklich zog er sich zu einem Getränkeautomaten zurück, wählte ein Glas Bier und warf drei Coupons ein, wie es eine Leuchtanzeige verlangte. Die Metallplättchen verschwanden, doch der Automat lieferte keine Getränke. Rod versuchte es noch einmal, schlug mit der Faust an den Apparat und drückte den Rückgabeknopf – vergeblich.
Ein junger Mann, der daneben stand und die Szene beobachtet hatte, sah sich die Coupons an, von denen Rod noch einige in der Hand hielt, und sagte: »Für Teilnehmermarken kriegst du kein Bier. Das hier ist nur für Ausbilder.«
Rod nickte ihm dankend zu. Dann trat er an einen anderen Automaten, zapfte ein Glas Fruchtsaft ab. Er schmeckte schal. Während er trank, blickte er mehrmals unauffällig zu Ruby hinüber. Sie schien es nicht zu merken.
Rod sah auf die Uhr – neun Uhr dreißig, noch eine halbe Stunde bis zur Nachtruhe. Er ging zur Regalwand hinüber, wühlte in einem Stoß Taschenbücher und suchte schließlich eins heraus. Er versuchte sich in die Lektüre zu vertiefen, vermochte sich aber nicht so recht zu konzentrieren. Schließlich schlug er das Buch zu und begnügte sich damit, die Leute zu beobachten. So saß er, bis das Klingelzeichen ertönte.
Der erste Eindruck: Hochgebirgslandschaft, flaches Tal – ein Kraterfeld? Rundum die Blöcke von Gebirgen, unter tiefviolettem Himmel die bizarr gezackten Ränder gelb gesäumt … Bombardement von Elektronen?
Der erste Eindruck – Reaktion auf Änderung der Position: kühl und präzise. Gefühl der Befriedigung. Der Situation gewachsen.
Gestapelte Pfeiler von Basalt, Brocken blasig durchsetzter Materie, Formenschatz des Vulkanismus: Region ohne Leben, bedrohend und majestätisch, Beispiel für Erhabenheit der Natur; unerforschte Bereiche, jungfräulich, für den Zugriff des Menschen bereit – des schnellsten, des tüchtigsten, des intelligentesten …
Unter seinen Füßen ein Klirren, Scherben, muschelförmig aufgebogen – ein schwaches Geräusch, verräterisch …
Schon hatte er sich in eine Mulde geworfen. Laserstrahlen, wie gleißende Nadeln, ein ganzer Fächer …
Er lag unbeweglich in seine Mulde gedrückt, auf dem Rücken, das Gesicht emporgewandt: lautloses Gleiten durch dünnen Dampf, der sich, vom Hitzepfeil erfasst, in Turbulenzen drehte und wand. Es ist schön! Bruchteile von Sekunden lang bunte Blitze, Interferenzen an Kristallflächen. Ich kann dieses Schauspiel genießen! Ich bin kalt, mein Herz schlägt stetig und ruhig. Doch ich bin wach! Ich bin wach.
So schnell, wie es begonnen hatte, war das Spiel des Lichtes unversehens beendet – spurenlos erloschen, erstickt.
Ihr habt euch verraten! Ich habe euch dazu gebracht, euch selbst zu verraten. Das leise Geräusch unter der Schuhsohle – ein Trick. Die Herausforderung der Gefahr – Akt überlegener Strategie. Ich habe gesehen, wo die Nester sitzen. Dort oben, rechts, noch ein Stück weiter, knapp unter dem zackenförmigen Einschnitt in der Schattenlinie … Und dort drüben, am Zenit einer flachen Erhebung, tief im Schatten der Steilwand.
Die Strahlen hatten ihn nicht erfasst, waren fast einen Meter über seine Mulde hinweggegangen. Er durfte sich aufrichten, sich die Örtlichkeit noch besser einprägen, diesmal in Abhängigkeit von den Positionen des Gegners …
Doch sie waren schlau, fast ebenbürtig. Ich darf mir keine Unvorsichtigkeit leisten. Zug und Gegenzug, Strategie und Gegenstrategie. Einbezug aller Eventualitäten. Vorausberechnung der Finten und Tricks.
Zwei Nester – zu wenig. Sie hatten sich durch ihn herausfordern lassen, aber nur so weit, wie sie es für richtig hielten. Es musste noch eine dritte Stelle geben, die zentrale Befestigung, Angelpunkt ihrer Verteidigung, die sie ihm noch verborgen hielten. Aber ich habe die Maßnahme durchschaut, mich nicht düpieren lassen.
Fünfundvierzig Minuten lang blieb er unbewegt in der Mulde liegen. Ich bin völlig entspannt. Das Geheimnis der Stärke: die Entspannung! Absolute Ruhe, Sammlung der Reserven für die entscheidende Aktion.
In seinem Rücken ein Licht. Ein Himmelskörper – natürlich oder künstlich? – zunächst am Horizont hängend – es schien, als brenne er ein Loch in die Kontur, aus dem nun in immer dichteren Bündeln Lichtstrahlen fielen.
Dann zog eine winzige gleißende Scheibe majestätisch über den Himmel, erhellte emporragende Oberflächen und Kanten, ließ Spalten dazwischen in finsteres Schwarz absacken. Irritation des visuellen Eindrucks, doch kein ernsthaftes Hindernis. Ich habe mir das Relief eingeprägt, sehe es vor mir wie eine computergeschriebene Landkarte.
Der Leuchtkörper brauchte nicht mehr als zwanzig Minuten, dann hatte er den Talkessel überquert. Die spitzen Lichter, die schwarzen Schatten, das ständige Wechselspiel des Lichts. Es erschwert mir meinen Weg, doch ich finde mich zurecht. Es erschwert auch jenen die Sicht, die mich aus ihren verborgenen Löchern heraus beobachten. Doch ich bin ihnen überlegen. Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit, Vorstellungsvermögen. Ein sicheres Auge, ein effektvoller Plan …
Er erhob sich in gebückte Stellung, lief, sich im Schatten haltend, eine niedrige Felsmauer entlang. Wieder klirrten die Scherben unter seinen Füßen, doch klangen auch anderswo Geräusche auf. Es war, als hätte der Lichtschein schlafende Tiere aus ihren Träumen geweckt, die nun, unsichtbar wieselhaft in den Scharten und Schratten dahinhuschten, leichtfüßig zwar, doch nicht schwerelos, wendig, doch nicht ohne Fährten zu hinterlassen. Er bekam sie nicht zu Gesicht, jene Tiere – organisch, metallisch, elektronisch? –, und es war auch unwichtig, sie waren ohne Belang, hatten keine Rolle in diesem Spiel als eben nur die eine, einen Geräuschhintergrund zu liefern, der es ihm erlaubte, sich an den Gegner heranzupirschen, ohne gehört zu werden.
Wieder blieb er stehen. Er hatte eine Steigung zu überwinden gehabt, zehn, zwölf Meter vielleicht, in gebückter Haltung … Mein Atem geht ruhig, mein Gesicht ist trocken, meine Mütze sitzt fest und gerade.
Das Gelände, das vor ihm lag: leicht ansteigend, mit schütter verteilten mannshohen Blöcken besät. Barrieren gegen die Sicht der Beobachter. Vergegenwärtigung der Perspektive, überschlägige Berechnung des Sichtwinkels, Abschätzung der Weglängen und der Zeit. Ein anderer Block weiter vorn und noch einer … Kurze offene Strecken dazwischen, zu überwinden nur mit katzenhafter Gewandtheit, Schnelligkeit.
Überlegen, konzentriert, präzise, schnell. Ebenso rasch der Entschluss. Vorwärts!
Eine Kulisse, ein Theaterschauplatz. Ein Kessel – die Bühne. Beobachter, Zuschauer, Beleuchter. Ein Akteur – die Starrolle.
Er lief vorwärts, nicht zu langsam, nicht zu schnell, über die glasig glatten Flächen aufwärts, ohne zu stolpern, ohne zu rutschen. Als hätte ich es geübt, es Hunderte Male erprobt. Daran lag es: Sich schnell hineinfinden in jede Situation; durch nichts überraschen lassen, niemals unüberlegt handeln; das Notwendige tun – beim ersten Mal so fehlerlos wie beim hundertsten Mal. Auch wenn es kein hundertstes Mal gab.
Er lehnte sich kurz an einen der Blöcke – nicht weil er müde war, sondern weil er sich eins fühlte mit der Landschaft, der Situation. Weil er den körperlichen Kontakt wollte, nicht nur den Sichteindruck, nicht nur den Höreindruck, auch die haptischen Eigenschaften dieser Welt, und damit umfassenderes Wissen.
Das Gestein fühlte sich kühl an, leicht gewölbte Flächen, flache Schneiden, Kanten, wie mit dem Rasiermesser gezogen – angenehmes Gefühl der Präzision!
Er löste sich von der schwärzlichen Masse, Bruchstück eines glühenden Brockens, vor Jahrmillionen von einem heute längst erstorbenen Vulkan ausgespien. Oder waren sie noch lebendig, die erdbürtigen Kräfte, die Hitze, die Gestein zum Sieden brachte, der Druck, der flüssige Lavasäulen aufsteigen ließ wie Springbrunnen? Nur ein Nebengedanke, vollständiges Verstehen des Zustands, gefasst sein auf alle Möglichkeiten, selbst Abwegiges miteinbeziehen, doch als abwegig erkennen …
Er stürzte vorwärts, einige Schritte seitlich bis zum nächsten Wegabschnitt, auf dem er gedeckt war.
Dann wallte es weiß vor ihm. Keine sanften Suchstrahlen mehr, mörderische Lanzen höchster Frequenzen, das sichtbare Licht nur ein Nebeneffekt …
Der Kessel wurde zu einem flammenden Meer, Glut brodelte hoch, Blasen zersprangen, Funkenkaskaden stiegen dreißig, vierzig Meter hoch.
Ich bin ganz kalt in diesem Meer von Glut und Licht. Ich lasse mich durch nichts beirren, durch nichts schrecken. Nichts kann mich zum Umkehren bestimmen. Links und rechts Mauern gleißender Helligkeit. Eine Wand, aber nicht lückenlos, ein Wall, aber nicht geschlossen. Da standen sie, die schwarzen Blöcke, die er vorher anvisiert hatte, wie eine Reihe von Büßern, auf dem Weg zum Heiligtum erstarrt. Und hinter jedem Block die Gasse aus Dunkelheit, ein Schacht der Erstarrung, der Bewegungslosigkeit, inmitten der brodelnd frei werdenden Energie. Von hier an gab es keine Lücke mehr – von nun an konnte er dem Netz der schützenden Schatten folgen, ohne sich dem Beschuss aussetzen zu müssen. Halb belustigt, halb verächtlich konnte er den Folgeerscheinungen ihrer Bemühungen zusehen – Glut, Brand, Zerstörung. Ein wenig hatte er auch Mitleid mit ihnen. Wieder habe ich einen Zug in diesem Spiel gewonnen. Wieder sind sie auf meinen Trick hereingefallen. Ich habe sie herausgefordert, habe mich ihnen gezeigt – wenn auch nur einen ungefährlichen Augenblick lang. Nun konnten sie sich nicht mehr verbergen: Der Hagelschauer aus Hitze und Licht ging von der Zentrale aus, der Befestigung, in eine Talkerbung eingebaut, jetzt nur als blendende Ecke jenes Dreiecks erkennbar, über das sich die Strahlenschauer verteilten.
Er lief vorwärts, merklich langsamer als zuvor. Noch kein Nachlassen der Kräfte, keine Spur von Schwäche! Doch der strategische Vorteil überwiegt die Demonstration von Kraft und Macht. Sollten sie doch ihre Energiereserven verpulvern, ehe sie merkten, dass sie von der Zuleitung abgeschnitten waren. Sollten sie doch ihre Fackeln entfesseln, das irrsinnige Schauspiel bis an den Gipfel der Vergeblichkeit führen!
Mit sicheren Sätzen lief und sprang er über den Boden – bräunliches und grünliches Glas, durch das nun die Reflexe des Energiebrands hetzten.
Und nun stand er unterhalb der Mauer, die das Gelände der Zitadelle von der naturbelassenen Umgebung trennte. Hierher reichte die Flammenhölle nicht – sie ging hoch über seinen Kopf hinweg, entlud sich in ausreichender Entfernung. Und, wie er kühl feststellte, verteilten sich nun die Eruptionen über einen größeren Raum als zuvor – sie hatten ihn aus dem Visier verloren, wussten nicht mehr, wo er sich befand.
Plötzlich war der Spuk zu Ende. Ein Blick zurück: Da hinten lag eine Schale voll glühender und rauchender Schlacken. Das heiße Rot, das tief in den glasigen Auswurfmassen des Vulkans saß, war immer noch weitaus heller als der violettblaue Himmel, der wie gespannte Seide den Himmel bedeckte. Der Widerschein der Flammen flackerte an den Abhängen des Gebirges.
Die Mauer wäre für normale Menschen unüberwindlich gewesen, nicht aber für ihn. Ein gewaltiger Satz, festgekrallte Finger, eine Krümmung des Körpers – einen Atemzug lang liegend am oberen Rand … Dann ließ er sich lautlos hinuntergleiten, hockte an das Gestein gedrückt, orientierte sich mit einem einzigen Blick über die Lage und war dann schon auf dem Weg zu einem der weit geöffneten Tore, durch die sie ihre Kampfflitzer zum Angriff schickten.
Er brauchte nicht zu überlegen. Er kannte dieses unterirdische System, hatte sich genau informiert, sich zurechtgelegt, durch welche Gänge er auf kürzeste Weise zum Befehlsstand kam – ohne Zwischenaufenthalt, ohne Umweg.
Manchmal sind Umwege unumgänglich. Aber kein Mann wird den Umweg vorziehen, wenn er gerade auf sein Ziel zugehen kann. Ich werde auf mein Ziel zugehen, ohne Zögern, unbeirrt. Und diese Vehemenz meines Angriffs wird meine beste Waffe sein.