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Ein neu entdeckter, erdähnlicher Planet, eine wunderschöne, naturbelassene Welt, und eine Firma, die die Besiedlung organisiert: die SIRIUS TRANSIT. Ihr Sitz: Santa Monica, eine Stadt der Spiele, der Unterhaltung und der Illusionen. Der Chef dieses Imperiums, ein strahlender Held, aber auch Initiator undurchsichtiger Manipulationen: Gus Griffin. Das Geschehen, das Herbert W. Franke in diesem Roman schildert, beginnt, als Barry, der Bruder von Gus Griffin, in Santa Monica eintrifft; für ihn bedeutet der Sirius-Planet die Erfüllung alter Träume und Sehnsüchte, und er hofft, dass ihm der bewunderte ältere Bruder einen Job bei den Erschließungsarbeiten verschaffen kann. Es stellt sich aber bald heraus, dass es nicht so leicht ist, zu Griffin vorzudringen. Während eines Aufenthalts in Santa Monica, im Laufe vielfacher vergeblicher Kontaktversuche, gerät Barry mehr und mehr in das Räderwerk einer ihm unverständlichen Maschinerie: Immer stärker wird sein Verdacht, dass das, was hier als Glück verheißen wird, langsam, aber sicher ins Verderben führt. Schließlich gelingt es Barry, das Geheimnis der SIRIUS TRANSIT aufzuklären, aber der Preis ist hoch. Er verirrt sich in diesem System perfekter technischer Illusion, in dem die Unterschiede zwischen Wirklichkeit und Täuschung zerfließen.
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Seitenzahl: 262
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Herbert W. Franke
SF-Werkausgabe
Herbert W. Franke
Band 12
hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch
Herbert W. Franke
SIRIUS TRANSIT
Science-Fiction-Roman
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke
Band 12
hrsg. von Ulrich Blode und Hans Esselborn
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Copyright © 2024 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
www.art-meets-science.io
Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de
Die Originalausgabe ist 1979 im Suhrkamp Verlag erschienen.
Titelbild: Thomas Franke
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
E-Book-Erstellung: global:epropaganda
Verlag
art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
c/o mce mediacomeurope GmbH
Bavariafilmplatz 3
82031 Grünwald
ISBN 978 3 911629 11 9
Ganz unvermittelt taucht die Stadt hinter einer Kuppe auf. Links und rechts noch die endlose Reihe von Agaven, Opuntien, Dornensträuchern, Kulisse dieser langen, einsamen Fahrt. Doch nun, greifbar nah über dem Betonband der Straße: ein lichtüberpunkteter Block, Linienzüge in Neon, das Farbenspiel der Reklamebeleuchtung – ein Abglanz davon wie goldener Staub hoch oben im violettdunklen Abendhimmel.
Das ist nicht irgendeine Stadt. Das ist der Ort, an dem sich Wünsche erfüllen und Sehnsüchte wahr werden. Das ist das Tor der Welt und zugleich ihr Mittelpunkt. Das ist Santa Monica. Barry hat seinen Wagen am Straßenrand zum Halten gebracht und den Liegesitz hochgestellt. Er ist noch benommen vom Dahindösen, der Schlaf sitzt ihm in den Augen –
aber sein Herz beginnt vor Erwartung zu schlagen.
Er genießt diesen Anblick. Er hat sich ihn ausgemalt, seit Jahren. Es war eine Zeit der Ungeduld und der Erwartung. Jetzt hat er es nicht mehr eilig.
Zischen, anschwellendes Heulen … ein Knall.
Plötzlich ist die Gegend von flackerndem Lichtschein erhellt. Drei flammende Bogen, weiße Spuren hinter sich nachziehend, die langsam im Wind verwehen. Die Raketen nur noch Punkte, hoch über der Hügelkette im Westen. Er folgt ihnen mit den Augen, bis sie in Dunkelheit und Dunst untertauchen. Dann lenkt er den Wagen in die Leitschiene zurück, jetzt wach und aufmerksam.
STIMME AUS DEM RADIO Achtung, Achtung!
Noch zweitausend Meter bis zum Ende der Leitschiene. Achtung, Achtung! Noch zweitausend Meter bis zum Ende der Leitschiene.
Leise Musik setzt ein, ein Vibrafon, ein Schlagzeug …
Barry schaltet die Automatik aus und übernimmt das Steuer. Der Wagen nähert sich der Stadt. Schon sind Einzelheiten zu erkennen: die farbigen Reklameschriften des Vergnügungsviertels, die beleuchteten Fenster der Villen am Stadtrand, die angestrahlten Leuchtbuchstaben ST über einem riesigen Gebäudekomplex – ST, das Symbol der Sirius Transit.
STIMME AUS DEM RADIO Achtung, Achtung! Noch tausend Meter bis zum Ende der Leitschiene. Achtung, Achtung! Noch tausend Meter bis zum Ende der Leitschiene.
Die Musik setzt wieder ein.
Barry zündet sich eine Zigarette an, atmet tief durch, bläst den Rauch gegen die Frontscheibe.
Geruch von Zigarettenrauch.
Ein Blick auf die Uhr am Armaturenbrett: 20:20 – noch früh für einen Ort, in dem die Restaurants und Bars, die Schießstätten und Rennbahnen, die Spielclubs und Theater die ganze Nacht hindurch geöffnet haben.
Wieder das Zischen und Heulen, knallende Geräusche beim Durchbrechen der Schallmauer …
Von Zeit zu Zeit gehen Bündel von Raketen hoch, zuerst langsam, dann immer schneller, bis sie im Dunst verschwinden. Barry schenkt ihnen keine Beachtung mehr. Er konzentriert sich auf die Fahrt, nun erreicht er die ersten Häuser. Ein paar Motels, Tankstellen und Autowerkstätten, Lagerhäuser, Rennbahnen, Minigolfplätze. Rechts ein Parkplatz, drei Videofonkabinen, gemeinsam überdacht. In einem raschen Entschluss biegt Barry ein und hält. Er drückt seine Zigarette aus, steigt aus und schlägt die Wagentür zu.
Frische, warme Luft.
Er betritt eine Videofonzelle, tippt eine Nummer ein. Auf dem Monitor erscheint das Gesicht eines Mädchens.
MÄDCHEN Hier ist der Auskunftsdienst. Was wünschen Sie?
BARRY Geben Sie mir bitte die Rufnummer von Gus Griffin. Die Adresse kenne ich leider nicht.
Das Mädchen blickt ihn verblüfft an.
MÄDCHEN zögernd Gus Griffin? Die Adresse kennen Sie nicht?
BARRY leicht irritiert Ja, Gus Griffin. Sehen Sie doch bitte nach.
MÄDCHEN Einen Moment bitte.
Das Mädchen verschwindet vom Bildschirm. Ein abstraktes Muster erscheint, quer hindurch läuft ein Schriftzug BITTE WARTEN – BITTE WARTEN …
Barry lehnt sich an die Wand, sein Blick fällt durch die Glaswand der Kabine. In unmittelbarer Umgebung ist es menschenleer, nebenan ein Park, Palmen, Rhododendron, auf der anderen Seite ein Sportplatz, Tribünen, Peitschenleuchten, die hoch darüber hinweg ragen. Vom Trubel der Stadt nur Reflexe der Lichtreklame.
Barry wird unruhig, er wendet sich dem Mikrofon zu.
BARRY Hallo, Fräulein – ich warte noch. Haben Sie die Nummer?
Wieder erscheint der Kopf des Mädchens auf dem Bildschirm. Es sieht beunruhigt aus.
MÄDCHEN Einen Moment noch. Gedulden Sie sich bitte …
Barry schüttelt den Kopf. Eben will er eine bissige Bemerkung machen, da horcht er auf –
in der Ferne eine Polizeisirene, die rasch lauter wird.
Mit schleifenden Rädern kommt ein Streifenwagen um die Ecke, bremst jäh vor der Videofonzelle. Zwei Polizisten springen heraus, die Pistolen im Anschlag. Ehe sich Barry versieht, wird er herausgezerrt und steht mit erhobenen Händen an der Wand.
ERSTER POLIZIST Dreh dich um, Junge.
ZWEITER POLIZIST Na, mach schon. Du wirst schon wissen, wie’s geht!
Der erste Polizist tastet ihn nach Waffen ab.
ERSTER POLIZIST Scheint sauber zu sein.
ZWEITER POLIZIST Kannst dich umdrehen, Junge.
BARRY protestierend Was soll das? Was wollen Sie von mir?
ERSTER POLIZIST Sachte, sachte. Du bist auf frischer Tat ertappt.
BARRY … auf frischer Tat? Brüder, da hat euch jemand auf den Arm genommen.
ERSTER POLIZIST Ho, ho! Du nimmst den Mund ganz schön voll! Was hast du denn hier zu tun?
BARRY Ich wollte mir eine Nummer geben lassen.
ERSTER POLIZIST Wessen Nummer, wenn man fragen darf?
BARRY Es geht Sie zwar nichts an, aber ich kann es Ihnen sagen: von Gus Griffin, meinem Bruder.
Die beiden Polizisten blicken einander erstaunt an.
ERSTER POLIZIST gedehnt Soso, von Gus Griffin, deinem Bruder.
ZWEITER POLIZIST Gib mir mal deinen Ausweis, Junge!
Als Barry in seine Brusttasche greifen will, drängt ihn der Polizist an die Wand und holt Barrys Brieftasche selbst heraus. Er schlägt sie auf, sieht sich den Ausweis an.
ZWEITER POLIZIST Hier steht: Bartholomäus Griffinger.
BARRY Das ist der richtige Name: Griffinger. Gus hat sich eine Verkürzung zugelegt.
ERSTER POLIZIST Jetzt will ich dir mal was sagen, Junge: Wir brauchen keine Spinner in der Stadt. Und schon gar keine, die sich mit den Männern der Schutztruppe anlegen.
Inzwischen hat der zweite Polizist in der Brieftasche gekramt und zieht nun ein Bündel Hundertdollarscheine heraus.
ZWEITER POLIZIST Sieh mal, Hank!
Der erste Polizist stutzt, zuckt die Achseln.
ERSTER POLIZIST leise Dann ist er vielleicht doch keiner von denen … lauter Ich fürchte, wir haben uns geirrt, Mister. Da haben Sie Ihre Brieftasche zurück. Viel Vergnügen in der Stadt! Doch ich würde mit meinen Scherzen vorsichtiger sein!
Sie geben ihm Ausweis und Geld zurück, legen die Hände lässig an die Mützen, steigen in ihren Wagen ein und fahren lautlos davon.
Barry sieht ihnen nach, blickt dann kurz zu den Videofonzellen … dann zuckt er die Schultern, steigt in seinen Wagen und startet.
Straßenzüge, an Laserstrahlen entlanggezogen, Hunderte, Tausende, kreuz und quer, Fassaden in rechten Winkeln angeordnet, Kunststoffmauern, rosa, blassgrün und gelb. Ein Haus wie das andere, eine Straße wie die andere, eine Stadt wie die andere, nach denselben Bauplänen errichtet, denselben Vorschriften gehorchend, durchnummeriert von Nord nach Süd, von West nach Ost, und doch verwirrend wie ein Dschungel in einer Gleichförmigkeit, die keine Höhepunkte kennt, stete Wiederholung, eins gegen das andere vertauschbar, ersetzbar.
Nirgends ein Baum, nirgends ein Strauch. Nur die stängelartig aufragenden Masten der Kryptonlampen, die gedrungenen Stämme der Hydranten, die Leichtmetallstangen mit Verkehrszeichen und Verbotsschildern, und über allem ein dürres Gestrüpp aus Streben und Draht, die Antennen der Funkdienste, des Radios, des Videos und des Alarmsystems.
Die Matrix der Gebäude, das Netzgitter der Straßen – Koordinatensystem für die Bewohner. Die Gehsteige zu eng, Gedränge trotz des Einwegverkehrs – immer links an den Wänden entlang und links herum auch um die Quadrate der Straßenkreuzungen. Dreimal am Tag aber nahm die Menschenflut erschreckende Ausmaße an – kurz vor acht, in der Mittagszeit und nach vier. Da drängten sie aus den Toren, strömten über die Treppen zu den Stationen der Hochbahn, wurden von den Löchern verschluckt, die die Zugänge zum unterirdischen Verkehrsnetz bildeten, von den Laufbändern in unbestimmte Tiefen gerissen. In diesen Stunden fuhren die Autos Stoßstange an Stoßstange – niemand beachtete das Schrillen des Echolotsystems: Mindestabstand unterschritten. Es war, als triebe eine Flüssigkeit in den Straßenschluchten dahin, und wie das dumpfe Brausen von Wasserwellen hörte es sich auch an, wenn man ein wenig Abstand hatte, beispielsweise auf den Kuppeln der Hochbahnstationen, in jenen wenigen Sekunden zwischen denbremsenden und wieder davoneilenden Zügen. Dann begann das Leichtmetallgerüst, das die Stadt in riesigen Bogen überspannte, zu vibrieren und übertönte mit einem angsterregenden schrillen Singen den Geräuschuntergrund vom Boden.
Ganz anders in den Nachtstunden – hier gab es nur wenige Menschen, die – trotz der polizeilichen Warnung – von einer Straße in die andere hetzten, Trinker, verspätet aus ihrem Rausch erwacht, Spieler aus obskuren Lokalen, Jugendliche auf der Rückkehr von Drogenpartys. Völlig menschenleer war es nur zwischen vier und fünf Uhr früh: Das war die Stunde, in der der Wetterdienst für Regen sorgte. Manchmal konnte man das Düsengeräusch der Flugzeuge hören, die in einer dichten Reihe hoch über den Dächern entlangstrichen und die Smogwolke animpften, die wie die riesige Kappe eines Pilzes über der Stadt lag. Und dann stürzten die schmutzig-grauen Fluten abwärts, prasselten auf die Dächer und Straßen, rissen Schmutz und Unrat mit sich, um schließlich gurgelnd in den Gullys zu verschwinden. Für kurze Zeit blieb ein schmutzig-feuchter Schimmer zurück, von dem dünner Dampf aufstieg … Das war die Stunde der Morgenfrische – es gab alte Leute, die darauf warteten, bis der Regen vorbei war, die dann ihre Häuser verließen, eine Runde um den Block machten und tief atmeten. Denn mit der Tagesbeleuchtung, die um sechs Uhr eingeschaltet wurde, kamen die Trockenheit, die Hitze und der Staub. Auch Barry hatte die Morgenstunde kennengelernt, sein Großvater, schon an die achtzig Jahre alt, hatte ihn und Gus gelegentlich geweckt und die beiden Jungen auf seinem Spaziergang mitgenommen. Barry gefiel es eigentlich ganz gut – die feuchtigkeitsgeschwängerte Luft, der Tropfenfall von den Dächern, die Wasserlachen am Rande der Gehsteige –, doch bald weigerte sich Gus, wenn ihn der Großvater holen wollte, und da Barry meist dem Vorbild seines Bruders folgte, blieb auch er lieber eine Stunde länger im Bett liegen.
Der dumpfe, ein wenig modrig anmutende Geruch der feuchten Luft war eine von Barrys frühesten Erinnerungen – viel deutlicher als alle Bilder, die sich ihm nur verblasst und in den Dimensionen verzerrt erhalten hatten. Das Gesicht seiner Mutter, nur noch ein heller Fleck, die gebückte Gestalt seines Großvaters, weiße Haarbüschel, wie Fransen unter seinem Hut hervorhängend … Die Wohnung, abgegriffene Wände, die Betten, der Eisschrank, der Fernsehapparat. Daran erinnerte er sich noch am besten: das geknickte Oval der Bildscheibe, die ewig wechselnden bunten Szenen, die seltsamen Sprünge nahe/fern. Lange Nachmittage, er und Gus auf einem Haufen Kissen, der Bruder hatte die Fernwähltaste in der Hand und bestimmte, was gesehen wurde. Kämpfende Männer, dahinjagende Autos, Reiter, Indianer, Astronauten, Jachten auf blauer See, Raumschiffe zwischen Sternenmustern, Soldaten, Verbrecher, aufflammendes Mündungsfeuer, Faustschläge, Tote … Stundenlang konnte Gus so dasitzen, seine Augen auf den Bildschirm gerichtet, seine Finger auf der Tastatur, er konnte sich nicht sattsehen an den Geschehnissen, er wollte Bewegung, er blieb nur auf einem Kanal, solange sich etwas zutrug, solange Männer dahinrasten, kämpften, stürzten … Wechselte die Szenerie, begann ein Gespräch, eine Liebesszene, dann zögerte Gus keine Sekunde und tastete sich durch sämtliche Wellenbereiche, bis er wieder ein Abenteuer eingefangen hatte, das aufregende Leben, das es irgendwo außerhalb gab, außerhalb ihres Raumes, außerhalb ihrer Zeit, aber das doch existierte – in der Fantasie der Autoren, auf den Millionen Bildschirmen, in den Köpfen der Zuschauer.
Barry war noch passiver als Gus. Er nahm alles auf, was sich ihm bot, ohne es zu verstehen. Interessierte sich schon Gus nicht für die Zusammenhänge, so sah Barry immer nur den Augenblick – die Sicht durch die Heckscheibe, die Autos der Verfolger, die verzerrten Gesichter, die geballten Fäuste, die Finger am Abzug. Für ihn war es ein Kaleidoskop, ein bunter, vom Zufall diktierter Ablauf, ein Wechsel des Mosaiks aus immer denselben Elementen, harten Männern, schönen Frauen, Motorrädern, Rennbooten, Flugzeugen. Erst später bemerkte er die Kulisse, den Luxus üppig eingerichteter Wohnungen, Palmen am Strand, Traumstätten mit bunten Lichtern, die Kraterberge fremder Planeten, den Sternenraum. So saßen sie, bis am Abend die Eltern nach Hause kamen und sie von ihrem Platz verdrängten, um ihre eigenen Programme zu sehen.
Damit war die Klammer, die sie zu Hause gehalten hatte, gelöst, Gus stahl sich aus der Wohnung und kam erst spät heim. Oft sah er dann schmutzig aus, verschwitzt, manchmal hatte er blaue Flecke und Kratzwunden, doch auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Triumph, und er pfiff leise, zwischen den Zähnen, vor sich her. Die Stunden, die Barry allein mit den Eltern und dem Großvater zu Hause bleiben musste, waren eine Qual für ihn. Er hätte nicht zu sagen vermocht, was ihn so unruhig und unzufrieden machte – er strich in der Wohnung umher, ging zum Eisschrank, um einen Schluck Citro-Orange aus der Flasche zu trinken, blätterte in den Magazinen, die Gus in der Schule eingetauscht hatte – Comics und Fotogeschichten, Fantomas, Doktor No, Superman, Barbarella, Kung Fu –, drückte sich einige Zeit hinter seinen Eltern herum, um einen Blick auf die Fernsehbilder zu erhaschen, bevor sie ihn verscheuchten: »Verschwinde hier, das ist nichts für dich.« Wenn er müde wurde, ging er zu Bett, doch meist konnte er nicht einschlafen, bevor Gus zurück war, er wartete, lauschte in die Wohnung hinein, hörte von fern die Geräusche aus den Lautsprechern der Videoanlage, schleifende Schritte, Klirren von Gläsern, bis es still wurde und der Lichtschein, der durch die Tür gefallen war, erlosch. Wie langsam doch die Zeit verging! Manchmal wurde Barry wieder hellwach, sein Herz klopfte, er konnte nicht ruhig bleiben und drehte sich immer wieder im Bett herum. Bis er das Quietschen der Tür hörte, leise Geräusche im Vorraum, ein kaum hörbares, zischendes Pfeifen: Gus war zurückgekommen – was mochte er erlebt haben, draußen, in der großen Welt. Was machte ihn vergnügt? Was machte ihn versöhnlich? Er, der sonst oft mürrisch war und ihn herumkommandierte, steckte ihm eine Zuckerstange zu oder eines jener großen, kugelförmigen Gummibonbons, deren Geschmack er noch als letzten Eindruck spürte, ehe er von seiner Spannung befreit einschlief.
Die Kinderkrippe ihres Viertels gehörte zu den modernsten Anlagen – sie befand sich im unterirdischen Teil der Stadt und enthielt außer den Spielräumen auch einen Sportplatz und einen künstlichen Garten. Obwohl die Aufseher streng waren, fühlte sich Barry hier zunächst sehr wohl. Er fand wenig Kontakt zu den anderen Kindern, doch war er auch nicht allein – solange auch Gus noch hier war. Zwar gehörte dieser einem höheren Jahrgang an, und so konnte er ihn meist nur von der Ferne sehen, und doch festigte sich hier ihre Abhängigkeit. Wenn Barry, der damals klein und schwach für sein Alter war, von anderen Kindern gehänselt oder geschubst wurde, dann konnte es vorkommen, dass Gus plötzlich da war. Nur zwei- oder dreimal hatte er die anderen verprügelt – und zwar so gründlich, dass sie blutend davonliefen –, meist genügte sein Auftauchen: Die anderen wichen zurück, bildeten einen Kreis, hielten einen Respektsabstand ein, und einmal hatte dann Gus die Hand auf Barrys Schulter gelegt und gesagt: »Schließlich bist du mein Bruder.«
Schlimm wurde es erst, als Gus mit sechs Jahren in die Schule kam. Dann glaubte Barry manchmal, es nicht mehr aushalten zu können. Das Stehen in den langen Reihen, vor den Sportgeräten oder vor dem Eingang zum künstlichen Garten, die vielen Stunden, wo sie Farben auf Papier klecksen mussten, ohne ein Wort zu sprechen, die isometrischen Übungen nach Befehlen aus dem Tonband, das Singen und Rezitieren von Gedichten – er sehnte sich nach den Nachmittagen, wenn er wieder neben Gus vor dem Fernsehschirm sitzen durfte. In diesen zwei Jahren wartete er sehnlichst darauf, auch selbst die Schule zu besuchen. Er stellte sich vor, dann wieder mit Gus beisammen zu sein, so wie in der Kinderkrippe. Doch diese Hoffnung hatte ihn getrogen. Die Schule war ein Fließbandsystem, eine Zellenstruktur aus winzigen Lernkabinen, in denen sie zwischen elektronische Anlagen eingepfercht saßen. Ein lichtschwacher Bildschirm, eine knarrende Tonbandstimme, ein Mikrofon, in das man die Antworten sprechen musste, die automatische Schreibmaschine, die die gestellten Aufgaben auf Endlosformular schrieb und die Antworten selbsttätig einspeicherte. »Antwort unkorrekt– zweiter Versuch …« Irgendwo lief alles zusammen, wurde registriert, bewertet, verglichen, irgendwie standen sie alle miteinander in Verbindung, arbeiteten miteinander oder gegeneinander – das blieb offen – und doch war jeder für sich isoliert, auf sich allein gestellt – gerade dann, wenn man einmal einen Rat gebraucht hätte. Daran änderte auch die Gruppenarbeit nichts, denn dabei kam es darauf an, besser als die anderen zu sein, die Resultate schneller zu wissen, eine höhere Trefferquote zu erzielen. Von Gus bekam Barry dabei nichts zu sehen.
Und wieder die enttäuschende Langeweile, das Gefühl einer zäh dahinfließenden Zeit, der Eindruck vergeblichen Bemühens, der Nutzlosigkeit, des Missvergnügens in Permanenz. Zuerst hatte er sich auf den Unterricht gefreut, sich auf irgendeine nicht näher ausdrückbare Weise vorgestellt, die Welt um ihn herum würde verständlicher und dadurch erträglicher werden. Doch dann beschäftigten sie sich nur mit Dingen, die außerhalb ihrer Welt lagen, die nicht wirklich waren. Geschehnisse in unvorstellbar alten Zeiten, Abläufe irgendwo im Innern der Erde oder draußen im Kosmos, Ereignisse der Mikrowelt, Kristalle, chemische Verbindungen, Gene und Zellen, Zusammenhänge zwischen Zahlen, Bedeutungen von Symbolen, ebenso künstlich wie die Dinge, die sie bezeichneten. Worte, die niemand benutzte, Sprachen, die niemand sprach, Gedanken, die niemand dachte … Barry fügte sich den Anordnungen, die nicht zu umgehen waren, er las die Texte von den Bildschirmen, deutete die Symbole, die dort erschienen und wieder verschwanden, tippte seine Antworten ein und fiel nicht auf, weder im Guten noch im Bösen. Aber es gab andere, die es plötzlich überkam, und dann zerschlugen sie die Bildscheiben, traten in die Tasten, rissen das Papier aus den Rollen, versuchten die elektronisch verschlossenen Türen aufzubrechen. Barry konnte dies gut verstehen, er gestand sich ein, dass er es auch am liebsten getan hätte, aber zu feig dazu war. Doch Gus, dem er das andeutete, schüttelte verächtlich den Kopf. »Die sind unbeherrscht, die denken nicht«, sagte er. »Klar, dass man sie erwischt. Und recht geschieht ihnen!« Viel später musste Barry einmal daran denken: Es war der Entscheidungstag des Sechstagerennens gewesen, und Gus wollte unbedingt dabei sein. Damals hatte er sich eine Stinkbombe gebastelt und damit eine ganze Etage der Schule lahmgelegt. Er hatte den ganzen Tag auf der Rennbahn sein können. Er war nicht erwischt worden.
Barry wusste nicht, was ihn so unzufrieden machte. In ihm war eine Unruhe, eine Sehnsucht nach etwas Unbestimmtem, von dem er nur wusste, dass es irgendwo existieren musste. Die Schule änderte nichts an seiner Situation. Sie trat nur anstelle der Kinderkrippe; nach wie vor verbrachte er seine Nachmittage bei den Fernsehsendungen, die ihn immer mehr zu langweilen begannen. Immer größer aber wurde auch seine Unrast während der Stunden, in denen sein Bruder irgendwo in der Stadt herumstreifte und – wie sich Barry vorstellte – unsagbare Abenteuer erlebte. Einmal hatte er Gus gefragt, ob er mitkommen dürfe, doch der Achtjährige hatte ihn leicht in die Rippen geboxt und gesagt: »Du bist noch zu klein.« Von dem Tag an hatte sich Barry nicht mehr zu fragen getraut – er blickte Gus nur traurig nach, wenn sich dieser, von den Eltern unbeachtet, aus der Wohnung stahl. Und dann, scheinbar ohne äußeren Anlass, kam plötzlich der Tag, an dem ihm Gus einen Wink gab: »Komm mit!«
Von diesem Glück war Barry wie betäubt. Er lief einige Schritte hinter Gus her, der sich eilig zwischen den Menschen hindurchdrängte. Über eine Rolltreppe ließen sie sich auf eine der unterirdischen Fußgängeretagen bringen, die Barry nur flüchtig kannte. Gelegentlich war er an Samstagnachmittagen von seinen Eltern zu einer Einkaufstour mitgenommen worden. Es war eine Gegend, die sich grundlegend von der Oberfläche unterschied, ein Bereich, in dem es keine Fahrzeuge gab, dafür aber umso mehr Raum für Menschen, die sich ohne Verkehrsvorschriften bewegen durften. An der Anlage der Geschäfte war ihr Ursprung noch zu erkennen – sie waren in der Nähe der U-Bahn-Stationen entstanden, dort, wo nahezu alle Einwohner des Viertels zweimal am Tag hinkamen – vor der Fahrt zur Arbeit und danach. Hier gab es einen Überfluss an Licht, esgab Schaufenster, mit teuren Waren gefüllt, blinkende Glasscheiben und Spiegel, Musik aus Dutzenden Lautsprechern in einem akustischen Wettkampf um den Käufer, Blumen, in Plastikbehältern auf dem Boden ausgelegt, Schmuck auf kleinen Tischchen, Ständer mit Postkarten und Taschenbüchern, ein Stimmengewirr, das alles wie eine weiche Woge umfasste, und einen Strom fast spürbar dicker Luft, der von den Gitteröffnungen der Klimaanlage gespeist wurde. Obwohl Barry Mühe hatte, seinen Bruder im Auge zu behalten, warf er doch immer wieder einen Seitenblick auf die Pracht links und rechts: Zeitungshändler, Musikanten und Sänger, Polizisten und Bettler, eine Würstchenbude, Menschen, auf hochbeinigen Stühlen vor ihren Hotdogs, Eiscremebechern, Coca-Cola-Flaschen. Zugänge zu Kaufhäusern, Nonstop-Kinos, Bars mit roten Vorhängen, Nonnen und geschminkte Mädchen.
Allmählich kamen sie aus dem Gedränge heraus. Nur noch einzelne grelle Lampen, hinter Gittern geschützt, beleuchteten die Szene, die Waren in den Läden waren billiger und nicht mehr so fein verpackt, ein Zigarettenladen, ein Billigantiquariat, Männer in schmutziger Arbeitskleidung, die Hände in den Taschen an den Wänden lehnend, Betrunkene schlafend in Nischen. Hier gab es keine Rolltreppen mehr, man musste über Betonstufen laufen. Enge Gangpassagen, dazwischen sternförmige Verzweigungen, Plakatflächen, das Papier heruntergerissen, Papier und Holzwolle über den Boden gestreut. Nun schritt Gus noch schneller aus, und Barry schloss zu ihm auf, lief neben ihm her, und blickte ihn hin und wieder von der Seite an: Gus sah geradeaus, er zögerte keine Sekunde, man merkte ihm an, dass er sich hier zu Hause fühlte. Es war nicht vorstellbar, dass er sich irgendwo nicht zu Hause fühlte.
Von vorn dumpfe Geräusche, gelegentlich ein heiserer Schrei … Sie bogen um eine Ecke, hinter der sich der Gang ein wenig erweiterte. Hier waren zwei Dutzend Jungen versammelt, die meisten etwas älter als Gus, Zuschauer eines Spiels, das sie mit anfeuernden Zurufen begleiteten. Es handelte sich um eine Art Tennis – zwei Parteien, die aus je fünf Teilnehmern bestanden, schmetterten mit schweren Kunststoffschlägern einen Ball hin und her, wobei sie die Wände als Prallflächen benutzten.
Gus und Barry stellten sich zu den anderen und sahen zu. Es war ein wildes Spiel, in dem es gleicherweise auf Geschicklichkeit und rohe Kraft ankam. Wenn Barry die Regeln auch nicht verstand, so erkannte er doch, dass es nicht zuletzt darum ging, die Gegner mit dem Ball zu treffen und zur Aufgabe zu zwingen.
Am lautstarken Beifall der Anhänger des siegreichen Teams merkte Barry, dass ein Match zu Ende war. Ein Junge trat an Gus heran und deutete auf Barry: »Ist er das?«
Gus nickte.
Der Junge musterte Barry von oben bis unten. »Okay, er darf mitmachen.«
Gus wandte sich an Barry: »Hast du gehört, du darfst mitmachen!« Er gab ihm einen freundschaftlichen Boxhieb in die Seite. »Siehst du diese schwarze Linie auf dem Boden? Hier ist das Spielfeld zu Ende. Wenn der Ball darüber hinwegfällt, hebst du ihn auf und wirfst ihn mir zu! Hast du verstanden! Mir, und keinem anderen!«
Barry konnte vor Aufregung kaum sprechen. »In Ordnung«, flüsterte er.
Nun trat Gus mit einigen anderen aufs Spielfeld; sie übernahmen die Schläger der erfolgreichen Mannschaft. Auf der anderen Seite bereitete sich eine andere Gruppe auf das neue Match vor.
Der erste Ballwechsel begann, und schon musste Barry eingreifen. Wie er feststellte, war er nicht der Einzige, der dem Ball nachlief. Er erhielt einen Stoß, griff daneben, und so war es ein anderer, der den Ball erwischte und ins Spielfeld zurückwarf – natürlich nicht zu Gus. Offenbar hatte jeder der Mitspieler für einen Balljungen gesorgt, der ihm Zubringerdienste leistete. Wer schließlich den Ball bekam, durfte ihn abschlagen und befand sich dabei in einer weniger gefährdeten Situation als die anderen vier, die sich vorn an der Front, nahe am Gegner, aufstellen mussten. Oft genug bekamen sie blitzschnell gekonterte Bälle ab, und dabei gab es die meisten Ausfälle.
Als Barry das begriffen hatte, setzte er all seinen Ehrgeiz ein, um Gus zu unterstützen. Ohne Rücksicht auf sich selbst stürzte er sich ins Getümmel, und was ihm an Kraft fehlte, ersetzte er durch Geschicklichkeit. Er war nicht schlechter als die anderen, vielleicht sogar etwas besser. Und als ihm Gus einmal während einer kurzen Spielunterbrechung zunickte, fühlte er, wie ihm der Stolz bis zur Kehle hinaufstieg.
Von da an durfte Barry immer mitkommen, wenn Gus zu den Spielen ging. Und jedes Mal war es ein Abenteuer. Schon der Weg durch die Ladenstraßen, die prächtigen Dinge hinter den Schaufensterscheiben, elegant gekleidete Männer und Frauen, die gelegentlich wie exotische Erscheinungen auftauchten … Auch die Spiele selbst waren spannend, jetzt da er die Regeln immer besser begriff. Er war voll dabei, während des Spiels sah er nichts anderes als die raschen Bewegungen der Teilnehmer, die durch die Luft gezogenen Bahnen der Bälle, die Spielfeldumrandung, die anderen Balljungen, die ihm den Erfolg streitig machen wollten. Er verfolgte jeden Spielzug, versuchte den Weg des Balls vorauszuberechnen, um als Erster da zu sein, wenn sein Eingreifen nötig war. Die Geräusche des Spiels waren Musik in seinen Ohren, das Sausen der durch die Luft flitzenden Schläger, die dumpfen Geräusche des aufprallenden Balls, das Schleifen der Sohlen auf dem Boden … Die schönsten Erlebnisse für ihn waren die Augenblicke, in denen er den Ball in der Hand hielt – zugleich Symbol seines Erfolgs! Es war angenehm, die glatte Oberfläche an der Haut zu spüren, Hartgummi, der eine Stahlkugel umschloss. Einige Male war er von diesem Ball getroffen worden – es waren harte Schläge, die zunächst ein wenig betäubten und dann, etwas verzögert, heftigen Schmerz entfachten. Sekunden danach wuchs eine Schwellung wie ein Hügel aus der Haut.
Von Zeit zu Zeit gab es kleinere Störungen. Am harmlosesten waren noch zufällig in die Nähe kommende Fußgänger, Ortsunkundige, die nichts davon wussten, dass dieser Teil des Gangsystems von den Jugendlichen okkupiert war. Doch sie wurden rasch eines Besseren belehrt – durch Schimpfworte und Rempeleien. Für einige Minuten wurde dann das Spiel unterbrochen, und alle stürzten sich wie eine Meute auf die Fremden.
Manchmal kam auch eine Gruppe von Halbwüchsigen hinzu, etwas ältere Jungen, die sich einen Spaß daraus machten, die Kleinen von ihrem Platz zu vertreiben. Sie nahmen ihnen die Schläger ab, zerschlugen die Lampen und verteilten Fußtritte und Hiebe. Es dauerte dann immer einige Tage, bis der öffentliche Reparaturdienst den Schaden wieder behoben hatte.
Eines Tages erschien ein Aufgebot an Polizei – vielleicht hatten sich Passanten beschwert, oder dem Ordnungsdienst waren die häufigen Beschädigungen in diesem Winkel aufgefallen.
Es geschah gerade in dem Augenblick, als ein Spieler der gegnerischen Partei einen Ball weit in den Gang hineingeschlagen hatte – willkommene Gelegenheit für den schnellen Barry, seinen Konkurrenten zuvorzukommen. Er überhörte den schrillen Warnungsschrei, merkte nicht, dass ihm diesmal kein Rudel von anderen Balljungen auf den Fersen war, und sah sich plötzlich mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die zunächst einmal außerhalb seines Begreifens lag: Ein Cop hielt ihn am Kragen fest, ein anderer bückte sich nach dem Ball und präsentierte ihn den anderen wie ein Beutestück. Barry und der Ball waren alles, was der Polizei in die Hände gefallen war – die anderen waren auseinandergestoben wie Konfetti in einem Wirbelwind, waren in Nebengängen verschwunden, in den Öffnungen des Entlüftungssystems, in den Depots des Reinigungsdienstes, in Verbindungsschächten zur Kanalisation …
Barry verbrachte einige Stunden auf dem Revier, er sollte die Namen der anderen Jungen nennen – offenbar ging es noch um andere Dinge, von denen Barry nichts wusste. Mehrere Lampen waren auf ihn gerichtet, er schwitzte und litt Durst. Trotzdem sagte er nichts. Später holten ihn die Eltern ab, und einige Wochen hindurch durfte er das Haus am Abend nicht mehr verlassen – die Zeit der Spiele war beendet.
Barry hat den Stadtkern erreicht. Er fährt langsam, sieht sich nach allen Seiten um. Wenige Autos auf den Straßen, doch umso mehr Menschen, die sich vor den Bars und Vergnügungsstätten drängen.
Fetzen von Musik, blechern klingende Anpreisungen aus Megafonen – ein ohrenbetäubender Lärm.
Ebenso aufdringlich die Fassaden – mit bunten Reklamebildern überladen, Neonbeleuchtung, blinkende Lampenreihen.
Ein paar Häuserblöcke weiter … Hier ist es etwas ruhiger. Barry findet ein Hotel und stellt den Wagen in der Tiefgarage ab.
Geruch nach Schmieröl.
Er steigt in den Lift, fährt ins Erdgeschoss und meldet sich bei der Rezeption.
BARRY Noch ein Zimmer frei?
Der Mann in grauer Livree mustert ihn abschätzend. Dann tritt er an das Schlüsselbrett und holt einen Bund herunter.
ANGESTELLTER Aber sicher, Mister.
Er schiebt ihm den Block zu.
ANGESTELLTER Tragen Sie sich hier ein?
Barry tut es, dann greift er nach den Schlüsseln. Er zögert kurz.
BARRY Schon von Gus Griffin gehört?
ANGESTELLTER Na, hören Sie! Wer kennt ihn nicht?
BARRY Hohes Tier in der Stadt, wie?
ANGESTELLTER Kann man wohl sagen.
BARRY Ich würde ihn gern einmal sehen.
ANGESTELLTER Sie wollen ihn sehen? Na dann holen Sie sich doch ein paar Bänder aus der Videothek. Alle seine Reden sind aufgezeichnet. Der erste Aufruf zur Besiedelung des Sirius … Klasse! Aber das kennen Sie doch sicher!
BARRY Ich werde mir das Band ausleihen. Wo ist die Videothek?
ANGESTELLTER Im Souterrain.
BARRY Ich geh gleich hin. Lassen Sie die Tasche in mein Zimmer bringen!
ANGESTELLTER Wird erledigt.
Barry in der Videothek – einige Bildschirmgeräte, ein paar Sitze davor, dazwischen Schallschutzwände.
Barry ist allein. Er legt das Band ein, drückt auf den Startknopf.
Ein paar knackende Geräusche, dann Fanfarenklänge, ein Motiv, das dann von einer Big Band aufgenommen wird.
Auf dem Bildschirm erscheint das große verschlungene ST, und darunter für die, die es noch nicht wissen, der Schriftzug SIRIUS TRANSIT. Dann ein Blick auf den Sternenhimmel, darüber das Emblem – nun bildfüllend.
Einander überblendende Aufnahmen von Sternkonstellationen, dann eine Fahrt in die Tiefe des Raums … Ein heller Punkt schwillt zu einer Kugel an, zu einem grünen, rotierenden Ball …
Ein Mann in Raumfahrerdress kommt ins Bild, die Ähnlichkeit mit Barry unverkennbar, doch er ist älter, größer, sicherer: Gus Griffin.
GUS Sie haben es schon erraten … Ja, das ist er, unser neuer Planet im Siriusdistrikt. Tausende Planeten haben unsere Raumfahrer entdeckt, aber dieser ist die Sensation: Er ist ein Abbild unserer Erde.
Ein Landeanflug – eisbedeckte Berge, Schluchten mit sonnendurchwirkten Wasserfällen, Pflanzenwuchs fast bis zur Schneegrenze hinauf … Das Gebirge weicht zurück, eine weite Ebene, Wiesen, Buschwerk, lichte Wälder …
GUS Atembare Luft, trinkbares Wasser, jagdbares Wild in Hülle und Fülle … Ein Paradies! Und dieser neu erschlossene Raum soll nun für die Besiedelung freigegeben werden. Wir haben eine Firma gegründet, die die Erschließung organisiert und den Transport übernimmt. Leute, lasst euch diese Gelegenheit nicht entgehen. Es ist ein Abenteuer für die Menschheit, ein Geschenk des Schicksals. Ihr braucht nur zu kommen und zuzugreifen! Helft mit bei der Erschließung, und ihr könnt euch euren Besitz selbst aussuchen! Kommt, Leute, und macht mit! Meldet euch bei der Sirius Transit!
Die Bilder zeigen eine liebliche Landschaft – Waldwiesen, ein blumenübersätes Seeufer …
Das Bild erlischt, noch einmal erscheinen die symbolhaften Buchstaben ST.
Die Musik endet mit der Fanfare. Ein seltsames Gemisch von Stolz und Ergriffenheit.
Nach ein paar Sekunden steht Barry auf, verlässt den Videoraum. Draußen, an der Bandausgabe, ein Mädchen.
Anflug eines Parfums: Lavendel.
BARRY Haben Sie einen Stadtplan hier? Und ein Adressbuch?
NELLY Alles da, Mister. Sogar umsonst!