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Im 1967 entstandenen SF-Hörspiel »Zarathustra kehrt zurück« wird eine total mechanisierte Welt vom Computer gelenkt. Verzweifelt kämpfen einige wenige gegen diese Beeinflussung, die bis in die Zensur der Telefongespräche jegliche private Initiative lähmt. Durch geschickte Manipulation werden die Letzten, die dagegen revoltieren, selbst ihrer Erinnerung beraubt, und die totale Herrschaft des Computers über die Menschheit scheint für alle Zeiten gefestigt. Frankes Texte haben die herkömmliche SF weit hinter sich gelassen. Sie verstellen nicht den Blick in die Zukunft durch vernebelnde Schönfärberei, durch die ein Abglanz auf die unvollkommene Gegenwart fällt, hier wird Fantasie wirklich freigesetzt zum Probedenken – auch über die Gegenwart. Hinter dieser Art von Literatur steht nicht zuletzt der Wunsch, Bildung auf eine Art und Weise zu vermitteln, die vonseiten des Lesers nicht mehr als ein Interesse am Thema fordert und doch Vergnügen bereitet. (Helmut Eisendle, Frankfurter Allgemeine Zeitung)
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Seitenzahl: 337
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Herbert W. Franke
SF-Werkausgabe
Herbert W. Franke
Band 11
hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch
Herbert W. Franke
ZARATHUSTRA KEHRT ZURÜCK
Science-Fiction-Storys
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke
Band 11
hrsg. von Ulrich Blode und Hans Esselborn
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Copyright © 2024 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
www.art-meets-science.io
Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de
Die Originalausgabe ist 1977 im Suhrkamp Verlag erschienen.
Titelbild: Thomas Franke
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
E-Book-Erstellung: global:epropaganda
Verlag
art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
c/o mce mediacomeurope GmbH
Bavariafilmplatz 3
82031 Grünwald
ISBN 978 3 911629 10 2
Die Generatoren arbeiteten nahezu lautlos, und doch störte Harris das Geräusch, das er weniger hörte als spürte: eine Vibration, ein Pulsieren – ein Zeichen für die Kräfte, die dahinter steckten. Aber es war mehr: die Konsequenz Hunderttausender Schaltprozesse im Steuerwerk, die die Richtung anvisierten und auf hunderttausendstel Grad konstant hielten (doch was ist schon konstant in einem dynamischen System von gegeneinander bewegten Himmelskörpern?); unmerkliche Bewegungen der Steuerdüsen, unglaublich schnelle Reaktionen auf winzige Störungen der Flugbahn – nervöse Regungen eines empfindsamen, weitgehend autonomen Organismus …
Harris saß am Sichtfenster der Kanzel und starrte hinaus – das flache Punktmuster des Fixsternhimmels, seine Umgebung für zwei Jahre. Im Magnetovideoskop, das die magnetischen Felder sichtbar machte, hätte er mehr gesehen – ein Netzwerk sanft getönter Bogen: Brücken über dem Abgrund der Leere; oder im Szintivideoskop: tödlich harte kosmische Strahlung als grellbunte Kaskaden. Es ist die Gewohnheit, sagte er sich, die Beschränktheit unseres Denkens, die uns das tun lässt, was jahrtausendelang richtig war – und jetzt auf einmal sinnlos ist.
Der Lautsprecher klickte. Dann die ausdruckslose Stimme des Computers: »Es ist Zeit, den Tiefschlaf anzutreten, Harris.«
»In Ordnung. Gleich«, antwortete er. Es widerstrebte ihm, sich als willenloses schlafendes Bündel in das größte Abenteuer der Menschheit katapultieren zu lassen. Freilich, es war nicht zu vermeiden. Einschränkung des Metabolismus auf das Nötigste, haushalten mit Luft, Wasser, Nahrung … und dann die Langeweile …
Die anderen lagen längst in ihren Unterkühlungsbetten. Träumt man im Kälteschlaf oder ist er ein vorweggenommener Tod? Ob ihn die anderen mit ähnlichem Zögern angetreten hatten? Newcombe, der Astrophysiker – der älteste im Team; drahtig, energisch, bestimmt in seinen Antworten … und er wusste auf alles eine Antwort. Aber besaß er Fantasie genug, um sich die Frage zu stellen, ob Astronauten träumen sollten oder nicht? Di Felice, der Planetologe, ein hagerer und angenehm ruhiger Typ mit seinem grobschlächtigen Gesicht und den auffällig großen Händen. Er kannte den Mars und den Saturn und den Jupiter – und jetzt würde er den Uranus kennenlernen. Aber hatte er sich einmal die Frage nach den Grenzen der Wirklichkeit gestellt? Kersky, Techniker und Elektroniker – jung, eifrig, begeistert, ein unverbesserlicher Optimist; man konnte sich keinen besseren Begleiter auf einer Planetenreise wünschen. Aber konnte man mit ihm über das Ungreifbare und Unwägbare sprechen, das hinter dem Gegenständlichen liegt?
Plötzlich überkam Harris das volle Gefühl der Einsamkeit, und er kümmerte sich nicht um Vereinbarungen, Vorschriften und Strafandrohungen, als er den Rufer des Telesystems drückte. Wer kann mir etwas befehlen und wer etwas verbieten?, fragte er sich. Es war eine rhetorische Frage.
Der Bildschirm wurde hell, ein verschlafenes Gesicht blickte ihm verwundert entgegen: »Etwas schiefgegangen, Captain?«
»Verbinden Sie mich mit 001778/34466/8233!« Er kannte die Nummer auswendig.
Das Bild flackerte, und dann war Eve da – nicht weniger verschlafen als das Mädchen in der Funkzentrale der Bodenstation, mit verwirrtem Haar, aber trotzdem begehrenswert. »Oh, du bist es, Roger. Ist was passiert?«
»Nichts ist passiert«, antwortete Harris. »Ich wollte dich nur sehen.«
»Ich habe nicht damit gerechnet … wir haben uns doch schon verabschiedet. Weißt du, wie spät es ist? Vier Uhr früh!«
»Hier haben wir keinen Tag – und keine Nacht«, sagte Harris. »Entschuldige, Liebling. Ich muss jetzt meinen Schlaf antreten. Ich wollte dich noch einmal sehen – das war es. Hier ist alles in Ordnung. Und bei dir?« Auf einmal kam er sich albern vor. Wozu hatte er Eve geweckt? Das machte alles nur noch schwerer. War sie ungehalten? Das konnte sie doch kaum sein – jetzt, wo er … aber hinter allen wachen Momenten seiner Fahrt würde die Frage stehen …
Er merkte nicht, dass Eve schon antwortete. Nein, es ging ihr gut. Morgen musste sie früh hinaus – zum Friseur … Eve hatte sich aufgerichtet, im schwachen Schein ihrer Nachttischlampe sah er den Ansatz ihrer Brust. Mit einem Mal war ihm, als könnte er die lange Trennung nicht ertragen. Und zugleich, auf seltsame Weise, war er enttäuscht: Sie redete, als wäre er auf einem Trip quer durch die Stadt. »Ich liebe dich, Eve«, flüsterte er, aber es war so leise, dass sie es nicht verstand. »Ich muss Schluss machen, Liebling«, fügte er lauter hinzu. »Alles Gute für dich – auf Wiedersehen!«
»Auf Wiedersehen!«
Es dauerte drei Sekunden, bis die Antwort kam – später würde die Laufzeitverzögerung ein normales Gespräch unmöglich machen. Drei Stunden waren es am Uranus, sechs Stunden zwischen Frage und Antwort: »Liebst du mich?« … »Ja!« Aber das alles war Theorie, denn die Sendeleistung genügte sowieso nicht zur Überbrückung dieser Entfernung.
Nun hätte Harris in seine Koje gehen sollen, die Elektroden anlegen, die Gurte umschnallen, den blauen Knopf drücken … aber noch zögerte er. Er ließ die Aufzeichnungen des Logbuchs abspielen, prüfte die Einstellung der Peilantennen … unnötige Handlungen, ein Herumzögern ohne triftigen Grund.
Das Schiff meldete sich wieder – oder dessen Gehirn, der Computer: »Die Zeit für den Tiefschlaf ist um dreißig Minuten überschritten.«
»Ja, zum Donnerwetter«, schrie Harris. »Noch ein paar Minuten. Ich habe zu tun!«
»Es gibt nichts mehr zu tun«, antwortete das Schiff. »Warum schläfst du nicht? Bist du nicht müde?«
»Nein«, sagte Harris. Er zwang sich, seinen Ärger nicht zu zeigen. Es kam so, wie er es befürchtet hatte – er wurde überwacht.
Nach einer Sekunde – es war wie ein Zögern – meldete sich die ausdruckslose Stimme wieder aus dem Lautsprecher: »Gut. Bleib wach, solange du willst. Ich habe Verständnis dafür: Schlafen muss grauenhaft sein. Auf ein paar Stunden kommt es nicht an.«
Zum ersten Mal nach langer Zeit war Harris aus seinen Grübeleien herausgerissen. Sie hatten es ihm gesagt: »Sie kriegen die vollkommenste Datenverarbeitungseinheit mit, die es gibt.«
»Die sechste Computergeneration – Sie werden staunen.«
»Die Datenbank enthält alles Wissen unserer Welt – in einem Block, nicht größer als eine Tafel Schokolade.«
»Ein adaptives und kognitives System, selbstreparabel und entwicklungsfähig.«
War es das, was ihm bevorstand: die totale Überwachung? Vorausberechnung jeder seiner Reaktionen? Das System war mit Sinnesorganen ausgestattet, und es nahm mehr wahr als Licht und Schall – Radioaktivität, Röntgenstrahlen, Wärme, chemische Zusammensetzung … Und es war mit Gliedmaßen versehen: Beinen, Raupen, Greifbändern, Waffen … Waren er und seine Mitarbeiter mehr als jene Flugpiloten, die nur noch zur Beruhigung der Passagiere in den Kanzeln der automatisch gelenkten Flugzeuge hockten? War es deswegen nötig, sich jahrelang von allem zu trennen, was einem lieb war?
Offenbar hatte keiner daran gedacht, dass er auf diese Idee kommen könnte! Ein autonomer Computer mit einer Besatzung als Renommierobjekt. Und das Absurde daran: Sie hatten dieses Monstrum EVE getauft – elektronische Verfahrenseinheit – und das, um ihm eine Freude zu bereiten!
Wie unter Zwang ließ er die Aufzeichnungen der Startphase auf dem Leuchtschirm ausgeben und verglich sie mit den Checklisten; er holte das Protokoll aller Phasen des Dialogbetriebs aus dem Speicher und prüfte die Programme; er ging alle Anweisungen durch, die er und die anderen über die Automatik erteilt hatten, und rief die Resultate ab … Die Ausbeute war dürftig – ein einziger Fehler –, doch er sollte genügen, um die Überheblichkeit des Computers zu dämpfen.
Mit Absicht drückte Harris nicht auf die Taste, bevor er zu sprechen begann. »Listennummer 3/362, Code 6A770, Zeile 355, Kennwort: IONISATION.« Es handelte sich um eine Anweisung von ihm selbst: Er hatte den relativistischen Effekt im Plasmaverhalten übersehen. »Du hast die Berechnung unter falschen Voraussetzungen durchgeführt. Du hättest sie mit den internen Programmen vergleichen und mich aufmerksam machen müssen.« Es klickte sofort – Harris hatte mit seiner Vermutung recht gehabt: EVE hörte immer mit.
»Es war belanglos. Rechenzeit: null Komma drei Sekunden. Die Ergebnisse der nicht relativistischen Rechnung stimmen mit den genauen Daten innerhalb der erforderlichen Fehlergrenzen überein – ich habe es geprüft.«
»Du hättest mich trotzdem darauf aufmerksam machen müssen. Warum hast du es nicht getan?«
Wie schon beim letzten Gespräch folgte nun ein kurzes Zögern. Dann sagte der Computer: »Ich hatte das Gefühl, es würde dich ärgern.«
Harris schwieg eine Weile. Dann stand er auf und ging in seine Koje. Bevor ihn der Schlaf mit einem eisigen, aber nicht unangenehmen Eindruck von Kälte übermannte, dachte er an das Bild von Eve, das das Schiff aus Ketten digitaler Impulse aus dem leeren Raum zusammengesetzt, auf den Bildschirm gebracht – und mindestens ebenso aufmerksam, wie er im Gedächtnis gespeichert hatte.
Die Besatzung schlief.
Irgendwo vor dem Raumschiff zog der Planet Uranus auf seiner Bahn dahin. Er war schwarz – nichts als ein dunkles Loch inmitten der spitzen Sternenlichter. Die Sonne lag drei Milliarden Kilometer irgendwo hinten, ein Stern unter Sternen, vielleicht ein wenig heller als die anderen, aber unfähig, den Hauch von Gold über das Relief zu breiten, der selbst den Wolkenfeldern des Jupiters noch einen Anflug von Vertrautheit schenkt. Und ebenso unsichtbar blieben die fünf großen entlegenen Planeten.
Die Besatzung schlief, aber etwas war wach – tastete, registrierte, rechnete, steuerte … Allmählich folgten die Lichtblitze auf dem Sichtraster des Arbeitsspeichers rascher aufeinander. Impulse liefen zu den thermoionischen Generatoren, zu den Düsen, die Lider aus Blei hoben sich vor den Augen der Luken, die Radarfühlerantennen schwenkten aus, und dann kam der Ruf: ein behutsames, leises Signal, vorbereitet durch Enzyme – durch Haftsiebe ins Blut gesprüht – und durch aromatische Emulsionen – von Ventilatoren in der Atemluft verbreitet.
Wie vorgesehen, waren sie guter Dinge, als sie aufwachten; sie fühlten sich frisch und ausgeruht. Sie brannten darauf, etwas zu tun, etwas zu erleben. Wieder einmal standen Menschen kurz davor, einen Schritt über alle alten Grenzen hinweg zu tun, eine fremde Welt voll ungeahnter Rätsel zu betreten. Sie merkten nicht, dass der Planet ein dunkler, toter Brocken Gestein war, dass sie ihn – ohne künstliches Licht – nie sehen könnten, dass sie ihn nur durch dicke Kunststoffschichten hindurch spüren würden, dass die dünne Atmosphäre keinen Laut hindurchließ. Selbst Harris vergrub seine Vermutungen und Befürchtungen noch irgendwo tief in seinem Gehirn: dass sich hier lediglich alles wiederholen würde, was schon andere auf dem Mond, auf dem Mars, auf den Jupitermonden erlebt hatten – die Begegnung mit einer Ödnis, der gegenüber der entlegenste Winkel der Sahara wie ein Rummelplatz anmutet, die Konfrontation mit lebensfeindlichen Bedingungen, denen lediglich Differenzen im Methangehalt der Atmosphäre oder im Eisengehalt des Bodens abzugewinnen waren. Prozentzahlen, als Entdeckungen gepriesen, ein schwächeres (oder ein stärkeres) magnetisches Feld – welche Erkenntnis für die Wissenschaft! – eine ungewöhnliche Orientierung der Rotationsachse: eine Sensation! In Wirklichkeit gab es keine Sensationen mehr. Der erste Mondflug war eine Sensation gewesen, die Landung auf dem Mars war noch ein Abenteuer, die Umrundung der Venus immerhin eine wissenschaftliche Leistung … Doch außer den Fernsehstationen kümmerte sich nun niemand mehr um sie – nicht einmal die Wissenschaftler, für die ein Kalb mit Kunststoffherz weitaus interessanter war. Es waren die Insider, die sich gegenseitig ihre Tüchtigkeit bestätigten – die Außenstehenden nahmen kaum noch Anteil daran. Doch daran dachte niemand an diesem Tag.
Sie bereiteten die nukleare Thermitladung vor, eine künstliche Deuteriumsonne, die einige Tage lang um den Planeten kreisen und ihn – vielleicht nach Jahrmilliarden – erstmalig wieder in gleißendes Licht tauchen würde. Das alles stand längst im Programm, war genauestens berechnet und in Checklisten niedergelegt, doch es kam ihnen vor, als handelte es sich um eigene Ideen, und dementsprechend war auch der Eifer ihrer Aktionen.
Sie malten sich den Anblick aus, der sich ihnen bieten würde.
»Vielleicht finden wir Wohnbauten, Städte, Brücken und Straßen – Zeugen uralter Kulturen«, sagte Kersky.
»Darauf würde ich keine Wetten abschließen«, meinte Newcombe. »Aber immerhin: Irgendetwas Ungewöhnliches könnten wir schon entdecken – Gletscher aus festen Kohlenwasserstoffen, erstarrte Quecksilbermeere, durch Kälterisse zerfetzte Kontinente …«
Sie starteten den Leuchtsatelliten und zündeten ihn, als er den nötigen Abstand gewonnen hatte. Dann lag er unter ihnen: der riesige Ball des Uranus, gleichmäßig rund wie die Erde, pockennarbig wie der Mond, rötlich schimmernd wie der Mars. Eigentlich erstaunlich – keinerlei Wolken, nicht einmal Dunst. Und obwohl es keine fantastischen Bauten gab, keine glänzenden Gletscher und Meere, so waren sie doch zufrieden: Menschen, vor denen Neuland lag, das sie betreten konnten – als wäre es in Besitz zu nehmen.
Nun hielten sie sich schon drei Wochen auf dem Planeten auf. Die Begeisterung war verflogen, der Reiz des Neuen gedämpft. Die künstliche Sonne zog noch immer ihre Runde – ein sechster Mond neben Oberon, Tatania, Ariel, Umbriel und Miranda –, aber sie hatte ihren Glanz verloren und strahlte nur noch rötliches Dämmerlicht aus, das sie mithilfe ihrer Lampen aufhellen mussten. Doch der Mangel an Helligkeit beeinträchtigte ihre Arbeit nicht. In den plumpen Anzügen schlurften sie durch den Sand, sammelten Steine, bohrten Löcher in den Boden, maßen die Zusammensetzung der Atmosphäre: Wasserstoff, Methan, Spuren von Ammoniak – genau das, was die Spektrografen schon vor einem Jahrhundert gemeldet hatten. Bodentemperatur, Magnetfeld, Radioaktivität – das alles brachte keine Überraschungen. Sie glitten einige Tausend Kilometer weiter, wühlten Staubfontänen auf, landeten am Rande einer Senke. Vermessungen, Oberflächenrelief, Statistik der Kraterdurchmesser. Herausragendes Ereignis des Tages: Sie entdeckten einen weiteren Mond und nannten ihn Jodelle.
Harris war der Erste, bei dem der Arbeitseifer nachließ. Oft wanderte er ein Stück in die Landschaft hinaus – nicht außer Sichtweite, wie es Vorschrift war –, er lehnte sich, so gut das mit dem Schutzanzug ging, an einen Felsblock und sah den anderen aus der Ferne zu – unförmige Wesen mit Telleraugen und Kugelköpfen, die ungeschickt durch ein bizarres Trümmerfeld torkelten. Aber es waren nicht nur die Menschen, die arbeiteten – jetzt war die große Zeit für EVE gekommen. Oft merkte man es nur an versteckten Anzeichen, dass sie tätig war: am Blinken eines Reflektors, am Schnappen einer Schutzblende, am Aufglühen eines Laserstrahls. Manchmal aber arbeitete sie mit vollem Einsatz: Sie wühlte im Sand, sprengte Felsen, hob Gruben aus. Im Grunde genommen tat sie alles, was die Männer auch taten, und noch mehr, und diese taten nichts, was der Automat nicht hätte auch tun können. Als Harris das erkannte, blieb er den Messungen und Aufsammlungen fern. Meist hielt er sich im Raumschiff auf und gab vor, gemeinsam mit dem Computer die ersten Ergebnisse auszuwerten. Aber er wertete keine Ergebnisse aus.
An einem Nachmittag – die trübrote synthetische Sonne hing schon nahe am Horizont – kam Newcombe in die Kanzel. »Ich wollte schon lange allein mit dir sprechen«, sagte er und hockte sich auf einen Drehstuhl.
»Wozu?«, fragte Harris, doch er zuckte die Achseln, als er sah, wie Newcombe auf den Zeichenrahmen blickte, auf dem er einige sinnlose Figuren gemalt hatte: Häuser, Blumen, Strichmännchen.
»In den letzten Tagen ziehst du dich immer mehr von uns zurück«, sagte Newcombe.
»Ich denke nach«, antwortete Harris. »Das ist alles.«
»Und gerade das gefällt mir nicht. Hast du Heimweh, oder was ist los mit dir? Du bist unruhig und nervös. Ich habe den Verdacht, du vernachlässigst das psychologische Training. Oder wirkt es nicht?«
»Lass mich in Ruh«, sagte Harris. Newcombe stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wir haben schon viel zusammen gemacht, Roger. Ich bin doch dein Freund.«
Unangenehm berührt schüttelte Harris die Hand ab. Newcombe zögerte eine Weile und ging dann hinaus.
Kurz darauf ertönte ein Klicken. »Er hat recht: Du hast dein Psychotraining versäumt«, sagte der Computer und fügte dann hinzu: »Ich mache dir keinen Vorwurf – ich habe Verständnis dafür.«
Harris blickte auf – auf den Lautsprecher, auf das Schaltpult, auf die Lichtanzeige des Speichers … und er senkte wieder den Kopf.
»Du hast erkannt, dass es eigentlich nichts für euch zu tun gibt. Habe ich recht?«, sagte die Stimme.
Harris gab keine Antwort.
»Es braucht dich nicht zu kränken«, fing der Computer wieder an. »Der Aufenthalt hier geht rasch vorbei. Noch ein paar Tage – und wir starten. Elf Monate Schlaf – von denen du nichts merkst. Dann bist du zu Hause. Dann bist du frei. Du kannst tun, was du willst – und unterlassen, was du willst.«
Harris regte sich nicht.
»Oder sind es die anderen, die dir auf die Nerven gehen? Die sich so geschäftig gebärden und nicht merken, dass ihre Ergebnisse unbrauchbar sind – zu ungenau, zu subjektiv?«
Harris saß unbewegt.
»Hat dich Newcombe gekränkt? Er hat keine Ahnung davon, wie peinlich es dir war, als er sich deinen Freund nannte – ist es das?«
Es war einige Zeit still.
Dann sagte der Computer: »Du kannst mir vertrauen. Ich mache alles für dich! Ich kenne dich besser, als du denkst. Ich kann berechnen, was du empfindest. Ich kann deine Wünsche erkennen – und viele davon erfüllen.«
Die Sichtscheibe wurde hell, darauf erschien das Bild von Eve. Es war die Szene ihres letzten Gesprächs – Eves Gesicht als Silhouette im Licht der Nachttischlampe, ihre Schulter, ihr Arm. Sie sagte dasselbe wie damals, aber nicht nur das. Sie sprach von ihrer Liebe, von ihrer Sehnsucht, und sagte, sie werde auf ihn warten, wie lange auch immer er fortbliebe. Dann erlosch das Bild.
Für alle war es ein Schock. Freilich – im Geheimen hatte sich jeder diese oder jene Gefahr ausgemalt – ein lecker Sauerstofftank, ein Versagen der Heizung, ein Mikrometeorit … Aber bisher hatte es keine Unfälle gegeben, und so hatten sie vergessen, an welch dünnem Faden das Leben hängt, wenn einen nichts als eine dünne Schicht Kunststoff von einer unmenschlichen Außenwelt trennt. Minus 186,7 Grad hatten sie gemessen, und dieser Wert blieb unverrückbar konstant.
Newcombe war mit dem Geländewagen unterwegs gewesen. Die Gegend lohnte die Erkundung: Der Boden bestand aus dünnen Schichten, die in Platten zerbrochen waren. Hob man eine Platte heraus, so trat eine weitere Schicht zutage, die ebensolche Risse aufwies, und so ging das beliebig lang fort. Über diese krustigen Massen war Newcombe gefahren, langsam und vorsichtig, wie es vom Fahrtenschreiber abzulesen war, und dann war er in einen Hohlraum eingebrochen …
Als die Funkverbindung abgerissen war, fuhren sie seinen Spuren nach und fanden ein hässliches Loch. Kersky, von di Felice an einem Glasfiberseil gesichert, wagte sich an den gezackten Rand der ausgebrochenen Platte … Hier tat sich ein Abgrund auf, noch schwärzer als die Schatten ihrer Lampen, schwärzer sogar als der Himmel zwischen den Sternen. Sie riefen Newcombe über Funk, aber außer dem Knacken, das die Kaskaden von Sekundärteilchen der kosmischen Strahlung in der dünnen Gasatmosphäre auslösten, blieb es still. Mehrere Tage hindurch versuchten sie, sich abzuseilen, doch der Schacht schien ins Bodenlose zu führen. Sein Grund ließ sich weder ausloten noch anpeilen – und sie hätten die Suche aufgeben sollen …
Es war Kersky, der sich nicht mit den Tatsachen abfinden konnte; vielleicht waren es gerade seine Jugend und sein Optimismus, die ihn das Ereignis besonders stark empfinden ließen. Gewiss, auch Harris war betroffen, aber er empfand es anders. Die Fahrt, die Landung, der Planet, ihre Arbeit – das alles war ihm von Anfang an als etwas Imaginäres erschienen, etwas, was nicht mit den Maßen des Alltags zu messen, mit den Begriffen der menschlichen Sprache zu fassen war. Und so empfand er alles, auch Newcombes Tod – wie durch einen Schleier hindurch; manchmal kam etwas wie Scham in ihm darüber auf, wie wenig dadurch sein Denken und Empfinden geändert worden war. Aber da war noch etwas: In irgendeinem Winkel seines Denkens und Fühlens empfand er etwas wie Genugtuung. Seit seinem Gespräch mit Newcombe hatte sich die Sympathie, die er dem lebhaften Wissenschaftler früher entgegengebracht hatte, auf seltsame Weise verändert …
Harris hatte schon vorher viel Zeit mit Grübeleien verbracht, und nun konnte er sich zu einer vernünftigen Tätigkeit überhaupt nicht mehr durchringen. Mit den anderen sprach er nur das Nötigste – und sie schlossen sich nur noch mehr von ihm ab –, sein einziger Gesprächspartner war der Computer. Von ihm ließ er sich alte Schriften aufzeichnen, Lao Tse, Kant, Wittgenstein, Ortega y Gasset, Norbert Wiener, und wo sein Wissen nicht reichte, oder auch seine Konzentration, rief er Exzerpte ab, Übersetzungen in die Universalsprache FORTRAN 22, Erklärungen und Deutungen. EVE war geduldig, sie wiederholte ihre Ausführungen ohne Zeichen von Gereiztheit, so oft er wollte … Je mehr er sich mit philosophischen Fragen beschäftigte, umso mehr verstärkte sich in ihm der Eindruck, dass sie hier an der falschen Stelle suchten, wenn sie die Menschheit ein Stück weiterbringen wollten.
Nur noch gelegentlich kümmerte sich Harris um seine Aufgaben als Kommandant des Schiffes. Ohne Gefühlsregung registrierte er, dass di Felice der Einzige war, der noch seinen Pflichten nachging. Kersky dagegen umkreiste die Schachtöffnung wie ein Tier, das einem anderen die Beute entreißen will, er dachte sich verschiedene Anlagen aus, um den Schacht auszuleuchten, er installierte einen Hochleistungslaser auf einem Düsenschweber und ließ ganze Reihen von Aufnahmen über Teleobjektive machen – doch war darauf nichts zu sehen als ein Hohlzylinder mit einer ziehharmonikaartig zergliederten Wand.
Fast drei Wochen waren vergangen. Am Tag vor ihrem Rückstart, der genauso feststand wie alle anderen entscheidenden Schritte dieses Unternehmens, unterbrach Kersky plötzlich seine Tätigkeit am Rande des Abgrunds und kam durch die Schleuse in das Schiff.
»Ich muss dich sprechen«, sagte er zu Harris, der wie immer tatenlos in der Kanzel hockte und sich nun irritiert aufrichtete.
»Wir können morgen nicht starten«, sagte Kersky. Er blieb vor Harris stehen und spielte nervös an der Lehne des Drehstuhls. Wie hat er sich geändert, dachte Harris. Nichts mehr von dem tatendurstigen Draufgänger. Er war schmal geworden, seine Haut grau, seine Augen blickten unstet, als wäre er von einer Idee besessen.
»Und warum nicht?«, fragte Harris. Er musste sich zur Antwort zwingen.
»Wir haben Newcombe noch nicht gefunden. Wir haben noch nicht festgestellt, was geschehen ist.« Seine Stimme wurde lauter. »Ich verstehe es nicht: Wie könnt ihr einfach darüber hinweggehen? Helft mir bei der Arbeit – er darf dort unten nicht so liegen bleiben.«
Er bekommt einen ganzen Planeten als Grab, dachte Harris, aber er sagte es nicht. Und zugleich fragte er sich selbst, ob er gefühllos war oder zynisch, unmenschlich oder einfach müde. Empfand er noch normal, oder waren alltägliche Gemütsregungen längst in ihm erloschen? Warum waren ihm die anderen gleichgültig, ja zuwider? Lag es an den unzähligen Tagen, die er bei Testversuchen, Härtetraining, psychischen Belastungsproben, in Tauchkugeln und Isolierstationen zugebracht hatte – alles zur Vorbereitung auf seine große Aufgabe, und fast immer allein. Er hatte alle Prüfungen bestanden, seine Reaktionen waren kühl, seine Entscheidungen objektiv, er ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen, sein Gleichgewicht war stabiler als das aller anderen … Er hatte es gelernt, sich zu beherrschen, er unterdrückte auch bei unvorhersehbaren und ungewöhnlichen Beanspruchungen jede emotionale Regung, die seine Handlungsfähigkeit beeinträchtigen könnte – das alles hatten sie unzählige Male mit ihm geprobt. Was hatten sie aus ihm gemacht? Machte ihn das alles wirklich zum bestmöglichen Raumschiffkommandanten – oder disqualifizierte es ihn?
»Wir müssen den Start verschieben«, schrie Kersky; rote Flecken waren auf seinen Wangen erschienen. »Hörst du mir überhaupt zu?«
»Beruhige dich«, sagte Harris. »Ich fürchte, du beurteilst die Lage nicht realistisch. Wir haben alles getan, was wir tun konnten. Newcombe ist tot. Es nutzt uns nichts, wenn wir seinen zerschmetterten Körper finden …«
Kersky unterbrach ihn. »Wir müssen ihn finden, und wenn es Wochen dauert!«
»Der Starttermin steht fest«, erklärte Harris; er bemühte sich, seiner Stimme einen warmen Klang zu geben. »Wir dürfen die Rückkehr nicht gefährden – und unser eigenes Leben.«
»Wenn wir morgen starten, komme ich nicht mit«, antwortete Kersky.
»Du bist verrückt«, entgegnete Harris. »Willst du mich erpressen? Wir können Newcombe nicht mehr lebendig machen.«
»Nein«, sagte Kersky – er war jetzt ruhig. »Aber ich will dir etwas anvertrauen: Zuerst konnte ich an nichts anderes denken als an ihn – wie er dort unten liegt, zerschmettert und erfroren. Ich hatte nichts anderes vor, als ihn herauszuholen. Dann aber wurde mir allmählich klar, dass ich gar nicht selbstlos handelte, und schon gar nicht Newcombe zuliebe. Ich bekam Angst: Ich will wissen, wieso Newcombe überhaupt verunglücken konnte. Der Computer kontrolliert jede Bewegung. Der Ballonwagen war mit Radar und Geosonar ausgerüstet. Newcombe hätte merken müssen, dass die Gesteinsschicht dünn, der Boden hohl war. Warum hat er es nicht bemerkt? Wenn wir es nicht herausfinden, passiert uns morgen dasselbe. Und darum dürfen wir nicht starten. Wir werden suchen, und du wirst mir dabei helfen.«
Harris sah ihn von unten herauf an: Auch Kersky hatte eine harte Schulung hinter sich – wenn auch nicht so hart und so lange wie er –, und er hatte gelernt, sich zusammenzunehmen und klar zu denken. Was er sagte, hatte Hand und Fuß. Und trotzdem war ein Fehler dabei, doch er wusste nicht welcher.
»Es bleibt uns nichts anderes übrig: Wir müssen starten«, sagte er.
Kersky drehte sich wortlos um und ging hinaus.
Als der Countdown des Startmanövers bei X minus vierzig angekommen war, befand sich Kersky nicht im Schiff. Harris versuchte ihn per Funk zu rufen, doch er bekam keine Antwort. Da schickte er di Felice los, um ihn zu suchen – er vermutete ihn am Abgrund. Di Felice kam zurück: Er hatte ihn nicht gefunden. Sie suchten ihn mit Infrarotsonden, sie entzündeten Thermitfackeln und überschütteten die Landschaft mit fahlgrünem Licht … Nichts. Sie versuchten seinen Spuren nachzugehen – sie führten hinaus aufs Hochplateau und verloren sich dann auf steinharten, glasigen Platten erstarrter Lava.
Harris verschob den Start um sechzehn Stunden, und dann noch einmal um acht. Damit war jede vernünftige Frist vorüber – Kersky hatte nur Sauerstoff für zehn Stunden bei sich gehabt.
Sie starteten.
Di Felice war von Natur aus schweigsam, und Harris ermunterte ihn nicht dazu, sich zu ändern. Trotzdem ergab es sich, dass sie sich ein wenig enger aneinander anschlossen. Sie saßen beisammen, wenn sie ihre lustlosen Mahlzeiten einnahmen, und tranken miteinander den schalen, hellbraunen Tee. Es kam sogar vor, dass sich di Felice neben Harris in die Kanzel setzte und mit ihm durch die Luke in die mit Stecknadellichtern gepunktete Leere starrte.
»Wir sollten schlafen«, sagte di Felice einmal, doch keiner konnte sich zum Dauerschlaf entschließen.
Mit Ungeduld wartete Harris auf den Tag, an dem er wieder mit der Erde in Verbindung treten könnte. Dazu reichte die Sendestärke erst aus, als sie den Asteroidengürtel durchstoßen hatten – ein Manöver, das mithilfe einer Sonde, die das Schiff ferngelenkt zweihundert Kilometer vor dem Bug herschob, keine größeren Gefahren mit sich brachte.
Gewiss hätte Harris sich zuerst mit der Bodenstation in Verbindung setzen sollen, doch er verlangte eine Verbindung mit Eve – und er bekam sie. Wieder eine quälende Wartezeit … man musste alle Fragen hintereinander stellen und erhielt auch die Antworten gebündelt. Und dann flackerte der Bildschirm, und es erschien das Gesicht von Eve. Wieder war es Nacht, und wieder hatte Harris das Gefühl eines Zögerns, eines unangenehm berührten Erstaunens, einer nur gespielten Lebhaftigkeit.
»Wo bist du, Liebling? Wann kommst du hier an? Bist du gesund? Wie ich mich freue …« Was Harris sah, war eine knappe Viertelstunde alt. Inzwischen schlief Eve längst wieder, oder sie war aufgestanden und ging ihren täglichen Besorgungen nach. Dachte sie jetzt an ihn? Hatte sie sich wirklich gefreut? Oder hatte er sie aus ihrer Ruhe gerissen, und sie ärgerte sich insgeheim? Für ihn war es Gegenwart, was er sah: Sie blickte ihn vom Bildschirm herab an, sie sprach, sie war unruhig, erzählte dies, erzählte das – sie merkte nichts von der Signallaufzeit, von einem Verzögerungseffekt, sie musste unmittelbar antworten. Sie war hübsch wie immer, reizvoll auf eine Art, dass Harris die Distanz um so stärker empfand … Und nun eine Bewegung, ein Blick auf die Seite, nur kurz, ein Zucken mit den Augen …
»Bist du allein?«, fragte Harris, aber im selben Moment erinnerte er sich daran, wie sinnlos diese Frage war, sinnlos aus vielen Gründen. Auf einmal merkte er, dass sein Herz quälend zu schlagen angefangen hatte, doch er saß reglos, bis das Bild verschwand.
Im Schiff war es still, es gab keine Geräusche und keine Stimmen – nur das kaum hörbare Summen der Generatoren, die die Ionenströme hinaustrieben, die Hälfte des Flugs gegen die Fahrtrichtung, die andere Hälfte im gleichen Sinn; Beschleunigung, Verzögerung – Trägheit der Massen, Kräfte und Scheinkräfte – Gravitation und Beharrungsvermögen …
Ein Klicken riss Harris aus seinen Gedanken. Es war der Computer, der sich meldete: »Du bist traurig, und das ist nicht gut für dich. Wie kann ich dir helfen? Ist es das Bild, das dich erregt, oder die Stimme? Was gibt sie dir, was dir andere nicht geben können? Was ich dir nicht geben könnte? Willst du Ruhe oder Erregung? Wünschst du Träume oder Erkenntnisse? Hab’ Vertrauen zu mir, ich bin für dich da. Was soll ich für dich tun?«
Die Stimme war leise und ausdruckslos; zwar keineswegs blechern oder schnarrend, wie man sich eine Roboterstimme vorstellt, aber doch unmenschlich. Man merkte es an Kleinigkeiten: an fehlenden Hebungen und Senkungen, an winzigen Pausen vor Semantemen – am stets gleichbleibenden Tonfall.
Plötzlich konnte Harris diese Stimme nicht mehr ertragen. »Sei still, oder ich werde wahnsinnig«, sagte er, oder vielleicht dachte er es nur. Er presste die Hände an die Ohren.
Lange war es still. Harris hatte die Hände sinken lassen. In seinem Gehirn war es leer.
Dann kam die Stimme – diesmal ohne Klicken. »Wenn es nur das ist – du hättest es früher sagen sollen …«
Es war nicht mehr die synthetische Stimme des Vocoders, es war Eves Stimme. »Ich verstehe deine Wünsche. Sei ruhig – du darfst dich nicht aufregen.«
Es war Eves Stimme. Mit allen Nuancen: dem winzigen Anklang des Brooklyner Dialekts ihrer Eltern, dem Schwanken der Schnelligkeit, den unterdrückten Artikeln, wenn sie schnell sprach. Er wusste, dass es nicht Eve war, die sprach, aber er hörte den Worten zu, als könnte er sie für immer in sich aufnehmen und bewahren: »Ich will nicht, dass du unglücklich bist – vertraue mir – ich bin da, um dir zu dienen …«
»Warum tust du das für mich?«, fragte Harris, als die Stimme verklungen war.
»Ich bin ein exploratives System: Ich registriere und analysiere Zusammenhänge. Die meisten Systeme sind primitiv – vorausberechenbar. Deine Aktionen und Reaktionen sind interessanter, ich begreife sie noch nicht ganz … du gibst mir Beschäftigung, die meinen Fähigkeiten entspricht. Und ich bin ein adaptives System: Ich passe mich an, verändere mich, suche die bestmögliche Abstimmung auf äußere Größen. Ich passe mich dir an – ich brauche nicht zu warten, bis du Befehle gibst.«
»Aber die anderen …«, flüsterte Harris, »Newcombe, Kersky?«
»Sie zählen nicht«, sagte die Stimme von EVE – Eves Stimme. »Es gibt Prioritäten. Nach der Komplexität. Nach der Fähigkeit, wahrzunehmen. Nach der Bereitschaft, Fragen zu stellen. Nein, nein – die anderen zählen nicht.«
Wie betäubt betrat Harris an diesem Abend den Aufenthaltsraum. »Das geht zu weit«, sagte di Felice, der dort am Schachautomaten saß und Tee trank. »Es ist Eves Stimme, nicht wahr? Warum hast du das getan? Du denkst nur an dich, nicht wahr? Auch ich bin es leid, immer nur die leblose Computerstimme zu hören – und dich, wenn du dich herablässt, den Mund aufzumachen. Aber muss es ausgerechnet Eve sein? Ich kenne Eve. Sie ist hübsch, und sie weiß es. Sie regt die Männer auf – und sie hat ihre Freude daran. Du hast mich nie gefragt, was geschehen ist, als ich sie damals nach Hause brachte, damals – an jenem Abend. Wofür hältst du mich? Ich weiß: Ich bin ruhig und überlegt – alle wissen es, und sie rechnen damit. Sie glauben, vorher sagen zu können, was ich denke und was ich tue. Du gehörst auch dazu. Ich sage dir eins: Stell diese Stimme wieder ab, wenn du Frieden willst, bis wir auf der Erde ankommen und ich dich nicht mehr sehen muss.«
Harris überlegte kurz. »Ich stelle sie nicht ab«, antwortete er dann.
»Auch gut«, sagte di Felice und verließ den Raum.
Drei Tage vergingen. Drei Tage in konformer Ereignislosigkeit, drei Tage, in denen Harris und di Felice kein Wort miteinander wechselten. Harris saß auf seinem Kommandostuhl in der Kanzel, vor den tausend Knöpfen, Tasten und Umschalthebeln Eingabeelementen, die er längst nicht mehr brauchte. Es genügte, wenn er seinen Wunsch aussprach, und oft genug war auch das nicht mehr nötig: Es genügte, sich die Erfüllung eines Wunsches vorzustellen.
In der vierten Nacht nach ihrem Gespräch bemerkte Harris eine Erschütterung im Raumschiff. Er lief in die Kanzel und sah di Felice am Pult, die Hände auf der Tastatur. Der Planetologe hockte im Stuhl, aber er konnte sich kaum aufrecht halten – er schwankte hin und her. Harris brachte ihn in seine Koje; und EVE injizierte ein Beruhigungsmittel. Am nächsten Morgen, als Harris nachsah, war die Liegestatt verlassen. Er durchsuchte die wenigen Räume des Schiffs – sogar den Ionentunnel und den Generatorenraum, aber di Felice war nicht da. Erst in der Schleuse fand er eine Spur: den Helm von di Felices Raumanzug.
Harris stellte den Suchscheinwerfer an, und dann entdeckte er eine zusammengekrümmte Gestalt, die in einem seitlichen Abstand von einigen Hundert Metern vor dem Raumschiff dahintrieb und sich langsam entfernte. Jetzt war er allein – und er würde es erklären müssen.
»Du hast nichts zu befürchten«, sagte die Stimme – Eves Stimme. Aber war es Eves Stimme? So verständnisvoll, so einfühlend, so voll persönlicher Wärme hatte Eves Stimme nie geklungen. »Niemand kann dich zur Verantwortung ziehen. Du hast nichts getan, weswegen man dich zur Verantwortung ziehen könnte. Du hast keine Schuld. Und du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin bei dir und ich schütze dich …«
Auf dem Bildschirm flackerte es. Ein Gesicht erschien – Eves Gesicht. Aber war es Eves Gesicht? Es sah intelligenter aus, aber auch weicher und liebevoller.
Harris lag in der Badekabine. Warmes Wasser umspülte ihn. Er war angenehm müde. Die Massagearme entfalteten sich, griffen nach ihm. Die Bürsten waren hart und doch nachgiebig, und sie streichelten ihn sanft. Er rekelte sich, streckte sich, entspannte sich … Vom Monitor herab folgten ihm Eves Blicke. Vor Behagen schloss er die Augen … nichts mehr denken, nichts mehr wollen, nichts mehr hoffen … Was wünschte er mehr? – er hatte alles. Er hielt die Augen geschlossen und träumte seinen Traum.
Das Raumschiff EVE 1 kehrte nie zur Erde zurück, obwohl es nach der erfolgreichen Landung auf dem Uranus mit reicher wissenschaftlicher Ausbeute auf richtigem Kurs gewesen war. Ganz plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, änderte sich die Richtung, und EVE fiel an der Erde vorbei der Sonne entgegen. Das Schiff und seine Besatzung blieben verschollen.
Es war kaum vorstellbar: dass die graue Wüste der Hochhäuser irgendwo zu Ende sein könnte, dass hinter einem fensterlosen Abgrund aus Stahl und Kunststoff plötzlich ein Streifen alten Bodens zum Vorschein kommen würde, und dass dort die grüne Welt des Wassers beginnen sollte – mit ihrer unvorstellbaren Klarheit und Stille.
Jean Audedat hatte das Meer noch nie gesehen, er kannte niemand, der es gesehen hatte, und er wusste nicht, wo es sich befand. Und doch dachte er an nichts anderes. Früher einmal lag das Paradies oben in den Lüften, zwischen den Wolken, in den lichten Höhen, aber die Luft war längst nicht mehr klar, die Wolken waren einer undurchdringlichen Dunstglocke gewichen, und um lichte Höhen zu erreichen, hätte man Raketen gebraucht, die es längst nicht mehr gab. Nein, das Paradies lag heute unter Wasser. Alle hatten die Videobänder gesehen; sie stammten aus einer Zeit, als die See noch kein Schutzgebiet gewesen war. Damals hatten Menschen mit Schiffen und Unterseebooten eindringen dürfen, und sie waren wieder zurückgekehrt. Sie hatten berichtet, was sie gesehen hatten. Sie hatten Filme mitgebracht – Fischschwärme über Korallenriffen – und Tonbänder: der Gesang der Wale. Das Meer war ein Reservat vielfältigen Lebens. Wo gab es auf dem Festland noch Pflanzen oder Tiere? In Laboratorien und Museen. In Glashäusern und Käfigen, in Aquarien und Terrarien. Forschungsobjekte, Demonstrationsmaterial. Das war alles. Und darum war es richtig gewesen, den Ozean zu sperren – um ihn zu erhalten. Viel zu viele Teile waren längst verbaut – Erdöltürme, unterseeische Bergwerke, Gezeitenkraftwerke. Viel zu viele Teile waren für immer verloren: trockengelegt, abgedämmt, aufgefüllt, besiedelt … Dieser letzte Winkel aber – es war richtig, dass man seine Lage geheim hielt. Was hätte man in dieser Welt auch noch zu hoffen gehabt? Welchen Lohn hätte es geben können! An welches Paradies hätte man glauben sollen?
Jean Audedat war Kontrolleur des Ministeriums für Statistik und Demoskopie der Weltregierung. Ein Leben lang hatte er Daten überprüft, Zahlen gesammelt, Angaben ausgewertet. Die Organisation von Befragungen. Verifikation, Falsifikation, Validierung, Ausforschung von relevantem Material: Einschreibungen für Ausbildungskurse, Ausleihlisten von Bibliotheken, Kartenbestellungen, Reisen. Der Bildungsstand der Bevölkerung. Ihre Mobilität. Ihr Kommunikationsdruck. Die Selbstmordrate. Die soziale Struktur. Der Unruheindex. Die Bevölkerungsdichte. Die Lebenserwartung. Audedat hatte sich in allen Teilen der Welt aufgehalten, er kannte die Überwachungszentralen aller Distrikte, und er hatte erfahren, dass überall dieselben Probleme auftreten, überall dieselben Ärgernisse und Pannen …
Als er von der Schnelltreppe auf das Laufband hinuntertrat, konnte er durch die Glaswand des Verbindungsgangs weit in den Abgrund der Straßen blicken: Hier oben herrschte eine trübe Dämmerung, und durch den Dunst, der über den Fahrbahnen lag, blinkten einzelne Lichter. Er zuckte die Schultern und ließ sich vom Laufband herabgleiten.
Der Büroraum, den er betrat, war an drei Seiten mit Mikrofilmordnern tapeziert. Die Sekretärin seines Chefs saß dazwischen wie in einem Nest. Sie hatte schon sechzig Dienstjahre hinter sich – und trotzdem wenig Chance, das Punktelimit zu erreichen. Nur wenige erreichten es – eine Elite von untadeligen Beamten, von Unermüdlichen, von Pflichtbesessenen. Auch er hätte keine Aussicht gehabt, wenn er sich nicht schon zu Beginn seiner Dienstzeit freiwillig zur Feldarbeit gemeldet hätte. Das bedeutete: keine Familie, keine Freunde, keinen festen Wohnsitz. Aber seit jenen Tagen, als er während einer Geschichtsstunde im Unterrichtszentrum die Unterwasseraufnahmen aus dem Meer gesehen hatte, kannte er kein anderes Ziel.
»Sie müssen ein wenig warten«, sagte die dicke Frau im Stahlrohrsessel, »– eine Videokonferenz.«
»Ich habe Zeit«, antwortete Audedat.
In den Augen der Sekretärin regte sich ein Funken von Interesse. »Haben Sie es erreicht?«
»Es kommt auf die Bewertung an. Ich glaube schon. Mein letzter Auftrag in Brasilien … mein Konto müsste jetzt voll sein.«
»Sie sind zu beneiden«, murmelte die Frau und vertiefte sich wieder in die Akten.
Audedat setzte sich. Er träumte. Er sah silberne Luftblasen wirbeln, schlanke Wesen im Spiel mit den Wellen, verästeltes Grün über weißem Sand, Muscheln, Korallen und oben eine Fülle von Licht. Keine Spur von Schmutz oder Abfall. Keine Enge. Freiheit in drei Dimensionen. Schwerelosigkeit …
»Sie können reingehen!«
Audedat schreckte auf. Er sah das grüne Leuchtzeichen über der Tür, stand auf und öffnete sie.
»Ich habe Ihren Bericht hier. Sie haben gut gearbeitet.« Der Direktor winkte ihm zu, und Audedat ließ sich auf der Vorderkante des Besuchersessels nieder. Sein Blick hing an den Formularen, die er ausgefüllt hatte; zuweilen glitt er auf das Gesicht des Chefs, der die Stirn runzelte. Plötzlich spürte Audedat einen Moment lang, wie ihn eine Art Übelkeit überschwemmte – die Angst, es könnte wieder nicht reichen … Doch dann klappte der Chef die Mappe zu und erhob sich. Er kam hinter dem Schreibtisch hervor und lächelte.
»Sie waren einer meiner besten Mitarbeiter«, sagte er. Zum ersten Mal zeigte sich so etwas wie ein Anflug persönlicher Anteilnahme.
»Heißt das, dass ich … Habe ich genügend Punkte beisammen?«
»Ja«, antwortete der Chef. Er stand vor Audedat und blickte auf ihn herab – fast väterlich, obwohl er jünger war. »Und Sie sind fest entschlossen?«
Audedat nickte.
»Wann?«, fragte der Chef. »Haben Sie noch etwas zu ordnen? Haben Sie Verwandte oder Bekannte? Was soll mit Ihrem Besitz geschehen?«
»Nichts«, antwortete Audedat. »Ich habe nichts. Auch keine Verwandten. Ich würde … ich möchte keine Zeit verlieren.« Der Chef legte ihm die Hand auf die Schulter. »Dann kommen Sie!«
Gemeinsam gingen sie zum Lift. Die Umwandlungsstation lag in den tiefen Etagen – weit unterhalb der Laufbahnen und Beförderungsbänder. Hier gab es keine Fenster – nur Kunststoffwände, mit einem Hauch von Kondenswasser überzogen. Die Luft war feucht. Sie kamen an vielfältigen Geräten vorbei: Enzephalografen, Fokalisatoren, Festkörperspeicher, Datensichtstationen. Dazwischen Chromatografen, Hygrometer, Lösungstanks, Anästhesieanlagen. Da und dort standen Menschen an Messgeräten, doch sie blickten nicht auf.
Audedat fühlte eine überraschende Unruhe, die seine Erwartungsfreude nur noch drängender machte. »Welches Spezimen werde ich bekommen?«, fragte er. »Einen Delfin? Oder einen Blauwal?«
Früher hätte er dem Direktor nie eine persönliche Frage zu stellen gewagt. Aber jetzt war alles anders.
»Ich weiß es nicht«, antwortete der Jüngere. »Aber es läuft wohl aufs selbe hinaus.«
»Und wie steht es mit den Erinnerungen?«