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Eine neue Eiszeit ist über die Erde hereingebrochen. Auf einer einsamen Bergspitze liegt ein Hotel, das im Sommer als Erholungszentrum für Touristen dient. Im Winter ist es normalerweise verlassen, doch diesmal sind Menschen zurückgeblieben. Sie gehören zu denjenigen, die kürzlich aus dem Kälteschlaf geweckt wurden: Überlebende aus einer Zeit, als die Erde noch grün war. Auf sie wartet eine Aufgabe: Sie sollen in die Tiefe unter den Eisschichten vordringen. Dabei stoßen sie auf Artefakte, Überreste aus jenem Krieg, der zur Vereisung der Erde führte – und die Geister der Vergangenheit werden wieder lebendig ...
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Seitenzahl: 261
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Herbert W. Franke
SF-Werkausgabe
Herbert W. Franke
Band 19
hrsg. von Hans Esselborn
und Susanne Päch
Herbert W. Franke
DIE KÄLTE DES WELTRAUMS
Science-Fiction-Roman
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke
Band 19
hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Copyright © 2024 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
www.art-meets-science.io
Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de
Die Originalausgabe ist 1984 im Suhrkamp Verlag erschienen.
Titelbild: Thomas Franke
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
E-Book-Erstellung: global:epropaganda
Verlag
art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
c/o mce mediacomeurope GmbH
Bavariafilmplatz 3
82031 Grünwald
ISBN 978 3 911629 18 8
Kälte. Leere. Erstarrung.
Das Nichts.
Nichts – kein Denken, kein Fühlen, kein Ich, keine Welt. Die Kälte hat alles in ihren Mantel der Ewigkeit gehüllt: wohltuend, schützend, bewahrend … Nichts, was herankommen, was eindringen könnte. Ein Panzer von Eis rundherum, Kälte bis ins Innerste der Zelle, bis in den letzten Winkel des Gehirns.
Zeitlosigkeit. Keine Zweifel. Keine Furcht. Keine Schuld. Die völlige Freiheit – wie man sie sich nur wünschen mag …
Oder eine Fessel? Bewegungslosigkeit, Lähmung!
Ein leises Pochen …
Ein langsam schlagendes Herz … Entladung von Zellpotenzialen … kriechende Bioströme …
Erste Regungen von Bewusstsein, die Schwelle des Todes von rückwärts durchschritten, nur noch die Erinnerung an die Freiheit der Nichtexistenz …
Ein leises Prickeln der Haut, dann jäh einsetzender Schmerz. Nadeln in den Eingeweiden, Risse in den Muskeln, Stiche in der Haut …
Alarmzeichen des Lebens. Dem Schmerz hilflos ausgesetzt. Jeder Punkt des Körpers, ins Fadenkreuz des Bewusstseins genommen: ein Zentrum von Schmerz.
Vorbei … nur noch ein Zucken, ein Beben – auch das vergeht.
Die Sinne bereit zur Reaktion … vergeblich …
Das Körpergefühl, durch die ungehemmte Entladung sensibilisiert … und nun: der Leere ausgesetzt. Dunkelheit, Stille …
Nicht die Dunkelheit des Blinden, die Stille des Tauben! Vielmehr: Sensoren, bereit zur Aufnahme – doch da ist nichts, was sich fassen ließe.
Kein Licht, kein Ton, kein Gefühl, nicht einmal das schwache Zerren der Schwerkraft!
Das Bewusstsein des eigenen Körpers – doch keine Antwort, keine Bestätigung, kein Sinn.
Das innere Maßsystem verzerrt sich ins Absurde! Der Körper, kilometerlang gedehnt, rotierend … die Zunge: ein riesiger Klumpen, der die Sperre der Kiefer sprengt … die Augen: frei im Raum schwebend, Sicht rundum – schwarz!
Der Traum hat mich wieder erfasst. Ich nenne es Traum. Vielleicht ist es etwas ganz anderes: Wiederkehr des schrecklichen Erlebnisses oder auch Rückfall in den tiefen Abgrund zwischen den Zeiten. Vielleicht gibt es gar keinen Unterschied zwischen dieser Art von Erlebnis und dem Traum … etwas ist gewesen, lässt sich nicht mehr verdrängen …
Das Schwindelgefühl erstirbt nur allmählich. Ich halte die Arme ausgestreckt, klammere mich am metallenen Bettpfosten an. Die Klinik?
Nein – die Zeit der Revitalisation ist vorbei. Ich versuche, die Benommenheit abzuschütteln, muss in die Gegenwart zurückfinden. Es geht schnell, ich habe schon Übung darin: die Schatten der Nacht, die Gespenster der Vergangenheit … Das alles kann ich beiseiteschieben, brauche nur wenige Sekunden … vorbei! Dann bin ich aktiv, fast hektisch. Ich kann konzentriert denken, konzentriert arbeiten. Ich kann analysieren, planen, meine Aufgabe erfüllen. Kaum noch ein Gedanke an jene dunklen Zonen in meiner Erinnerung, die sich des Nachts – wenn ich wehrlos bin! – über alle Maßen ausbreiten.
Ich löse meine feuchten Handflächen vom Lacküberzug des Metalls, stütze mich auf. Die äußere Glasschicht des Fensters ist von Eisblumen überzogen, kreuz und quer gekrümmt wie die Staubspuren der Raketen, die das Mondgestein zur Station hinaufbefördern …
Einen Moment lang muss ich mich besinnen … wo bin ich? Das gewölbte Glas der Kuppel, das Steinfeld der Polregion mit seinen harten Licht- und Schatteneffekten. Durchsichtige Röhren, in denen Förderbänder laufen. Menschen in Raumanzügen, Roboter …
Obwohl ich die Augen offenhalte, sehe ich Dinge, die sich woanders befinden, weit von hier. Ich könnte daran zweifeln, dass es sie gibt … Das alles passt nicht zusammen – Gegenwart, Vergangenheit …
Jetzt sehe ich, was draußen liegt: Wenn die Sturmböen die wirbelnden Flocken beiseite wehen, den grauen Vorhang öffnen, sekunden- oder minutenlang, dann reicht der Blick kilometerweit. Vom erhöhten Standpunkt des Gipfels aus habe ich Sicht über die weiße Landschaft aus Eis und Schnee, die sich mit ihren sanft gewellten Hügeln und Tälern bis an den Horizont erstreckt. Da und dort Löcher in der gepolsterten Decke, hervorstechende Bergspitzen, das Gestein dunkelgrau oder schwarz, darunter, an geschützten Stellen der Hänge, weit hinaufgreifende Eisarme – Ursprünge der Gletscher. Über allem der anthrazitgraue Himmel, durch den manchmal, wenn die sturmgefurchte Wolkendecke aufreißt, eine schmutzig gelbe, flache, kreisrunde Scheibe durchblickt: die Sonne.
Es wird nie richtig hell hier auf der Erde, kein Vergleich mit dem Strahlenglanz des Weltraums. Und dennoch: Ich muss die Augen schließen. Das diffuse Licht macht es schwer, die Gegenstände voneinander zu trennen, blendet mich. Ich trete vom Fenster zurück, tupfe in den Augenwinkeln sitzende Tränen mit einem Papiertaschentuch ab. Ich muss endlich wieder zur Gegenwart finden, vielleicht war es doch keine gute Idee, einige Tage zu früh hierherzukommen. Diese in Kälte erstarrte Erde – und die Einsamkeit … Für die Touristen, die von den erdfernen Stationen und Siedlungen anreisen, bedeutet der Aufenthalt im Hotel eine kurze Spanne Erholung, Lohn für harte Arbeit, wie sie der Wille zum Überleben im luftleeren Raum verlangt. Die weiße Landschaft des Sommers, die dicke Eisschicht, die die Erde bedeckt, die schwarzen Gipfel, die wie Inseln daraus emportauchen … Für den Besucher liegt der Reiz wahrscheinlich am Unterschied: dort die lichtdurchwirkten Städte, in denen die Menschheit Zuflucht gefunden hat; hier eine Welt der Dämmerung, das exotische Gefühl der Schwere. Sicher kommt aber auch das Bewusstsein hinzu, dem Ursprung nahe zu sein, dem Mutterplaneten allen Lebens, das sich – vorerst noch zögernd – in die Weiten des Sonnensystems hinaus ausbreitet.
Im Grunde genommen sind es ähnliche Gefühle, die mich in diesen Tagen immer wieder überkommen, doch was bei jenen letztlich auf Neugier und Nostalgie hinausläuft, wird bei mir zur Trauer, ja zur Verzweiflung. Das Leben innerhalb der Glaskuppeln, die vorgetäuschte Stabilität der Schwerkraftplatten, die verbrauchte Luft aus den Umwälzanlagen, das harte Licht der ungedämpften Sonne … wie könnte sich jemand, der auf festem Boden unter den Füßen aufgewachsen ist, daran gewöhnen! Die alten, fest gefügten Städte, Luft und Wasser in Überfluss, da und dort Flecken von Grün – ich kann mich nicht damit abfinden, dass das alles vorbei sein soll, verloren, begraben unter dem Eis. Was die Besucher von außen als exotische weiße Wildnis ansehen, scheint mir eher ein Grab. Unter ihnen werde ich stets ein Fremder bleiben.
Wieder bin ich ins Grübeln geraten, doch nun verlasse ich kurz entschlossen meine Kammer, gehe hinunter ins Foyer. Es ist menschenleer, die Saison ist zu Ende. Die letzte Transportrakete ist am Vormittag gelandet und kurz nach Mittag wieder gestartet. Mit den letzten Gästen reiste das Hotelpersonal ab – nur wenige Leute, die zur Verwaltung nötig sind, denn Dienstleistungen gibt es kaum noch in dieser Gesellschaft, nicht einmal an einem Ferienort.
Durch die Tür fällt trübes Licht, alle ebenerdigen, westwärts gerichteten Fenster sind mit Schaumstoffverkleidungen gegen die Schneestürme verschalt. Sind neue Gäste angekommen? Wer heute nicht abgereist ist, muss den Winter hier verbringen. Das bedeutet vier Monate Einsamkeit, Gefangenschaft in einer gegen die Kälte, gegen die Winterstürme errichteten Festung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einem Angehörigen der neuen Generation einfiele, sich so lange hier einsperren zu lassen, und wenn die Preise dafür noch so stark herabgesetzt sind. Ich gehe zur Rezeption, suche nach der Gästeliste. Eine Reihe von Namen, alle unbekannt. Keine neuen Eintragungen … Doch das hat nichts zu bedeuten – wer sollte sich jetzt, während der Ruhezeit, um Formalitäten kümmern?
Ich schlage das Buch zu, schlendere durch die lang gezogene Halle, an Gruppen von hölzernen Tischen und Sesseln vorbei. Ja, tatsächlich Holz! Ich trete an einen Sessel heran, lege die Hand auf die Lehne. Mir ist, als könne ich noch einen Anflug jener Kräfte fühlen, die es einst zum Wachsen brachten. Von oben fällt Licht ein, spiegelt sich trüb in der polierten Tischplatte. Da und dort sind Kerben eingeschnitzt, Initialen, Symbole … dieser Alpengipfel war Anziehungspunkt für Besucher seinerzeit, bevor die Berge zum militärischen Sperrgebiet erklärt wurden; damals kamen sie aus den Tälern, aus dem flachen Land. Das Hotel ist eines jener wenigen Bauwerke der Vergangenheit, die die Katastrophe überstanden …
Ich gehe hinüber zum Speisesaal … war das ein Rascheln? Ich stehe still, horche … nichts. Erst als ich weitergehe, ist es wieder da: ein Poltern, das Schleifen einer Tür, vom Geräusch der eigenen Schritte übertönt. Wieder lausche ich … sollte ich mich getäuscht haben?
Der Speisesaal verlassen, nur einige wenige Lampen eingeschaltet … auf einem Tisch nahe am Buffet Essensreste: ein Teller, ein Becher, Besteck. Auf dem Teller Krümel einer Pastete, im Becher ein Rest braungelber Nährmilch.
Nachdenklich hole ich mir eine Packung Schokomalz aus dem Automaten, stecke einen der süßen Würfel in den Mund.
Also ist tatsächlich jemand von den andern hier. Aber wer? Und warum verbirgt er sich? Gewiss, Elliot bat darum, Aufsehen zu vermeiden. In gewissem Sinn sind wir ja doch Ausgestoßene, deren Unternehmungen man mit Misstrauen verfolgt. Ein Freispruch mangels Beweisen ist auch heute nicht mehr wert als seinerzeit. Es hatte seinen Grund, dass man jeden von uns in einen anderen Winkel verfrachtete, uns, wie es hieß, Gelegenheit bot, einen Platz einzunehmen, der unserem Können entspricht und der Gemeinschaft höchsten Nutzen bringt. Zwar gibt es keine Anweisung, die uns ein Zusammentreffen untersagen würde, auch gegen Kontakte, beispielsweise über Funktelefon, hat niemand etwas einzuwenden gehabt. Trotzdem bat Elliot um Diskretion; er musste einen Grund dafür haben.
Ich finde keine Ruhe. Wandere durch die Gänge, steige Treppen auf und ab. Da und dort bleibe ich an einem Fenster stehen – überall dasselbe Bild … treibende Schneeflocken, hinter denen von Zeit zu Zeit der Schattenriss der Berge als mattgetönte Fläche sichtbar wird. Durch das Glas, durch die Wände kann man gedämpftes Rauschen hören – Signale der mutwillig entfesselten Gewalt, die sich nicht mehr dämmen lässt. Hier innen ist es wohlig warm, ich fühle mich geschützt, heimelig. Ich bin müde, fast zufrieden. Nach mehreren Jahren angestrengter Arbeit die erste längere Pause. Der Ausbau der Station, Montagearbeiten im schwerelosen Raum, das Einfangen der vom Mond heraufgeschleuderten Bauteile, die unbegründete, aber nicht unterdrückbare Angst abzutreiben, hinaus in die Leere des Raums … und das alles ohne jene fanatische Überzeugung, die die jungen Menschen von heute auszeichnet. Merkwürdig: Ich sage »jung«! Dabei sind viele ältere unter ihnen, trotz der Beanspruchung durch die Strahlung, gegen die es keinen vollkommenen Schutz gibt, werden sie fünfzig, manchmal auch sechzig Jahre alt. Gemessen nach Lebensjahren gehöre ich zu den Jüngeren. Gemessen nach Zeit bin ich fast zweihundert Jahre alt. Sind es die Jahre, auf die es ankommt? Ob sie der Grund für meine Müdigkeit sind? Am liebsten würde ich mich in mein kleines, bequemes Zimmer zurückziehen, faulenzen, schlafen – wenn da die Träume nicht wären, die mich quälen, keine endgültige Entspannung zulassen. Zweihundert Jahre, der Kälte des Weltraums ausgesetzt; ob man danach erwachen kann, als sei nichts gewesen?
Ich habe nicht bemerkt, wie die Zeit vergeht. Überall im Haus brennen die Deckenlampen – eine Art ständige Notbeleuchtung. Niemand braucht hier Strom zu sparen – der Fusionsreaktor läuft weiter, wenn auch mit Minimalverbrauch, gerade so stark, um die Kettenreaktion in Gang zu halten.
Als ich hinunter in die Halle komme, sehe ich jemand drüben, an der gegenüberliegenden Seite sitzen. Ich trete näher. Am langen blonden Haar erkenne ich, dass es Kathrin ist. Sie scheint in Gedanken versunken, schaut zum Fenster. Ein dunkles Rechteck, vor dem – von innen beleuchtet – unermüdlich wirbelnde Schwärme von Schneeflocken dahinziehen.
Kathrin dreht sich um, einen Moment lang glaube ich, eine Fremde vor mir zu haben. Ich brauche einen Moment, um mich darauf zu besinnen, dass wir uns alle verändert haben – auch ich. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass sie mich nur zögernd begrüßt. Ich reiche ihr die Hand. Ihr Gesicht ist schmal – und um zehn Jahre verjüngt. Jahrelang habe ich sie anders gesehen, eben als Kathrin Blijner, mit den Gesichtszügen von Kathrin Blijner, mit dem Verhalten von Kathrin Blijner. Ihr wirkliches Aussehen ist mir neu, so kenne ich sie erst seit den letzten Stunden unseres Beisammenseins, damals, vor Gericht. Wie sie jetzt aussieht, erscheint sie mir viel anziehender, mädchenhafter. Wir haben unsere Persönlichkeiten ausgetauscht wie ein Gewand. Es ist eine neue Erfahrung, die wir wahrscheinlich alle erst machen müssen.
»Hallo, Richard!« Selbst ihre Stimme, die ich doch gut genug kenne, erscheint mir verändert. Wir tauschen einige belanglose Worte aus, Vorwand, sich an die neue Situation zu gewöhnen.
»Sonst niemand da? Elliot? Einar?«
»Ich bin mir nicht sicher. Seit wann bist du hier? Warst du vorhin im Speisesaal?«
Kathrin schüttelt den Kopf. »Mit der Rakete, heute Vormittag. Ich war der einzige Passagier. Könnten die andern nicht schon früher gekommen sein?«
»Möglich. Noch vor ein paar Tagen war das Haus voll. Sie könnten hier sein – wer in seinem Zimmer bleibt, kann sich monatelang verborgen halten – niemand fragt danach. Sollen wir nach ihnen suchen …?«
»Wozu? Wir haben keine Eile. Ich glaube sowieso, dass ich einige Zeit brauche, um mich an das zu gewöhnen …« Mit einer Kopfbewegung deutet sie in die Umgebung, doch ich verstehe, dass sie nicht das Hotel meint, sondern unsere Lage. Zurückgekehrt zur Erde – und doch fremd.
Kathrin hat ein Zimmer im ersten Stock belegt, sie zieht sich zurück, sobald wir uns einen bescheidenen Imbiss aus dem Buffet geholt haben.
Ich suche mir einen bequemen Stuhl in der Halle, koste das Gefühl aus, an einem Holztisch zu sitzen. Von Zeit zu Zeit heult draußen der Sturm auf, und dann zittern und klirren die Fensterscheiben. Die im Raum verteilten blassen Lichter werfen kaum Schatten, meine Augen tränen wieder, der Blick gleitet haltlos durch den Raum, hat Mühe, die Konturen der Gegenstände zu fassen. Obwohl alles seinen stabilen Stand hat, alle Dinge fest gefügt sind, erscheinen sie durchsichtig, unwirklich, haltlos. Obwohl es warm ist, fröstelt mich. Ein unendlich großer Raum, dessen Zentrum nur durch den Zufall der eigenen Position vorgegeben ist, eine maßstablose Zeit, die ebenso gut dahinrasen wie stillstehen könnte. Ich merke, dass mich der Schlaf zu übermannen versucht, dass sich das Netzwerk meines Traums um mich legt. Noch bin ich nicht müde genug, kann mich wehren, mich auf anderes konzentrieren. Auf die Erde, den Weltraum, die Vergangenheit und die Zukunft.
Richter: Der besonderen Umstände halber möchte ich einige Worte vorausschicken. Diese Verhandlung spielt sich in einem für die Angeklagten ungewohnten Rahmen ab; nichtsdestoweniger ist sie rechtmäßig, da dieses Gericht für alle Menschen zuständig ist – genauer gesagt: für alle Handlungen, die zu irgendeiner Zeit an irgendeinem Ort von Menschen begangen wurden. Es spielt somit keine Rolle, dass die den Angeklagten vorgeworfenen Straftaten zweihundert Jahre zurückliegen, umso mehr, als die Folgen ihres Handelns auch heute noch nachwirken.
Ankläger: Zur Vorgeschichte des Falls. Am hundertdreißigsten Tag des Jahres 1183 befand sich eine unserer Raumfähren auf einem Beobachtungsflug in jener äquatornahen Zone der Erde, die bis zu einer Höhe von vierzigtausend Kilometern mit dem Schrott früherer Weltraumaktivitäten erfüllt ist, als die Besatzung durch Funksignale auf eine im Orbit treibende Rettungskapsel aufmerksam wurde. Wie sich später herausstellte, hatte ein darin enthaltener Sender auf die von der Fähre ausgehende Infrarotstrahlung angesprochen. Noch während der Bergungsarbeiten wurden weitere Funksignale von drei anderen Kapseln empfangen, deren Sender durch die Funksignale der ersten aktiviert worden waren. Die Fähre brachte die vier Behälter hierher auf die Mondstation, sie wurden untersucht und dann mit gebührender Vorsicht geöffnet. Jede von ihnen enthielt einen in Kälteschlaf versetzten Menschen; eine Anweisung für die sachgemäße Erweckung war beigegeben. Der Augenschein – wie auch der Vergleich mit Bilddokumenten zeigte, dass es sich um den Führungsstab jener Union der westlichen Staaten handelte, denen – gemeinsam mit den Kriegstreibern des Schwarzen Blocks – der Ausbruch des Krieges und die Verwüstung der Erde anzulasten sind. Damit tritt der einmalige Fall ein, dass Verbrecher wegen Handlungen angeklagt werden, die über zweihundert Jahre zurückliegen. Doch abgesehen davon, dass es bei Massenmord, mit dem die Entfachung von Kriegen gleichzusetzen ist, sowieso keine Verjährung gibt, haben die Ereignisse des letzten Weltkrieges zu Konsequenzen geführt, die längst noch nicht überwunden sind. Bis auf einen Rest von rund zwanzigtausend Menschen, die sich zur Zeit der großen Zerstörung in genügender Entfernung von der Erde, im freien Raum oder auf einer der Mondstationen, aufhielten, wurde die gesamte Bevölkerung der Erde ausgelöscht. Als direkte Folge des Waffeneinsatzes, insbesondere der zuletzt aktivierten Weltvernichtungsanlagen, kam es zu jener Klimakatastrophe, die zur Vereisung der Erde führte. Es scheint, dass der Lebensraum Erde für immer verloren ist. Die Ereignisse, um die es bei dieser Verhandlung geht, sind also von höchster Aktualität, und das vor allem ist der Grund dafür, dass wir trotz des großen zeitlichen Abstandes nicht darauf verzichten.
Richter: Damit ist die Verhandlung eröffnet. Ich stelle die Anwesenheit der Angeklagten fest und rufe sie namentlich auf:
Elliot Burst, zur Zeit des Krieges Präsident der westlichen Union.
Einar Fergusson, Admiral, oberster Leiter der Vereinigten Westlichen Streitkräfte.
Richard Wallenbrock, Vorsitzender der Ausschüsse Technik, Medien, Propaganda.
Kathrin Blijner, Führerin der Vereinigten Westlichen Frauenverbände.
Vom Sachverständigenausschuss wurde festgestellt, dass sich die vier genannten Personen in bester körperlicher Verfassung und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte befinden. Der langdauernde Kälteschlaf hat keinerlei feststellbare Folgen bei ihnen verursacht. Sie sind damit fähig, sich vor diesem Gericht zu verantworten.
Ankläger: Bei Ausbruch des Kriegs im Jahre 2084 hatte Elliot Burst bereits zwei Jahre lang den Vorsitz der Vereinigten Westlichen Regierungen. In seine Zeit fiel der Abbruch der Friedensverhandlungen, damals bekannt unter der Bezeichnung SALT 60, obwohl die Chancen auf eine Einigung der beiden Machtblöcke nicht geringer waren als in den Jahren zuvor. Die daraufhin erfolgende Abkühlung der Beziehungen dienten ihm als Vorwand für die weitere Aufrüstung, die er mit seinem berühmt-berüchtigten Edikt von Birmingham auf die Spitze trieb. Auf den daraufhin einsetzenden Ausbau der militärischen Macht auf der anderen Seite antwortete er schließlich mit einer konzertierten Angriffswelle auf Städte und Militärbasen seiner Gegner in Asien und Afrika, der er am Tag danach eine Kriegserklärung folgen ließ.
Einar Fergusson, Berufsoffizier und bekanntester Vertreter der »Falken«, war einer der engsten Mitarbeiter von Elliot Burst. Mit rücksichtsloser Entschlossenheit setzte er die hinter ihm stehende militärische Macht ein, um diesen an die Spitze zu bringen. Von ihm stammt das Konzept des Präventivangriffs, den er mit verbotenen, geheim produzierten Waffensystemen durchführte. Ihn trifft die Hauptverantwortung für die zunehmende Eskalation des darauffolgenden, bis zur Vernichtung geführten zweimonatigen Kriegs.
Auch Richard Wallenbrock stammt aus dem engen Mitarbeiterkreis von Elliot Burst. Kraft seiner Ämter hatte er höchsten Einfluss auf alle Aktivitäten im zivilen Bereich, den er allerdings voll zur Vorbereitung des zunächst geheim, später aber immer offener anvisierten Krieges nutzte. Nicht zuletzt oblag ihm auch der Einsatz der Medien, die er zur Überwachung der Bevölkerung und zur Kriegshetze anwandte. Durch psychologische Manipulation gelang es ihm, jeden Widerstand gegen die verderbliche Politik seiner Regierung auszuschalten.
Kathrin Blijner war durch ein raffiniertes Wahlmanöver von Elliot Burst an die Spitze der einflussreichen Frauenverbände gehievt worden. Während sie vorgab, die Interessen der Frauen zu vertreten, schaltete sie sich in Wirklichkeit immer mehr in die Kriegsvorbereitungen ein und erreichte es, nicht zuletzt durch ihr wirkungsvolles Auftreten in öffentlichen Medien, eine patriotische Stimmung hervorzurufen und bis zum Fanatismus zu verstärken. Die Zustimmung und Mitwirkung der Frauen war es nicht zuletzt, die die Totalität des Krieges möglich machte.
Die hier nur kurz zusammengefassten Punkte werden in der folgenden Verhandlung detailliert behandelt werden. Da die Aktivitäten der Angeklagten eng miteinander verflochten sind, wird vorgeschlagen, ihre Verfahren gemeinsam, auf politische Aktionen ausgerichtet, abzuwickeln.
Verteidiger: Die Verteidigung legt Wert auf die Feststellung, dass ein Ausschluss der Verjährung keineswegs so selbstverständlich ist, wie es den Ausführungen des Richters zu entnehmen wäre. Allerdings verzichte ich auf Wunsch der Angeklagten auf jedes Rechtsmittel in dieser Richtung – sie wollen eine eventuell bestehende Verjährung nicht in Anspruch nehmen. Trotzdem bekennen sie sich als »nicht schuldig«, wobei sie sich auf einen Tatbestand berufen, den ich nicht zu unterstützen vermag. Dennoch ist es meine Pflicht als Verteidiger, folgende Deklaration zu verlesen: Die anwesenden Personen erklären sich mit Elliot Burst, Einar Fergusson, Richard Wallenbrock und Kathrin Blijner als nicht identisch. Vielmehr bezeichnen sie sich als Jonathan Berlinger, Jean-Oscar Scholtz, Abraham Schulheim und Simone Erné. Ich stelle daher den Antrag – wobei ich der Forderung der Angeklagten folge –, die Verhandlung zu beenden und die zu Unrecht festgenommenen Personen unverzüglich in Freiheit zu entlassen.
Ankläger: Diese Behauptung ist absurd, die Identität der Angeklagten kann als gesichert gelten. Der Antrag muss abgewiesen werden, die Verhandlung weitergehen.
Verteidiger: Für diesen Fall habe ich dem Gericht mitzuteilen, dass die Angeklagten zu keinerlei Äußerungen bereit sind, keine Fragen beantworten werden.
Richter: Welche Beweise haben die Angeklagten für ihre Behauptung vorzubringen?
Verteidiger: Sie verlangen eine Art chirurgischen Eingriff, eine kosmetische Operation … diesen Wunsch brachten sie schon früher – vor dem Sachverständigenausschuss – vor, der ihn abgelehnt hat.
Ankläger: Also, was hindert uns dann, die Verhandlung fortzusetzen?
Richter: Sollten Zweifel an der Identität der angeklagten Personen bestehen, dann müssen wir ihnen nachgehen. Wir sollten den Angeklagten Gelegenheit geben, den Beweis anzutreten. Die Verhandlung ist unterbrochen.
Etwas schreckt mich aus meinen Gedanken auf … es ist ein kühler Luftzug, der über mein Gesicht streicht.
Draußen heult der Sturm, er drückt auf Fensterscheiben und Wände, zerrt am Dach. Leises Ächzen im Gebälk.
Dringt die kalte Luft durch offene Fugen herein? Hat jemand ein Fenster geöffnet? – eine Tür? Kathrin?
Ich stehe auf, gehe einige Schritte zum Treppenhaus, das eine Art Erweiterung zwischen Foyer und Halle bildet. Nichts rührt sich.
Einen Moment lang war ich überzeugt, Kathrin würde mir entgegentreten. Es wäre eine Wohltat gewesen – diese Einsamkeit! Zwar sind erst einige Stunden vergangen, seit sich das Hotel geleert hat, und doch empfinde ich den Druck der pochenden Stille schon fast als unerträglich.
Meine Nerven sind angegriffen. Ich glaube nicht, dass eine Jahrhunderte währende Kältestarre ohne Folgen bleibt. Vielleicht bin ich körperlich gesund, und, erstaunlich genug, auch mein Erinnerungsvermögen ist intakt. Diese Zeit, vorher … Und doch: Zwischen jetzt und damals liegt ein Abgrund. Dinge dahinter erscheinen nicht bloß entfernt, sie erscheinen unwirklich. Oder ist es die Gegenwart, die das Gefühl des Unwirklichen in sich trägt? Vielleicht liegt es an diesen unglaublichen Veränderungen, mit denen ich konfrontiert bin … Man kann doch das Absurde nicht einfach als gegeben betrachten und wenn es noch so real erscheint! Auf der einen Seite weiß ich, dass ich wach bin, dass ich lebe, doch eine Stimme in mir fordert mich auf, es nicht einfach hinzunehmen, mich zu wehren …
Ich steige die Treppe hinauf, langsam, nachdenklich. Ich wandere durch einen Gang, biege in einen zweiten, der im rechten Winkel dazu abzweigt … Kathrins Zimmer! Darf ich sie stören? Mein Herz klopft. Jahrelang waren wir zusammen, Tage und Nächte hindurch. Aber – seltsam genug! – diese Kathrin Blijner, die sich hinter dieser Türe befindet, ist mir vertraut und fremd zugleich. Ich kenne weder jene, die sie vorgab zu sein, noch jene andere, die sich hinter der Maske verborgen hielt.
Schon damals eine ungewöhnliche Situation, Hektik, Stress, der Wille, seine Pflicht zu tun – und die Zweifel an dem Sinn … dann der Aufenthalt zwischen Vergangenheit und Zukunft, Existenz ohne Gegenwart! Kathrin und ich, das gemeinsame Erlebnis einer Dunkelphase des Bewusstseins. Doch schon, als ich das denke, merke ich, dass es falsch ist. Kein gemeinsames Erlebnis! Jeder für sich allein. Nichts, was verbindet, absolute Abgeschlossenheit, keine Kommunikation, kein Gedanke, der die Leere überbrückt … eher ein Zufall, dass wir es überstanden haben, dass wir erwacht sind, am gleichen Ort, zur gleichen Zeit. Geradeso hätte einer von uns hinaustreiben können, in die Weiten der Ewigkeit.
Von allen Dingen, die jetzt so seltsam anmuten, scheint das das Seltsamste zu sein: dass wir beide leben, existieren. Bringt es uns nahe, oder macht es uns fremd?
Ich habe die Hand erhoben, will klopfen … lasse sie wieder sinken.
Ich drehe mich um, gehe durch den Gang, die Richtung ist gleichgültig …
Ich habe unruhig geschlafen, trotz der ungewohnten Schwärze, die während der Nacht über dem Land liegt, das einsame Gebäude auf der Bergspitze umfängt, durch die Fensterscheiben sickert wie eine Flüssigkeit und das Zimmer überschwemmt.
Ich habe das Licht wieder angedreht, die Dunkelheit, die ich nicht ertragen kann, verscheucht. Sie erinnert mich an eine unendlich lange Zeit …
Ich habe unruhig geschlafen. Ich bin es nicht mehr gewohnt, nichts zu tun. Mir fehlen die Aufgaben, die strenge Zeiteinteilung. Mir fehlt die betäubende Erschöpfung. Kaum noch ein Unterschied zwischen Schlafen und Wachen, eines geht ins andere über. Niemand, der mir sagt, was ich tun muss. Ist es richtig, dass ich hier bin? Warum bin ich dem Ruf gefolgt? Muss ich etwas unternehmen? Benehme ich mich vernünftig? Denke ich logisch?
Ich dusche heiß, mit klarem Wasser, das mit scharfem Druck aus der Brause sprüht. Ich kleide mich an, gehe in den Speisesaal hinunter. Relikte geordneter Tätigkeit, Körperpflege, Muskeltraining, Nahrungsaufnahme …
Im Speisesaal treffe ich Kathrin. Kein Augenblick lang der Gedanke, sie Simone zu nennen.
Ich hole mir ein in Folie verpacktes Frühstück, die Eiweißscheiben in einer Minute durch Infrarot erhitzt. Ich setze mich neben Kathrin, so brauche ich ihr nicht ins Gesicht zu sehen. Während ich esse, verwandelt sich die Frau neben mir: um uns herum die dicht gedrängten Bankreihen der Kantine, an der Wand die Tafeln mit den Lampen – Alarm blau, Alarm gelb, Alarm rot. Die Monitore, über die ständig das Fernsehprogramm abläuft, die Lautsprecher meist klein gedreht, die Stimmen nur als Gemurmel hörbar. Oft genug: Bilder von uns selbst, unsere eigenen Stimmen.
elliot: … ein vernichtungspotenzial, das imstande waere, nordamerika und europa mit einem schlag zu vernichten. raketen, darauf programmiert, unsere elektronische abwehrmauer zu durchbrechen, unsere stuetzpunkte, unsere industriezentren, unsere friedlichen staedte zu zerstoeren. unterseekreuzer, von denen jeder tausende schwarzer, brauner und gelber soldaten fasst, die nur darauf warten, irgendwo an unseren kuesten aufzutauchen, die invasion zu beginnen. es ist unser Land, das sie an sich reissen wollen, es sind unsere menschen, die sie als arbeitskraefte brauchen. ihr eigener weg zum wohlstand hat sie in die irre geleitet, in ihrer verzweiflung sehen sie keinen anderen weg, als uns aus unserer heimat zu vertreiben, die fruechte zu ernten, die wir gesaet haben. seit dem scheitern der friedensverhandlungen, um die wir uns so sehr bemuehen, beobachten wir die entwicklung auf der gegenseite mit steigender sorge. nun ist die zeit vorbei, in der wir untaetig zusehen, wie der schwarze block seinen angriff vorbereitet. die einzige chance zum ueberleben ist es, ihm zuvorzukommen. diese chance haben wir genutzt. vor zwei stunden haben wir unsere truppen in Bewegung gesetzt, ihrer tapferkeit und einsatzfreude ist es zu verdanken, dass ein grosser teil ihrer raketenbasen im ersten ansturm ausser gefecht gesetzt wurde. ihr gegenschlag ist klaeglich gescheitert, nur wenige nuklearbestueckte raketen konnten unsere abwehrmauer durchdringen, nur ein kleiner teil unserer anlagen und staedte wurde getroffen. in dieser stunde rufe ich die vereinigten voelker auf, alle kraft einzusetzen, um unsere gemeinschaft zu retten, gegen den ansturm der horden aus dem sueden standzuhalten. hiermit erklaere ich den krieg: er wird uns den sieg bringen und zum ewigen frieden fuehren.
»Möchtest du eine Aromette?« Kathrin schiebt mir ein Schächtelchen mit den braunen Stäbchen hin.
Ich reagiere mechanisch, greife zu, ziehe die Essenz der würzigen, ätherischen Öle ein. Die Frau, die mich von der Seite anblickt, ist nicht Kathrin. Ich bin irritiert.
Jetzt befinde ich mich wieder in der Gegenwart. Der riesige Saal des Hotels ist leer, in seiner Verlassenheit deprimierend. Kathrin, die neue Kathrin – von der ich, wie mir erst jetzt so recht bewusst wird, überhaupt nichts weiß – blickt noch immer zu mir her. Sie ist jünger als die andere, zarter – ein Wunder nach verlorenen zweihundert Jahren. Oder haben wir die Jahre gewonnen? Damals hatten wir nichts zu verlieren, aber jetzt? Vielleicht ist es ein Gewinn.
»War es Elliot, der … Er hat mich angerufen, dieses Zusammentreffen …«
Ich nicke. Ja, es war Elliot, er rief auch mich an.
»Und die andern?«
»Die andern? Sie sollten hier sein. Auch Elliot fehlt.«
»Vielleicht war es Unsinn, hierher zu kommen. Wenn man es genau überlegt … hat es Sinn, die alten Dinge aufzurühren?«
Kathrin blickt geradeaus, die Augenlider hat sie zusammengekniffen, das trübweiße Licht, das von außen einfällt, macht ihre Pupillen klein.
»Hat es Sinn, was wir tun? Was meinst du?« Sie dreht sich auf dem Stuhl herum, wischt einige Krümel von der Tischplatte. »Ich arbeite in einer Steuerzentrale, bin für die Lufterneuerung verantwortlich, für die Einhaltung der Temperatur. Damit das Leben weitergeht. Wofür?«
Ja, wofür?
»Ich bin gekommen«, sage ich, »weil ich mit der Vergangenheit noch nicht abgeschlossen habe. Ich machte mir Hoffnung … ich weiß nicht, worauf. Ich kann mich nicht in diese Gemeinschaft fügen – nicht, weil mir die Arbeit zu viel würde, nein, das ist es nicht. Diese Menschen, keiner von ihnen ist auf der Erde geboren. Macht das den Unterschied?«
»Vielleicht hast du recht. Wahrscheinlich bin ich aus demselben Grund gekommen, ohne zu wissen, worum es geht. Weißt du etwas darüber?«
Ich schüttele den Kopf. Nein. Ich weiß nichts.
»In den nächsten vier Monaten gibt es keine Möglichkeit, zurückzukehren. Wir werden hierbleiben müssen.« Sie blickt mich an, und ich blicke sie an. Sie ist mir so bekannt, um mir nahezustehen, und so fremd, um mich zu fesseln. Auf einmal sehe ich sie anders. Was bei der Kathrin von früher nie möglich gewesen wäre, wird plötzlich denkbar. Wir sind beide allein hier, die einzigen Menschen auf der Erde. Um uns herum die Kälte, das Eis. Es gibt nichts, das ich aus meinem Innersten heraus so fürchte wie die Kälte. Doch hier drinnen …
Ob sie meine Gedanken errät?
»Die Reise hat mich angestrengt«, sagt sie. »Vielleicht sind es auch andere Dinge, die mich müde machen. Ich bin nicht böse darüber … Zeit haben, sich erholen … Ich gehe mich ausruhen. Wir sehen uns wieder.« Sie nickt mir zu, dreht sich, geht. Einen Moment lang sehe ich sie im Türrahmen wie eine Figur auf einem Bild. Das gedämpfte Licht zeigt sie mir nur verschwommen. Das Letzte, was ich erkenne, ist eine geschmeidige Bewegung, mit der sie sich meinem Blick entzieht.
Ich bringe die Reste unserer Mahlzeit zum Müllschlucker, lasse knisternde Folien und schepperndes Plastikgeschirr hineinfallen.
Was nun? Eine seltsame Unruhe hat mich erfasst. Ich wandere durch das Hotel, steige über Treppen, gehe durch Gänge, als gäbe es hier etwas zu suchen und zu finden … Eine Tür neben der anderen, laufende dreistellige Nummern. Ich öffne eine, das Zimmer leer, aufgeräumt – es sieht so aus wie mein eigenes.
Lange blicke ich zum Fenster hinaus, diese weiße Landschaft deprimiert mich. Ich kehre um, gehe weiter. Ich kenne schon jeden dieser Gänge, bin Dutzende Male hindurchgegangen.
Das Gebäude kommt mir wie ein Gefängnis vor, ich habe das Gefühl zu ersticken – in den letzten Jahren befand ich mich immer nur in geschlossenen Räumen, in den tiefen Etagen der Atomschutzkeller, in den unterirdischen Anlagen der Nachrichtenzentrale, später der Aufenthalt im Spital, einige Wochen Isolation während der Untersuchungshaft. Und dann die Arbeit in jenen fragilen Systemen aus Leichtmetall und Glas, mit denen die Menschen heute dem Weltraum ihre bescheidenen Reservate von Wärme und Luft abtrotzen. Man hat mich nie zu jenen Trupps eingeteilt, die in Schutzanzügen im freien Raum arbeiten, Montage unter Schwerelosigkeit, weitab der Gravitonenplatten. Ich weiß auch nicht, ob ich dazu fähig gewesen wäre. Das ist nicht der unbegrenzte Raum, die Bewegungsfreiheit, wie ich sie mir wünsche.
Und nun eine völlig veränderte Lage: Aufenthalt auf einer verlassenen Bergspitze der vereisten Erde. Gewiss – seit Langem konnte ich mich nicht mehr so ungehindert bewegen wie gerade jetzt. Niemand schreibt mir vor, was ich zu tun habe, niemand hält Türen oder Schleusen verschlossen. Wenn ich will, kann ich hinausgehen, mich der Kälte und dem Sturm aussetzen, dem freien Land aus Eis und Firn, die glatte Oberfläche brüchig, tiefe Klüfte da und dort, Stufen, Abgründe … und doch – es zieht mich nicht hinaus, ich mache keinen Gebrauch von der gewonnenen Freiheit.