ZENTRUM DER MILCHSTRASSE - Herbert W. Franke - E-Book

ZENTRUM DER MILCHSTRASSE E-Book

Herbert W. Franke

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Beschreibung

Alvin Katz, ein Informatiker, wird vom Konzern VSE für eine Spezialaufgabe angeheuert – und verliert dann alles, seine Freunde und Familie, sein Geld, seine Posten. Ganz unten angekommen, wird er von einem Mönch gerettet und in ein Kloster gebracht. Seine ehemalige Schülerin Mona macht sich auf die Suche – und findet das Kloster, in dem nichts so ist, wie es zu sein scheint. Hier werden Grundlagenforschungen betrieben, die in der Lage sind, die Welt aus den Angeln zu heben und die Grundfesten des Glaubens zu erschüttern. Und hier geht ein Mörder um …

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Seitenzahl: 519

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Herbert W. Franke

ZENTRUM DER MILCHSTRASSE

Science-Fiction-Roman

SF-Werkausgabe Herbert W. Franke

Band 24

hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch

Herbert W. Franke

ZENTRUM DER MILCHSTRASSE

Science-Fiction-Roman

SF-Werkausgabe Herbert W. Franke

Band 24

hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2024 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

www.art-meets-science.io

Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de

Die Originalausgabe ist 1990 im Suhrkamp Verlag erschienen.

Titelbild: Thomas Franke

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

E-Book-Erstellung: global:epropaganda

Verlag

art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

c/o mce mediacomeurope GmbH

Bavariafilmplatz 3

82031 Grünwald

ISBN 978 3 911629 23 2

Wilhelm von Occam (Modul)

Stellungnahme zum Problem der Wissensvermittlung

Wilhelm von Occam: Wenn du etwas zu sagen hast, mein Bruder, dann hüte dich vor den leeren Begriffen, die alles enthalten und nichts. Die Bedeutung von Worten hat wenig mit dem Grad ihrer Abstraktheit zu tun. Das Allgemeingültige für sich gibt es nicht, es sei denn, es wäre das Besondere darin enthalten; entweder es ist allgemein, oder es ist gültig.

Das Spiel mit der Sprache: verbergen statt offenlegen, Inhalte vortäuschen, mehr scheinen als sein.

Wenn du etwas zu sagen hast, dann reinige deinen Geist, verzichte auf tönende Worte; Zierrat ist der Gegner der Kunst, Schnörkel brechen den geraden Verlauf, der blaue Dunst verhüllt den Pfad der Gerechten – er täuscht die Weite lediglich vor. Sinn hat nur, was sich beschreiben lässt: konkret, kurz, klar. Nicht Gott und die Welt, Himmel und Erde, Zeit und Ewigkeit. Was gilt, ist hier und jetzt. Was gilt, hat Farbe und lässt sich fassen. Verschon mich mit Philosophie, mein Bruder – erzähl mir eine Geschichte!

VERTRAG

zwischen

Zentralstelle »Generelle Aspekte«,Sektion

»Spezialaufgaben«, VSE, nachstehend ZSt genannt,

und

Alwin Katz, A.I.-Informatiker, spez. Steuerung/Kontrolle, Angestellter in der VSE, Sektion »Forschung/Entwicklung«, nachstehend A.K. genannt,

wird folgende Vereinbarung getroffen:

A.K. meldet sich freiwillig zur Sonderaufgabe RZ 701/99. Er wird im Rahmen seiner Fähigkeiten, insbesondere aufgrund seiner spezifischen Ausbildung, eingesetzt.

A.K. ist bereit, seiner Aufgabe an jedem beliebigen Ort nachzugehen, auf der Erde ebenso wie im Weltraum. Dauer des Einsatzes: 3 (drei) Jahre.

A.K. unterwirft sich bedingungslos den Anweisungen der ZSt und ist mit allen Arten von Sondermaßnahmen zur Sicherung des Projekts einverstanden.

A.K. verpflichtet sich zur absoluten Geheimhaltung; für die Dauer des Projekts bricht er die Verbindungen zu allen Bekannten und Verwandten ab. Er nimmt keinerlei unkontrollierte Kontakte, weder direkt noch indirekt, auf.

Hält A.K. seinen Vertrag nicht ein, dann ist er für alle daraus entstandenen Schäden voll verantwortlich und hat die Konsequenzen zu tragen. Streitfälle unterliegen nicht der öffentlichen Gerichtsbarkeit, sondern dem Sachverständigengremium der VSE.

Die Honorierung erfolgt nach Klasse FO.C/9. Damit sind sämtliche Ansprüche von A.K. abgedeckt; darüber hinaus ist die VSE zu keinerlei Schadenersatz für physische und psychische Schäden verpflichtet.

Die Unterzeichner erklären, sich im Vollbesitz aller körperlichen und geistigen Kräfte zu befinden, bestätigt durch Abt. med. 53-780.

VSE-City, den 29.08.2007.

für ZSt Greg Bakerloor | Alwin Katz

Rechtecke, grau und schwarz, nur wenige grell gezeichnete Lichtkanten, die Zusammenhänge ahnen lassen – Verbindungen zwischen verbotenen Zonen, die Anmutung eines Labyrinths.

Dann der Eindruck einer Veränderung, einer Bewegung … Wie in den Fokus gezogen, ein anderer Eindruck, eine neue Sicht. Etwas rafft sich zusammen, etwas rückt auseinander. Das Grau staffelt sich zu Flächen von Asphalt, Beton, Blech, das Schwarz dehnt sich zu geknickten Schattenbändern.

Kühle Luft streicht über den Grund der Straßenschlucht und treibt zerknüllte Plastikfolien vor sich her, es sieht aus, als würden fantastische Flatterwesen ein Wettrennen veranstalten.

Aus den Gullys quillt stickiger Dampf. Er ist warm und bildet feuchte Flecken an den Mauern. Dort liegen dunkle, unförmige Gestalten, mit Packpapier zugedeckt.

Die Lampen hängen hoch oben an dünnen, unsichtbaren Drähten. Sie sind, zum Schutz vor Steinwürfen, mit Gittern verkleidet. Das milchige Licht verliert sich irgendwo in einer Wolke schwebender Staubteilchen. Weitaus heller ist der Schein aus den Fenstern der oberen – der vornehmen – Etagen. Die zwischen zerfallende Altbauten hingesetzten Hochhäuser haben mit Panzerglas verkleidete Türen, die sich nur von innen öffnen lassen. Hinter den grünlichen Scheiben erkennt man in Fantasieuniformen gekleidete Pförtner an ihren Fernsehmonitoren. Die Kameras sind an den Front- und Hinterseiten der Gebäude angebracht, unauffällig, sodass sie nur schwer zu erkennen sind; dadurch werden sie einigermaßen vor der Zerstörungswut, die hier unten immer wieder aufflackert, geschützt.

Im Schatten eines Gebirges übereinandergestülpter Kisten macht sich jemand am Fenster eines Autos zu schaffen. Ein dumpfer Schlag, das Klirren von Scherben – und ein heller Knall aus der Selbstschussanlage. Mit einem Wehlaut greift sich der Halbwüchsige – im Schlaglicht eines vorüber rauschenden Taxis für einen Moment erkennbar – an den Schenkel und läuft humpelnd davon.

An einer Ecke, halb hinter einem altmodischen, mit Verzierungen versehenen Laternenpfahl verborgen, steht ein Mann in dunklem, eng anliegendem Mantel. Er ist hochgewachsen, das Gesicht unter einem breitkrempigen Hut halb verborgen. Er scheint nichts zu tun zu haben, auf irgendetwas zu warten. Hier ist ein Kreuzungspunkt dieses berühmten und berüchtigten Viertels der City, Menschen bewegen sich in allen Richtungen, rennen zwischen fahrenden Autos hindurch, schlendern auf der Suche nach Straßenmädchen über die holprigen Gehsteige, stolzieren in Abendkleidern, von Wächtern begleitet dahin … Niemand nimmt von anderen Notiz, ein gewisser Stolz liegt in diesem Gebaren, ein Zeichen von Selbstbewusstsein, von Unabhängigkeit. Und er ist den Reichen in den teuren Kleidern ebenso anzumerken wie den in Lumpen dahinschlurfenden Armen.

Der Mann im dunklen Mantel stieß sich vom Laternenpfahl ab und ging langsam in die Straße hinein. Auf der anderen Seite gab es einen Tumult – eine aus Kindern bestehende Räuberbande hatte sich eine alte Frau als Opfer auserkoren. Sie hielten sie an den Kleidern, an den Armen, an den Beinen fest, und einige versuchten ihr, die sich überraschend heftig wehrte, das Täschchen aus der Hand zu reißen, einen Ring vom Finger zu ziehen. Die Passanten gingen daran vorbei, als ginge es sie nichts an, und die alte Frau schrie auch nicht um Hilfe. Jeder, den es traf, wusste, dass ihm niemand helfen würde. Und wahrscheinlich war er selbst schon Dutzende Mal an einer ähnlichen Szene vorübergegangen, ohne mit mehr als einem Achselzucken zu reagieren.

Eine mit Kritzeleien bedeckte Mauer entlang bewegte sich ein Schatten. Die Kleidung des Mannes hatte dieselbe unbestimmte graubraune Farbe wie die Mauer, und da er immer wieder lange stehen blieb, sich stets nur kurze Stücke weiterbewegte, war er kaum zu erkennen. Der Große mit dem Mantel schien ihn zu beobachten, ihm zu folgen, wobei er aber auf Distanz blieb.

Sonst kümmerte sich niemand um den Mann, der alle Anzeichen von Schwäche aufwies. Seine Schritte waren taumelnd – nicht zu verkennen, dass er unter Alkohol oder anderen Drogen stand. Seine rechte Hand war zur Seite gestreckt und streifte die raue Mauer, als müsste er sie abtasten, um den Weg zu finden. Und als die Mauer zu Ende war und es nichts mehr gab, an das er sich halten konnte, verlor er die Richtung und irrte zwischen den Betonpfeilern einer verfallenen Lagerhalle herum. Seine Schritte wurden noch langsamer, dann sank er neben einem rostigen Stahlcontainer zu Boden. Er lag mitten im Unrat, den Kopf in einer Lache, die von abtropfendem Schmutzwasser gebildet war.

Der Mann im schwarzen Mantel wartete eine Weile, dann ging er, nun fast eilig, an den Liegenden heran, fasste ihn an der Schulter, hob seinen Kopf, zog ein Augenlid hoch – ein Auge, das verständnislos ins Leere blickte. Nun ließ sich der Dunkle auf die Knie nieder, schob seinen Arm unter den Rücken und unter die Kniekehlen des Ohnmächtigen und hob ihn mit überraschender Kraft auf. Vorsichtig trug er ihn hinaus zur Straße, wo lautlos ein Wagen vorgefahren war. Der Lenker stieg aus und öffnete die Tür zum Fond. Er half dem Mann im dunklen Mantel beim Absetzen seiner Last. Mit vereinten Kräften schoben sie den Ohnmächtigen auf den Rücksitz und schnallten ihn mit den Sitzgurten fest. Wenig später setzte sich der große, schwarze Wagen in Bewegung und fügte sich in den nicht mehr so dichten nächtlichen Verkehr ein. Er schwenkte in eine Straße ein, die heller beleuchtet war, sauberer, kahler … Sie bildete die Grenze zu jenem letzten Viertel der Stadt, das noch nicht saniert worden war – das Alte noch nicht völlig verfallen, das Neue noch nicht etabliert. In allen Städten der Europäischen Gemeinschaft gab es solche Viertel: Schandflecke in den Augen der Bürgermeister und Stadträte, die immer wieder neue Pläne entwarfen, um das Geschwür zu entfernen. Doch diese Stadtteile waren von überraschender Beständigkeit, schienen mit Eingriffen von außen mühelos fertig zu werden, sie abzuwehren. Vielleicht lag es an sehr verschiedenartigen und doch gleich gerichteten Interessen am Rande der Legalität: dunkle Geschäfte, verbotene Spiele, meldepflichtige – und nicht gemeldete – Krankheiten … Es gab viele, denen daran lag, die Unübersichtlichkeit und Unordnung dieser Regionen beizubehalten – vielleicht, weil sich darin eine letzte, schon in Perversion begriffene Andeutung von Freiheit erhielt. Es waren Reiche dabei und Arme, Menschen, die sich liebten und bekämpften, die einander halfen und betrogen, die sich zusammenschlossen oder isolierten. Alwin Katz, der jetzt in einer schwarzen Limousine aus der Stadt herausgefahren wurde, war einer von ihnen gewesen.

Der Wagen war nur ein kurzes Stück auf einer Autobahn gefahren und hatte sie auf einer wenig benutzten Mautstelle in ländlicher Gegend verlassen. Rechts und links lagen Felder, hin und wieder tauchte eine jener bizarr geformten Robotmaschinen auf, mit denen geerntet und gesät, gepflügt und gedüngt wurde. Menschen waren nirgends zu sehen.

Je weiter sie nach Westen kamen, umso kahler wurde das Land. Dunkle, vielfach zerklüftete Felsen ragten aus dem Boden auf, dazwischen Reihen von verdorrten Tibetfichten, mit denen man das Land vergeblich aufzuforsten versucht hatte.

Benedikt, so hieß der Mann im schwarzen Mantel, gab dem Chauffeur ein Zeichen zu halten. Sie fuhren ein wenig von der Straße fort, an eine Stelle, wo sich das Wasser eines Bachlaufs staute. Dort hielten sie. Sie lösten Alwin aus den Gurten, zogen ihn aus dem Fond heraus, trugen ihn ans Ufer des gestauten Wassers. Sie entkleideten ihn, der Chauffeur holte eine Bürste und einen Lappen – eigentlich für die Reinigung des Autos bestimmt – und schrubbte Alwins Körper ab, bis die Haut rosa glänzte. Dieser hatte sich ein wenig aus seiner Ohnmacht gelöst, doch sein Blick fand keine Richtung, sein Gesicht blieb ausdruckslos. Benedikt trat hinzu, hob ihn auf, trat ans Ufer und kniete davor nieder. Er tauchte Alwins Körper ins Wasser, einmal, zweimal, dreimal und legte ihn dann auf das steinige Ufer. In der hohlen Hand schöpfte er Wasser und spritzte es über den liegenden Mann. »So seist du getauft im Namen des Herren«, sagte er. »Später wird ein anderer kommen, der wird dich mit Feuer taufen.«

Gemeinsam mit dem Chauffeur trug er Alwin zum Wagen. Sie hüllten ihn in eine Decke und brachten ihn wieder im Hintergrund des Wagens unter. Benedikt gab dem Chauffeur ein Zeichen, und dieser setzte den Wagen in Bewegung – weiter Richtung Westen.

Das Forschungszentrum der VSE erstreckt sich über eine zwei Quadratkilometer große ebene Fläche. Die meisten Gebäude sind zwei- bis dreistöckige Flachbauten, einige allerdings – ihrer Zweckbestimmung gemäß – weisen ganz andere Formen auf; da gibt es riesige, fensterlose Bauten, die an Lagerhallen erinnern, einzeln stehende Türme oder Kuppeln, kreisförmige Bauten der Beschleunigeranlagen und zeltförmige Gewächshäuser, aus denen auch tagsüber grelles, fahlfarbenes Licht sticht. Am auffälligsten allerdings sind die zahlreichen Parabolantennen, auf weit ausladende, tief ins Erdreich versenkte Stützkonstruktionen montiert, scheinbar willkürlich gegen verschiedene Stellen des Himmels gerichtet. Es sind die Sende- und Empfangsanlagen, mit denen die Kommunikation mit Satelliten, Orbitstationen um Erde und Mond sowie Raumschiffen aufrechterhalten wird: ein stetes Hin und Her dichtgepackter Information, in unsichtbare, ineinander verschlungene Wellen verschlüsselt, mit Lichtgeschwindigkeit über Abgründe der Leere und des Vakuums getragen. Die Aktivitäten der zentralen Forschungsanstalt beschränken sich keineswegs nur auf Raumfahrt, doch zweifellos kommt dieser eine tragende Rolle zu, abgesehen davon, dass sie im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht. Nicht anders als vor Jahrzehnten und Jahrhunderten verbindet sich mit dem real-nüchternen Bild des Raumschiffs die irreal-romantische Fiktion unsagbarer Erlebnisse und Abenteuer. Der Personalchef des Unternehmens weiß natürlich ganz genau, dass es außer der Raumfahrt noch ganz andere Forschungszweige gibt, von denen – weil sie wenig spektakulär sind – kaum jemand etwas weiß. Er tut aber nichts dagegen, ist im Gegenteil bemüht, das Interesse weiter in diese Richtung zu lenken, die fantastischen Vorstellungen, die sich darum herumranken, zu verstärken. So hat er keinen Mangel an Bewerbern zu beklagen, kann sich die Begabtesten aussuchen und fähige Fachkräfte selbst unter miserablen finanziellen Bedingungen zur Mitarbeit gewinnen. Die Entscheidung, an welcher Stelle jemand eingesetzt wird, erfolgt erst nach einer ein – bis zweijährigen Ausbildung, und meist sind dann die romantischen Erwartungen so weit unterbunden, dass niemand mehr auf der Raumfahrt besteht – weil er inzwischen die Bedeutung der anderen Forschungsrichtungen erkannt hat.

Einige allerdings sind nicht so ohne Weiteres bereit, ihre Träume aufzugeben, und es sind nicht die schlechtesten. Im Gegenteil: Ihr Verhalten beweist – und das weitaus nachhaltiger als äußere Zeichen von Beharrlichkeit –, dass sie über längere Zeit hinweg Ausdauer aufbringen, dass ihre Geduld auch über Mühen, Ablenkungen und Versuchungen hinwegreicht, ohne dass sie ihr vorgefasstes Ziel aus den Augen verlieren. Für solche Fälle besteht die Anweisung, alle finanziellen und betriebspsychologischen Mittel auszuschöpfen, um diese Leute zu halten, denn nur wenige lassen sich in der Raumfahrt unterbringen; in der Öffentlichkeit ist kaum bekannt – und wer versteht schon die Zahlen des Forschungsetats zu lesen! –, dass die Aktivitäten im Raumfahrtbereich in den letzten zehn Jahren auf ein Minimum gesunken sind. Freilich, in letzter Zeit hat es kein großes Weltraumprojekt mehr gegeben, gerade aber das nährte die Vermutung, eine große neue Mission würde vorbereitet. Und auch hier tun die Verantwortlichen nichts, um diese Gerüchte zum Verstummen zu bringen.

Mona Schnaider gehört zu jenen jungen Menschen, die nicht so leicht von ihren Idealen abzubringen sind. An einer technischen Hochschule hat sie ein Diplom in Elektronik erworben, und in einer zweijährigen Ausbildung im Forschungszentrum vervollkommnete sie ihre Kenntnisse in Richtung Sensorik und Robotik. Man sieht ihr die besonderen Fähigkeiten nicht an, die guten Prüfergebnisse, die ausgezeichneten Noten. Sie ist klein, kaum einsfünfundsechzig, ein in seiner Verschlossenheit unscheinbares Gesicht, eine leicht braun getönte Haut, das dunkle Haar glatt und schulterlang. Vielleicht ist ihr unscheinbares Äußeres Grund dafür, dass man sie oft unterschätzt. Auch sie selbst ist sich über ihre Fähigkeiten noch längst nicht im Klaren, jedenfalls nicht so gut wie der Personalchef, der ihre Zeugnisse kennt. Sie ist einsam und schüchtern und braucht erst eine Aufgabe, die sie dazu bringt, alles das zu mobilisieren, was sie zu leisten imstande ist. Und diese Aufgabe kann in ganz verschiedenen Bereichen liegen.

Mona befand sich zum ersten Mal in der höchsten Etage des Verwaltungsgebäudes, eines Wolkenkratzers mit dreißig Stockwerken. Sie war allein im Besprechungszimmer – man ließ sie warten. Sie trat dicht an die Glaswand heran; die Scheibe war reflexarm und so gekrümmt, dass der Eindruck entstand, man stünde unmittelbar im Freien. Einen Moment lang fühlte Mona ein Schwindelgefühl, den Impuls zurückzutreten, aber gerade deshalb zwang sie sich, unbewegt stehen zu bleiben, die Nähe des Abgrunds zu ertragen. Es gelang ihr ganz schnell.

Von hier aus gesehen war der Eindruck des Geländes nicht ganz so imposant wie von unten, wo die Parabolspiegel einen Wald von Silhouetten gegen Himmel oder Wolken bildeten. Man hatte eher den Eindruck einer riesigen Baustelle, und in der Tat wurden hier schon von Anfang an immer wieder neue Gebäude gebaut und alte niedergerissen, entsprechend den ständig veränderten Ansprüchen an Forschungsaufgaben und Apparatetechnik. Unter ihr lag der lange Schatten des Hochbaus, in der klaren Luft vom Sonnenlicht mit scharfen Konturen gezeichnet. Und oben, aus dieser Sicht heraus, ein scharfer Kreis: der größte und höchstgelegene Parabolspiegel – im Gegensatz zu den anderen fast senkrecht emporgerichtet. Die fachkundigen Mitarbeiter wussten es zu deuten: Verbindung mit einem Raumschiff, vielleicht ein geheimes Projekt, vielleicht die Vorbereitungen für jenes Unternehmen, das endlich einmal aus der näheren Umgebung der Erde mit Mond, Mars und Venus hinausführen würde: in die Tiefen des Raums, der mit all seiner Fremdartigkeit und Lebensfeindlichkeit doch eine unglaubliche Anziehungskraft auf alle ausübte, die sich nie zufriedengeben, mit dem, was sie wissen, sondern die gezogenen Grenzen sprengen wollen.

Mona ging zurück zur Sitzgarnitur, ließ sich in einen der Fauteuils sinken, in denen ihr schmaler Körper fast verschwand. Warum hatte sie Horst Hendriks, der oberste Personalchef, hier-herbeordert? Lag es daran, dass sie schon mehrmals angesucht hatte, im Raumfahrtsektor eingesetzt zu werden? Das hatten andere vor ihr auch schon getan, und ihnen allen hatte man zu erklären versucht, dass es weitaus interessantere Aufgaben in anderen Sektoren gab. Noch nie aber hatte der Personalchef selbst eingegriffen.

Sie erinnerte sich an jenes Gespräch, das sie mit dem Ausbildungsberater geführt hatte. Eigentlich war es ganz normal verlaufen – sie hatte ihre Wünsche vorgetragen, und er hatte sie mit verschiedenen Argumenten zur Mitarbeit an einem Automatisierungsprojekt überreden wollen. Doch irgendwie war dieses Gespräch nicht zu einem Ende gekommen, der Vorgesetzte hatte auf einmal zerstreut gewirkt, hatte einen dringenden Termin vorgeschützt. Mona versuchte, sich zu entsinnen, wie das Gespräch verlaufen war, was es gewesen sein könnte, das diesen Stimmungswandel hervorgerufen hatte. Sie hatte ihre Ausbildung beschrieben, die abgelegten Prüfungen, die Tests und Simulationen, sie hatte die Arbeitsgruppen erwähnt, denen sie als Volontärin zugewiesen war, die Wissenschaftler und Techniker, die die Gruppen geleitet hatte. Sie hatte nichts gesagt, was der Ausbildungsleiter nicht sowieso in seinen Akten hatte, und so blieb ihr Termin bei Hendriks rätselhaft. Ihre Irritation dort vorn am Glasfenster, den aufkommenden Schwindel, hatte sie bekämpfen können. Die Unsicherheit, die sie nun beschlich, war schwerer zu überwinden. Ihr Herz begann ein wenig schneller zu klopfen, als der Gong ertönte und sich die Schiebetür an der Wand öffnete.

Der Personalchef war ein grauhaariger, untersetzter Mann, der energisch wirkte, sich aber auch freundlich geben konnte. Er hielt sich nicht lange mit Floskeln auf, sondern kam rasch zum Thema.

»Sie wollen also unbedingt in die Raumfahrtsektion«, sagte er und blätterte in einem Bündel Papier – offenbar Akten über Mona. Sie versuchte, es ihm zu erklären, doch sie hatte den Eindruck, er hörte nicht zu.

»Sie halten sich für weltraumtauglich?« Wieder stellte er die Frage in Form einer Feststellung – und verriet dadurch, dass er die Antwort sowieso schon kannte und etwas ganz anderes wissen wollte. Aber was?

»Ich habe eine Serie von Tests mitgemacht«, erklärte Mona, »während meiner Volontärzeit bei Alwin Katz.«

Noch immer blickte Hendriks in seine Akten, und doch spürte Mona so etwas wie Aufmerksamkeit, Spannung … Sie wollte sich vergewissern und fuhr fort: »Bestünde nicht die Möglichkeit, in seiner Abteilung zu arbeiten? Ich habe den Eindruck, dass er mit mir sehr zufrieden war.«

Hendriks hob den Kopf, blickte Mona in die Augen. »Sie werden es ja schon gehört haben – wir haben nur noch wenige freie Stellen in der Raumfahrt. Aber Ihre Zeugnisse sind hervorragend, vielleicht findet sich doch etwas für Sie. Freilich …« Er zögerte ein wenig. »Die Raumfahrt weist ihre Besonderheiten auf. Und damit meine ich nicht nur die fachlichen, sondern auch solche anderer Art, beispielsweise jene der Politik. Kurz gesagt: Was wir hier machen, unterliegt strengster Geheimhaltung. Über Ihre fachlichen Qualitäten besteht kein Zweifel, doch Sie müssten sich auch einigen psychologischen Tests unterziehen. Wären Sie dazu bereit?«

Mona glaubte seinen Worten entnehmen zu dürfen, dass sie doch noch eine Chance hatte, und das versetzte sie in ein ungewöhnliches Hochgefühl. Weitere Tests … aber gewiss! Sie war sicher, jeden Test zu bestehen. »Ich bin dazu bereit«, antwortete sie.

Der Test fand am nächsten Tag statt. Pünktlich fand sie sich im psychologischen Labor ein. Man schnallte sie auf einen Stuhl, legte Metallplatten an ihre Stirn, gab ihr Elektroden in die Hand. Ein in die Nase eingesteckter Sensor maß die Atemfrequenz, ein Thermometer im Ohr die Temperatur, ein druckempfindlicher Streifen am Puls den Takt des Herzschlags. Sie bekam eine Injektion und fiel in einen unwirklichen Raum, in dem sie unendlich lange schwebte.

Als sie erwachte, hatte man sie von den Gurten gelöst, die Sensoren entfernt. Im Mund hatte sie ein Bonbon, das den schlechten Geschmack entfernen sollte. Sie wartete eine Weile, doch sie merkte, dass ihr Zeitgefühl gelitten hatte, dass sie nicht schätzen konnte, wie lange es dauerte. Schließlich drückte man ihr einen Brief in die Hand und brachte sie hinaus. Sie lehnte sich, noch etwas schwach auf den Beinen, an die Wand und riss den Umschlag auf. Auf dem computergedruckten Papier stand:

INTELLIGENZGRAD: 98%

PHYSISCHE KONSTITUTION: KLASSE 1

PSYCHISCHE KONSTITUTION: KLASSE 1

FACHLICHE BEFÄHIGUNG: HERVORRAGEND

TEAMGEIST: 92%

POLITISCHE ZUVERLÄSSIGKEIT: 98%

RAUMFAHRTBEFÄHIGUNG: UNGEEIGNET

Noch immer unter dem Einfluss des Betäubungsmittels knüllte Mona das Papier zusammen und steckte es in die Jackentasche. Mit langsamen, etwas schleppenden Schritten ging sie den Gang entlang, dem Ausgang zu.

PROTOKOLL SONDERBEFRAGUNG MONA SCHNAIDER –

AZ 7365/1

PRÜFER: IHR NAME?

TESTPERSON: MONA SCHNAIDER

PRÜFER: GEBURTSJAHR?

TESTPERSON: 1998

PRÜFER: LIEBLINGSFARBE

TESTPERSON: KEINE

PRÜFER: RELIGIONSGEMEINSCHAFT?

TESTPERSON: KEINE

PRÜFER: DIE FARBE VON GRAS?

TESTPERSON: GRÜN

PRÜFER: DIE FARBE VON SCHNEE?

TESTPERSON: FARBLOS

PRÜFER: DIE FARBE DER HOFFNUNG?

TESTPERSON: –

PRÜFER: BERUFLICHES ZIEL?

TESTPERSON: RAUMFAHRT

PRÜFER: PERSÖNLICHES ZIEL?

TESTPERSON: RAUMFAHRT

PRÜFER: ZAHL DER BISHERIGEN SEXUELLEN KONTAKTE?

TESTPERSON: 2

PRÜFER: IST ANGABE »2« RICHTIG?

TESTPERSON: 2

PRÜFER: ANGST … WAS FÄLLT DIR IM ZUSAMMENHANG DAMIT EIN?

TESTPERSON: SCHLANGEN, RATTEN, HUNDE …

PRÜFER: HATTEST DU EIN VERHÄLTNIS MIT ALWIN KATZ?

TESTPERSON: NEIN.

PRÜFER: GAB ES EINE PERSÖNLICHE BEZIEHUNG ZWISCHEN DIR UND KATZ?

TESTPERSON: NEIN.

PRÜFER: WAS IST DIE FARBE DER NACHT?

TESTPERSON: SCHWARZ.

PRÜFER: HAT KATZ EIN BESTIMMTES RAUMFAHRTPROJEKT ERWÄHNT?

MONA: NEIN … JA … – EINE REISE ZUM MITTELPUNKT DER MILCHSTRASSE – ES WAR EIN SCHERZ.

PRÜFER: DIE FARBE DER AUGEN VON ALWIN KATZ.

TESTPERSON: BRAUN.

PRÜFER: HAST DU KATZ SEIT DEINER VOLONTÄRZEIT WIEDERGESEHEN?

TESTPERSON: NEIN.

PRÜFER: WELTRAUMEXPEDITION – WAS FÄLLT DIR DAZU EIN?

TESTPERSON: … EINE REISE ZUM ZENTRUM DER MILCHSTRASSE.

PRÜFER: HAST DU IM LETZTEN JAHR ETWAS VON ALWIN KATZ GEHÖRT?

TESTPERSON: NEIN.

PRÜFER: DEIN GRÖSSTER WUNSCH – WAS FÄLLT DIR DAZU EIN?

TESTPERSON:… REISE ZUM ZENTRUM DER MILCHSTRASSE.

Saul, gen. Paulus Sanctus (Modul)

assoziatives HELP zum Problem der Sünde

In gewaschenem Zustand, die Bartstoppeln rasiert, die Haare geschnitten, sieht Alwin Katz gut aus. Er ist einsachtzig groß, hält sich ein wenig gebeugt, bewegt sich langsam und bedächtig. Er hat mittelbraunes Haar, von dem ihm stets einige Strähnen in die Stirn hängen. Das Gesicht ohne Besonderheiten, am einprägsamsten noch die Augen, die dunkel und klug blicken.

Es dauerte eine Weile, ehe er zu verstehen begann, was mit ihm geschehen war. Dunkel erinnerte er sich an die letzten Wochen und Monate, an einen albtraumhaften Zustand, in dem kurze Augenblicke künstlich erzeugter Euphorie mit Elend und Verzweiflung wechselten. Wie schnell hatte es geschehen können, dass ein geachteter und beliebter Mann, privat und beruflich in stabilen Verhältnissen, den Halt verlor und in der Gosse landete! Da war … da hatte … Selbst jetzt noch, wenn Alwin daran dachte, verstand er nicht, wie es zu jenen Ereignissen hatte kommen können, die ihn in die Verzweiflung gestürzt hatten, doch bestand kein Zweifel an der Konsequenz der Entwicklung. Selbst jetzt noch spürte er einen Anflug von Entsetzen, von Schock, von Trauer, von Verzweiflung … wahrscheinlich gibt es für jeden ein Maß, das die Grenzen der Erträglichkeit überschreitet, die Persönlichkeit kippen lässt. Ist es wahr, dass die Zeit alle Wunden heilt? Er konnte es ganz deutlich spüren: Wenn er wieder nachzudenken begann, wenn er sich die Schlüsselszenen ins Gedächtnis zurückrief, wenn er sich in seinem Schmerz vergrub, dann würde seine Trauer wieder ins Grenzenlose steigen, und er würde wieder verzweifelt nach irgendetwas suchen müssen, das ihn, wenn auch nur für kurze Zeit, aus diesem selbstquälerischen Zustand herausriss, von dem er sich selbst nicht befreien konnte. Mädchen, Trunkenheitsexzesse, Glücksspiel, Drogen …, sie sind imstande zu helfen, aber um welchen Preis! – nur, um ihn, wenn der Rausch vorbei war, um so tiefer in die Ausweglosigkeit zu stürzen.

Aber das musste sich nicht wiederholen. Er blickte um sich. Da waren Menschen, die ihm helfen wollten, und er war bereit, sich helfen zu lassen. An diese Art von Hilfe hatte er vorhin nicht gedacht, doch er war bereit, sie anzunehmen.

Er war nicht plötzlich erwacht, sondern Stück für Stück. Zuerst hatte er die Gesichter einiger Menschen kennengelernt, ihre Stimmen gehört – und den Sinn zu verstehen begonnen.

Aber es gab Rückfälle … Oft befand er sich in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen – ein Zustand, mit quälenden Vorstellungen und Bildern durchsetzt, nicht zu unterscheiden, ob Traum oder Wirklichkeit. Vorkommnisse aus der Vergangenheit, Erwartungen und Befürchtungen mischten sich zu fantastischen Szenen, bei denen er manchmal nur als Beobachter teilnahm, manchmal auch beteiligt war. Einmal war ihm, als ob er eine Zeremonie erlebte, eine Taufe, die mit Feuer vollzogen wurde, und er war Zuschauer und Täufling zugleich. Vor einer Kulisse niedriger Mauern loderte ein Feuerring, und man schob ihn – einen zitternden nackten Mann, der er selbst war und wieder nicht – immer näher und näher an die sengende Glut. Da sagte eine Stimme: »Du brauchst keine Angst zu haben, die Flammen können dir nichts anhaben. Du musst nur an die Heilige Kraft glauben, in deren Obhut du stehst. Geh ein ins Feuer, auf dass du gereinigt werdest an Leib und an Seele!« Doch er hatte Angst und weigerte sich. Da packten sie ihn und warfen ihn in die Flammen, die ihn einhüllten in ihren brennenden Mantel und verzehrten. Aber er war immer noch am Leben und hatte immer noch Angst. Und wieder hörte er die Stimme, die voll Macht und Güte war.

»Jetzt gehörst du unserer Gemeinschaft an, jetzt bist du nicht mehr allein, sondern einbezogen in einen umfassenden, gemeinsamen Willen. Du brauchst unsere Hilfe. Wenn du Demut zeigst, wenn du dich unterordnest, dann wird dir geholfen werden.« Das waren die ersten Worte, die der groß gewachsene Mann, der sich Benedikt nannte, an ihn gerichtet hat. Alwin erinnerte sich, als er die Augen öffnete – zum ersten Mal voll wach, mit der Fähigkeit, sich umzusehen, mit dem Drang, eine Erklärung zu finden. Er befand sich auf einem großen, quadratischen Platz, rundherum ein offener, mit Säulen begrenzter Gang.

Er saß auf einer Bank, schwach, in sich zusammengekrümmt, er war allein – wer weiß, wie lange er sich hier schon aufhielt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Der Platz war nicht leer, jetzt erst bemerkte er, dass zwischen den Säulen Menschen wanderten, die lange, braune, mit Kapuzen versehene Kutten trugen. Gelegentlich überquerte einer von ihnen den Hof, unverständliche Worte vor sich hinmurmelnd oder im Gehen in dicken Büchern lesend. Sie alle trugen Sandalen, die über den Kies der Wege schlurften und beim Auftreten knirschende Geräusche verursachten. Einige waren glatt rasiert, andere hatten Bärte, ihre Schädel waren geschoren, bei einigen war die kahle Stelle auf dem Scheitel von einem Haarkranz gesäumt. Ohne Zweifel: Alwin war in einem Kloster.

Auf der Bank, in der Mitte des Hofes am Rand eines Wasserbeckens mit Brunnen gelegen, verbrachte er lange Stunden, ohne ungeduldig zu werden. Oft führten sie ihn schon im Morgengrauen hierher, und er fühlte sich, in eine warme Decke gehüllt, geschützt und geborgen. Er hörte das Läuten der Glocken, den Gesang, den der Wind aus der Kirche herübertrug, Stimmen, eintönig und doch beschwörend, gelegentlich aber auch hellen Jubel, als käme er aus tausend jugendlichen Kehlen.

Er hatte nichts zu tun, wäre auch gar nicht dazu fähig gewesen … Er war müde, selbst die Lider zu heben, den Kopf zu drehen kostete ihn Mühe. Unbewegt döste er vor sich hin, seine Aufmerksamkeit wurde nur beiläufig in Anspruch genommen von dem, was sich um ihn herum tat. Die Mönche, der Innenhof, das Gebäude, ein kleines offenes Stück Himmel …

Gelegentlich weht feuchter Luftzug über ihn hinweg, der Geruch nach abgestandenem Wasser, nach Algen. Der Brunnen … Über ihm ragt ein Dach, vier Säulen, zwei davon durch einige eiserne Streben miteinander verbunden, ein Räderwerk, Zahnreihen, auf komplizierte Weise ineinandergreifend, eine Kette, aufgerollt, nur das Ende hängt frei, an einem Haken daran befestigt ein klobiger Holzeimer, auf einem Querbrett abgestellt. Daneben, in den Stein gehauen, die Mulde eines flachen Beckens, eine Rinne – Auslauf für überschüssiges Wasser. An der Seite, von einem steinernen Sockel aus gut erreichbar, ein weiteres, mit Holzgriff versehenes Rad. Es weist auf mühevolle Arbeit: Wasser, aus tiefem Urgrund emporgehebelt, schwankende, triefende Eimer, verspannte Muskeln und Schweiß. Die Räder bewegen sich knirschend, der Mönch, der das Rad bedient, sieht ausgemergelt aus, setzt seine letzte Kraft ein. Dahinter ein anderer, ungeduldig auf den nächsten Eimer wartend. Rufe in einer fremdartigen Sprache. Befehle, Flüstern … Soldaten in bunten Uniformen … eine Gruppe in einer Ecke zusammengedrängter Mönche. Ein Windstoß – Wolken ziehen sich zu Fäden, fangen sich im Areal des Hofes, wirbeln im Kreis. Geruch nach Rauch.

Durch Alwins Körper geht ein Ruck, sein Kopf, im Begriff nach vorn zu sinken, hält plötzlich still wie durch einen leichten Schlag in den Nacken. Alwin war eingenickt, jetzt ist er wieder wach. Ihm ist, als wäre er lange weit fortgewesen. Er blickt auf – nichts hat sich verändert. Die Mönche gehen ihrer Wege. Die Brunnenanlage ist nicht mehr in Betrieb, das Eisen schwarz verkrustet, in den Nischen sitzt der Rost, das Holz des Eimers ausgetrocknet, von Rissen durchsetzt, im Becken vertrocknete Blätter, in der Abflussrinne Sand.

Von Zeit zu Zeit brachte ihm jemand eine Schale mit Brei, ein Reisgericht, Graupen mit mageren Fleischstückchen, Suppe und Kräutertee … Einmal war eine Gruppe von Männern gekommen, sie hatten sich um ihn herum gestellt, ihn mit freundlichen Blicken gemessen, ohne ein Wort zu verlieren. Danach sprach einer ein kurzes Gebet, und sie entfernten sich wieder. Und dieser eine kam nun jeden Tag, zwei – oder dreimal, und sagte seine Formeln in jener fremden Sprache, die vielleicht Griechisch war, vielleicht Latein – die Alwin nicht verstand und die doch eine beruhigende, kräftigende Wirkung auf ihn ausübte, als läge darin eine Wahrheit, die so gut und teuer war, dass schon allein ihr Vorhandensein wunderbare Ruhe und Sicherheit ausstrahlte.

In den Nächten führten sie ihn ins Gebäude, über steinerne, an den Kanten abgetretene Stufen hinauf, in einen langen, leeren und doch nicht unfreundlichen Gang, der von schmalen Holztüren gesäumt war. Eine dieser Zellen war seine eigene geworden, und wenn er auf der Pritsche lag, auf einer harten Rosshaarmatratze, in eine Schafwolldecke gehüllt, dann war ihm, als hätte er eine neue Heimat gefunden: ein Ort, an dem man bleiben oder an den man, wenn man fortgewesen war, jederzeit zurückkehren konnte. Manchmal kam ihm kurz in den Sinn, dass das alles wohl nicht so einfach sein könnte, dass es außerhalb dieser Welt auch noch andere Dinge gab und dass selbst eine abgeschiedene Gemeinschaft wie jene von Klosterbrüdern einbezogen war in Geschehnisse, die auch jene, die in Ruhe leben wollten, nicht unbehelligt ließen. Da er aber zufrieden war, da ihn seine Schwäche am Fragen und Fordern hinderte, ergab er sich gerne dieser schläfrigen Stimmung, in der nur der Augenblick zählte und Vergangenheit und Zukunft weit jenseits des Begreifens, der Wirksamkeit und der Wahrnehmbarkeit lagen.

Alwin hat viel Zeit, so viel Zeit, wie er noch nie in seinem Leben hatte. Allmählich erwacht sein Interesse. Diese Umgebung, so ganz anders als alles, was er bisher kennengelernt hatte. Etwas, was fest gefügt war; etwas, was Bestand hatte.

Jetzt sah er sich die Dinge genau an. Um die Mitte des Tages herum, wenn die Sonne die Tiefe des Hofes erreichte, tauchte sie den Brunnen in goldenes Licht. Nur an wenigen Stellen trat die braunrote Kupferoberfläche rein zutage, die übrigen Partien waren grün oxidiert. Oberhalb der Säulen saßen Figuren, zwerghafte Gestalten mit großen Köpfen und krausen Haaren, im korrodierten Gestein nur noch schwer erkennbar.

Noch länger beschäftigte sich Alwin mit der Umrandung des Brunnens. Sie war achteckig, die Ränder mehrfach gekantet, ein Spiralmuster zur Verzierung. Die steinernen Platten mit einem reliefartig herausgehauenen Bandmuster versehen, das Gelegenheit gab, sich lange damit zu beschäftigen. Die Bänder waren verflochten, sie bildeten ein kompliziert symmetrisches Muster, und Alwin bereitete es Vergnügen, ihrem Verlauf zu folgen, sich zu vergewissern, dass die gesamte Figur aus einem kompliziert in sich selbst verschlungenen einzigen Strang bestand.

Alwin erholte sich gut, er war wieder fähig zu denken, zu sprechen, und Benedikt, den er als seinen Retter und Betreuer ansah, verstand es, die erwachenden Lebensgeister vorsichtig anzufachen und zu bestärken. Der stattliche Mönch war so klug oder auch so vorsichtig, mit keinem Wort auf das persönliche Schicksal von Alwin einzugehen, keine Fragen zu stellen, keine Hinweise auf das zu geben, was die Zukunft bringen mochte. Seine Ausführungen waren eher philosophischer Natur, es hätten Selbstgespräche sein können, Fragen, die Benedikt bewegten, Hinweise auf Begebenheiten, die sich vor langer Zeit ereignet hatten und doch in irgendeiner, nicht ohne Weiteres auslegbaren Beziehung zur Gegenwart zu stehen schienen. Wollte ihm Benedikt damit etwas mitteilen? Die Art, wie er sich ausdrückte, wies auf hohe Bildung hin – er durfte kaum erwarten, dass ihn ein Herumtreiber, den er aus der Gosse geholt hatte, verstand. Oder wusste Benedikt mehr über Alwin? Und woher? Vielleicht lag in seiner Art eine uralte Strategie der Kirche, alles in nicht weiter durchschaubare Gleichnisse einzubetten und dadurch mehr zu verhüllen als klarzulegen. Gerade in diesen rätselhaften Formeln, in der Andeutung geheimer Erkenntnisse, in der Beschwörung wohlwollender und missgünstiger Mächte ist ja der Mythos begründet, den gerade der unwissende Gläubige so stark verspürt. Zugleich wächst die Abhängigkeit zu jenen, in denen sich die Kraft des Guten verkörpert. Genau diese Wirkung war es, die wesentlich dazu beitrug, Alwins aus dem Gleichgewicht geratenen Geisteszustand wieder zu stabilisieren. Nach und nach glaubte er zu verstehen, worum es ging: um den Erhalt uralter Werte, um Aufgaben, die früher schon anstanden und noch immer nicht gelöst waren.

So sagte Benedikt: »Es geht um die Wahrheit, um die echte, tiefe Wahrheit. Vielleicht war man ihr früher, vor zweitausend Jahren schon sehr nahe gekommen, doch dann verirrte man sich mehr und mehr in ein Labyrinth der Verblendung. Eine Philosophie, die das Ganze aus den Augen verliert. Es war die aufkommende Naturwissenschaft, die begann, die großen Dinge in winzige Einheiten zu zerlegen. Atome, Elementarteilchen, Quanten – für die Physiker in ihren Laboratorien ist der Prozess noch nicht abgeschlossen. Sie verwenden immer größere Maschinen, um die kleinsten Teile ein weiteres Mal in noch kleinere Bestandteile zu zerlegen. Sie merken gar nicht, dass sie bereits im Absurden gelandet sind.

Nicht dass das Zutagegeförderte falsch wäre! Alle diese Formeln stimmen, alle diese Details … Und doch liegt ein tragischer Fehler darin. Der Fehler des Menschen, der glaubt, die Welt bestünde nur aus dem, was er mit den Händen greifen, mit den Augen sehen, mit den Ohren hören kann. Daran ändert sich auch nichts, wenn er die von Gott gegebenen Sinnesorgane mit den Instrumenten der wissenschaftlichen Fotografie erweitert. Was sie ihm zeigen, ist wieder nichts anderes als ein belangloser Ausschnitt, der Zusammenhang mit der übrigen Welt unterbrochen. Die Fiktion des Massenpunkts – den es nicht geben kann! Das Rechnen mit unendlich kleinen Zahlen, Irrfahrten durch eine unwirkliche Zeit! Die Experimente der Naturwissenschaftler, die glauben, auf den Folterbänken ihrer Geräte der Welt Geheimnisse abpressen zu können! Schon Goethe wusste es: Newton zerlegte das herrliche, bunte Licht in ein Gewirr ineinanderverschlungener Wellen, kalt, ungreifbar, farblos.

Ist die Zeit dieser Verirrungen jetzt vorbei? Kybernetik, Synergetik … Physik, von oben betrieben, Rückkopplungen, Wechselwirkungen – die allgemeinen Gesetze, die die Welt regieren … Ist die Zeit gekommen, um die großen, um die letzten Aufgaben zu bewältigen?

Der Sumpf der falschen Lehre, in dem wir zu versinken drohen, ist tief. Er zieht nicht nur die Laien hinab, die es nicht besser wissen können, sondern übt seine verführerische Kraft auch auf die Brüder unserer Gemeinschaft aus. Gott möge ihnen helfen und sie auf den rechten Weg führen!«

In diesen Tagen erfuhr Alwin natürlich auch mehr und mehr vom täglichen Leben in dieser Gemeinschaft, von ihren Sitten und Gebräuchen, von ihren festgeschriebenen Gesetzen und durch Gewohnheit eingeführten Regeln. Benedikt gab sich mit solchen Dingen nicht ab, die banalen Informationen erhielt Alwin von Pater Melchior, jenem unscheinbaren, alterslosen Mönch, der Benedikt gelegentlich als Chauffeur diente und jetzt die leibliche Betreuung von Alwin übernommen hatte. Melchior weckte ihn im Morgengrauen und brachte ihn am Abend in die Zelle zurück. Er versorgte ihn mit Speisen und Getränken, wies ihn an, mehrmals am Tag den Waschraum aufzusuchen, wo er heiße, mit Kräutern gewürzte Bäder bekam. Später nahm Melchior ihn in die Kirche mit, wo er hinter der letzten Reihe auf einem steinernen Sockel sitzen und zuhören durfte.

Als Alwin seinen Schwächezustand überwunden zu haben schien, führte ihn Melchior zum ersten Mal aus dem inneren Klostergebäude hinaus. Ein kühler, kräftiger Wind zerrte an seiner Kleidung, nahm ihm sekundenlang den Atem. Es war, als hätte er plötzlich eine Hülle verloren, die ihn bisher wirksam vor den Unbilden einer rauen Außenwelt geschützt hatte.

Gegen Westen hin fällt das Gelände ein wenig ab, es ist in zahlreiche Terrassen unterteilt, von Wegen und Brüstungen zerschnitten. Im zusammengetragenen Erdreich wachsen verschiedene Gemüsesorten, aber auch bunte Blumen – vor allem Rosen in verschiedensten Formen und Farben. Eine von kurzen, aus Stein geschlagenen Säulen getragene Balustrade schließt das Gartengelände ab – darüber schwebt ein Hauch von Dunst und Silbergespinst: das den Horizont umspannende Meer. Das Kloster ist auf ein Felsriff gebaut, an drei Seiten von Steilwänden umgeben. Nur in der vierten Himmelsrichtung, nach Norden zu, besteht eine Verbindung zum Hinterland, eine Art Naturbrücke, über die eine holprige Straße läuft. Ihre Fortsetzung ist von einem steil aufragenden Hügel verborgen. Dieser Teil des Klostergeländes ist von einer dicken Steinmauer abgeschlossen. Das Tor, der einzige Zugang, liegt unter einem niedrigen, mit zwei Turmstummeln versehenen Haus.

Wenn man um das Hauptgebäude herumgeht, tauchen nach Süden und Osten zu weitere Gebäude auf. Sie alle weisen denselben Stil auf: romanisch, mit Steindächern, Erkern und Säulen, die auf runde Bögen gestützte Aufbauten tragen. Der Unebenheit des Geländes angemessen gibt es unzählige von Steinwänden gesäumte Stiegen, die es erlauben, auf kürzesten Wegen zwischen den auf verschiedenen Etagen liegenden Eingängen überzuwechseln. Aber auch die Wände der Gebäude sind von Stiegen gesäumt, über die man Balkone erreichen kann oder auch, ohne ins Erdgeschoss absteigen zu müssen, von einem Gebäude ins andere kommt. Wie Melchior erklärt, haben sie verschiedene Funktionen, die Küche ist hier untergebracht, die Vorratsräume, ein umfangreiches Lager mit Maschinen und Werkzeugen, eine nicht mehr benutzte Brauerei, einige Gewächshäuser. Das ist der profane Teil des Klosters, das, wie Melchior versichert, lange Zeit ohne Hilfe von außen überdauern kann. Einige Bauten sind auch den eigentlichen Aufgaben der Gemeinschaft gewidmet: die Bibliothek mit ihren Leseräumen, die stets streng verschlossene Schatzkammer, verschiedene Sammlungen weltlicher und heiliger Gegenstände. Der Zutritt zu diesem Teil des Klosters ist jenen wenigen vorbehalten, die darin zu arbeiten haben – Melchior gehört nicht dazu, und er weiß auch nur wenig darüber zu sagen.

Bei einem jener Spaziergänge erkundigte sich Alwin danach, wie Melchior hierhergekommen war. Es schien, als zögerte der grauhaarige Mönch ein wenig. »Warum soll ich nicht darüber reden?«, antwortete er. »Im früheren Leben fuhr ich Taxi, doch dann merkte ich, dass ich als Privatfahrer weitaus besser verdiente. Nun ja – es stellte sich heraus, dass es Diebesgut war, was ich zu transportieren hatte. Es hat mir damals nichts ausgemacht. Doch dann …, es geschah ganz plötzlich: Es überkam mich die Erleuchtung. Ich erkannte, dass ich etwas Böses tat und dass damit ein Ende sein müsste. Dann tauchte Benedikt auf und brachte mich hierher.«

»Wie kam Benedikt gerade auf dich?«

»Ich weiß es nicht, und ich habe ihn nie danach gefragt. Doch es gehört zu den Pflichten der Kirche, die reuigen Sünder aufzunehmen. Benedikt weiß, wer Hilfe braucht.«

»Wird jeder aufgenommen, der Hilfe braucht?«

»Nein«, sagte Melchior. »Nicht jeder.«

»Warum gerade du? Und warum gerade ich?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Melchior nachdenklich. »Es gehört nicht zu meinen Aufgaben, darüber nachzudenken. Wie sagt doch die Bibel: … nicht alle sind auserwählt. Das wird es wohl sein: Nicht alle sind auserwählt.«

Mona arbeitete jetzt an Problemen der Mustererkennung. Sie tat es ohne große Begeisterung, aber verantwortungsbewusst und präzise, wie es ihre Art war. Den Gedanken an die Raumfahrt hatte sie irgendwo im Hintergrund ihres Bewusstseins abgelegt, doch er war nicht vergessen. Die Ablehnung lag nun schon vier Wochen zurück, doch gelegentlich hatte sie den Eindruck, noch immer unter den Nachwirkungen der seltsamen Befragung zu stehen.

Sie wusste nicht, was man sie gefragt, was sie geantwortet hatte. Sie hatte sich in einem Zustand der Betäubung befunden. In ihren Antworten musste der Grund für die Ablehnung liegen, und das war Grund genug für sie, sich verzweifelt um eine Erinnerung zu bemühen. Manchmal hatte sie den Eindruck, irgendeinem Gedanken auf der Spur zu sein, doch sobald sie sich darauf konzentrierte, war diese verflogen. Eines Abends, als sie das Forschungsgelände verließ und gemeinsam mit vielen anderen der Einschienenbahn zustrebte, die die in der Stadt wohnenden Mitarbeiter zu transportieren hatte, bemerkte sie in ihrer Nähe Juan Varez, den sie als Mitarbeiter von Alwin Katz kennengelernt und mit dem sie zusammengearbeitet hatte. Sie nickte ihm zu, und sie stiegen gemeinsam in den Wagen, setzten sich nebeneinander auf eine Bank.

Sie wechselten einige belanglose Worte, doch, zuerst schwach, dann immer stärker, spürte Mona eine seltsame Unruhe. Gerade jetzt, als sie nicht daran gedacht hatte, flackerte ein Gedanke auf, deutete sich ein Zusammenhang an … Alwin Katz! Ja, es musste mit Alwin Katz zusammenhängen! Hatte Hendriks sie nicht nach Katz gefragt? Und dann, beim Test … Sie konnte sich noch immer an keine Einzelheit erinnern, aber es war ihr, als hätte Alwin Katz dabei eine Rolle gespielt.

»Wie geht es Alwin?«, erkundigte sie sich.

Juan blickte sie erstaunt an. »Hast du nichts davon gehört? Er ist nicht mehr bei uns.« Zuerst schien es, als wollte er weiterreden, doch dann blieb er stumm.

»Was ist mit ihm geschehen? Arbeitet er in einem anderen Sektor?«

»Er ist aus dem Institut ausgeschieden«, antwortete Juan zögernd.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Mona. »Er war einer der erfahrensten und tüchtigsten Techniker. Und er hatte sich mit Haut und Haaren der Raumfahrt verschrieben. Weshalb ist er ausgeschieden?«

Juan zog die Schultern hoch, als fröre er. Dann sagte er: »Ich möchte nicht darüber reden.« Er schwieg, dann fügte er hinzu: »Ich darf nicht darüber reden.«

Mona versuchte es noch einmal, doch Juan blieb stumm. Erst als sie ihn nach ganz anderen Dingen fragte, zeigte er sich wieder zugänglich. Mona aber gingen verschiedenste Fragen durch den Kopf, und sie alle drehten sich um Alwin Katz.

Am nächsten Tag meldete sie sich im Personalbüro – sie hatte sich eine List zurechtgelegt.

»Ich habe gehört«, sagte sie, »dass Alwin Katz nicht mehr bei uns arbeitet. Er war einige Zeit mein Ausbildungsleiter – während meiner Volontärzeit. Er wollte mir darüber ein Zeugnis ausstellen, doch habe ich es bis heute nicht erhalten. Könnten Sie mir seine Adresse geben?«

Die Sachbearbeiterin schien bereit, die Bitte zu erfüllen, und ließ sich die Personaldaten von Alwin Katz auf den Monitor ausgeben. Sie runzelte die Stirn, dann sagte sie: »Er wurde entlassen. Hier steht zwar eine Adresse, doch mit dem Vermerk ›ungültig‹.«

Mona versuchte, einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen, doch die am Pult sitzende Frau warf ihr einen missbilligenden Blick zu.

Mona entschloss sich, die Frage zu stellen: »Warum wurde er entlassen?« Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen gleichgültigen Ton zu geben, denn sie war sich im Klaren darüber, dass es die entscheidende Frage war – und vielleicht die, die weitere im Einzelnen unklare Konsequenzen nach sich ziehen könnte.

Doch die Sachbearbeiterin reagierte völlig unbefangen. »Der Entlassungsgrund steht nicht hier«, sagte sie. »Aber es war eine Kündigung von einem Tag zum anderen. Das kommt eigentlich selten vor – es muss einen schwerwiegenden Grund dafür geben.«

»Was für einen Grund?«

Die Angestellte lächelte: »Vielleicht hat er silberne Löffel gestohlen – das wäre das mindeste.«

Sie weiß nichts, dachte Mona, und das konnte ihr nur recht sein. Aber sie musste herausfinden, was mit Alwin Katz passiert war. Irgendwie hing es mit ihr zusammen.

Da es regnete, benutzte sie den unterirdischen Verbindungsgang zwischen dem Hauptgebäude und dem Laboratorium, in dem sie arbeitete. Als sie um eine Ecke bog, standen zwei schwarz gekleidete Angehörige der Werkpolizei vor ihr.

»Kommen Sie mit!« sagte einer von ihnen in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.

Die beiden Männer führten sie in einen Teil des unterirdischen Gangsystems, in dem sie noch nie gewesen war. Schließlich verschloss eine dunkle Metalltür den Weg; der eine Werkpolizist steckte eine Magnetkarte ins Schloss. Über ihren Köpfen schwenkte eine Kamera hin und her, dann glitten die beiden Metallteile der Tür auf Rollen lautlos zur Seite.

Zu ihrem Erstaunen bemerkte Mona, dass sich hier unten Büroräume befanden. Sie kamen an Türen mit den Aufschriften ACHTUNG ACHTUNG ARCHIV, COMPUTERRAUM, LABORATORIUM, FORENSISCHE ANALYSE, MUNITIONSDEPOT, ÜBUNGSRAUM und dergleichen vorbei. Der Weg endete in einer kleinen Kammer mit einem Tisch und zwei rechts und links davon postierten, einander zugewandten Stühlen. Der eine stand in grellem Licht, der andere im Schatten. Niemand forderte sie auf, sich niederzusetzen, und sie blieb stehen. Die Polizisten verließen den Raum, die Tür schnappte hinter ihnen ins Schloss ein.

Nach zwanzig Minuten wurde Mona ungeduldig und begann an die Tür zu klopfen, doch nichts rührte sich. Es war heiß und trocken hier, sie bekam Durst und merkte eine gewisse Nervosität in sich aufsteigen. Da das aber offen beabsichtigt war, ließ sie sich nichts anmerken – denn sie war überzeugt davon, dass sie durch eine Kamera beobachtet wurde.

Schließlich trat ein mittelgroßer Mann mit schütterem Blondhaar ein, wies Mona an, sich in den hell beleuchteten Stuhl zu setzen, und nahm selbst auf der anderen Seite Platz. Auf den ersten Blick wirkte er unscheinbar, doch dann fiel in seinem Gesicht irgendetwas Unangenehmes auf, eine Unregelmäßigkeit vielleicht, die Stellung der Augen oder des Mundes – es war schwer zu sagen.

»Sie haben sich in auffälliger Weise nach Alwin Katz erkundigt«, sagte der Mann. »Ich will Sie nicht im Zweifel darüber lassen, dass es dabei um eine ernste Angelegenheit geht. Wahrscheinlich wissen Sie nicht, wer ich bin – mein Name ist Josefson, ich bin der Leiter der Sicherheitsabteilung. In meine Kompetenz fallen auch Fragen der Industriespionage. Doch wollen Sie mir zunächst erklären, weshalb Sie sich für Katz interessieren.«

Er hatte es nicht als Frage oder als Befehl gesagt, sondern eher wie eine Feststellung, gegen die es keinerlei Widerspruch gibt. Mona hatte auch keinen Grund, irgendetwas zu verschweigen – einfach deshalb, weil sie nichts wusste. In diesem Gespräch konnte nur einer der beiden beteiligten Personen etwas erfahren, und das war sie! Trotz ihrer Unruhe gab ihr das eine gewisse Festigkeit.

»Ich habe bei Alwin Katz gearbeitet und viel bei ihm gelernt – er ist ein hervorragender Fachmann. Ich hatte gehofft, später unter seiner Leitung arbeiten zu können, offenbar war er mit meinen Kenntnissen zufrieden. Jetzt, nach Beendigung meiner Ausbildungszeit, habe ich mich nach ihm erkundigt – das ist alles. Allerdings habe ich das Gefühl, ohne Absicht in eine mysteriöse Angelegenheit geraten zu sein.«

Josefson sah sie einige Zeit ausdruckslos an, dann sagte er: »Wir werden das prüfen.« Wieder schwieg er und starrte sie an, als wollte er auf diese Weise ihre Glaubwürdigkeit feststellen.

Mona musste ihren Mut zusammenfassen, um die Initiative zu ergreifen – doch sie hatte es sich vorgenommen, und sie tat es. »Was ist nun eigentlich mit Alwin Katz geschehen? Ist es ein Geheimnis?«

»Es ist kein Geheimnis«, sagte Josefson. Er machte eine Pause – Mona merkte, dass er überlegte. »Es ist lediglich eine unangenehme Angelegenheit. Wir sind interessiert daran, dass nichts davon an die Öffentlichkeit kommt. Ich muss Sie also zur Geheimhaltung verpflichten.« Er sah Mona fragend an, und diese nickte. »Alwin Katz hat Pläne unseres neuen Triebwerks in den Osten verkauft. Wir hätten ihn vor Gericht stellen können, doch wir hatten Gründe, das nicht zu tun. Erstens wäre der entstandene Schaden dadurch nicht wiedergutgemacht worden, statt dessen aber wären Informationen über unsere Entwicklung in die Öffentlichkeit geraten, woran wir kein Interesse haben.«

»Ist da kein Irrtum möglich?«, fragte Mona. »Ich habe von Alwin Katz den besten Eindruck gewonnen – ich halte ihn einer solchen Tat nicht fähig.«

»Die größten Gaunereien werden von Leuten gemacht, denen man es nicht zutraut«, erklärte Josefson, und er fügte hinzu: »Nein – es gibt keinen Zweifel. Man hat Kopien der Pläne in einem Versteck seines Schreibtisches gefunden, auch die Zahlungen, die die Gegenseite geleistet hat, ließen sich nachweisen. Wir haben ein Dossier über ihn, das ein lückenloses Bild seiner Aktivitäten gibt. Wir halten es unter Verschluss – doch aufgrund des Materials wäre er von jedem Gericht verurteilt worden. Er ist noch recht gut davongekommen.«

Noch immer lag das grelle Licht auf Monas Gesicht, während Josefson im Schatten saß. Obwohl sich Mona die Augen mit der Hand abgeschattet hatte, war sie geblendet, außerdem lag die Hitze wie eine Last auf ihr. Sie fühlte so etwas wie Klaustrophobie – sie musste diesen Raum verlassen.

»Darf ich jetzt gehen?«

»Kein Wort über dieses Gespräch!«, mahnte Josefson. »Zu keinem Kollegen, zu keinem Freund – zu niemandem. Wir haben Gelegenheit, das zu prüfen. Am besten, Sie denken nicht mehr an Alwin Katz.»

Auf ein unmerkliches Zeichen von ihm öffnete sich die Tür, Mona ging ohne Gruß hinaus.

Nicht mehr an Alwin Katz denken – das war leicht gesagt. Aber Mona wusste es besser: Ob sie wollte oder nicht – sie würde ihre Gedanken nicht von ihm lösen können.

Sechs Wochen befand sich Alwin nun schon im Kloster. Zwar hatte er seine volle geistige und körperliche Leistungsfähigkeit noch längst nicht erreicht, doch man konnte ihn als wiederhergestellt bezeichnen. Das wirkte sich auch auf seinen Tagesplan aus. Zu den wichtigsten Tätigkeiten gehörte die Teilnahme an den regelmäßigen Versammlungen der Mönche. Über den Tag verteilt gab es ein halbes Dutzend Gelegenheiten dazu, gemeinsame Gebete und Lobgesänge, Lesungen aus der Heiligen Schrift und Predigten einiger einander abwechselnder Fratres. Schon kurz nach Sonnenaufgang wurden sie durch das Bimmeln einer Glocke ins Oratorium gerufen, wo sie den Tagesanbruch durch Absingen eines Hymnus und Rezitation einiger Psalmen feierten. Die nächsten gemeinsamen Gebete folgten in Abständen von drei Stunden, um neun Uhr vormittags, um zwölf und um drei Uhr nachmittags. Die aufkommende Dunkelheit war von der Vesper begleitet, den Abschluss bildete das Komplet, nach dem den Klosterbrüdern Schweigen auferlegt war; von dieser Regel gab es allerdings eine ganze Reihe von Ausnahmen, Sonderrechte, die man offenbar recht großzügig in Anspruch nahm.

Das Oratorium war ein weitläufiger, schmuckloser Raum mit langen, schmalen Bänken – ohne Lehnen, was angeblich ein gutes Mittel gegen das Einnicken schwacher und übermüdeter Brüder war. Für die großen Messen stand die Kirche zur Verfügung; von außen wirkte sie bescheiden, innen aber war sie mit üppiger Pracht ausgestattet. Fehl am Platz erschienen Alwin die sowohl im Oratorium wie auch in der Kirche über den Altären angebrachten Monitore, auf denen während der Zeremonien das Gesicht eines alten Mannes erschien. Seine Miene war streng und unbewegt, nur während des Vaterunsers bewegte er die Lippen mit. Es war der Abt dieser Gemeinde, so wurde es Alwin erklärt, doch aus dem Tonfall der Antwort war herauszuspüren, dass es sich nicht gehörte, diese Frage zu stellen, und so gab sich Alwin mit dieser Auskunft zufrieden.

Für ihn war die Teilnahme an den liturgischen Übungen keine Pflicht – man behandelte ihn wie einen von schwerer Krankheit genesenden Mitbruder, doch mit der Zeit wurden die ihm gegönnten Ruhepausen allmählich kürzer. Immer häufiger betraute man ihn mit allen möglichen, meist untergeordneten Arbeiten. Gewiss war es ungewohnt für ihn, auf den Knien rutschend die Stiegen zu schrubben oder mit dem Reisigbesen Blätter von den Beeten zu kehren, doch er folgte diesen Anweisungen willig, nicht zuletzt deshalb, weil er sich durch das Nichtstun längst nicht mehr ausgefüllt fand – weil er eine Tätigkeit brauchte, die ihn vom Grübeln abhielt. Denn er ertappte sich selbst immer öfter dabei, erneut über die gar nicht so lange zurückliegenden Ereignisse nachzudenken, die ihn auf unerwartete und schockierende Weise von einem vorgezeichnet scheinenden Lebensweg abgebracht hatten. Dieses Grübeln war quälend und gefährlich. Da es keine Antworten gab, drehten sich die Gedanken immer wieder im Kreis, der Schmerz verstärkte sich bis zur Unerträglichkeit, und schließlich – so war es früher gewesen – musste er irgendetwas Verrücktes tun: nur um sich nicht noch weiter zu verlieren. Die Erinnerungen waren noch da, die Bilder tauchten manchmal auf, wie auf einer plötzlich beleuchteten Bühne, doch Alwin begann einzusehen, wie zielgerecht dieses Ordnungssystem war, dem alle Angehörigen der Gemeinschaft unterworfen waren. Was auch immer sie zu tun oder zu lassen hatten – in regelmäßigen Abständen von nur wenigen Stunden versammelten sie sich in geweihten Räumen und gaben sich den wohltuenden Einflüssen hin, die aus dem Gesang, der Predigt, den Gebeten kamen. Ja, schon das Zusammensein mit den anderen brachte Trost. Hatten sie alle mit den Schatten der Vergangenheit zu kämpfen? Waren sie alle Gestrauchelte, denen Hilfe zuteil wurde? Vielleicht – so dachte er – brauchten aber auch jene die immer wiederkehrende Ermunterung, die sich dem einsamen und würdigen Leben in der Abgeschiedenheit verschrieben hatten. Vermutlich waren einige unter ihnen, die an großen Aufgaben arbeiteten, die hier ein Lebensziel fanden, das sie voll und ganz beanspruchte. Es gab aber auch jene anderen, denen das Dienen zum Lebensinhalt geworden war – ein Leben ohne die üblichen Abwechslungen, Vergnügungen, Zerstreuungen. Waren sie auch in der Gemeinschaft aufgegangen, so blieben sie im Grunde genommen doch einsam.

Konnte einem die Gesellschaft dieser frommen Männer auf die Dauer genügen? Brauchte man keine Freunde, keine Frau, vielleicht sogar einen Gegner, mit dem man sich messen konnte? Manchmal empfand es Alwin als Glück, dass er hier seine Ruhe gefunden hatte, dass er seinen Ärger vergessen durfte, dass er sich keine Sorgen um die Zukunft mehr zu machen brauchte. Wie es schien, war er den Reihen jener Hilfskräfte zugeordnet worden, die mit simplen und dennoch unentbehrlichen Dienstleistungen ihren Beitrag für das Gedeihen aller leisteten. Zunächst gehörte er in die unterste Klasse, zu jenen, die sich in der Erprobungs- und Prüfungsphase befanden. Später würde er Unterricht bekommen, würde mit anderen gemeinsam die Bibel lesen, würde Gebete auswendig lernen – und dann konnte er das höchste Ziel erreichen, das für ein aus der Laienschaft kommendes Mitglied möglich war: den Rang des einfachen Mönches, des Bruders im Herrn. Manchmal freilich tauchten Wünsche in ihm auf, Regungen, Unruhe … Benedikt nannte es die Versuchung; er hatte es vorhergesehen, hatte Alwin in seiner teilnahmsvollen Weise gewarnt und ihn darauf aufmerksam gemacht, dass es Einflüsterungen des Bösen seien, gegen die man sich zur Wehr setzen musste. Er hatte ihm Gebete vorgesprochen und hatte ihm Tricks verraten – wie man auf den hölzernen Pritschen zu sitzen hatte, die Beine gekreuzt, die Hände gefaltet, den Nacken gebeugt, und wie diese meditative Haltung dazu beitrug, über den Körper den Geist zu erreichen, Einfluss auf ihn zu nehmen, die bösen Gedanken zu bannen. Alwin hatte es versucht, und tatsächlich war mit dem schläfrigen Gefühl die Ruhe über ihn gekommen, und er war – bisher jedenfalls – aller Anfechtungen Herr geworden.

Und doch gab es selbst im ruhevollen Klosterleben Anstöße, die abwegige Gedanken auslösten, den Frieden unterbrachen, Assoziationen auslösten, die nichts mit Frömmigkeit, Brüderlichkeit und Hingabe zu tun hatten. Brüche im System? Benedikt hatte es angedeutet: »Der Teufel ist überall – selbst dort, wo man ihn am wenigsten erwartet. Wir müssen ständig auf der Hut sein und uns gegen ihn wehren. Die Hilfe des Herrn ist uns gewiss.«

Was das wohl bedeuten sollte? Selbst ein Geistlicher der konservativen Geistesart, zu der Benedikt sicher gehörte, konnte so etwas nicht wörtlich meinen. Sollte es ein Hinweis sein, vielleicht auf etwas, was als konkrete Bedrohung vorhanden war, über die man aber lieber nicht sprach?

Eines Tages, als Alwin dabei war, ein Eisengitter zu säubern, das eine fensterartige Öffnung in einem über eine Brücke laufenden, überdeckten Gang abschloss, fiel sein Blick auf eine Gruppe von Männern, die, die Köpfe gesenkt, die Hände gefaltet, in einem engen, von Steinmauern umschlossenen Hof hin und her gingen. Ins Gebet versunkene Mönche waren nichts Ungewöhnliches in diesem Bereich, doch standen dafür die unzähligen Wege der Gartenanlage zur Verfügung, und trotz aller Weltabgeschiedenheit und Innenbezogenheit zogen es die Patres und Fratres doch vor, ihre geistigen Übungen in angenehmer Umgebung vorzunehmen. Dieser Hof aber erinnerte an ein Gefängnis, und außerdem – bei genauem Hinschauen – kam es Alwin so vor, als bewegten sich die Männer in ihren braunen Kutten wie aufgezogene Puppen. Da tat er etwas, was Benedikt sicher beanstandet hätte, und wenn es vielleicht auch nur eine lässliche Sünde war – ein Zugeständnis an die Neugier, ein Streich, aus Übermut heraus: Alwin stieß seinen Blecheimer gegen das Gitter und erzeugte so einen scheppernden Laut, der in der Stille dieser Umgebung Aufmerksamkeit erregen musste. In der Tat hob einer der Männer kurz den Kopf und blickte hinauf … Er konnte Alwin nicht sehen und kehrte auch sogleich in den üblichen Trott zurück. Der kurze Augenblick hatte allerdings genügt, wenn er freilich auch jeden Irrtum offenließ. Alwin hatte in ein bekanntes Gesicht gesehen, zumindest war er davon überzeugt. Er kannte den Mann, hatte ihn bei mehreren Fachgesprächen und Tagungen getroffen – Doktor Allain Messier, Professor für Informatik an der Sorbonne, eine weltbekannte Kapazität für künstliche Intelligenz und Konzeptoptimierung. Er war nicht mehr jung, es hatte geheißen, er hätte sich emeritieren lassen, doch Alwin erschien es undenkbar, dass er sich in ein Kloster zurückgezogen hatte. Was hatte er hier zu suchen? Oder war es doch ein Irrtum gewesen?

Alwin konnte seine Überlegungen nicht weiterführen, denn neben ihm war Melchior aufgetaucht, der mit Alwins Arbeit nicht zufrieden war. Er nörgelte über schlecht geputzte Messingköpfe und wies Alwin an, für seine Reinigungsarbeit eine stärkere Lauge zu verwenden.

Alwin ließ ihn reden und versuchte, sich den Anschein von Aufmerksamkeit zu geben. In Wirklichkeit aber wartete er nur ab, bis sich der Mönch beruhigt hatte, dann deutete er hinunter in den engen Hof, der jetzt leer dalag. »Wozu dient dieser Gebäudetrakt?«, fragte er. »Er erinnert mich an ein Gefängnis.«

Melchior blickte ihn forschend an. »Eine absurde Idee«, antwortete er. »Hier gibt es kein Gericht, kein Urteil und kein Gefängnis. Die Strafe liegt in Gottes Hand. Alles, was wir zur Läuterung tun können, ist, Buße zu üben.«

»Ich habe ein paar Mönche gesehen, dort unten«, sagte Alwin. »Ich kenne doch nun schon viele Insassen des Klosters, zumindest vom Sehen her, doch da war ein Mann dabei, dem ich noch nie begegnet bin.«

Melchior hatte die Hände an die Gitterstäbe gelegt, blickte hinüber in den gesperrten Teil. »Es gibt Dinge, um die man sich nicht kümmern soll. Jeder muss tun, was ihm gemäß ist, und wir einfachen Mönche haben mit den Aufgaben, denen man dort drüben nachgeht, nichts zu tun. Es sind die Gelehrten, die wissenschaftliche Arbeiten verrichten: die Übersetzung alter heiliger Schriften, die Interpretation der Bibel. Das ist alles, was ich weiß.«

»Aber diese Männer dort unten …«, sagte Alwin. »Sie bewegten sich, als ob sie unter einem schweren Schock stünden.«

Melchior hatte sich umgedreht, jetzt lehnte er am Gitter; es sah aus, als wollte er nichts von dem sehen, was hinter der Sperrlinie lag. »Es könnte ein Krankenhaus sein«, sagte er leise, wie zu sich selbst. »Manche Menschen, die hierherkommen, bedürfen einer besonderen Behandlung. Vielleicht sind es Patienten, die du gesehen hast, oder auch Genesende.«

Oben, am Turm, begannen die Glocken zu schwingen, einige leise, noch keinen Takt weisende Töne, dann setzte das Läuten voll ein – der Ruf zur Versammlung, zum Gebet.

Es sah aus, als wäre Melchior über diese Unterbrechung froh. Er fasste Alwin am Arm und zog ihn mit sich, hinunter zur Kirche, dem Ort, an dem man sich von allen lästigen Gedanken befreien konnte.

Am Abend dieses arbeitsreichen und doch geruhsamen Tages trat Benedikt an Alwin heran und wies ihn an, ihm zu folgen.

»Allmählich wird es Zeit«, so sagte er, »dass du mit den Vorbereitungen zur Aufnahmeprüfung beginnst. Du hast zwar keine theologische Schulung genossen, doch du bist gebildet und fähig, Dienste in dieser Gemeinschaft zu übernehmen, die über einfache Handreichungen hinausgehen. Voraussetzung ist allerdings, dass du dich den Ordensregeln unterwirfst, das Gelübde ablegst. Das Gesetz des Ordens ist streng: Es geht nicht nur darum, nichts zu tun, was gegen die Regeln verstößt, sondern auch nichts dergleichen zu denken.« Als er bei Alwin eine unwillkürliche Abwehrbewegung festzustellen glaubte, setzte er gütig hinzu: »Ich weiß, das hört sich schwierig an, fast unmöglich. Vielleicht ist es auch unmöglich. Wir alle verstoßen jeden Tag, jede Stunde gegen die Gebote, denn wir sind schwache Menschen, keiner ist vollkommen. Dafür aber genießen wir die Gnade der Läuterung. Die Rituale, denen wir nachgehen, dienen ja nicht nur zur Ehre Gottes, sondern auch zur Reinigung unseres Geistes. So wird dafür gesorgt, dass abweichende Gedanken schon im Keim erstickt werden, dass alles eliminiert wird, noch ehe es zur Gefahr werden kann.«