DER ATEM DER SONNE - Herbert W. Franke - E-Book

DER ATEM DER SONNE E-Book

Herbert W. Franke

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Beschreibung

Diese Kurzgeschichtensammlung vereinigte seinerzeit bereits vorgelegte Erzählungen, darunter die mit dem Kurd-Laßwitz-Preis als beste SF-Geschichte des Jahres ausgezeichnete Titelerzählung, mit Texten, die zum ersten Mal erschienen. In der Science-Fiction kommt gerade kürzeren Erzählungen eine besondere Bedeutung zu; in ihnen lassen sich denkmögliche Situationen pointiert herausstellen, dramatisch zugespitzt, und in ihren paradoxen Konsequenzen ausloten. Gerade im Entwerfen einer dramaturgisch interessanten Situation, die dem Leser das Vergnügen des Weiterdenkens bietet, war Franke Meister. Abgesehen vom SF-typischen Themenkreis konzentriert sich diese Sammlung auf ein besonderes Thema: das Durchspielen und Ausmalen der ungeheuerlichen, aber auch neue Freiheiten eröffnende Möglichkeiten des Computers. Diesem geradezu unerschöpflichen Thema vermag Franke immer wieder neue Perspektiven, überraschende Ausblicke abzugewinnen. Diese Geschichten unterhalten, sind aber zugleich auch eine Einübung in die offenen Möglichkeiten der Zukunft. »Fortschritt und Verarmung, Programmierung und Leidenschaft, Funktionieren und Denken, Wissenschaft als Steuerungsinstrument und als Religion. Auf solchen Gegensatzpaaren, dialektisch miteinander verbunden, sind fast alle Geschichten aufgebaut. Lösungen bieten sie nicht an, es sei denn, dass sie dem Leser den qualitativen Sprung suggerieren, der die Gegensätze auf einer anderen Ebene aufheben würde.« (DIE ZEIT)

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Herbert W. Franke

DER ATEM DER SONNE

Science-Fiction-Erzählungen

SF-Werkausgabe

Herbert W. Franke

Band 18

hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch

Herbert W. Franke

DER ATEM DER SONNE

Science-Fiction-Erzählungen

SF-Werkausgabe Herbert W. Franke

Band 18

hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2024 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

www.art-meets-science.io

Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de

Die Originalausgabe ist 1986 im Suhrkamp Verlag erschienen.

Titelbild: Thomas Franke

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

E-Book-Erstellung: global:epropaganda

Verlag

art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

c/o mce mediacomeurope GmbH

Bavariafilmplatz 3

82031 Grünwald

ISBN 978 3 911629 17 1

Der Atem der Sonne

Ein Meer aus leuchtendem Rot, bedrohlich, schwindelerregend: ein Abgrund! Rote Glut, langsame Strömung unter silbernen Lichtschleiern. Andere Teile blendend klar – treibende Schlacken? Inseln? Gebirgszüge? Menschliche Maßstäbe reichen nicht zur Beschreibung.

Ein Ball aus Hitze und Licht, unverrückbar in den Raum gesetzt, Bezugspunkt eines kleinen Universums, lebensvermittelnd und tödlich zugleich. Die Ruhe nur scheinbar: Rotation, Verschiebungen, gerade in ihrer Langsamkeit überwältigend. Und doch: ein Chaos aus elementaren Prozessen, Anfang und Ende der Welt. Was unter der brennenden Flüssigkeit geschieht? Wechselspiel aus Aufbau und Vernichtung, gezähmt lediglich durch die eigene Kraft, Lichtdruck, Gravitation, die in der komprimierten Materie des Inneren zu Naturgewalten werden.

Die Bewegung ruhig, die Strömung langsam. Stille. Doch der Frieden ist nicht ungeteilt. Da und dort ein Ausbruch, Eruptionen, Fackeln, Fontänen aus überhitzten Gasen, Stoff im Urzustand, leuchtende Perlenschnüre, im Sonnenwind wie Seile aufgespannt. Schwankungen der Helligkeit, Abglanz der gespannten Chromosphäre, kosmische Gewitter: Warnsignale für Katastrophen, bei denen Kontinente vernichtet und neu geboren werden.

Es gibt nichts in unserer Welt, das diesem Anblick gleichkäme.

Noch vor wenigen Wochen hätte es sich keiner von ihnen träumen lassen, der Sonne so nahe zu kommen. Gewiss erscheint sie auch vom Merkur aus höchst eindrucksvoll, und das hatte die Trans-All-Touristik AG ja schließlich dazu bewogen, Abenteueraufenthalte auf diesem Planeten anzubieten. Die Hotelanlage allerdings lag aus Sicherheitsgründen auf der der Sonne abgewandten Seite; und so konnten sie das große Schauspiel nur während jener kurzen Fahrten genießen, die sie um die Lichtgrenze herumbrachten – aus dem Bereich lebloser Erstarrung in eine andere, ebenso lebensfeindliche Zone, die von den vielfachen Strahlungsarten des Zentralgestirns erfüllt war.

Was hatte sie dazu bewogen, die Bequemlichkeit des Erholungszentrums mit einem risikoreichen Aufenthalt im ungedämpften Sonnenwind zu vertauschen? Vielleicht war es die Langeweile, enttäuschte Erwartung, von den Managern von All-Tourist in unerreichbare Höhen geschraubt. Nur wenige Tage, in denen sich das Interesse aufrechterhalten ließ, das Bewusstsein, sich weitab der Erde in kaum bekannten Regionen zu befinden. Einmal nicht Mond oder Mars, Saturn oder Jupiter, hinaus in die leeren und einsamen Weiten des Weltalls, sondern nach innen der Sonne entgegen … Schließlich die Enttäuschung: Von hier aus sah das Zentralgestirn, von dem ihnen so viel vorgeschwärmt worden war, auch nicht anders aus als durch ein gutes Teleskop. Achtundfünfzig Millionen Kilometer Entfernung von der Sonne – das bedeutet, dass sich ihre lichterfüllte Fläche um mehr als das Vierfache vergrößert hatte: eine Erkenntnis, die Begeisterung kaum lange aufrecht zu erhalten vermag. Bald war das interessanteste Ereignis des Tages die Veröffentlichung des Speisezettels über die interne Videoanlage. Sie begannen, die Tage bis zur Rückfahrt zu zählen.

Und dann die aufregende Entdeckung des zweiten Piloten, des blonden Ungarn Teo Holasz. Er hatte, durch dicke Filterschichten hindurch, jenen Punkt gefunden, der sie alle so sehr in Aufregung versetzte. Ein dunkler Punkt vor der gleißenden Sonnenscheibe, der sich nur unter extremer Vergrößerung als winziges, unregelmäßig begrenztes Scheibchen entpuppte. Er wanderte langsam dahin, auf einer elliptischen Bahn, die gegen die Ekliptik weitaus stärker geneigt war als die Umlaufbahn des Merkur. Ein unbekannter Himmelskörper? Ein neuer Planet? Höchstens ein Asteroid, denn wie Teo nach kurzen Berechnungen bekannt gab, hatte das Ding nicht viel mehr als fünfzehn Meter Durchmesser. Es konnte sich also auch um ein technisches Gebilde handeln; aber war es damals, in der Blütezeit der wissenschaftlichen Raumfahrt, schon möglich gewesen, so tief in den strahlenerfüllten Raum hineinzutauchen? Sie ließen sich die Daten von der Erde geben, erhielten aber keinen Aufschluss: Der Größe nach hätte es eine Station sein können, die seit mehr als dreihundert Jahren als verschollen galt, doch die Angaben über die Umlaufbahn sprachen dagegen – die alte Station hatte sich in weitaus größerer Entfernung über der Sonnenoberfläche befunden, und offensichtlich war es damals auch gar nicht möglich gewesen, so nahe heranzukommen.

Die Debatten über die Entdeckung waren eine willkommene Unterbrechung des gleichförmigen Tagesablaufs, und bald wurde die Frage laut, ob es mit der Fähre möglich sein könnte, der Sache auf den Grund zu gehen. Der Cheftechniker der Station wie auch die beiden Piloten waren sich einig, dass der Strahlenschutz genügen müsste. Immerhin verfügten sie über gammastrahlenabsorbierende Schwerelement-Abschirmungen und über magnetische Schutzfelder gegenüber allen Arten elektrischer Ladungen. Schließlich war es der Starreporter Mark Ballardi – der eigentlich Max Ballauschek hieß –, von dem der entscheidende Anstoß kam. Wenngleich er den Angehörigen der Reisegesellschaft ebenso wie der Besatzung durch anmaßendes Benehmen unangenehm aufgefallen war, so schien er doch Mut und Einsatzfreude zu besitzen; die Gefahren, die eine weitere Annäherung an die Sonne mit sich bringen musste, schienen ihn nicht zu schrecken.

Es war auch Ballardis Wunsch, dass sich Eva Zoerner an dieser Expedition beteiligte. Offenbar bewunderte sie ihn, fühlte sich aber andererseits – wie sie den Reisegenossen gegenüber offen zugab – auch von ihm abgestoßen. Vermutlich nahm der Reporter den Abstecher in den sonnennahen Raum als gute Gelegenheit, alle Zweifel zu beseitigen, die Eva noch an seiner Persönlichkeit haben mochte.

Fünfte Teilnehmerin der Expedition war Petra Dorstig, von der man eigentlich nur wusste, dass sie in einer Handelsorganisation eine leitende Funktion hatte. Offenbar hatte es genügt, dass sie gegenüber der Reiseleitung ihren Wunsch zur Teilnahme bekundet hatte –, ohne großes Aufheben schlug sie einige Konkurrenten aus dem Feld, die ganz gern mitgekommen wären. Wahrscheinlich ging es ihnen nur darum, die Zeit bis zur Rückreise in den Heimathafen zu verkürzen, und so war ihr Protest gegen die Bevorzugung von Petra Dorstig nur verhalten.

Selbst aus einer Entfernung von vielen Millionen Kilometern von der Sonne ist der Eindruck des Riesenhaften überwältigend. Im Gegensatz zu anderen Himmelskörpern, die zu schweben scheinen, durch Trägheit und Gravitation in Bewegung gehalten, erscheint die Sonne absolut unbeweglich, in einem festen Punkt des Raums verankert. Trotz vielfacher Unregelmäßigkeiten, Hell-Dunkel-Schichten, ringförmig um die Drehachse angeordnet, Nebelwolken strahlender oder lichtbrechender Teilchen und vielen anderen Details einer komplizierten träge bewegten Struktur ist ihr eine eigenartige, makellose Schönheit zu eigen, das geometrische Ebenmaß der Kugel, aus einer unvorstellbar großen Ansammlung von Materie gebildet. Und dieser Feuerball, eingebettet in einen Abgrund von Schwarz, das in der Umgebung – wahrscheinlich nur eine optische Täuschung – von Sternen frei zu sein schien. Diese Begrenzung, mit all ihrer geometrischen Perfektion, befindet sich dennoch in ständiger Bewegung – ein Wellenschlag, der sich weniger in einem schwankenden Auf und Ab äußert als in einer seltsamen Lichterscheinung, einem ständig veränderten Glimmen und Weben, dessen Abglanz weit in die Umgebung hinein reicht. Die Aura der Sonne, ein unbeschreiblich weicher Übergang von blendender Helle in absolute Dunkelheit, Materie, aus dem feurig-flüssigen Verband ausgedampft, ein heißer, elektrisch gespannter Dunst, der selbst zu leuchten scheint. Da und dort aber auch Fontänen, die sich weit über den Horizont erheben, manchmal nur ein dünner Strang, der sich von der Oberfläche löst und erst irgendwo in unermesslichen Höhen in Äste zerstiebt, ein Glutregen, der in langen Fäden wieder abwärts fällt, wie eingesogen vom Kraftfeld, dessen Existenz fast körperhaft zu empfinden ist.

Es war kein Asteroid, kein natürliches Gebilde, vom Schwerefeld der Sonne eingefangen, sondern eine Station, ein Observatorium, und es musste aus jener Zeit vor dreihundert Jahren stammen, als die Erlangung wissenschaftlicher Daten noch als kultureller Auftrag galt. Inzwischen interessierte sich niemand mehr dafür, Kultur spielte sich in einem geistigen Bereich ab, jede Anlehnung an materielle Dinge galt als Rückgriff auf eine archaische Zeit, als sich der Mensch noch durch die Mächte der Natur oder einer aus den Fugen geratenen Technik bedroht gefühlt hatte. Aus diesen Tagen stammte die Kenntnis, wie man die Systeme in Gang hielt, was glücklicherweise vor allem mithilfe von Automaten möglich war.

Natürlich war es ein leichtes, die Daten über die frühen Unternehmungen der Weltraumfahrt von der Erde abzurufen, und das hatten sie auch getan. Dort hatte man es aber, wie es schien, nicht besonders eilig gehabt, und so waren sie ohne diese Informationen gestartet; man könnte sie ja immer noch übermitteln. Wie sich herausstellte, war die Funkverbindung aber stark gestört, sobald sie aus der Schattenzone kamen, und so begnügten sie sich mit einigen routinehaften Meldungen. Sie machten sich auch keine besonderen Gedanken, als die Verständigung schon kurz darauf abbrach. Wenn das kleine Raumboot, das sonst nur Besichtigungszwecken diente, auch nicht gerade bequem ausgestattet war, so genügte es doch allen Geboten der Sicherheit. Ja, noch mehr: Energieversorgung, Lebenserhaltungssysteme, Strahlungsschutz und noch vieles andere waren auf jene nahezu völlige Risikolosigkeit angelegt, wie sie für Touristikunternehmen vorgeschrieben war.

Durch die dicken Filterscheiben hindurch, deren Absorptionswert automatisch auf die Empfindlichkeit des menschlichen Auges eingeregelt wurde, beobachteten sie die Sonne, und schon nach zwanzig Stunden, kurz nach der Nachtruhe, auf deren Einhaltung Kapitän Gray bestanden hatte, konnten sie den dunklen Körper ihres Ziels mit freiem Auge erkennen. Aber natürlich hatten sie sich schon vorher der an Bord befindlichen Teleskope bedient und das Objekt bildfüllend auf die angeschlossenen Monitore gebracht. So konnten sie bald die typische Form altertümlicher Raumstationen erkennen, einen unregelmäßig gekanteten Körper mit vielerlei Streben und Auswüchsen, dazu mehrere nach allen Seiten abstehende Antennensysteme und die weit ausladenden Sonnensegel, damals – im Zeitalter vor der Kernfusion – die beste Möglichkeit, Satelliten und Raumlaboratorien mit Energie zu versorgen.

Für einige Stunden beschleunigten sie auf sechzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit, durch ihre Gravitonenspulen vor dem Andruck geschützt. Es dauerte keine dreißig Stunden, bis sie in unmittelbarer Nähe der Station lagen. Jetzt endlich hatte sie dreidimensionale Form angenommen, sie wirkte primitiv und urwüchsig, ihr fehlten die meisten jener schon selbstverständlich gewordenen Ausstattungen der modernen Weltraumfahrt – der vom Hauptsystem abgesetzte Reaktorteil, die Antigravspulen, die Feldinjektoren für die Kollisionsschutzsphäre –, dafür wies es einige altertümliche Teile auf, deren Bedeutung längst vergessen war. Die Metallhülle blinkte nur matt, sie schien aufgeraut, verrostet – Spuren der Jahrhunderte hindurch aufprallenden Materieteilchen. Die Station wirkte wie ein totes Insekt, die Flügel in der Erstarrung ausgebreitet, die Beine im Krampf ausgestreckt, der Sonne den Rücken zugewandt. Sie sahen, dass sie es mit einem Wrack, mit einer Ruine zu tun hatten, Erscheinungsbild der Vergänglichkeit angesichts der Allgewalt der Sonne. Zum ersten Mal spürten sie so etwas wie einen Schauder, erfassten das Ausmaß der Einsamkeit, in der sich der Mensch in dieser Region befindet.

»Und was jetzt?« Es war Petra, die die Frage stellte. Mit den anderen stand sie am großen Besichtigungsfenster, eigens für Sonnenbeobachtungen durch Touristen eingerichtet. Ihre Hände lagen auf der Lehne ihres Schalensitzes, ein wenig fester als gewöhnlich.

Nur langsam schüttelten sie die besondere Stimmung dieses Augenblicks ab, versuchten die Situation – wie es ihre Art war – zu überspielen.

»Wir gehen hinüber«, sagte Ballardi, als ob das die einfachste Sache der Welt wäre. Natürlich hatten sie von vornherein vorgehabt, die alte Station zu besichtigen, dieser Besuch, sicher ein Nervenkitzel besonderer Art, war ja ihr Ziel. Bisher hatte sich allerdings keiner der Touristen den Kopf darüber zerbrochen, wie das technisch zu bewerkstelligen sei, und so wandten sie sich an Kapitän Gray, der nun ein wenig spöttisch lächelte.

»Es gibt doch die Möglichkeit hinüberzukommen – oder?« Fast hatte es den Anschein, als läge Petra Dorstig von ihnen allen am meisten daran, die Station zu besichtigen.

»Normalerweise würden wir unsere Raumanzüge benutzen«, erklärte Gray, »doch das wäre wohl ein wenig unbequem. Und abgesehen davon – dazu bedarf es auch einiger Übung.«

»Nehmen wir das Notsystem?«, fragte Teo Holasz.

Gray stimmte ihm zu. »Für den Fall einer Notlandung auf einem Planeten oder einem Mond haben wir die Möglichkeit, eine Schaumstoffverbindung zu legen. Sie passt sich jeder Umgebung an und schließt druckfest ab. Es ist zwar gegen die Vorschrift, aber was soll’s – ich werde das Ganze als Übungstest eintragen.«

Mit Teo verließ er die Aussichtskanzel, während die drei Touristen zurückblieben. Eva, die sich zusammen mit Teo ein wenig um die Versorgung gekümmert hatte, holte Becher mit schäumendem Astro-Cola. Aus dem Lautsprecher klang leise Musik – wahrscheinlich durch die Automatik eingeschaltet, die aus dem Sprachklang auf die Stimmungslage schloss.

Von ihren gepolsterten Sitzen aus beobachteten sie, wie sich von ihrem Schiff aus ein gelblicher Klumpen Schaum ausbreitete, zuerst, ohne die zerrenden Kräfte der Gravitation, in Form einer Halbkugel. Dann eine kurze Pause in der aufblähenden Bewegung … eine neue, kleinere Kugel, wie ein Auswuchs an der ersten, wuchs wie diese zu einem Durchmesser von rund drei Metern, dann die nächste angesetzte Kugel … schließlich, nachdem sich das Ganze etwa vierzigmal wiederholt hatte, erreichte der Schaum die Wand der Station. Der Kapitän hatte mit Vorbedacht darauf verzichtet, eine Luke oder Tür anzuvisieren, deren Funktion wahrscheinlich längst erloschen war. Es erschien ihm sicherer, sich durch die Wand hindurchzubrennen. Eine kurze Wartezeit, vielleicht zehn Minuten, während der der Schaum zu einer flexiblen, doch außerordentlich konsistenten Masse erstarrte. Kurz vor der endgültigen Verfestigung schmolz Teo, der zweite Pilot, einen zylindrischen Hohlraum durch die Verbindung, der auf diese Weise durch eine zusätzliche Kunststoffschicht isoliert war.

Die Reisenden hielt es nicht in der Kanzel, sie traten in die Schleusenkammer, die bereits geöffnet war – der Hohlraum, die Verbindung zur alten Station, war von atembarer Luft erfüllt, doch Gray wies sie an, sich noch etwas zu gedulden; er hatte nicht die Absicht, sich eine Unvorsichtigkeit zuschulden kommen zu lassen. Erst trieb er einen Hohlbohrer durch die Wand, prüfte Luftzusammensetzung und Druck des Innenraums. Er hatte nicht erwartet, dass dort noch der menschlichen Existenz angepasste Verhältnisse herrschen würden, und selbst als er sich davon überzeugt hatte, tauschte er die Luft doch lieber aus, bevor er mit dem Handlaser eine fenstergroße Platte aus der Metallwand brannte. Nun erst war der Einstieg frei.

Der Augenblick, als die Scheibe zu Boden kippte – langsam, denn das künstliche Gravitationsfeld reichte nur noch schwach hierher – war sicher der entscheidende während dieses Unternehmens. Darauf hatten sie sich gefreut, und nun waren sie ungeduldig, ließen sich nicht mehr zurückhalten. Mit ungeschickten Bewegungen unter den ungewohnten Gravitationsverhältnissen stemmten sie sich vorwärts, drangen durch die scharfkantig begrenzte Öffnung, verharrten kurz … einige waren so schlau gewesen, sich mit Taschenlampen zu versorgen, und so tasteten sich nun Lichtkegel in die schon Jahrhunderte hindurch ungestörte Dunkelheit.

Viel war allerdings nicht zu erkennen: einige Metallstreben, Röhren, mehrere Schränke, alles eng verschachtelt, wie es eben den Beschränkungen der veralteten Technologie entsprach. Teo war, die Hände rechts und links an die Wände gestützt, einige unsichere Schritte vorgegangen – trotz der überholten Konstruktion folgte sie derselben Logik, und so fand er ohne viel Mühe die Schalter … ein Griff, und der Raum war von mattem Licht erfüllt. Das Energiesystem schien also noch zu arbeiten, die Sonnensegel waren noch intakt. Dieses lautlose Einsetzen eines technischen Prozesses, die Selbstverständlichkeit, mit der es geschah – nach einer jahrhundertelangen Pause – wirkte geradezu absurd. Es deutete an, dass es eben doch mehr als leblose Reste, Ruinen einer vergangenen Zeit, waren, was sie zu besichtigen sich anschickten, dass etwas Lebendiges erhalten geblieben war, zu Aktionen und Reaktionen fähig.

Plötzlich schob sich die Frage, die sie bisher verdrängt hatten, wieder in den Vordergrund: Wo war die Besatzung geblieben? Würden sie auf mumifizierte Leichen stoßen? Lauerte dort, hinter der nackten Wellblechwand, das Grauen?

Es war so, als ob sie eine unbestimmte Furcht zusammenhielt – keiner entfernte sich, keiner ging auf einen eigenen Entdeckungsgang. Schließlich war es der Kapitän, der sich entschloss und durch die Luke trat, hinter der sich der einzige größere Raum verbergen musste. Unwillkürlich dachte er an die Grabkammer einer Pyramide.

Im zentralen Raum der Station befand sich nichts Schreckenerregendes, nichts, das ehedem lebendig gewesen sein könnte. Dicht gedrängt – eine Folge des Platzmangels – technische Instrumente, Tastaturen, Schaltbretter, Regale mit abgestellten Bändern und Disketten. Der Sonne zugewandt das gewölbte Fenster aus dunklem Bleiglas. Aber immer noch hell genug breitete sich davor die Hitzewelt der Sonne aus, im beengten Gesichtsfeld geradezu greifbar nahe.

Die Bewegungen sind langsam, kaum merklich, aber was bedeutet das schon? Was aus der Distanz wie Ruhe aussieht, ist in Wirklichkeit unbändige Bewegung. Aus dem orange strahlenden Glutmeer stechen immer wieder die weißen Blitze von Nadeln empor, nur einige Sekunden lang, und wieder, an anderer Stelle … Manchmal erheben sich ganze Schollen aus zerbröckelnder Glut, braune Abgründe in den offenen Schründen, Pfeiler aus leuchtendem Gas, aus dem Inneren ausgestoßen. Dazu die Fackeln mit ihren dunklen Herden, Eruptionen elektromagnetischer Stoßwellen und Kaskaden kosmischer Strahlung … Über allem aber, majestätisch, der große Strom. Man muss lange hinsehen, ehe man ihn als Veränderung erkennt. Wandernde Sonnenflecken, von chromosphärischen Wirbeln begleitet … weit auslaufende, granulierte Flammenbögen, von eingefrorenen Magnetfeldern gefangen.

Aber das alles geschieht äußerlich, ist sekundär. Eine dünne Haut, die Äonen jungfräulicher Sternmaterie umschließt, durch Kernprozesse aneinander gebunden und abgestoßen zugleich. Wer will behaupten, dass diese Massen tot sind? Vielleicht – an den kleinlichen menschlichen Dimensionen gemessen … Vielleicht ist es das eigentliche Leben, das dort lodert – von dem das unsere nur schwacher Abglanz ist. Wer will behaupten, dass Höchsttemperaturen Leben verhindern? Ist es nicht vielmehr so, dass es sich, getrieben von elementarem Energieumsatz, weitaus stärker äußern kann, sich viel variabler strukturiert, zu einer Vollkommenheit findet, die für menschliches Begreifen unzugänglich ist?

Von diesem Ball aus Licht und Feuer geht eine ungeheure Anziehungskraft aus! Er ist der Lebensspender, allein von dem, was als Nebenergebnis der eigentlichen Umsetzungen abfällt, existiert das ganze Planetensystem dieser einsamen Sonne. Kann es ein Verstehen geben? Man müsste mehr wissen … mehr wissen …

Keiner konnte sich diesem Schauspiel entziehen, und doch wirkte es auf jeden anders. Mark Ballardi registrierte es mit Genugtuung – als wäre er der Urheber und die anderen hätten es ihm zu verdanken. Eva Zoerner betrachtete das Spiel des weißen und orangefarbenen Lichts wie ein wirkungsvoll inszeniertes Feuerwerk. Petra Dorstig bemühte sich um Distanz, und obwohl sie äußerlich ruhig schien, bewegte es sie mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte. Kapitän Gray versuchte die Erinnerungen an das zu aktivieren, was er – im Zusammenhang mit Sicherheitsvorschriften und Rettungsübungen – einst über das Zentralgestirn gelernt hatte; und er runzelte die Stirn, weil der Zusammenhang mit dem, was er vor sich sah, kaum herzustellen war. Teo Holasz war gefangen, er vergaß alles andere um sich herum, wusste zuletzt nicht einmal mehr, was es eigentlich war, dem er sich hier mit der ganzen Intensität seiner Empfindungen widmete.

»Wollen wir uns ein wenig umsehen?« Es war der Kapitän, der die von zwiespältigen Gefühlen erfüllte Stille unterbrach. Wie aus einem Traum gerissen, wandten sie sich ihm zu – außer Teo, der noch immer regungslos unter dem Bleiglasfenster saß.

Gray drehte sich zu Teo herum, fasste ihn an der Schulter und schob ihn vom Ausguck weg. »Lass es gut sein!«, sagte er gutmütig.

»Wir sollten uns umsehen«, schlug Eva vor. »Ich wüsste zu gerne, was hier geschehen ist …«

»Na, was schon«, unterbrach sie Mark. »Von hier aus haben sie ihre Messdaten gesammelt, und nach Beendigung ihrer Arbeit hat man sie abgeholt und zurück zur Erde gebracht. Wenn man es sachlich sieht – nichts als Routine.«

»Vielleicht doch ein bisschen mehr«, widersprach Petra. »Ihr habt doch gehört: Es ist nichts von einer Station bekannt, die so nahe an die Sonne herangekommen wäre. Wie lang konnten sie es mit ihren primitiven Schutzmaßnahmen hier überhaupt aushalten? Es wäre durchaus möglich, dass hier ein Unglück geschehen ist.«

Ihre Worte schwebten im Raum, vielleicht hatte der eine oder andere etwas Ähnliches gedacht, aber Petra hatte es als erste ausgesprochen.

»Ich schlage vor, wir sehen uns systematisch um«, sagte Gray. Er blätterte einen Stoß Disketten durch, die auf dem Tisch gestapelt lagen, versuchte, aus den Aufschriften klug zu werden. Dann steckte er eine in den Schlitz des Laufwerks. Ein in der Wand eingelassener Monitor wurde hell, nach kurzem Flackern erschienen darauf lange Reihen von Zahlen.

»Ach, ich dachte schon …« Eva konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen.

»Du wirst doch nicht gedacht haben, er hätte uns eine Nachricht hinterlassen!« Mark demonstrierte wieder seine Überlegenheit, doch Eva warf ihm einen zornigen Blick zu, und er verstummte.

»In zwei Stunden beginnt die Ruhezeit – ich bestehe darauf, dass sie eingehalten wird«, sagte Gray. »Ich werde mir die Disketten durchsehen, vielleicht finde ich etwas, was uns Aufschluss gibt. Ich vermute, dass sich irgendwo auch Privatsachen befinden – schließlich waren es lebendige Menschen, die sich hier befanden.«

Petra blickte sich suchend um, trat dann auf einen in Deckennähe montierten Wandschrank zu. Der Deckel ließ sich mühelos heben, einige Kleidungsstücke kamen zum Vorschein. Petra holte sie mit zwei Fingern heraus, entfaltete sie – eine Jacke, eine Hose, einige Hemden, alles grob und einfach geschnitten – Gebrauchswäsche. Die anderen hatten ihr gespannt zugesehen, nun wandten sie sich ein wenig enttäuscht ab, suchten selbst eine Ecke, in der sie kramen konnten.

Die Unterhaltung verstummte, nur gelegentlich machte einer die anderen auf etwas aufmerksam, was er gefunden hatte: einenZettel mit unleserlichen Aufzeichnungen, ein Abzeichen mit der Aufschrift AERO-SPACE, ein verblichenes Foto mit der Ansicht einer Stadt. In einer Nische fand Eva Reste einer Mahlzeit, in Plastikgeschirr eingetrocknet; als sie einen Teller vom Bord nahm, entstand eine Staubwolke. Teo machte Gray auf lose an der Decke befestigte Metallplatten aufmerksam, und nach einiger Diskussion einigten sie sich darauf, dass die Besatzung vermutlich versucht hatte, nach der Sonnenseite hin eine zusätzliche Strahlenschutzverkleidung anzubringen. Petra hatte sich an ein Bandgerät gesetzt. »Daten der Sonnenforschung«, erklärte sie. »Der Mitschnitt eines Vortrags … vielleicht erfahren wir etwas über diese Station …« Eine in der Lautstärke mehrfach schwankende Stimme zählte historische Daten auf – 1958, Beobachtungen von Sonnenflares von einem Ballon aus, 1972, Satellit OSO-7, ein Ausbruch von Radiostrahlung, 1973, Start von Skylab, drei Besatzungsmitglieder, 1980 abgestürzt … Sie ließen das Band weiterlaufen, übersprangen die darauffolgenden Ereignisse, um schließlich festzustellen, dass der Vortrag mit einer etwas ausführlicheren Beschreibung des Solaris-Flugs – der erste Vorstoß über die Merkurbahn hinaus – schloss. Die erwähnten Ereignisse sagten ihnen nichts, sie konnten sich nicht recht vorstellen, um was es den Forschern damals gegangen war, und blieben weiterhin auf Vermutungen angewiesen.

Den ersten echten Fortschritt erzielte Kapitän Gray an seinem Computerterminal. »Ich glaube, ich habe das elektronische Bordbuch gefunden, da haben wir auch zum ersten Mal Jahreszahlen: 2042, das stimmt mit unseren Annahmen überein. Leider sind riesige Mengen von Daten dazwischengeschoben, es wird lange dauern, ehe ich alles rekonstruieren kann. Ich werde das System mit unserem Bordcomputer verbinden und die Nacht benutzen, um die Daten zu überspielen. Und nun wird es allmählich Zeit …«

Von den ungewohnten Anstrengungen und der uneingestandenen Aufregung ermüdet, folgten sie der Anweisung. Und wenn auch einige von ihnen keinen rechten Schlaf fanden, so blieben sie doch ruhig in ihren Kojen liegen und vermochten es nicht – weder im Wachen noch im Träumen –, sich von den Ereignissen der letzten Stunden zu lösen.

Nach etwa fünf Stunden kam es zu einer unerwarteten Unterbrechung ihrer Ruhezeit. Es war ein aufgeregt piepsendes Signal, das über die Lautsprecher in ihre Kabinen drang, und dann setzte eine unbekannte Stimme ein: »Eruption in Sektor 73 Berta. Alle auf Station! Fortsetzung der Messreihen 17, 206, 218. Datenaufnahme im ultravioletten, Radiowellen- und Röntgenbereich. Achtung, alle auf Station!«

Sie waren noch im Schlaf verfangen, doch keiner konnte die Aufforderung der unbekannten Stimme einfach übergehen. Sie sammelten sich im Kanzelraum, noch etwas übernächtigt, ungekämmt und steif, nur der Kapitän hatte seine Uniform korrekt zugeknöpft, die Mütze auf dem Kopf.

»Woher kam das?« Sie blickten sich um, als könnten sie die Ursache auf diese Weise ausfindig machen.

Gray schien ein wenig beunruhigt, man sah es ihm an, obwohl er sich zu beherrschen versuchte. »Einen Moment, ich will mich nur vergewissern …« Eilig verließ er den Raum.

Als er nach zwei Minuten zurückkam, schien er ein wenig entspannt, doch ein letzter Rest Unruhe schwang immer noch in seiner Stimme. »Wie ich vermutet hatte …« – er holte tief Atem – »… es kam vom Computer der Station – ihr erinnert euch, ich habe ihn mit unserer Automatik verbunden. Es muss sich um die Reaktion einer automatischen Kontrolleinrichtung handeln. Wieso die Meldung allerdings in unser Kommunikationsnetz kommen konnte, ist mir schleierhaft.«

Mark Ballardi meldete sich mit einem Handzeichen zu Wort – ganz im Gegensatz zu seinem gewohnten selbstbewussten Verhalten. »Eine Eruption … was bedeutet das? Ultraviolett, Röntgenstrahlung … vielleicht handelt es sich um einen Alarm!«

»Ja, vielleicht befinden wir uns in Gefahr?«

Der Kapitän versuchte, sich im Stimmengewirr Gehör zu verschaffen. »Doch nicht für uns! Ich versichere euch: Hier sind wir völlig vor Strahlung geschützt. Immerhin haben sich die Zeiten geändert – heute verfügen wir über Sicherheitsanlagen, von denen die damals nur träumen konnten.« Sie glaubten ihm nur allzu gern, doch wieder hatte sich ein Anflug von Unruhe ausgebreitet, brachte etwas zum Schwingen – eine urtümliche Bereitschaft zur Angst –, was sie längst in sich erloschen glaubten.

»Schauen wir uns doch diese Eruption einmal an!«, forderte Mark, der seine Fassung rasch wiedergewonnen hatte. Der Kapitän löste die Sperre der Filterautomatik – in den Ruhezeiten waren sie stets voll eingeschaltet. Langsam wurde das Glas durchsichtig, aus dem diffusen Grau heraus kristallisierte der gleißende, die lebensbedrohende Strahlung aussendende Ball.

Zentrum der Strahlung, Zentrum des Lichts, Zentrum der Felder, die weit in den Raum der einsam kreisenden Planeten hineinreichen. Folgen kernphysikalischer Prozesse, oder vielleicht etwas ganz anderes: eine Botschaft! Was dort unten geschieht – was es auch immer ist, ob wir es Leben nennen oder nicht: Es ist das wichtigste Geschehen in diesem Winkel des Weltalls, das einzig Wesentliche, was sich begibt. Wer es verstehen will, darf keine Angst haben, darf nicht zögern … Die Figuren dort unten … Ausbrüche von Feuer, sich aneinander reibende Walzen aus Glut, Spalten in aufsteigenden Magmamassen, die Bögen der leuchtenden Gasfontänen … Wir haben alles völlig falsch gesehen. Erklärungen nach Zahlen und Formeln … lächerlich, das Geheimnis auf diese Weise entschlüsseln zu wollen! Vielleicht etwas ganz anderes, in den Bergen aus Licht nur schwer erkennbar … Vielleicht ausgestreckte Hände, ein Gesicht? Man müsste den Ausdruck erkennen … die Gedanken, die dahinterstecken. Nur der kann sie erkennen, der keine Angst davor hat. Näher … immer näher …

Sie versammelten sich vor dem Teleskop, im Zentrum des Blickfelds die angekündigte Eruption.

»Immerhin – es war keine Falschmeldung!«, versuchte Mark zu scherzen. Doch das, was sie sahen, ließ sie nicht mehr so unberührt wie noch vor einigen Tagen, als sie das Raumboot für einen Abstecher aus dem Merkurschatten heraus benutzt hatten. Es war nicht mehr der physikalische Prozess, nicht mehr das Spiel des Lichts, was ihre Augen und ihr Verstand erfasste, zum ersten Mal begriffen sie, dass Erscheinungen mehr sein konnten als dem Menschen auf irgendeine Weise dienliche Belanglosigkeiten: zur Beschaffung von Nahrung und Energie, zur Sicherung von Leben und Gesundheit oder auch nur zur Unterhaltung und Bewunderung. Nein, das, was dort aus einem riesigen, kesselartigen Krater emporstieg, war die elementarste Gewalt selbst, ein kosmisches Gewitter, eine nukleare Explosion. Gegenüber diesen Ausbrüchen ist der Mensch ein Nichts! Aber selbst damit war das Eigentliche nicht erfasst, die Erkenntnis, die – auf bewusstem oder unbewusstem Weg – in ihnen Fuß fasste: Die dicken Scheiben, die aufgebauten Felder, die gestapelten Absorptionsplatten … das alles war lächerlich im Vergleich zu dem, was dort – in unermesslicher Weite oder in unmittelbarer Nähe? – frei wurde. Dieses Eigentliche reichte durch Potenzialwälle und Filter hindurch, erreichte sie unmittelbar. Es war nichts Physikalisches, sondern etwas ganz anderes, was sie noch nie verstanden hatten und auch jetzt nur ahnten.

Der Kapitän hatte sich als Erster dem Einfluss des Spektakels entzogen. Obwohl seine Aufgabe die der Dienstleistung war, zum Gefallen der die Erde verlassenden Reisenden, so war er doch am stärksten der Technik verhaftet, und so drängte es ihn auch nachhaltig dazu, für das seltsame Geschehen der Nacht Erklärungen zu finden.

Sie hatten nicht bemerkt, dass er sich zurückgezogen hatte, und waren nun geradezu erstaunt, als er an der Tür erschien. »Kommt mit, ich habe etwas gefunden … ein Videoband …« Sie folgten ihm hinüber in die Station, stellten oder setzten sich vor den Monitor, den er ihnen wies. Er schaltete die Wiedergabe ein, auf dem Bildschirm erschien der Kopf eines Mannes. Er war verschwommen, man konnte gerade noch ahnen, dass er weder besonders alt noch besonders jung war, ein Gesicht ohne besondere Merkmale. Dann erklang die Stimme, die sie schon einmal gehört hatten: »Heute ist der 12. November 2051. Heute habe ich einen schwerwiegenden Entschluss gefasst: Ich habe die Station um zwanzig Millionen Kilometer näher an die Sonne gebracht. Hier ist die Strahlung dichter, doch für einige Wochen lässt es sich aushalten. Ich hätte es nicht getan, wenn es nicht notwendig gewesen wäre. Aus der Ferne ist alles viel zu undeutlich, viel zu vage. Man muss näher heran, um die wesentliche Information aus dem Untergrund der Störungen zu lösen. Ich bin allein an Bord, für niemand anderen verantwortlich. Solange ich mich hier befinde, werde ich keine Minute ruhen, um das Rätsel zu lösen. Ich habe die Zentraleinheit so programmiert, dass sie fast ebenso gezielt arbeiten kann wie ich selbst. Diesem Ziel ist alles unterzuordnen, selbst für den Fall, dass mir etwas passieren sollte …«

Während seiner Worte, die hin und wieder von längeren Pausen unterbrochen waren, hatte er den Kopf kaum bewegt – er war so undeutlich geblieben wie von Anfang an, und ebenso undeutlich blieben die Vorstellungen und Ziele dieses Mannes.

Es war dreihundert Jahre her.. Was auch immer geschehen war, dieser Mann konnte nicht mehr am Leben sein. Und trotzdem waren sein Wille, sein Durchsetzungsvermögen immer noch unglaublich stark. War nicht er es gewesen, der sie dazu gebracht hatte, ihren sicheren Standort zu verlassen und sich in die weiten Felder des Sonnenwinds hinauszuwagen? Ging es nicht auf ihn zurück, dass sie jetzt, während der Ruhepause, in der Station zusammengekommen waren, seiner Aufforderung Folge leistend? War nicht er es, der – wenn auch über eine technische Anlage – über Raum und Zeit hinweg zu ihnen sprach?

Auf einmal waren sie dieses Abenteuers überdrüssig. Alle Erwartungen, alles Interesse waren plötzlich verflogen. Was, beim Himmel, hatte sie dazu getrieben? Sollte die Station doch noch Tausende von Jahren um die Sonne kreisen, bevor sie endgültig hineinstürzte, um atomar zu verglühen! Was ging es sie an? Diese verlassenen Räume, die peinlich gepflegten, immer noch funktionsfähigen Messanlagen … nichts anderes als Relikte einer irregeleiteten Vergangenheit. Es war das Beste, sie wieder der Zeitlosigkeit zu überantworten, sie zurückzulassen, nutzlos, wie sie es immer gewesen waren, und zurückzukehren in die eigene Welt, in der es wahrlich Besseres zu tun gab, als sich mit Gammastrahlenausbrüchen und Eruptionen herumzuschlagen.

Sie brauchten sich nicht lange zu verständigen. »Gehen wir, brechen wir auf!«

Fünf Minuten später teilte ihnen Guido Gray schreckensbleich mit, dass sich ihr Raumboot nicht starten ließ. Und, als hätte sie auf den Einsatz gewartet, ertönte neuerlich die Stimme: »Sonnenflecken in Sektor 07, Paula, starker Radiowellenausbruch. Aufgabe: spektrale Untersuchung. Achtung, Messungen unverzögert aufnehmen!«

»Ich glaube, wir sind in Schwierigkeiten«, stellte Petra unnatürlich ruhig fest.

»Schwierigkeiten, dass ich nicht lache!« Im Gegensatz zu Petra hatte der Journalist seine Gefühle nicht in der Gewalt, und er hatte auch gar nicht die Absicht, sich darum zu bemühen. Er ging auf Gray zu, hob den Arm, als wolle er zuschlagen. »Was soll das heißen: … lässt sich nicht starten! Dann tu eben was, um das verdammte Ding in Fahrt zu bringen!«

Während Gray unwillkürlich einige Schritte zurückwich und nach Worten suchte, sagte Petra kalt: »Mark, benimm dich!« Obwohl sie ganz leise gesprochen hatte und auch keinerlei Drohung in ihrer Stimme lag, folgte der Reporter unverzüglich. Es sah aus, als hätte er seine Aufregung innerhalb einer Sekunde abgeschüttelt, wiewohl die Angst offensichtlich geblieben war.

»In dieser Situation sollten wir vor allem Ruhe bewahren«, erklärte Petra. »Setzt euch!« Obwohl es ihnen widerstrebte, folgten sie ihr, und sie merkten, dass ihnen dieser erste Schritt zur Selbstbeherrschung guttat.

»Also, Guido, nun berichte! Warum ließ sich das Schiff nicht starten?«

»Keine Reaktion … keine Zündung … ich verstehe es einfach nicht!« Er furchte die Stirn, auf der Schweißperlen standen.

Petra beobachtete ihn aufmerksam. »War das alles?«, fragte sie.

Gray sah einen Moment lang erstaunt auf, dann senkte er wieder den Kopf. »Nein … nicht alles. Es war unerklärlich …«

Die anderen sahen ihn irritiert an, und es schien, als würde er im Kreuzfeuer der Blicke in sich zusammensinken.

»Also!«, forderte Petra unerbittlich.

»Eine Stimme … ich habe mit dem Computer gesprochen.« Wieder zögerte er. Er merkte, dass ihm die anderen keine Ausflucht ließen. So unwahrscheinlich es war, so unglaubhaft … »Der Computer gab den Befehl, die Daten aufzunehmen. Eher gibt er uns keine Starterlaubnis.«

Mark beugte sich vor, verlagerte das Gewicht auf die Beine, als wollte er aufspringen. »Du bist verrückt!« Eva, die neben ihm saß, hielt ihn am Arm fest. Der leise Druck genügte, um ihn wieder zur Besinnung zu bringen.

»Wer hat das noch gehört – diese Unterhaltung mit dem Computer?« Petra blickte in die Runde … niemand antwortete.

»Ich allein«, bestätigte Gray.

»Ist so etwas technisch möglich? Andernfalls müsste es sich um eine Halluzination handeln. Könnte im Notfall Teo das Boot starten?«

»Gewiss, unter normalen Umständen …« Es schien, als sei Teo aus tiefen Gedanken erwacht.

»Dann versuche dein Glück!«, forderte ihn Petra auf. »Doch nun zu meiner Frage: Ist es möglich, dass uns der Computer zurückhält?«

Der Kapitän tupfte sich mit einem Taschentuch über die Stirn, er schien sich beruhigt zu haben. »Aber gewiss«, antwortete er. »Voraussetzung ist allerdings, dass jemand so etwas programmiert. Normalerweise kann ich mir nicht denken … aber hier …« Er führte seine Vermutung nicht weiter aus.

»Verstehe ich richtig«, fragte Eva, »dieser unbekannte Mann, den wir auf dem Bildschirm gesehen haben … Er hat es so eingerichtet …? Aber er konnte doch nicht wissen – es war reiner Zufall, dass wir hierher kamen!«

»Vielleicht hat er jemand ganz anderen erwartet«, vermutete Gray. »Vielleicht die Besatzung eines Raumschiffs, die ihn abholen wollte, vielleicht eine Rettungsmannschaft, die ihn aus der gefährlichen, sonnennahen Zone bringen sollte – denn für damalige Verhältnisse war es Wahnsinn, ein solches Risiko einzugehen.«

Wahnsinn – nun war das Wort gefallen. Waren sie tatsächlich in der Hand eines Wahnsinnigen, der, auf ungeklärte Weise verschollen und längst tot, seinen unheilvollen Einfluss aufrechterhalten hatte?

»Wo ist er geblieben?« Eva sprach es aus, woran nun alle dachten. Wo war er geblieben? Das Schiff war noch betriebsbereit, das System funktionstüchtig, der Computer intakt – in der langen Zeit, die seit den unerklärlichen Entscheidungen dieses Mannes vergangen waren, war niemand hier gewesen. Die Station kreiste um die Sonne, dreihundert Jahre lang, von Strahlung durchsetzt, einem Bombardement unzähliger atomarer Geschosse ausgesetzt, und doch beständig genug, um auch noch danach ihre Wirkung zu entfalten. Und der Initiator aller dieser Ereignisse – verschwunden …

In diesem Moment kam Teo zurück. »Es stimmt, wir sitzen fest!« Er schwieg kurz, dann setzte er leiser hinzu: »Auch ich habe die Stimme gehört, wir müssen die Arbeit fortsetzen, es bleibt gar nichts anderes übrig. Er hat sein Leben geopfert, um mehr zu erfahren als je ein Mensch zuvor.«

Eigentlich war keiner unter ihnen, der erwartet hatte, dass Teo das Schiff starten würde. Jetzt blickten sie sich wortlos an, zuckten die Achseln.

»Und wenn wir uns weigern?«

»Sollen wir es darauf ankommen lassen?«

Ihre Stimmen klangen durcheinander.

»Können wir uns denn nicht wehren?«, fragte Eva kläglich. »Müssen wir tun, was uns da gesagt wird?«

Und noch mal die Frage: »Und wenn wir uns wehren?« Plötzlich blickten sie alle auf Petra, als wären sie sich einig darüber, dass sie zu entscheiden hatte.

»Die Daten aufnehmen, die Messgeräte bedienen … können wir das überhaupt?« Sie wandte sich an Gray. Dieser überlegte kurz.

»Es dürfte nicht schwer sein. Die Messungen selbst führt die Automatik aus, offenbar geht es nur darum, die Geräte einzustellen, den Datenfluss zu dokumentieren. Aber ja, das sollte möglich sein. Aber wollen wir wirklich?«

»Wir dürfen nicht vergessen«, sagte Petra entschieden, »dass wir es nicht mit einem menschlichen Gegner zu tun haben. Wenn es auch ein Mensch war, der das System programmiert hat, so können wir nicht voraussehen, wie es sich verhält. Es hat das Lebenssystem in der Hand – keiner von uns hat Kenntnisse genug, um manuell einzugreifen. Und wir dürfen nicht unbedingt ein Wechselspiel von Drohungen, Demonstrationen der Macht und fein säuberlich dosierte Konsequenzen erwarten. Vielleicht passiert nichts, wenn wir uns weigern. Aber sicherer ist es, dem Befehl zu folgen. Es wird niemand von uns schaden, wenn wir uns mit den Messgeräten beschäftigen. Klar, dass wir unseren klaren Verstand erhalten und jede Gelegenheit wahrnehmen, die uns Hoffnung gibt.«

Es war eine geradezu feierlich wirkende Rede gewesen. Niemand widersprach. Da die alte Verbindung zur Station nicht mehr bestand – der Kapitän hatte sie vor dem geplanten Start gekappt –, errichtete er nun eine neue. Zwanzig Minuten später befanden sie sich in der Station, saßen vor den Messgeräten – interessiert, lustlos oder verwirrt, jeder auf seine Art. Sie hielten die Köpfe gebeugt, als getrauten sie sich nicht, aufzuschauen. Ihnen war, als würden sie beobachtet.

Datenprotokolle, Zahlenreihen auf Endlosformular, piepsende Geräusche aus Miniaturlautsprechern, blinkende Leuchtdioden, zuckende Zeiger … Sie verstanden nicht, was dahintersteckte, und hatten kein Bedürfnis danach, es zu erfahren. Nur widerwillig beschäftigten sie sich mit den Anlagen, hatten keine Ahnung, ob es richtig war, wie sie es machten, und es war ihnen auch gleichgültig. Schon nach einer halben Stunde schob Kapitän Gray ein Handbuch zurück, in dem er vergeblich nach Anweisungen gesucht hatte. Eine Weile saß er bewegungslos vor dem Bandgerät, starrte auf den leeren Bildschirm. Nach und nach gaben auch die anderen auf.

»Das ist doch völlig sinnlos«, murmelte Gray.

»Es ist schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte.« Teo sah etwas verstört aus, sein Haar war zerrauft, als hätte er darin gewühlt. »Die Bedeutung, die dahintersteckt … man müsste viel mehr wissen – über die Funktion der Systeme, über die physikalischen Größen, die dahinterstecken …«

»Ich pfeife auf die physikalischen Größen!«, rief Mark. Man sah ihm an, dass er Mühe hatte, seine Beherrschung zu behalten. »Wollen Sie sich wirklich so mir nichts, dir nichts unterwerfen, Gray? Schließlich sind Sie der Kapitän!«

Ehe Gray antworten konnte, warf Petra ein: »Solange wir nichts anderes zu tun haben, können wir uns auch mit den Daten beschäftigen …«

»Können wir wirklich nichts tun?« Mark sprang auf, und infolge der geringen Schwerkraft prallte er heftig an der Decke an, was ihn ein wenig zu beruhigen schien. Er angelte nach der Lehne des Sessels, zog sich vorsichtig hinunter.

»Mark hat recht«, meinte Eva, »das kann doch nicht so weitergehen! Ich möchte endlich zur Station zurück …« Ihre Stimme erstickte, sie holte ein Taschentuch hervor, hielt es vors Gesicht.

»Die Frage ist gar nicht so dumm: Wie lange halten wir es hier aus?« Petra sah Gray an, dann Teo. »Wie lange reicht die Energie? Die Nahrung? Haben wir genug Wasser? Reicht die Luft?«

»Alles kein Problem«, erklärte der Kapitän. »Die Energie, die wir verbrauchen, fällt nicht ins Gewicht, Wasser wird im Recycling zurückgewonnen, zum Teil gilt das auch für die Nahrung, und schließlich haben wir Konzentrate, mit denen wir sogar ein Jahr lang auskämen.«

»Und wie sieht es mit dem Strahlenschutz aus?«, warf Petra ein.

Gray zuckte die Schultern. »Schwer abzuschätzen. Bis jetzt ist die Situation sicher nicht bedenklich … andererseits … der Schutz ist nicht absolut, ein gewisser Teil der harten Gammastrahlung kommt zweifellos durch. Ein paar Tage, eine Woche, das ist sicher ungefährlich. Aber unbestimmte Zeit?« Er schwieg, als sei er schon durch die Erörterung der Frage angewidert.

»Können wir denn nicht um Hilfe rufen?«, fragte Eva.

Gray winkte ab. »Wir befinden uns in der Region des Sonnenwinds – geladene Teilchen, Ionen, in relativ hoher Dichte. Gewiss, wir haben einen starken Sender, bei höchster Leistung mag er auch eine Million Kilometer weit reichen, aber das genügt eben nicht – wir haben uns um ein Vielfaches dieser Strecke vom Merkur entfernt.«

»Aber es muss denen doch auffallen, dass wir nicht zurückkommen … Eine Rettungsmannschaft? Wenn wir zu lange ausbleiben, müssen sie uns suchen – ist das nicht logisch?« Für einen Moment sah Eva geradezu hoffnungsvoll aus, doch Gray schüttelte den Kopf.

»Eine Rettungsexpedition? Das kann lange dauern. Im Moment steht kein Schiff zur Verfügung, mit dem man hierher kommen könnte. Die beiden Fähren sind nur für den Transport zwischen der Station und einem Raumschiff im Orbit gedacht. Unser Boot ist das Einzige, das genügend für Aufenthalte in der strahlenerfüllten Zone ausgerüstet ist. Nein, nein – ich glaube, wir sollten uns keinen Illusionen hingeben.«

»Aber was sollen wir tun?« Die Frage stand im Raum, ausgesprochen oder unausgesprochen.

»Ich muss es jedem selbst überlassen, wie er sich verhalten will.« Der Kapitän machte nun einen gefassten Eindruck, als hätte er sich mit der Situation abgefunden. »Solange die Sicherheit nicht gefährdet wird, ist jeder in seinen Entscheidungen frei. Jedenfalls besteht vorderhand keine Gefahr. Als Vorsichtsmaßnahme werde ich Tabletten ausgeben, die gegen Strahlenschäden helfen.« Er verließ die Kabine, kehrte dann mit einem Schächtelchen zurück. »Jeden Tag zwei davon – das unterstützt die Abwehr des Körpers.« Während sie die braunen Pillen schluckten, dachten sie daran, dass sie in jeder Sekunde von Gammastrahlen getroffen wurden, die ganze Bündel ihrer Zellen töteten.

Einige setzten die Arbeit an den Messanlagen fort oder versuchten es zumindest, andere gingen in das Boot zurück, das größere Bequemlichkeit bot. Eva Zoerner war Mark Ballardi in eine Ecke in der Aussichtskanzel gefolgt, die zugleich Speise- und Aufenthaltsraum war. Über ihren Köpfen, durch das Filterglas gedämpft, hing der glühende Ball der Sonne. Mit einer angewiderten Bewegung schaltete Mark die Filter auf volle Absorption.

Eva rückte an ihn heran, als wolle sie Schutz suchen, doch Mark blieb steif sitzen, tat so, als hätte er es nicht bemerkt.

»Meinst du …« Eva zögerte, als wehrte sich etwas in ihr, das Unheil auszumalen. Sie setzte noch einmal an. »Meinst du, dass wir heil zurückkommen?« Sie wartete, doch Mark gab keine Antwort. Er starrte auf das Filterglas, als könnte er hindurchblicken.

»Ach Mark! Warum mussten wir uns auf dieses Abenteuer einlassen? Wenn ich mir vorstelle – geradeso gut könnten wir irgendwo am Meer sein, oder auf den Bergen, im Schnee! Glaubst du, wir erleben das noch einmal?« Sie versuchte, einen Arm um seine Schultern zu legen, doch dann merkte sie die Abwehr, die sich in seiner starren Haltung ausdrückte, und ließ sich mit einem Gefühl grenzenloser Enttäuschung in die Tiefe des Stuhls zurücksinken. Noch vor einigen Tagen hatte er offenes Interesse für sie gezeigt, hatte sie umworben. Einige Sekunden lang dachte sie nicht mehr an die Besonderheit dieses Aufenthalts in einem lebensfeindlichen Strahlungsfeld. Ein wenig ernüchtert blickte sie ihn an. Noch immer starrte er auf das Glas, das Gesicht im Schatten. Plötzlich merkte sie, dass der Körper des Mannes zitterte und dass seine Augen voll Tränen waren.

Nur Petra und Teo waren in der Forschungsstation zurückgeblieben. Der zweite Pilot war wieder konzentriert mit den Systemen beschäftigt. Von seiner Ausbildung her hatte er wohl oder übel eine Menge über technische Dinge gelernt, und so war er vor den Messapparaten nicht so hilflos wie die Touristen. In einigen Punkten hatte er sichtbaren Erfolg: Ein Tintenstift zeichnete eine Wellenlinie auf eine Papierrolle, auf einem Bildschirm zitterte eine Kurve, aus der von Zeit zu Zeit Spitzen herauswuchsen, die für Sekunden auf und ab liefen, um dann wieder in sich zusammenzusinken. Der Schnelldrucker warf Zahlen auf Papier – und Teo glaubte den Zusammenhang zwischen dem Messvorgang und den Daten zu erkennen …

Petra saß bewegungslos, die Hände im Schoß. Die Anlage, der sie sich einige Zeit gewidmet hatte, hatte sie abgeschaltet, der Monitor war dunkel. Sie beobachtete Teo.

»Frequenzen im Röntgen- und Gammabereich … diese Geräusche … einige Pulse, überlagert …«

»Was hörst du?«, erkundigte sich Petra.

Ohne den Kopf zu wenden, antwortete Teo: »Es ist nicht das gleichmäßige Geräusch eines Strahlenuntergrunds, da dringt etwas anderes durch. Hörst du?« Er war still, regelte einen Lautsprecher höher. Das Geräusch, das bisher leise und kaum merklich im Raum gelegen war, wurde lauter. Teo hatte recht – es war keineswegs gleichmäßig … Manchmal waren es nur einzelne Impulse knackender Geräusche, dann erklang ein Knattern wie Maschinengewehrsalven, und gelegentlich kam es zu Turbulenzen – ganze Tonkaskaden perlten auf, überschlugen sich. »Hörst du? Es klingt fast wie Sprache, wenn man sich konzentriert, dann kann man sogar einzelne Worte verstehen … Worte einer fremden Sprache …«

»Wer sollte zu uns sprechen?«, fragte Petra ruhig, geradezu unbeteiligt, als wolle sie Teo um keinen Preis in seiner Konzentration stören.

»Ich weiß es noch nicht.« Teo sprach leise, geradezu flüsternd. »Die Sonne … der energiereichste Platz weit und breit! Könnte sie nicht auch ein Zentrum von Intelligenz sein? … einer nicht menschlichen Intelligenz?« Er seufzte tief auf, drehte sich zu Petra herum. Erst jetzt merkte er, dass sie sich allein im Raum befanden. »Wo sind die anderen?«

»Sie meinen, es wäre sinnlos«, erklärte Petra.