KEINE SPUR VON LEBEN … - Herbert W. Franke - E-Book

KEINE SPUR VON LEBEN … E-Book

Herbert W. Franke

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Beschreibung

Konfrontation mit dem Unbekannten — das ist ein Thema, mit dem sich Herbert W. Franke immer wieder beschäftigt, in seinen Geschichten und Romanen ebenso wie in seinen Hörspielen. Diese Art der Übermittlung von Science-Fiction-Ideen erscheint ihm besonders günstig: auf der einen Seite die Konkretisierung im Akustischen, auf der anderen Seite die Herausforderung an die visuelle Fantasie des Hörers. Dadurch werden Gedankenbilder initiiert, die kein Fernsehspiel, kein Film realisieren kann. Wenn bei der schriftlichen Wiedergabe auch der Reiz der hörbaren Kulisse fehlt, so bleibt doch die Faszination des scheinbar Fantastischen erhalten.

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Seitenzahl: 370

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Herbert W. Franke

KEINE SPUR VON LEBEN …

Fantastische Hörspiele

SF-Werkausgabe

Herbert W. Franke

Band 17

hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch

Herbert W. Franke

KEINE SPUR VON LEBEN …

Fantastische Hörspiele

SF-Werkausgabe Herbert W. Franke

Band 17

hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2024 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

www.art-meets-science.io

Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de

Die Originalausgabe ist 1982 im Suhrkamp Verlag erschienen.

Titelbild: Thomas Franke

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

E-Book-Erstellung: global:epropaganda

Verlag

art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

c/o mce mediacomeurope GmbH

Bavariafilmplatz 3

82031 Grünwald

ISBN 978 3 911629 16 4

Das Erscheinen dieses Bandes möchte ich mit einem Dank an Dieter Hasselblatt und Horst Krautkrämer verbinden, ohne die es »das deutsche Science-Fiction-Hörspiel« nicht gäbe.

H. W. F.

Dem schließen wir uns auch nach all den Jahren uneingeschränkt an.

U. B., H. E. & My.

Herbert W. Franke: Aktion im Niemandsland

Dieses Hörspiel wurde vom Süddeutschen Rundfunk, Sendestelle Heidelberg-Mannheim, inszeniert und 1975 uraufgeführt.

Personen:

Neil Summer, Biologe und Biochemiker

Leo, Geologe

George, Psychologe

Tomkin, Aktionsleiter

Pat, Freder, Leila: Freunde von Neil

Brenda, ein Mädchen aus der Sperrzone

Automatenstimme

Ort: Sperrzone, Partycenter

Zeit: ungefähr 2150

Musik, dazwischen gelegentlich schleifende und scharrende Geräusche sowie das Summen starker Motoren.

Musik bricht ab.

AUTOMATENSTIMME Achtung, Achtung! Hier spricht die automatische Kontrolle. Sie überschreiten eben die Grenze zum Sperrgebiet. Sie begeben sich in Gefahr. Der Aufenthalt in der Grenzzone ist untersagt …

GEORGE Nun sind wir also soweit. Ich hätte nichts von einer Grenze bemerkt. Siehst du einen Unterschied?

NEIL Es hat sich nichts verändert. Aber das liegt wohl daran, dass wir eine Wüste durchqueren.

LEO Diese Landschaft war nicht immer eine Wüste; sie wurde zur Wüste gemacht. Was sich hier befand, wurde mit Strahlenwerfern zusammengeschmolzen.

AUTOMATENSTIMME … Sie befinden sich im Sperrgebiet. Kehren Sie sofort um! Melden Sie sich beim nächsten medizinischen Kontrollposten!

NEIL Seltsam – sich einfach darüber hinwegzusetzen …

GEORGE Aber du weißt doch …

NEIL Trotzdem – ich hab’ ein flaues Gefühl im Magen.

LEO Hast du Angst vor Bakterien?

NEIL Die Transporter sind vakuumdicht abgeschlossen. Und gegen die radioaktive Strahlung schützen uns die Bodenplatten aus Blei.

AUTOMATENSTIMME Verlassen Sie das Sperrgebiet! Sie verlieren sonst Ihre Rechte als Weltbürger! Sie werden aus der Kartei gestrichen …

LEO Müssen wir uns das die ganze Zeit anhören?

GEORGE Wir können leiser drehen, das ist alles.

Die Automatenstimme tritt in den Hintergrund, ist nur noch als Gemurmel hörbar.

LEO Dort in der Ferne sehe ich was!

GEORGE Hier ist ein Fernglas.

LEO Es könnten schon die Ruinen sein.

Knistern von Papier.

NEIL Haben wir eine gute Karte?

LEO So gut, wie Satellitenvermessungen sein können. Sie zeigen die Oberfläche. Was sich darunter verbirgt – wer weiß es?

Fahrgeräusche abblenden.

TOMKIN Meine Herren, ich möchte Ihnen einige letzte Instruktionen geben. Was jeder im Einzelnen zu tun hat, ist bekannt. Ich muss Sie aber noch einmal darauf hinweisen, dass wir uns in einer Gegend befinden, die sich von unserem gewohnten Lebensraum grundlegend unterscheidet. Natürlich ist alles so gut vorbereitet, dass es zu keinen Zwischenfällen kommen sollte. Gegen Bakterien sind Sie durch Ihre Anzüge geschützt. Sie dürfen diese außerhalb der Unterkünfte nicht öffnen oder gar ablegen! Die eingebauten Dosimeter geben automatisch ein Warnsignal, sobald die Radioaktivität bedenklich wird. Entfernen Sie sich nie weiter vom Lager, als der Funkkontakt reicht! Prüfen Sie die Batterien, bevor Sie das Lager verlassen! Jeder trägt sich an der Schleuse in das Protokollbuch ein, sooft er eines der Gebäude verlässt. Vermerken Sie neben Ihrem Namen und dem Zweck auch Datum und Zeit! Und noch etwas: Im Hinterland lebt eine größere Zahl von Menschen – Abkömmlinge der Überlebenden des Atomkriegs. Es ist anzunehmen, dass sie degeneriert und krank sind. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass einige Versprengte auch in der Grenzzone leben. Vermeiden Sie jeden Kontakt – Beobachtungen sind zu melden! Im Übrigen erfolgen die Arbeiten nach Plan – Sie können den aktuellen Stand des Unternehmens auf den Displays ablesen. Ich will hoffen, dass keine Pannen eintreten und wir unser Soll wie vorgesehen innerhalb von drei Wochen erfüllen. Hat noch jemand Fragen? Kleine Pause. Niemand? Dann auf gutes Gelingen!

Geräusche von Schritten auf einer krustigen Oberfläche, gelegentlich das Knirschen von Sand.

(Da die Sprache durch die Gesichtsmasken behindert ist, hören sich die Gespräche der Männer ein wenig dumpf an.)

NEIL Du hattest recht, Leo: Wenn man hier unmittelbar im Gelände steht, so merkt man doch, dass alles anders ist.

LEO Warte nur ab, bevor wir aus dem Schmelzfluss heraus sind. Da vorn stehen schon die ersten Ruinen. Hier war einmal eine Stadt.

NEIL Für mich wäre freies Gelände interessanter – vorausgesetzt, es ist mit Pflanzen bewachsen, mit Buschwerk oder Wald.

LEO Was ist eigentlich deine Aufgabe, Neil? Du warst bei den ersten Besprechungen nicht dabei.

NEIL Eigentlich gehöre ich auch nicht dazu – ich bin Kandidat der Biologie und Biochemie und arbeite derzeit am Institut für Proteinsynthese. Ich habe darum angesucht, meine Dissertation über die Mikrofauna der Sperrgebiete machen zu dürfen. Das hat man mir bewilligt, und darum bin ich hier. Ticken des Geigerzählers.

LEO Vorsicht! Die Radioaktivität steigt.

Das Ticken wird rascher und nimmt dann wieder ab.

LEO Es war nur eine kleinere strahlende Insel – wahrscheinlich radioaktives Kobalt. Das ist ziemlich langlebig. Komm hier herüber nach links, da scheint es sicher zu sein.

Schritte, heftiges Atmen.

NEIL Etwas beschwerlich – die Bewegung mit den Anzügen, besonders wenn es bergauf geht!

LEO Du weißt ja selbst am besten, wie wichtig sie sind. Aber sag, was für Ergebnisse erhoffst du dir von deinen Untersuchungen?

NEIL Ich nehme an, dass es hier Mikrowesen gibt, die im Stadtbereich längst ausgerottet sind. Wie du weißt, existieren bei uns praktisch nur noch die hochgezüchteten Stämme der Darmflora, einige Pilzarten für Gerinnungs- und Gärungsprozesse und ein halbes Dutzend Algenarten, aus denen wir Eiweiß gewinnen. Hier könnten aus alter Zeit noch andere Arten übrig geblieben sein, vielleicht sind unter dem Einfluss der Radioaktivität auch neue entstanden. Das will ich herausbekommen.

LEO Schau, dort am Rande der Mauer ist ein Graben mit stehendem Wasser. Die grünen Krusten … sind das Algen, was meinst du?

NEIL Du hast recht, das muss ich mir anschauen. Ich werde einige Proben entnehmen.

LEO Soll ich warten?

NEIL Nein, danke, es könnte etwas länger dauern.

LEO Gut, ich werde mich inzwischen ein wenig im freien Gelände umsehen, ich habe einige sprengseismische Experimente vor – erschrick nicht, wenn es knallt.

NEIL Ist gut, Leo.

Schritte schleifen im Sand, leises Klirren der Probegläschen.

Neil summt leise vor sich hin.

BRENDA Hallo, was machst du hier?

NEIL Oh … wer bist du?

BRENDA Ich bin Brenda.

NEIL Ich heiße Neil.

BRENDA Und was machst du hier?

NEIL Ich entnehme Wasserproben. Ich untersuche die Mikrofauna – die kleinen Tiere und Pflanzen, die im Wasser leben.

BRENDA Und woher kommst du?

NEIL Ich komme aus der Stadt, von dort drüben her … Weißt du nicht, dass dort drüben Städte liegen?

BRENDA Doch, doch. Und du bist nur hierher gekommen, um unser Wasser zu untersuchen?

NEIL Aber ja, wozu sonst?

BRENDA Darf ich zusehen?

NEIL Gewiss, du störst mich nicht.

Schleifen im Sand, Klirren der Probegläser.

BRENDA Warum hast du einen weißen Anzug an und einen Helm auf dem Kopf? Ich kann dein Gesicht nicht sehen.

NEIL Die Luft ist voller Keime; wenn ich sie einatme, werde ich krank.

BRENDA Ich atme sie ein und bleibe gesund.

NEIL Ich wusste nicht, dass es hier Menschen gibt. Du siehst gesund aus – vielleicht stehen deine Augen ein wenig zu weit auseinander, und deine Nase ist ein bisschen kurz … aber das stört mich nicht. Du siehst hübsch aus, so wie du bist. Wie alt bist du?

BRENDA Ich bin fünfzehn. Ich möchte dein Gesicht sehen. Ich möchte sehen, ob deine Augen näher aneinander liegen als bei mir und ob deine Nase schöner ist. Nimm doch den hässlichen Helm ab!

NEIL Das geht nicht.

BRENDA Vielleicht willst du mir nur nicht in die Augen sehen, vielleicht stimmt nicht, was du gesagt hast. Ich kann mir nicht denken, dass du nur hierhergekommen bist, um nach winzigen Tieren und Pflanzen zu suchen. Sicher steckt etwas anderes dahinter. Was habt ihr mit uns vor?

NEIL Wir planen nichts Böses. Vielleicht können wir euch sogar helfen.

BRENDA Helfen? Wir brauchen keine Hilfe. Wobei wollt ihr uns helfen? Ich glaube eher, ihr wollt etwas von uns, wenn ich mir auch nicht denken kann, was es ist. Untersucht dein Freund auch das Wasser?

NEIL Wo ist er? Ich kann ihn nicht mehr erkennen.

BRENDA Dort drüben – ich sehe ihn gut. Er hat etwas in die Erde gesteckt und zieht jetzt einen Draht davon weg. Er legt sich hinter einen Felsblock – jetzt hat es geblitzt. Nach einigen Sekunden Verzögerung hört man den Donner der Detonation.

BRENDA Auf wen hat dein Freund geschossen?

NEIL Er hat nicht geschossen. Wir haben keine Waffen. Er untersucht die tief gelegenen Erdschichten. An der Oberfläche verursacht er eine Explosion und registriert, wann die Echos zurückkommen.

BRENDA Ich glaube dir nicht. Und wenn du gelogen hast, dann nimm dich in acht!

Geräusch von schnellen Schritten im Sand.

NEIL Halt, Brenda, wo läufst du hin? Bleib doch noch hier! Tanzmusik, dazwischen die Stimmen fröhlicher Menschen.

PAT Fein, dass du wieder bei uns bist, Neil! Wir haben dich vermisst. Ich war meist allein in dieser Zeit – ein paar Stunden an den Wochenenden, das ist doch zu wenig.

NEIL Ich bin froh, dass ich überhaupt kommen konnte. Aber ich freue mich, dich wiederzusehen! Du hast ein neues Kleid: Es steht dir gut!

FREDER He, hier ist ja unser Forschungsreisender! Haben sie dich auch gründlich entlaust? Man hört ja so mancherlei von den Zuständen bei euch.

LEILA Erzähl doch, Neil! Wie sieht es drüben aus? Ich finde es wirklich toll, dass du dabei sein darfst! Über Video haben wir einiges davon gesehen – wirklich aufregend!

PAT Ja, eine gefährliche Gegend. Ich kriege Angstträume, wenn ich daran denke.

NEIL So übel ist sie nicht. Freilich, alles ist ungeordnet, chaotisch … aber es steckt etwas Urwüchsiges darin. Selbst für mich ist es ungewohnt, den ganzen Tag über zu tun und zu lassen, was mir gerade Freude macht.

LEILA Ist es wahr? Gibt es Menschen dort? Hast du sie schon gesehen?

FREDER Ja – wie sehen sie aus? Sind es Monster?

Gelächter.

PAT Es wird Zeit, dass man sie einfängt und befriedet – das ist doch kein Leben, das sie dort führen!

FREDER Na, so sag schon, was wird mit ihnen geschehen?

NEIL Damit habe ich nichts zu tun. Aber es sind keine Monster. Ja, ich habe einige gesehen – von fern. Eigentlich sehen sie ganz normal aus. Natürlich werden sie ihr Gebiet für einige Zeit verlassen müssen, während es desinfiziert und saniert wird. Sie kommen in eine Klinik und werden angeglichen, soweit es geht – untersucht, behandelt … bei manchen werden Operationen nötig sein. Und dann folgt schließlich eine Phase der Umerziehung – sie müssen das nachholen, was sie bisher versäumt haben. Inzwischen wird das Gelände umgeformt. Luft und Boden werden entkeimt, alle nicht registrierten Formen von Tieren und Pflanzen eliminiert. Wir reißen die Ruinen ab und errichten neue, lichte Gebäude. Wenn sie zurückkommen, werden sie glücklich und zufrieden sein – wie wir.

Händeklatschen, Gelächter.

Rufe: Das hast du schön gesagt. Großartig, Neil!

PAT So, jetzt wollen wir aber tanzen! Deine langweiligen Untersuchungen laufen dir schon nicht davon.

NEIL Du hast recht, Pat. Und du musst mir noch erzählen, wer …

Abblenden.

Geräusche, vom Wind unterlegen. Trommeln der Tropfen auf das Kunststoffdach. Dazwischen Stimmen von Menschen.

GEORGE Scheußlich, dieses Wetter!

LEO Der Wetterdienst könnte sich auch etwas um uns kümmern!

GEORGE Kinder, das wird alles anders, wenn wir erst hier fertig sind! Im Moment sieht es nicht gut aus.

NEIL Was meinst du damit, George? Ich bin eben erst zurückgekommen – Wochenendurlaub. Hab’ ich was versäumt?

GEORGE Du hast es gut! Bei uns Psychologen ist man mit dem Urlaub nicht so großzügig.

LEO Hallo, Neil – hast du dir deine Waffen schon geholt?

NEIL Was für Waffen? Gibt es hier Waffen? Wozu?

GEORGE Na, sei nicht so naiv! Selbstverständlich haben wir Waffen mit – man kann ja nie wissen, wie jemand reagiert, der sich bedroht fühlt.

NEIL Aber man kann doch nicht mit Waffengewalt vorgehen – noch dazu gegen Wehrlose!

GEORGE Ob sie wehrlos sind, wird sich erst herausstellen.

LEO Vorderhand geben wir nur Schusswaffen mit Gaspatronen und Gummimunition aus. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen.

NEIL Also, was ist passiert?

GEORGE Die Leute weigern sich.

NEIL Du meinst, sie wollen nicht … Sie weigern sich gegen die Sanierung? Gegen die Aufnahme als Weltbürger?

GEORGE Genau das.

NEIL Aber sie müssen doch einsehen, dass unsere ganze Aktion nur dazu dient, das Leben für sie besser zu gestalten! Sie sollten sich freuen, aus ihren primitiven Löchern herauszukommen! Wir bieten ihnen alles, was die Zivilisation zu bieten hat. Wahrscheinlich haben sie nicht verstanden – sie wurden zu plötzlich mit allem konfrontiert. Man muss es ihnen mit Geduld erklären.

GEORGE Eben das habe ich versucht. Wir hatten ein Zusammentreffen mit einer Delegation vereinbart. Doch mit diesen Leuten kann man nicht reden. Wir haben ihnen alles genau auseinandergesetzt, und sie haben dazu genickt. Und dann haben sie unsere Vorschläge einfach abgelehnt. Ja, noch mehr: Sie haben uns aufgefordert, das Gelände unverzüglich zu verlassen.

NEIL Nun vermutest du, dass es zu Auseinandersetzungen kommt.

GEORGE Ich befürchte es zwar, aber ich glaube nicht daran. Sie wissen, dass wir ihnen überlegen sind. Die Ausgabe der Waffen ist nur eine Sicherheitsmaßnahme. Wenn die Leute einsehen, dass sie uns nicht hindern können, werden sie sich schließlich fügen.

NEIL Und wie geht es heute weiter?

LEO Schau aufs Display: Am Plan wurde nichts geändert. Ich setze meine geologischen Untersuchungen fort. Diesmal nehme ich den Schlepper – da geht’s bequemer. Willst du mitkommen, Neil?

NEIL Ja, gern. Vielleicht könntest du mich am Graben absetzen, wo ich schon zu arbeiten begonnen habe. Ich bin noch nicht ganz fertig geworden; gegen die Ruinen hin scheint die Konzentration der Mikroorganismen zuzunehmen.

LEO Na komm, dann steig ein!

Rauschen der Ketten im Sand.

AUTOMATENSTIMME Achtung, Achtung, wir prüfen die Funkverbindung. Das ist der zweite Aufruf: Neil Summer. Neil Summer, bitte melden!

NEIL Hier bin ich: Neil Summer. Verständigung gut.

AUTOMATENSTIMME Welche Lautstärke haben Sie eingeschaltet?

NEIL Lautstärke sechs.

AUTOMATENSTIMME In Ordnung. Ende.

Klirren der Probegläschen, Schrittgeräusche auf dem krustigen Boden, gelegentlich Glucksen vom umgefüllten Wasser.

BRENDA Hallo, Neil!

NEIL Ah – Brenda! Ich habe mich schon nach dir umgesehen.

BRENDA Ich saß hinter diesem Block. Ich habe dich beobachtet. Mit wem hast du gesprochen?

NEIL Ich hatte ein kurzes Gespräch mit dem Basislager. Routinesache – eine Verständigungsprobe.

BRENDA Du hast mich also doch angelogen – darüber bin ich sehr enttäuscht. Gestern drangen Freunde von dir in unsere Siedlung ein und stellten uns ein Ultimatum. Sie wollen uns gefangen nehmen.

NEIL Das habt ihr falsch verstanden. Niemand will euch zu etwas zwingen. Alles, was wir vorhaben, geschieht zu eurem Besten. Ihr lebt in einer Welt, die die primitivsten Regeln der Hygiene nicht erfüllt. Luft und Boden sind voll von Krankheitskeimen. Sie sammeln sich an eurer Haut, in eurem Körper. Überall gibt es radioaktive Substanzen. Sie lösen unkontrollierte Mutationen aus – bei Pflanzen und Tieren, ja sogar bei Menschen. Gewiss habt ihr schon die eine oder die andere krankhafte Abweichung festgestellt. Mit der Zeit werden immer mehr Gebrechen auftreten; das Leben wird zur Qual. Wir bringen euch für kurze Zeit fort, ihr werdet einer medizinischen Behandlung unterzogen. Inzwischen entstehen hier hübsche, neue Häuser. Eure schmutzigen Löcher verschwinden.

BRENDA In diesen schmutzigen Löchern sind wir zu Haus. Weißt du, wie schön es ist, in einem eigenen Haus zu leben?

NEIL Du wirst doch nicht behaupten wollen, dass ihr euch hier wohlfühlt!

BRENDA Du kannst dir nicht vorstellen, dass wir uns hier wohlfühlen? Willst du vielleicht behaupten, dass ihr euch in den Städten wohlfühlt?

NEIL Selbstverständlich fühlen wir uns wohl. Stockend. Warum auch nicht? Aber was weißt du schon von den Städten?

BRENDA Oh – ich weiß mehr von ihnen, als du denkst. Ihr lebt nach einem festen Plan, für jede Stunde ist euch vorgeschrieben, was ihr tun müsst: essen, schlafen, arbeiten, euch amüsieren. Auf Jahre hinaus kannst du feststellen, was du tun wirst. Aufstehen um 7.30 Uhr, um 22.00 Uhr Nachtruhe. Am Sonntag dürft ihr spazieren gehen – innerhalb der festgelegten Grenzen. Man schreibt euch sogar vor, wann ihr mit einem Mädchen zusammen sein dürft.

NEIL Wieso weißt du das alles so genau?

BRENDA Mein Vater stammt aus jener Stadt, aus der auch du gekommen bist.

NEIL Ich dachte, die Menschen, die hier leben, sind die Nachkommen von Überlebenden des Atomkriegs.

BRENDA Und das hast du geglaubt? Niemand hat hier den Atomkrieg überlebt. Alle Menschen, die du hier triffst, stammen aus den Städten – oder es sind ihre Kinder und Enkel. Es hat immer welche gegeben, die das Leben in den Städten satthatten. Das alles verschweigt man euch, weil man verhindern will, dass noch mehr davonlaufen.

NEIL Ich kann es nicht glauben. Wer würde sich schon freiwillig in eine solche Welt zurückziehen – eine Welt ohne Sicherheitseinrichtungen, ohne Schutz? Es müssen Wahnsinnige sein oder Verbrecher. Und was geschieht, wenn jemand krank wird? Zweifellos ist jeder von euch verseucht, auch wenn er es nicht gleich merkt. Wie hoch ist hier die Lebenserwartung? Wie alt wird man hier, wenn man nicht schon früher wegen einer Krankheit oder eines Unfalls umkommt?

BRENDA Unter uns sind Leute, die fünfunddreißig, ja sogar vierzig Jahre alt sind.

NEIL … und bei uns erreicht so gut wie jeder das siebzigste Lebensjahr.

BRENDA In den dreißig oder vierzig Jahren, die wir zu leben haben, sind wir frei.

NEIL Ich fürchte, du verstehst mich nicht. Ich meine es doch gut mit dir – für mich ist es ein schrecklicher Gedanke, dass du in dieser verkommenen Umgebung frühzeitig alt und gebrechlich wirst. Komm mit zu uns, bei uns ist es friedlich, niemand hat Angst, niemand braucht sich um den nächsten Tag zu sorgen! Du wirst sehen: Nach einigen Tagen erscheint dir dein früheres Leben nur noch wie ein böser Traum.

AUTOMATENSTIMME Achtung, Achtung! Alarmstufe eins! Achtung, Achtung! Alarmstufe eins! Jeder kehrt auf dem schnellsten Weg ins Basislager zurück. Schwer transportable Arbeitsgeräte sind zurückzulassen. Achtung, Achtung, Alarmstufe eins!

BRENDA Was ist geschehen?

NEIL Ich weiß es nicht. Ich muss zurück.

BRENDA Wirst du wieder hierherkommen?

NEIL Wirst du wieder hierherkommen?

BRENDA Ja.

NEIL Ich komme auch. Auf Wiedersehen.

Fahrgeräusche, das Zischen der Schleusentore. Aufgeregte Rufe.

LEO Hallo, Neil, ich habe dich gesucht – ich habe mir schon Sorgen gemacht – du warst nicht am Wassergraben.

NEIL Ich bin zu Fuß zurückgegangen. Es ist nicht weit. Was ist passiert?

LEO Hab’ noch nichts gehört.

GEORGE Ich kann’s euch sagen: Die sarkastisch friedlichen Bewohner dieser schönen Gegend haben einen Trupp von uns überfallen.

NEIL Wie ist das geschehen? … mit Waffen – oder …?

GEORGE Sie haben drei unserer Männer an der Quellfassung überrascht. Sie haben sie festgehalten und ihnen die Schutzanzüge heruntergerissen. Man hat sie sofort in die Klinik zurückgebracht, aber es steht schlecht: Sie sind durch und durch verseucht. Hoffentlich kann man alle Keime abtöten. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn sich bei uns Bakterien oder Viren verbreiten würden!

NEIL Und was hatten die Männer an der Quellfassung zu tun?

GEORGE Sie waren dabei, ein Schlafmittel ins Wasser zu schütten – ein harmloses Präparat, das die Leute müde und friedlich gemacht hätte. Das hätte ihnen viel Ärger erspart – es geschah nur zu ihrem Besten.

NEIL Man hätte sie um ihr Einverständnis bitten müssen. Mich wundert es nicht, dass sie sich gewehrt haben.

AUTOMATENSTIMME Achtung, eine Mitteilung der Kommandozentrale.

TOMKIN über die Lautsprecheranlage Gestatten Sie mir einige Bemerkungen zur Situation. Wie bekannt geworden ist, haben die Einwohner der Sperrzone einen Trupp unserer Männer überfallen, als sie ihrer Arbeit nachgingen. Trotzdem geben wir die Hoffnung nicht auf, die Sanierung mit friedlichen Mitteln durchzuführen. Allerdings sind einige Maßnahmen zum Schutz der Teilnehmer zu beachten. Zunächst wurde eine Hundertschaft von Sicherheitstruppen angefordert, die im Laufe der nächsten Tage hier eintreffen werden. Von nun an wird jeder, der sich in freies Gelände begibt, von einigen Soldaten begleitet werden. Bis zu ihrem Eintreffen darf die unmittelbare Umgebung des Lagers nicht verlassen werden. Ich danke Ihnen.

Die Geräusche der Fahrzeuge und der Schleusenautomatik klingen wieder auf, auch die Stimmen erheben sich sofort wieder.

Abblenden.

Geräusche einer Party, Tanzmusik.

PAT Oh, Neil, wie ich mich freue! Ich habe so furchtbare Dinge über eure Expedition gehört. Ist es wahr, dass ihr überfallen wurdet?

FREDER Hallo, Neil – wir sind schon alle gespannt auf deinen Bericht!

PAT Neil möchte sich zuerst ein wenig ausruhen. Leiser. Komm, Neil, wir setzen uns hier in die Ecke, und du erzählst mir alles. Was haben euch diese schrecklichen Menschen getan?

NEIL Ich frage mich, ob nicht wir es sind, die ihnen etwas tun wollen.

PAT Wie meinst du das?

NEIL Nun – genau genommen nehmen wir ihnen doch alles weg, was sie haben. Ihre Umwelt ist für unsere Begriffe nicht schön, aber ich habe den Eindruck, dass sie sehr daran hängen. Sie können nicht verstehen, dass wir sie von dort wegholen wollen. Was wir ihnen dafür anbieten, interessiert sie nicht.

PAT Das kann doch nur daran liegen, dass sie völlig degeneriert sind. Sie haben nicht den geringsten Sinn für Ordnung und Schönheit.

NEIL Nein – sie haben nur andere Vorstellungen von den Werten, die ein Leben lebenswert machen.

PAT Was besitzen sie schon, was sie hier nicht haben könnten!

NEIL Vielleicht ist es die Freiheit.

PAT Das hört sich an, als hättest du Verständnis dafür. Hast du mit ihnen gesprochen?

NEIL Dir kann ich es ja sagen, Pat: Ich habe ein Mädchen getroffen. Sie heißt Brenda. Wahrscheinlich hätte ich es melden sollen, aber ich habe es nicht getan.

PAT Warum nicht?

NEIL Ich weiß nicht. Ich hab’ mich mit ihr unterhalten. Es ist kein gebildetes Mädchen, aber was sie sagte, klang völlig klar. Sie hat mir ein wenig davon erzählt, wie sie dort drüben leben. Hast du gewusst, dass es keine Überlebenden des Atomkriegs sind? Es sind Flüchtlinge, Pat. Leute, die aus unserer Welt geflüchtet sind.

PAT Das können doch nur Wahnsinnige sein! Ich versteh’ das alles nicht, Neil. Ich glaube, dieses Unternehmen ist nicht gut für dich. Musst du denn wieder zurückfahren?

NEIL Aber gewiss, ich habe ja meine Arbeiten noch nicht abgeschlossen.

PAT Wer interessiert sich noch für deine Arbeiten, falls es wirklich zu Auseinandersetzungen kommt! Du wirst sie einstellen müssen, und das weißt du, Neil. Warum also willst du wieder zurückfahren?

NEIL Ich fürchte, Pat, du verstehst mich nicht. Ich habe dort drüben etwas begonnen, und ich möchte es zu Ende führen. Und ich habe das Gefühl, dass es sehr wichtig für mich ist, dabei zu sein.

PAT Ach, Neil, ich glaube, wir sollten jetzt nicht mehr darüber reden. Wir trinken ein Coke und sehen uns das Fernsehspiel an. Willst du? Wer weiß, vielleicht denkst du morgen ganz anders.

NEIL Vielleicht hast du recht, Pat. Sprechen wir nicht mehr davon.

Abblenden.

Arbeitsgeräusche, Klirren von Metall, Zurufe der Männer.

NEIL Was sind das für Gerüste, Leo?

LEO Es sind Lafetten.

NEIL Lafetten?

LEO Für Raketenwerfer.

NEIL Sie sind auf die Siedlung gerichtet.

LEO Wohin sonst?

NEIL Ich dachte, wir wollen mit friedlichen Mitteln vorgehen.

LEO Es ist ja nur eine Vorsichtsmaßnahme. Vielleicht ergeben sie sich, wenn wir ihre Häuser zerstören. Oder sie ziehen sich zurück – und dann haben wir unser Ziel genauso gut erreicht.

NEIL Wieso das Ziel erreicht? Unser Ziel ist es doch, diese Menschen in unsere saubere, geordnete Welt einzubeziehen.

LEO Und das glaubst du? Bist du vielleicht gekommen, um diese Menschen zu retten?

NEIL Du weißt, weswegen ich hier bin: um wissenschaftliche Untersuchungen zu machen. Das hast du doch auch vor.

LEO Soll ich dir sagen, warum ich hier bin? Unter diesem Ruinengelände liegt ein reiches Kohleflöz – eines der Letzten, das von den Menschen noch nicht abgebaut wurde. Du weißt – früher hat man die Kohle verheizt; heute brauchen wir sie als Basis für verschiedenste chemische Grundstoffe. Wenn wir nicht bald einige neue Kohlelager erschließen, dann sind wir mit unseren Kunststofferzeugnissen, unserer synthetischen Nahrung und unseren pharmazeutischen Präparaten am Ende. Jetzt weißt du es also: Es geht um uns, um unsere schöne, geordnete Welt! Diese paar Unglücklichen dort drüben sind uns völlig gleichgültig. Das Beste für sie ist es, ihre Siedlung aufzugeben. Das Ruinengelände ist riesengroß, im Hinterland finden sie genügend Schlupfwinkel, um sich zu verkriechen und ein ungebundenes Leben zu führen.

NEIL Und ich hatte gedacht … wir tun es für sie … um ihnen zu helfen, um sie zu schützen … Es wurden doch auch schon andere Gebiete saniert!

LEO Sie brauchen keinen Schutz. Wenn jemand Schutz braucht, so sind es wir. Von Jahr zu Jahr werden unsere Körper empfindlicher. Unsere Widerstandskraft erlischt. Einige Bakterien, vom Wind herübergeweht … und wir sind verloren. Es gäbe wieder Krankheiten und Seuchen, die Lebenserwartung würde um Jahrzehnte sinken. Was wir tun, tun wir aus Angst.

NEIL Ich habe es nicht gewusst, Leo … ich habe nicht darüber nachgedacht.

LEO Das ist es eben – niemand denkt noch nach.

NEIL Man kann aber doch nicht darüber nachdenken – und dann so weiterleben wie bisher.

LEO Vielleicht hast du recht – ich weiß es nicht.

AUTOMATENSTIMME Achtung, Achtung, eine Mitteilung der Kommandozentrale. Die Nachtruhe ist für heute auf 21.00 Uhr vorverlegt. Wecken am nächsten Tag um 6.30 Uhr. Damit sind alle bisher ausgegebenen Instruktionen hinfällig. Der Tagesplan für morgen bleibt vorderhand geheim; er wird erst nach dem Wecken ausgegeben. Ab sofort werden die Tagesrationen verteilt. Ende der Durchsage.

LEO He, Neil, wo willst du hin? Die Kantine ist dort drüben.

NEIL Ich hole mir das Essen später. Ich geh’ noch ein wenig hinaus – jetzt kann ich nichts essen.

LEO Aber in einer Stunde ist Nachtruhe.

NEIL leiser Ich bleibe nur kurze Zeit. Auf Wiedersehen, Leo!

Geräusche abblenden.

NEIL Brenda, hallo, Brenda.

Kurze Zeit Stille.

NEIL Brenda, Brenda, bist du hier?

BRENDA Hallo, Neil – du bist wiedergekommen.

NEIL Ich hatte es dir versprochen.

BRENDA Wir werden uns nicht mehr treffen können.

NEIL Wie meinst du das?

BRENDA Morgen wollt ihr uns angreifen – solltest du das nicht wissen?

NEIL Ich hab’ es geahnt. Was habt ihr vor?

BRENDA Was sollen wir vorhaben? Gegen eure Waffen können wir uns nicht wehren. Ihr habt Raketen und Brandgeschosse, Laser und Ultraschall. Die Bakterien und Viren, die ihr verwendet, sind weitaus schlimmer als all jene, die wir mit uns herumtragen. Was also bleibt uns übrig?

NEIL Wollt ihr euch ergeben?

BRENDA Keiner von uns ergibt sich. Wir ziehen uns zurück. Das alte Stadtgelände reicht fünfzig Kilometer weiter gegen das Gebirge zu. Dort oben ist das Klima ein wenig unfreundlicher, der Boden schwer zu bebauen. Aber was macht das, wenn wir unsere Freiheit behalten.

NEIL Gibt es auch jetzt noch … Flüchtlinge?

BRENDA Du meinst, ob es noch immer Menschen aus den Städten gibt, die lieber bei uns leben wollen?

NEIL Ja.

BRENDA Es gibt immer welche. Fast jede Woche kommt einer, manchmal auch zwei.

NEIL Und ihr nehmt alle auf?

BRENDA Ja, wir nehmen alle auf. Wer sich entschließt, bei uns zu leben, kann nicht mehr zurück. Wir haben nichts zu befürchten.

NEIL Ich möchte bei euch bleiben. Was muss ich tun?

BRENDA Zieh den Anzug aus.

NEIL Und die Bakterien?

BRENDA Hast du Angst vor Bakterien? Es kann schon sein, dass du eine Grippe kriegst oder eine Magenkolik. Aber das geht vorbei. Die Keime sind nicht so gefährlich, wie man es euch weismachen möchte. Man braucht nur ein wenig Mut.

NEIL In Ordnung. Brenda, ich glaub’ dir.

Schleifen des Reißverschlusses.

NEIL seine Stimme klingt jetzt, durch die Maske unbehindert, klarer als vorher So – und damit sind die Brücken abgebrochen.

BRENDA Ohne den Anzug gefällst du mir viel besser. Komm! Laufende Schritte.

Abblenden.

Vorlage zum Hörspiel »Expedition ins Niemandsland«

Regie: Andreas Weber-Schäfer

Ton: Fritz Gortner

Schnitt: Andrea Mammitzsch

Redaktion: Horst Krautkrämer

SDR Heidelberg-Mannheim, Red. Wissenschaft, 1975

Sendetermine: SDR 21.04.1975, BR 08.09.1978, BR 08.09.2006

Diese Daten stammen von Horst G. Tröster.

Herbert W. Franke: Papa Joe & Co.

Dieses Hörspiel wurde vom Bayerischen Rundfunk in Kunstkopftechnik inszeniert und 1976 uraufgeführt.

Stimmen:

Boris van Feldern – ein europäischer Diplomat

J. C. Boerk – dessen Mitarbeiter

Roger Theyly – amerikanischer Diplomat

Gene McEntire – Mitarbeiterin von Theyly

Papa Joe

Engel

Erster Priester

Zweiter Priester

Dritter Priester

Vorbeter bzw. Einpeitscher

Mann aus der Menge

Lehrerin

Verkäufer im U-Bahn-Schacht

Bettler

Reporter

Fotograf

Schwester

Arzt

Kopfhörerstimme

Ort: Hauptstadt von Neu-Amerika

Zeit: 2000 n. Chr.

1.

Hotelzimmer. In äußerster Eile, aber um möglichst wenig Geräusch bemüht, entnimmt Boris van Feldern einem Geheimfach seines Koffers ein Miniempfangsgerät. Hantierungen, die das Gerät betriebsbereit machen.

Dem Kunstkopf wird ein Kopfhörer aufgesetzt. Für den Hörer wird zunächst nur ein technisch zerhackter Wortsalat hörbar. Komplizierte Schaltungen an der Dechiffrierapparatur. Plötzlich ist die Stimme im Kopfhörer klar verständlich.

STIMME … aus diesem Grund ist zu vermuten, dass der Einladung ganz andere Absichten zugrunde liegen als die offiziell genannten. Es ist höchste Zurückhaltung geboten. Geben Sie keine Informationen über unser Staatswesen, die in Neu-Amerika nicht ohnehin bekannt sind!

Verhalten Sie sich korrekt, aber distanziert!

Vermeiden Sie private Kontakte!

Weisen Sie alle Geschenke, Gefälligkeiten, Einladungen usw. zurück, die Sie zu Gegenleistungen verpflichten könnten! Hüten Sie sich vor jeder Art psychologischer Beeinflussung! Nehmen Sie nur von Ihnen mitgeführte Medikamente zu sich! Bleiben Sie auch vorsichtig, wenn Sie sich unbewacht fühlen, denken Sie an Abhöranlagen, Fernsehspione und dergleichen!

Vergessen Sie nie: Sie befinden sich in einem Land, dessen gesellschaftliche Struktur uns fremd ist. Höchste Vorsicht ist geboten!

Bleiben Sie wachsam!

2.

Geräuschkulisse einer Massenversammlung im Freien. Standort: ein Balkon über dem Versammlungsplatz. Rufe, Sprechchöre, Lieder. Text und Regieanweisungen dieser Szene können verändert werden, wo das für die Produktion gesammelte Originaltonmaterial solche Veränderungen erforderlich macht.

Boris van Feldern ist für den Hörer die Identifikationsfigur. Während des gesamten Hörspiels befindet der Hörer sich an seiner Stelle. Seine Stimme muss der Hörer also »näher« orten als die übrigen Stimmen. Es ist quasi die Stimme des mitspielenden Hörers.

BORIS Noch nie habe ich so viele glückliche Menschen gesehen wie in den letzten Tagen.

THEYLY Diese Menschen sind gläubig.

BORIS Ja, das sind sie. Es ist schön, mit Menschen zusammen zu sein, die in ihrem Vertrauen und ihrer Zuversicht so einig sind. Und doch – irgendwas stört mich …

THEYLY aufmerksam Was stört Sie, van Feldern?

BORIS Eigentlich ist es paradox: Mich stört, dass sie so sicher sind, dass sie nicht den geringsten Zweifel haben.

THEYLY lacht kurz auf Woran sollten sie zweifeln? Für sie ist gesorgt. Und das wissen sie, das fühlen sie.

GENE Sehen Sie, da unten auf der Terrasse – die Apostel sind einmarschiert!

Der Jubel der Massen wird lauter.

GENE Kommen Sie hierher, an die Balustrade, van Feldern! Sie auch, Boerk! Hier haben Sie die beste Sicht.

BORIS Danke, Gene, ich sehe gut genug. Aber ich fürchte, ich werde schwindelig … Diese Dimensionen, dieses Menschenmeer!

GENE Heute ist der größte Feiertag unserer Gemeinschaft; es ist die einzige Gelegenheit, Papa Joe zu sehen. Viele sehen ihn zum ersten Mal. Nicht jeder darf an diesem Fest teilnehmen.

BOERK Nicht jeder? Ich dachte, hier herrscht volle Bewegungsfreiheit …

THEYLY Wir müssen Platzkarten ausgeben – alle können nicht untergebracht werden. Der Platz fasst eine Million Menschen; schon ihre Verteilung ist ein Problem; es dauert zwei Stunden, bis alle die ihnen zugewiesene Stelle eingenommen haben. In der Stadt leben aber zehn Millionen.

Der Platz ist mit einer starken Lautsprecheranlage ausgestattet. Einer der Lautsprecher ist rechts neben dem Balkon platziert. Bei Signalen oder Anweisungen über Lautsprecher wird das Geräusch der Masse weitgehend übertönt. Die Lautsprecheranlage wird eingeschaltet.

Fanfare über Lautsprecher.

Lauter Jubel der Massen.

VORBETER über Lautsprecher Papa Joe!

RUFE von unten Papa Joe! Papa Joe!

VORBETER falls technisch realisierbar, skandiert die Masse mit Papa Joe, mein Herz ist rein.

Schließ in dein Gebet mich ein.

Halte segnend deine Hand

über Stadt und über Land.

Wieder Jubel der Massen.

BOERK Wozu dient dieser riesige Bildschirm? Ich denke, der Präsident will sich persönlich zeigen.

GENE Sagen Sie nicht »Präsident«, Boerk! Natürlich ist er das kirchliche und das weltliche Oberhaupt – aber »Präsident«? Das hört sich an, als ob irgendeine Distanz besteht. Aber es gibt keine Distanz – er ist uns nah. Uns allen. Sagen Sie »Papa Joe« – wie wir.

BOERK Und warum dürfen wir verwendet den Namen nur zögernd »Papa Joe« nicht besuchen? Wir haben Grüße unserer Regierung zu überbringen. Es wäre uns eine Ehre.

THEYLY Papa Joe ist nicht mehr der Jüngste. Er lebt abgeschieden – in einem fernen Winkel dieses Gebäudes. Nur selten empfängt er Besucher. Aber vielleicht macht er bei Ihnen eine Ausnahme – wenn Sie erst genügend darauf vorbereitet sind. Ich bitte Sie um etwas Geduld.

Schlagartig verstärkt sich der Lärm.

GENE Der große Bildschirm ist eingeschaltet. Warum der Bildschirm, Boerk? Ganz einfach: Papa Joe wird dort unten am Fenster erscheinen, und alle werden ihn sehen können. Darüber aber, hundertfach vergrößert, wird sein Livebild noch einmal gezeigt. Darum kommen wir nicht herum: Die Leute sind gewöhnt, Bilder auf dem Bildschirm zu sehen. Fanfare über Lautsprecher.

VORBETER über Lautsprecher Papa Joe!

RUFE von unten Papa Joe! Papa Joe!

VORBETER falls technisch realisierbar, skandiert die Masse mit Papa Joe hat uns vereint,

Papa Joe ist unser Freund.

Hört ihr Menschen, fern und nah:

Papa Joe ist für euch da!

BOERK Wie lange dauert es noch, Theyly?

THEYLY Eine halbe Stunde etwa, wir haben noch Zeit. Hätten Sie Lust, sich ein wenig unter die Leute zu mischen? Sie können sich mit jedem unterhalten, und Sie werden von jedem bereitwillig Auskunft kriegen.

BORIS Wird man uns nicht als Fremde erkennen? Als Ungläubige? Gerade an einem solchen Tag …

THEYLY Die Anhänger von Papa Joe sind menschenfreundlich und weltoffen. Es sind keine religiösen Eiferer, keine Fanatiker mit Scheuklappen.

BORIS Aber so ein Fest ist eine Ausnahmesituation. Es steigert das Gefühl der Gemeinschaft, der Zusammengehörigkeit … Die Stimmung könnte sich rasch gegen jemand richten, der als Außenseiter empfunden wird.

THEYLY Mein lieber van Feldern, Sie scheinen ein religiöses Glaubensbekenntnis noch immer als ein Mittel zur Aufheizung von Emotionen zu betrachten; als Mittel, die Menschen in Angst und Hoffnung zu versetzen und sie dadurch um so sicherer zu unterdrücken. Wenn das der Fall wäre, könnte sich die Frustration der Massen bei solchen Veranstaltungen freilich Bahn schaffen und sich gegen alles Ungewohnte, Fremde richten. Aber gerade in den letzten Tagen sollten Sie gemerkt haben, dass das keineswegs so sein muss. Das ist ja gerade das Neue an Papa Joes Lehre: dass sie die Menschen tolerant und offen macht. Vielleicht sollten Sie auch im Hinblick auf Ihr eigenes Staatssystem darauf achten, wie wertvoll es ist, mit gutmütigen und zufriedenen Staatsbürgern zu tun zu haben.

BOERK Ich schlage vor, wir folgen Theylys Vorschlag und schauen uns die Sache einmal von unten an. Ich brauche etwas Bewegung, meine Knochen sind schon …

Abblenden.

3.

Geräuschkulisse der Massenversammlung. Standort: inmitten der wartenden Masse.

BORIS etwas außer Atem Eigentlich möchte ich nicht weitergehen. Dieses Gedränge ist ja furchterregend.

GENE Geben Sie mir Ihre Hand – wir verlieren uns sonst.

THEYLY Hier diese Nische, hier ist es ruhiger. Wir sind ausgerechnet in die Aufmarschkolonne geraten.

Gesang.

BOERK Diese Leute sind ja völlig außer Rand und Band. Als wollten sie jeden Moment losstürmen.

GENE Sie können es nicht erwarten, Papa Joe zu sehen. Verstehen Sie das nicht? Sie können es kaum erwarten, Papa Joes Segen zu empfangen.

BOERK murmelnd Versteh’ ich nicht.

THEYLY Wollen Sie sich nicht mit einigen Leuten unterhalten? Suchen Sie sich jemand aus – es ist ganz gleich, Sie werden von allen dasselbe erfahren.

BORIS Na schön … Vielleicht der Mann da drüben …

THEYLY Verzeihen Sie, Glaubensbruder! Dürfen wir Sie einen Moment stören? Wir haben Freunde hier – vom europäischen Kontinent. Würden Sie einige Fragen beantworten?

MANN Aber selbstverständlich, ich stehe gern zur Verfügung. Sehen Sie, meine Frau kränkelt ein wenig, deshalb sind wir hier hinten geblieben.

BORIS Hätten Sie das Fest nicht auch von zu Hause aus verfolgen können, über den Bildschirm?

MANN Natürlich, das wäre möglich. Aber sehen Sie, nirgends spürt man die geistige Kraft von Papa Joe so stark wie hier, in seiner unmittelbaren Nähe.

BORIS Gehören Sie auch zu seiner Glaubensgemeinschaft?

MANN Aber ja, sonst wäre ich nicht hier.

BORIS Aber es gibt doch auch Menschen, die nicht an Papa Joe und seine Lehre glauben. Meinen Sie nicht, dass einige davon unter uns sind – vielleicht aus Neugierde, aus Sensationslust?

MANN Das kann natürlich sein … Vielleicht einige wenige … Psychopathen vielleicht; oder Entartete. Aber die zählen nicht.

BORIS Schönen Dank für die Auskunft!

Der Lärm nimmt zu.

RUFE Ah! Jetzt kann es nicht mehr lang dauern … Das Bild ist da. Drängelt doch nicht so! … Gehen Sie zur Seite, Sie verstellen mir die Sicht!

THEYLY Da drüben ist eine Lehrerin mit ihren Schülern. Ich hole sie. Wir haben noch ein paar Minuten Zeit.

BORIS Ja, gern. Aber ich komme hier kaum durch …

THEYLY Warten Sie, ich mach’ das schon. Weiter weg. Verzeihen Sie, Kollegin, würden Sie einige Fragen beantworten … Wir haben hier einige Gäste, die von weither kommen.

LEHRERIN Ja, bitte, wenn es schnell geht … Die Kinder sind sehr ungeduldig.

THEYLY Stellen Sie Ihre Fragen, van Feldern!

BORIS Von welcher Schule kommen Sie?

LEHRERIN Aus unserer Einheitsschule natürlich, aus dem dreiundsechzigsten Bezirk.

BORIS Meinen Sie, dass die Kinder verstehen, worum es geht?

LEHRERIN Ihre Frage ist nicht ganz richtig gestellt. Man kann Papa Joe nicht verstehen, man muss ihn in sich fühlen, in sich hören. Natürlich gelingt das erst voll und ganz, wenn das Sakrament der Taufe vollzogen ist. Der wichtigste Teil unseres Unterrichts ist eine Vorbereitung auf die Taufe. Sie ist zugleich der Abschluss der Schule – dann sind die Kinder reif, um ins Leben zu treten, um ihre Entscheidungen frei zu fällen.

BORIS Sind auch die Kinder schon Angehörige von Papa Joes Religionsgemeinschaft?

LEHRERIN Nein – das werden sie erst mit der Taufe. Aber die meisten von ihnen sind Volontäre. Ihre Eltern haben gelobt, sie in die Große Gemeinschaft einzuschreiben.

BORIS Haben die Jugendlichen dann noch die Freiheit, den Eintritt zu verweigern?

LEHRERIN erstaunt Den Eintritt in die Kirche verweigern? Wer würde das tun? Es wäre einfach – absurd, nicht wahr?

BORIS Und was geschieht mit den Kindern von Nichtgläubigen? Gehen diese in andere Schulen?

LEHRERIN Es gibt keine anderen Schulen. Papa Joes Partei hat auch in der Regierung die Priorität. Papa Joe hat sich immer schon für ein gutes Unterrichts- und Erziehungssystem eingesetzt …

Von Zeit zu Zeit wird der Lärm stärker. Eine Verständigung ist immer schwieriger.

LEHRERIN … eine der ersten sozialen Leistungen, die wir ihm verdanken, ist seine Einheitsschule. Und die ist natürlich für alle Kinder da – ob sie nun aus gläubigen Familien stammen oder nicht.

BORIS Ich weiß nicht genau, ob Sie verstehen, was ich meine: Auf diese Weise besteht ja gar keine Möglichkeit, einen anderen Weg zu wählen als den in Papa Joes Religionsgemeinschaft. Bedeutet das nicht eine starke Einschränkung der Entscheidungsfreiheit?

LEHRERIN Aber nein! Erst in Papa Joes Gemeinschaft ist man wirklich frei. Durch die Taufe erhält man die Freiheit, das Richtige zu tun. Und was gäbe es Richtigeres, als sich in die Große Gemeinschaft einzufügen, sich Papa Joe und den Engeln anzuvertrauen, ein erfülltes Leben zu haben …

Aufbrausender Jubel, der jedes Gespräch unmöglich macht.

BORIS schreit: Schönen Dank!

GENE nah an Boris’ Ohr Passen Sie auf, gleich wird sich Papa Joe zeigen. Oh – ich spüre ihn schon. Spüre ihn ganz stark. Gleich ist er mitten unter uns.

Aufbrausender Jubel.

RUFE Papa Joe, Papa Joe, Papa Joe!

THEYLY Wollen Sie noch jemand fragen? Oder Sie, Boerk?

BORIS Nein, danke.

BOERK gleichzeitig Nein.

Der Lärm wird immer lauter. Dazu über Lautsprecher ein Fanfarensignal.

THEYLY Das ist das Zeichen! Sehen Sie, das Fenster ist bereits offen.

Der Lärm wird ohrenbetäubend.

THEYLY mit erhobener Stimme Es ist gut, dass Sie das selbst erleben, meine Herren – hier mitten im Volk. Hier sehen Sie, dass es echt ist.

Jubel braust auf.

RUFE Papa Joe, Papa Joe …

THEYLY schreiend Ja, wir haben es geschafft – mithilfe von Papa Joe. Ein ganzes Volk, Millionen, in Frieden vereint …

GENE gellend Papa Joe. Ich sehe ihn! Oh, Papa Joe!

Ohrenbetäubender Jubel. Harter Schnitt. Stille.

4.

Dem Kunstkopf wird wieder der Kopfhörer aufgesetzt. Schaltgeräusche wie zu Beginn von Szene 1. Pilotton. Dann:

STIMME Es ist das erste Mal seit fünfzehn Jahren, dass wieder eine offizielle Verbindung zwischen Europa und Amerika zustande kommt. Damals wurden alle Kontakte eingefroren: Post, Funkverkehr, Flüge, Schiffsverbindungen und so weiter. Natürlich war es den neuen Machthabern nicht möglich, alle Kontakte auf Anhieb zu unterbinden. Wir erfuhren, dass die religiöse Gruppe um einen Prediger, der sich Papa Joe nennen ließ, mit einem unblutigen Staatsstreich die Macht übernommen hatte. Papa Joe wurde zum Präsidenten ausgerufen, und er besetzte alle Ämter mit hohen Würdenträgern seiner Kirche, die als Apostel bezeichnet wurden. Jeder Kontaktversuch nach außen wurde unter Strafe gestellt. Internationale Institutionen mit Sitz innerhalb der Landesgrenzen wurden – ebenso wie alle übrigen Ausländer – des Landes verwiesen. Die Mitgliedschaft in militärischen oder wirtschaftlichen Pakten wurde aufgekündigt. Alle im Ausland lebenden Amerikaner wurden rückgerufen oder gingen – bei Verweigerung der sofortigen Rückkehr – ihrer Staatsbürgerschaft verlustig.

Schon bald nach der Machtübernahme kam es zu einer schlagartigen Unterbrechung auch der heimlichen Funkkontakte sowie der Satellitenüberwachung. Ein neuartiges technisches Verfahren erlaubte offenbar die totale Abschirmung gegen traditionelle Observierungsmethoden.

In der Zwischenzeit waren wir auf Berichte einiger weniger Flüchtlinge angewiesen – meist primitive Bewohner von Grenzgebieten: Indianer, Araukaner, Eskimos. Wir konnten daraus nur entnehmen, dass sich das System Papa Joes immer mehr konsolidierte. Dissidenten wurden rücksichtslos verfolgt.

Die Einladung zu einem Kulturaustausch kam völlig überraschend. Nach den Informationen, die man uns überlassen hat, handelt es sich jetzt um einen friedlichen Staat, in dem geregelte Verhältnisse herrschen. Über den Lebensstandard, die Einstellung der Bevölkerung, ihre Lebensweise, ihre Interessen, ihre Loyalität der Regierung–und damit der Kirche Papa Joes gegenüber sind wir uns nicht im Klaren. Es besteht kein Zweifel daran, dass man versuchen wird, Ihnen das Leben von der Sonnenseite her zu zeigen. Lassen Sie sich nicht täuschen!

Seien Sie auf der Hut!

Vergessen Sie nie, dass man Ihnen nur zeigt, was man Ihnen zeigen will!

Lassen Sie sich nicht beeindrucken!

Achten Sie auf alle Anzeichen von Manipulation, Unterdrückung, Gewalt!

Aber lassen Sie sich nichts anmerken!

Seien Sie auf der Hut!

5.

Straßenverkehr. Darunter ungewohnte Geräusche: Sausen von Elektromotoren. Gleitgeräusch der Schienentaxis. Pressluftantrieb von Schwebecars.

Falls es sich als technisch unmöglich erweisen sollte, die Bewegung der Sprechenden über eine längere Strecke abzubilden, kann in dieser Szene mit harten Schnitten gearbeitet werden, die das Zurücklegen einer Strecke andeuten. Etwa: Inneres einer Kabinenbahn – Plattform – Fahrstuhl nach unten – Rolltreppe – aufgelassener U-Bahn-Schacht – usw. Die Sprechenden würden in diesen schnell wechselnden Szenerien jeweils ohne längere Gänge auskommen.

BORIS hastig Ist es noch weit?

BOERK Ich konnte ihn schließlich nicht ins Hilton bringen.

BORIS Ob man uns verfolgt?

BOERK Ich kenne die beiden, die uns heute überwachen. Vorhin im Kaufhaus haben wir sie abgeschüttelt. – Jetzt hier runter! Grotesk, dass die Rolltreppe noch funktioniert!

Die Hintergrundgeräusche werden dumpfer. Innenraum. Geräusch der Rolltreppe.

BORIS Wieso grotesk!

BOERK Da unten gibt es alles, was es oben nicht geben darf: Bordelle, Bettler, Bücherläden, Kneipen, Antiquitäten … Vorsicht! Stolpern Sie nicht!

Das Geräusch der Rolltreppe wird leiser, hört auf. Allmählich lauter werdendes Rauschen von Wasser. Dazwischen hört man eine uralte, verstimmte Spieluhr.

BOERK Eine aufgelassene U-Bahn-Station. Hinter der durchbrochenen Wand da ein Abfluss der städtischen Kanalisation.

BORIS Widerlich.

VERKÄUFER Was suchen Sie? Ich habe noch einige echte Playboy-Hefte hier.

BOERK Nein, danke.

VERKÄUFER hinter ihnen, leiser werdend Oder wollen Sie ein Mädchen? Ich könnte …

BOERK ungeduldig Na los. Hier sind wir schon.

BORIS Wer ist es? Einer von denen?

BOERK Es sind Ausgestoßene. Dissidenten.

BORIS Alle?

BOERK Hier bin ich wieder. Und hier ist der Tabak, den ich Ihnen versprochen habe.

BETTLER Geben Sie her!

BOERK Moment. Jetzt erzählen Sie erst mal: Sie sind doch Samuelson. Stimmt’s?

BETTLER Samuelson. Kann schon stimmen. Wenn Sie wollen, bin ich Samuelson. Geben Sie die Schachtel her!

BOERK Sie sind Samuelson. Professor Robert Samuelson. Sie haben mehrere soziologische Werke geschrieben. Vor Papa Joes Zeit wurden Sie in aller Welt gelesen. Zum Beispiel: »Der zweite Aufstieg Amerikas – Chancen für die junge Generation« – so hieß eins Ihrer Bücher.

BETTLER Was reden Sie da? Das muss lange her sein. Bücher …

BOERK Was hat man mit Ihnen gemacht? Wieso sind Sie hier?