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Ein Sarg auf dem Transport durch den Weltraum, Havarie in der Nähe eines verbotenen Planeten, Militärs bei sinnlosen Planspielen, Wissenschaftler, die ihre Ergebnisse systematisch vernichten, und ein zum Sterben verurteilter Unsterblicher – das sind einige Szenenbilder aus dem Roman von Herbert W. Franke. Die Welt, die er beschreibt, könnte ein Gefängnis sein, eine Kaserne oder eine Heilanstalt, auf jeden Fall ist sie ein Albtraum der Irritation, ein Netzwerk aus Täuschung und Intrige. Und wie schon oft in den Geschichten von Franke ist es ein Einzelner, ein Außenseiter, nur zufällig in eine ungewöhnliche Situation geraten, der sie zu verstehen und sich aus ihr zu befreien versucht. »Tod eines Unsterblichen« – schon der Titel deutet das Widersprüchliche an. Die Logik des Absurden. Neben der Konfrontation mit dem Unbekannten, neben dem gedanklichen Experiment, das jede Science-Fiction-Geschichte sein sollte, ist es auch die surrealistische Szenerie, die den Autor an der Science-Fiction besonders anzieht. Aber Herbert W. Franke ist Naturwissenschaftler, Physiker, und das Fantastische für sich ist ihm zu wenig. Was zunächst sinnlos erscheint, entpuppt sich als notwendige Konsequenz der gesellschaftlichen Struktur einer möglichen Zukunft.
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Seitenzahl: 284
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Herbert W. Franke
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke
Band 15
hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch
Herbert W. Franke
TOD EINES UNSTERBLICHEN
Science-Fiction-Roman
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke
Band 15
hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Copyright © 2024 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
www.art-meets-science.io
Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de
Die Originalausgabe ist 1982 im Suhrkamp Verlag erschienen.
Titelbild: Thomas Franke
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
E-Book-Erstellung: global:epropaganda
Verlag
art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
c/o mce mediacomeurope GmbH
Bavariafilmplatz 3
82031 Grünwald
ISBN 978 3 911629 14 0
Der Transfer aus dem Hyperraum hatte begonnen. Das Röhren der Antriebsaggregate war verstummt, die Kapsel bewegte sich nur noch infolge ihrer eigenen Trägheit und näherte sich langsam dem Ende des Korridors.
Arvid warf einen letzten Blick ins Rund der Pilotenkanzel. Die Ortungsanlage war eingeschaltet, doch der Bildschirm zeigte nur ein wirres Kurvennetz, das sich allmählich mehr und mehr verzerrte. Das Hauptlicht war auf die tiefste Stufe getrimmt, der Raum lag in der Dämmerung, in der die Lichter der Armaturen haltlos zu schweben schienen. Das Steuersystem war auf Automatik gestellt, hin und wieder bewegte sich ein Hebel, wanderte ein Zeiger über die Skala. Alle frei beweglichen Gegenstände in der Kapsel waren festgeschnallt, in der Nische an der Seitenwand, durch eine Plastikhülle besonders geschützt und fest mit dem Boden verschraubt, stand der metallene Sarg.
Arvid zog den verspiegelungsfrei geschliffenen Bordglashelm über den Kopf und ließ die Klemmen einrasten. Wie es Vorschrift war, hatte er den Schutzanzug angelegt und sich in die Gurte gebunden. Ein kleines, unscheinbar grünes Lämpchen am unteren Rand der Schalttafel zeigte ihm an, dass das System der Heliumpolster betriebsbereit war; wenn es auch unwahrscheinlich schien, so musste man auf einen Zusammenstoß mit Materie gefasst sein – die für kurze Zeit geöffnete Schleuse zog Masseteilchen mit unwiderstehlicher Kraft an. Auch so kleine, die dem Gravitationsfühler entgingen, konnten gefährlich werden.
Die Flüssigkristallanzeige, die über den Stand des Countdown informierte, lag schon nahe bei null; nur wenige Sekunden fehlten bis zum Durchtritt.
Noch lag draußen vor dem gewölbten Sichtfenster diffuser Perlmuttglanz – die starke Raumkrümmung verwischte jede optische Struktur.
Und dann der Nullpunkt – Landung in einem fernen Winkel des Weltraums!
Erstaunlich, dass es so lautlos vor sich ging! Ein kurzes Flackern, Lichtreflexe, dann plötzlich wieder das harte Helldunkel des dreidimensionalen Kontinuums. Einzelheiten noch nicht erkennbar – parallel zur Horizontale des Bodens liefen bräunlich-bläuliche Streifen über das Sichtfeld, dazwischen Schwarz, das durch eine dünne, gleißende Linie zerschnitten war. Mehrfache Wiederholung eines Bildes wie bei einem schlecht eingestellten Fernsehempfänger. Noch waren sie dem Einfluss der Gravitationslinse nicht völlig entronnen, noch gaukelte sie abstrakte Unwirklichkeit vor. Doch die Streifen wanderten, immer schneller, es wurden weniger, die sich um eine Einschnürung wölbten. Lichtwirbel kreisten um das Zentrum, in denen sich das Bild verschärfte, und plötzlich waren die flackernden Ausläufer verschwunden, nur noch eine einzige Scheibe war übrig geblieben, hellbraun und hellblau schattiert, jetzt als schwebende Kugel zu erkennen: Nathan 4. Rundherum das Schwarz eines atmosphärelosen Himmels, die hellen und ruhigen Punkte der Sterne, dazwischen ein blendendes Licht, das in den Augen schmerzte und Arvid den Blick abwenden ließ: die Sonne dieses abgelegenen Systems.
Damit war die Zeit der Untätigkeit vorbei – neunundvierzig Tage waren es gewesen.
Arvid löste die Gurte, warf einen Blick auf die Schalttafel und legte dann den Helm ab. Er zog auch die Handschuhe aus, ließ aber die übrigen Teile des Schutzanzugs an. Er beugte sich zur Eingabetastatur und tastete einen Befehl ein. Jetzt würde sich zeigen, ob die Ortung gelungen war. Das Liniennetz auf dem Monitor war nun einem dreidimensionalen Koordinatennetz gewichen, in holografischer Darstellung perspektivisch wiedergegeben. Einige farbige Kugeln zeigten die Standorte der Sonne, der Planeten, der Monde an, ein blinkender Punkt markierte jenen der Kapsel. Sie hing unbewegt, wie in einem Spinnennetz gefangen. Der Landung schien nichts im Wege zu stehen. Arvid tippte den Befehl für den automatisch gesteuerten Landeanflug ein. Einige Sekunden ohne Reaktion … Stille, dann ein kaum merklicher Ruck, die Kapsel drehte sich, schwenkte in eine andere Orientierung.
Über den Monitor des Ortungssystems liefen Schwankungen – kurze, zittrige Wellen im Regelmaß der Geometrie. Arvid stellte den Frequenzsucher ein, der grüne Punkt begann über die Skala zu wandern … hielt.
»… Sie haben den Zielpunkt verfehlt. Sie sind nicht im Orbit. Das ist eine Warnung: Sie haben den Zielpunkt verfehlt. Sie sind nicht im Orbit …«
Arvid blickte beunruhigt auf den Monitor, das Bild war wieder ruhig. Auch durch das Sichtfenster nichts Ungewöhnliches zu erkennen: der Planet nun am unteren rechten Rand, die Sonne außerhalb des Gesichtsfelds.
Ein anderer Sender, eine andere Stimme: »Willkommen auf Nathan 4! Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt! Bitte, melden Sie sich bei der Registratur – halten Sie die Papiere bereit!«
Knackende Geräusche aus dem Lautsprecher, dann ging die Stimme in einem Prasseln unter. Die grüne Anzeige des Frequenzsuchers wanderte weiter … fand einen anderen Sender.
»Sperrzone – Aufenthalt verboten! Entfernen Sie sich unverzüglich! Verwenden Sie die Hyperraumschleuse. Das ist ein Befehl: Sperrzone – Aufenthalt verboten! …«
Arvid schüttelte den Kopf. Er hob das Mikrofon an den Mund, schaltete auf »Sendung«.
»Hier Arvid Siger, Transmissionsfähre 5, Kennzahl 16003. Können Sie mich verstehen? Over!«
Keine Reaktion, die Stimme sprach unbeirrt weiter: »… verlassen Sie unverzüglich diesen Distrikt! Sie befinden sich in militärischem Sperrgebiet! Sie machen sich strafbar …«
Arvid versuchte es noch einmal: »Hier Arvid Siger. Ich bin avisiert. Geben Sie Landeerlaubnis! Ist Ihr Peilsender in Funktion? Over!«
Er wartete eine Weile auf Antwort – vergeblich. Dann versuchte er, einen der anderen Sender wiederzufinden … irgendjemand musste ihm doch antworten! Kurze Zeit hörte er Musik, dann eine Art Rezitation in einer Sprache, die er nicht verstand. Folgen wechselnder Töne, kurze Pfeifzeichen – eine codierte Nachricht? Die Stimmen zweier Frauen, die in einer Art Wechselrede Lyrik verlasen. Unwillkürlich dachte Arvid über den Autor nach, doch er fand keine Antwort.
Die Stimmen wurden leiser, unhörbar. Dann wieder die Stimme von vorhin: »Ändern Sie Ihren Kurs! Sie nähern sich einem Meteoritengürtel! Benutzen Sie Ihr Notaggregat! Legen Sie die Schutzanzüge an! Schnallen Sie sich fest! Achtung, Achtung – das ist eine Warnung! …«
Durch das Sichtfenster war kein Anzeichen von Gefahr zu erkennen, doch als Arvids Blick den Monitor streifte, erschrak er: Helle Punkte querten das Bild, so rasch, dass sie als weiße Linien erschienen, nach und nach wurden es mehr, manchmal überdeckten ganze Büschel die Position des Schiffs.
Plötzlich bäumte sich die Fähre auf, eine übermächtige Kraft presste Arvid in den Sitz, für Sekunden riss sein Denken ab – wahrscheinlich infolge der Blutleere in seinem Gehirn. Dann schleuderte das Schiff herum wie von einer riesigen Zentrifuge gepackt – eine schwindelerregende Drehung, die Arvid aber immerhin Zeit gab, den Helm aufzusetzen und sich erneut anzuschnallen. Gerade rechtzeitig, um dem nächsten Richtungswechsel gewachsen zu sein; diesmal schien er auf dem Kopf zu hängen, es riss ihn förmlich aus seinem Sitz, und dann wieder ein jähes Bremsmanöver, eine Drehung, ein Schlag, der Decken und Wände ächzen ließ. Und das Erschreckendste daran: Die Fähre reagierte auf eine Bedrohung, die es nicht gab. Der Sternenhimmel draußen ruhig und zeitlos, der Planet in sanftem Glanz – keine Rede von Meteoriten oder anderen dahinfliegenden Teilen.
Noch immer das wandernde grüne Licht des Frequenzsuchers. Dann die schon bekannte Stimme: »Sie fallen zu rasch! Benutzen Sie die Bremsdüsen! Das ist eine Warnung! Die Versicherung kommt nicht für selbst verschuldete Schäden auf!«
Die Stimme wurde undeutlich, verlor sich in einem Krachen und Rieseln, dann ertönte überlaut die andere: »Sie befinden sich in militärischem Sperrgebiet! Landung streng verboten! Nichtbefolgung wird mit Zwangsarbeit nicht unter fünf Jahren bestraft!«
Arvid hörte die Stimmen, doch den Sinn erfasste er nicht mehr. Wie ein lebloses Bündel hing er in den Gurten, durch die Bewegungsänderungen des Schiffs in wechselnde Richtungen gezogen, dann presste ihn wieder die unsichtbare Faust der Trägheit in die Polsterung, die – bis an die Grenzen der Belastbarkeit beansprucht – hart wie Stahl geworden war.
Die Sterne draußen führten einen wilden Tanz auf, manchmal schoss der Planet wie eine sanfte Entladung über das Bild, manchmal auch der grelle Blitz der Sonne. Allmählich stellten sich die chaotischen Schwenkbewegungen auf eine Vorzugsrichtung ein: senkrecht von unten nach oben. Ein rauschendes Geräusch klang auf, eine diffuse Helle verbreitete sich über den Sichtschirm und ließ die Sterne verblassen; zuerst blau, dann heller und heller, bis ein leuchtendes Weiß die Bildfläche erfüllte. Und dann hob sich ein tiefbraun verschattetes Kreissegment höher, schob das weiße Licht beiseite und füllte den Bildschirm aus. Auf einmal waren wieder Sterne zu erkennen.
Doch von alledem merkte Arvid nichts; bewusstlos lag er in seinem Sitz.
Der Sand, durch den Wind zu Wellen geformt, breitete sich zwischen den Klippen aus wie eine Flüssigkeit. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass die Oberfläche ständig in Bewegung war; der Atmosphärenstrom, durch die steil aufragenden Felstürme in Tausende dahinhuschende Wirbel zerschnitten, hob die winzigen glitzernden Körnchen auf, trieb sie zu kleinen Sprüngen, hob sie empor, ließ sie wieder fallen. So war der Boden ständig unter einer diffusen Decke verborgen, ein Überzug aus Nebel, austretender Dampf knapp vor dem Sieden.
Die Sonne stand hoch an einem ins Grüne verfärbten Himmel. Ihr Glanz reichte aus, um die Sterne zu überblenden; stattdessen hingen die Sicheln von drei orangefarbenen Monden ziemlich tief über dem Horizont – entlang einer Bogenlinie, die auch die Sonne miteinbezog.
Das orangefarbene Licht malte die Tiefe des Kessels hell und warm aus, doch es reichte nicht, um die dunklen Kolosse der Klippen zu erhellen; die der Sonne zugewandten Flächen waren nur mit einem schwachen rötlichen Hauch überzogen, alle anderen Partien steckten tief in Schwarz. Und ebenso schwarz waren die langen Schatten, deren Zackenlinie allmählich tiefer in die Ebene hineinstach.
Sekundenlang war dieses Bild gestört gewesen – ein dumpfes Sausen, der hohle Knall des Aufpralls – eine Staubwolke, die den Ort des Geschehens verbarg. Allmählich senkte sie sich, enthüllte das gestrandete Schiff, das einen kleinen Krater gebildet hatte und überdies tief in die weichen Massen eingedrungen war. Es lag schief, zwei der Landebeine waren gebrochen, über die Bodenfläche lief ein breiter Riss. Der Wind fing sich in der frisch ausgehobenen Grube, trug glitzernde Körnchen heran, streute sie über den fremden, metallischen Körper. Der Abhang geriet in Bewegung, Sand rieselte herab, grub den Rumpf tiefer ein.
Da und dort trauten sich verschreckte Tiere wieder an die Oberfläche – reptilhafte Köpfe erhoben sich über den Boden, spitze Zungen vibrierten. Zwei Geschöpfe mit vielen ineinander verkeilten Panzersegmenten wateten auf einem Dutzend platter Füße zum Kraterrand, senkten ihr Stirnauge dem unbekannten Gebilde dort unten entgegen. Dann, wie auf ein Kommando, wandten sie sich ab, liefen, hin und wieder haltend und um sich äugend, durch den Kessel, auf die nächste Klippe zu.
An einigen Plätzen begann der Sand zu rieseln, kleine zusammengefaltete Schirme schoben sich empor, entfalteten sich zu Blättern, die sich der Sonne entgegen wanden. Durch kleine zitternde Bewegungen schüttelten sie die Sandkörnchen ab.
Die Sonne lag nun schon tief, knapp über dem schroffen Rand der Felsgebilde. Die Monde hatten ihre Positionen gewechselt, zwei lagen enger beisammen, einer hatte sich merklich entfernt und dabei seine Sichel zu einem vollen Kreis ergänzt. Die Farbe des Himmels war nun ein tiefes Azur, um die Sonne herum verbreiteten sich orangefarbene, gelbe und grüne Tinten.
Das Raumschiff, ein Fremdkörper in dieser Landschaft, war nun schon halb von Sand bedeckt und ragte nur noch wenig über den Boden hinaus. Der Aufbau seines Kanzelraums, die Peilantenne und der Gravitationsfühler warfen einen lang gezogenen, bizarren Schatten. Nichts rührte sich, nur ein automatischer Sender strahlte in kurzen Abständen ein sich stetig wiederholendes Signal aus, elektrische Wellen, die sich rundum an den Klippen brachen und unsichtbare Echos warfen.
Dieselbe Gegend, doch ein anderes Bild: Nacht. Der Kessel nur matt beleuchtet, ein silbernes Regen darüber. Vom Raumschiff ragte nur noch ein Teil der Kanzel aus dem Sand heraus, im Glas spiegelten sich Ausschnitte des Himmels.
Die Klippen noch dunkler als am Tag – ein tiefschwarzer, strukturloser Wall, Bollwerk gegen den lichtüberfluteten Himmel. Ansammlungen von Sternen, fremdartige Gruppierungen, an einer Seite ein tiefes, sternfreies Loch. Mehrere Monde, zwei davon groß, den Schauplatz beherrschend, andere – mindestens ein halbes Dutzend – klein, kaum von den helleren Sternen zu unterscheiden. Das Besondere an diesem Schauspiel ein Schwarm von gelb schimmernden Brocken, wie aus einer riesenhaften säenden Hand in einer Kreisbewegung in den Himmel gestreut. Manche nur klein, nahezu punktförmig, nur in der Gruppierung bemerkenswert; andere so groß, dass man ihre langsame Drehung beobachten konnte, das wechselnde Spiel des Lichts auf aufgebrochenen Flächen, glänzende Reflexe, Abtauchen in Dunkelheit.
Noch immer das wirbelnde Gas, in der Bühne des Kessels gefangen, das leise Rauschen und Klingeln der sich aneinander reibenden Sandkörner.
In der Ferne, mitten aus dem Schwarz der Klippen heraus, ein bläulicher Schein, die blendenden Augen von Lampen, die tastenden Lichtkegel von Scheinwerfern. Ein ungewöhnliches, den Frieden störendes Geräusch, Heulen eines Antriebs, Schleifen von Kettenrädern.
Die Scheinwerfer huschten über die Ebene, hafteten kurz an den ihrer Dunkelheit entrissenen Felswänden, bewegten sich weiter, ließen noch schwärzere Löcher zurück … Dann berührten sie die Kanzel des Raumschiffs, irrten für Sekunden ab, kehrten wieder. Nun lag das Licht auf der Kuppel, als wäre es fest damit verbunden, ließ das Borglas weiß aufblinken, das Netzwerk des Rahmens schwarze Schatten werfen …
Das Kettenfahrzeug hielt dicht am nun nahezu vergrabenen Raumschiff. Ein Arm schwenkte aus, die Öffnung eines sich gegen das Ende zu verengenden Rohres richtete sich auf den Fremdkörper im Sand. Ein grelles Geräusch wie von einer Sirene – dann wirbelte eine Wolke auf. Der Luftstrahl des Gebläses strich den Boden entlang, schleuderte die Sandmassen hinweg, erzeugte einen ständig wechselnden Bogen ausgeworfener Materie. Die Scheinwerfer, erbarmungslos in unmittelbarer Nähe, warfen ihr bläuliches Licht fast körperhaft hinaus – die fortgerissenen Sandteilchen eine illuminierte Fontäne, prasselnd wie ein durch Hochspannung angeregter Lichtbogen.
Es dauerte nur kurze Zeit, dann war das Raumschiff aus seinem Grab befreit. Der Lärm des Gebläses erstarb, die Fontäne sank in sich zusammen – die plötzliche Ruhe wirkte geradezu beängstigend. Vom Raupenfahrzeug hob sich nun ein Deckel, eine Leiter entfaltete sich wie ein Fächer. An der Öffnung erschienen einige dunkle Gestalten, ein kurzes Rekognoszieren, dann bewegten sie sich behänd über die Sprossen hinunter, andere folgten – jetzt waren es acht, zehn …
Mit Werkzeugen machten sie sich an der Luke zu schaffen, es verging nicht mehr als eine Minute, als diese mit einem wehen Quietschlaut zur Seite schwang.
Eine Gruppe der zierlichen Gestalten – bedeutend kleiner als Menschen – hatte das Raumschiff betreten, kam bald wieder zum Vorschein. Vier von ihnen trugen Arvid – ein lebloser, schlapper Menschenleib in einem unförmigen Raumanzug –, vier weitere schleppten den Sarg. Sie steckten einen Haken in den Ring, der hinten am Kragen des Oberteils befestigt war, ein Kran hievte den Ohnmächtigen ins Innere des Geländewagens. Unmittelbar danach folgte der Sarg, schwerfällig in seiner Halterung schwankend, schiefgestellt, um von oben in die Öffnung gelotst zu werden. Die letzte der dunklen Gestalten zog sich ins Innere zurück, der Deckel klappte zu. Knirschen der Ketten, zwei Raupen in gegenläufiger Bewegung, dann ein Ruck – Umschalten in den Parallelgang – die Scheinwerfer krallten sich an der tief eingekerbten Spur fest, die beim Herweg entstanden war. Auf demselben Weg ging es zurück.
Der rechteckige Ausschnitt des Himmels an der Decke wurde schmaler, dann schloss sich das Kuppeldach. Der Innenraum durch eine Reihe kugelförmiger Nuklearlampen beleuchtet. Mehrere Plattformen, dazwischen Brücken, Treppen. Ein großes Podest, von einem komplizierten Flechtwerk aus Stützen getragen, senkte sich langsam in die Tiefe. Von einer Wandseite her schob sich eine Brücke vor. Nur wenige Sekunden, nachdem die Plattform zur Ruhe kam, klinkten die Haltezapfen der Brücke in die Ösen. Der Weg war geschlossen, die Verbindung hergestellt.
Auf dem Podest stand eine Transportfähre, der bauchige Leib unmittelbar auf dem Boden anliegend, die Landebeine hochgespreizt – sie erinnerte an ein Insekt, eine Heuschrecke.
Über die Brücke liefen einige Androiden, die kleinen, aber kräftigen Diener des Menschen, wegen ihrer Anpassungsfähigkeit und Zähigkeit gerade im Weltraum unentbehrlich. Die gedrungenen Körper haarloser Affen, die auswechselbaren Köpfe mit der servoelektrischen Steuerung. Sie klappten die Flügeltür des Containers auf, befestigten eine Überbrückungsschwelle für die niedrige Stufe – aus dem Inneren glitt das Raupenfahrzeug heraus, rollte über die Brücke, bog scharf links ab und hielt schließlich vor einem nischenartig in die Wand des Hangars getriebenen Hallenraum. Aus dem Hintergrund lösten sich einige menschliche Gestalten in Uniformen, traten näher. Das Raupenfahrzeug blieb vor ihnen stehen, der Deckel hob sich, der Kranhaken senkte sich hinein, und kurze Zeit darauf erschien der daran pendelnde Körper Arvids. Er wurde von einigen Androiden in Empfang genommen, die lautlos aufgetaucht waren. Sie hielten ihn in aufrechter Haltung fest, den drei Männern zugewandt, als wollten sie ihn zur Begutachtung vorführen. Einer von ihnen, mit einem roten Kreuz auf weißem Grund auf seiner Uniformjacke, trat näher, versuchte durch das Glas hindurch Arvids Gesicht zu erkennen. »Nehmt ihm den Helm ab!«
Die Androiden folgten ihm – Arvid hatte nun die Augen offen, doch sein Gesicht war leer, der Mund kraftlos geöffnet. Auf ein Zeichen hin führten ihn die Androiden zu einer Metallbank an der Wand. Die drei Männer folgten ihm.
Während ihn der Sanitäter untersuchte, brachten sechs weitere Androiden den sargähnlichen Metallzylinder angeschleppt, stellten ihn neben der Bank ab.
Der Sanitäter richtete sich auf, wandte sich an die anderen beiden Männer. »Nur etwas benommen, keine Verletzungen.« Aus einer Sprühdose blies er ein Aerosol über Arvids Gesicht. Abwehrend hob dieser die Arme, versuchte die Hände vor die Augen zu halten, doch er hatte nicht genügend Kraft, der schwere Anzug hinderte ihn, die Hände in den Handschuhen sahen aus wie leblose Anhängsel.
Auf einen Wink des Sanitäters befreiten die Androiden Arvid auch vom übrigen Anzug. Er sank wieder in liegende Haltung, sein Gesicht zuckte, dann strafften sich seine Muskeln, man sah ihm die Anstrengung an, er richtete sich auf, versuchte aufzustehen … der Sanitäter drückte ihn auf die Bank zurück.
Arvid bewegte den Mund, doch zunächst gelang es ihm noch nicht, zusammenhängend zu sprechen. Matt lehnte er sich zurück, ruhte sich noch ein wenig aus – sein Atem ging langsam und schwer.
»Mein Name ist Arvid Siger«, sagte er.
Er bemühte sich nicht nur, die Kontrolle über seine Sprache wiederzugewinnen, sondern auch, auf die ungewohnte Situation sachlich zu reagieren. Er blickte um sich herum, in die dämmrig ausgeleuchtete, leere Halle hinein, die vom Licht der Nuklearlampen nicht mehr erreicht wurde. Stattdessen brannten in Wandhalterungen einige Fluoreszenzröhren.
»Ich komme von der Erde, wurde hierher gesandt. Man erwartet mich.«
Ein anderer Mann, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, machte durch eine Handbewegung auf sich aufmerksam.
»Davon ist uns nichts bekannt. Können Sie sich identifizieren?« Durch einige Streifen auf den Schulterstücken wurde sein Rang ausgewiesen – offenbar war er Offizier.
Ausweis? Arvid reagierte mechanisch, er zog den Reißverschluss seiner Jacke ein wenig herunter, nestelte einen flachen Transparentumschlag hervor, der an einem Leichtmetallkettchen befestigt war. Er öffnete ihn, zog eine Magnetkarte heraus, reichte sie dem Offizier. Dieser holte sein Flüssigkristall-Taschendisplay aus der Jacke und steckte die Karte hinein. Er blickte auf den auf der Sichtfläche erschienenen Schriftzug, dann drehte er den Rahmen um, sodass ihn zuerst der Sanitäter, dann auch Arvid lesen konnte: NO IDENTIFICATION.
Der Offizier wandte sich wieder an Arvid. »Seltsam! Wir werden Ihren Fall prüfen.« Er überlegte kurz, dann fiel sein Blick auf den Metallsarg, und er zeigte darauf. »Was befindet sich hier drin?«
Unwillkürlich drehte sich Arvid herum – der Anblick des Behälters schien Erinnerungen in ihm wachzurufen, offenbar hatte er wieder ein Stück mehr in die Wirklichkeit zurückgefunden.
»Hören Sie, es muss sich um ein Missverständnis handeln.« Er versuchte aufzustehen, stützte sich mit den Händen – es gelang ihm. Er stand zwar etwas schwankend, aber er stand. »Bin ich hier nicht auf Nathan 4? Ich möchte Professor Berthé sprechen.«
Der Offizier musterte ihn kurz und kalt, dann wandte er sich an den dritten Mann, seinen Rangabzeichen nach ein Unteroffizier. »Öffnen Sie den Behälter!«
»Nein!« Arvid trat dem Soldaten entgegen, der dem Befehl seines Vorgesetzten zu folgen versuchte, packte ihn am Arm. »Das dürfen Sie nicht!«
Obwohl ihn der Unteroffizier mühelos abschüttelte, huschten die Androiden heran, hielten ihn fest.
»Das kann ich nicht zulassen! Sie bringen ihn in Gefahr!« Er blickte dem Offizier ins Gesicht, erkannte, dass sein Protest sinnlos war. Trotzdem sprach er weiter, resignierend: »Sie bringen ihn in Gefahr, ich kann es nicht zulassen.«
Der Offizier beobachtete seinen Untergebenen. Ohne den Blick abzuwenden, herrschte er Arvid an: »Schweigen Sie!«
Die Szenerie eines Theaters: Ausblick in die Halle des Hangars, einzelne Plattformen, durch Abgründe getrennt, Brücken, Treppen. Die trostlos erleuchtete Halle, der Unteroffizier, der Sanitäter. Die starrgesichtigen Androiden mit ihren Metallköpfen, die Arvid immer noch festhielten, obwohl er den Widerstand aufgegeben hatte. Dessen Schutzanzug, achtlos auf den Boden geworfen, durch die Steifheit der mehrschichtigen Hülle straff gehalten, als wäre noch immer eine menschliche Gestalt darin verborgen. Der Unteroffizier, der nun den Deckel hob – ein leises Pfeifen, als ein wenig Luft hineinströmte. In dem zylindrischen Metallbehälter lag ein innerer Glaszylinder, darin ein in einen weißen Pyjama gekleideter Mann. Die Augen geschlossen, das Gesicht bleich, dessen größter Teil unter Platten, Schläuchen, Klemmen verborgen, über den Augen Schutzdeckel aus bläulichem Glas, die Ohren durch Klappen geschlossen, an Kopfhörer erinnernd, Schläuche, die in Mund und Nase führen.
»Es ist Professor Jacobson, der bekannte Wissenschaftler«, sagte Arvid, nun wieder gefasst. »Er leidet an einem Defekt des Zellstoffwechsels. Man hat mir gesagt, dass er nur hier geheilt werden kann – deshalb sollte ich ihn nach Nathan 4 bringen. Bin ich hier auf Nathan 4?«
Der Offizier blickte ihn unschlüssig an. »Ich bin nicht befugt, Ihnen Auskünfte zu geben.«
Arvid merkte, dass er sich rasch erholte, dass seine Kräfte wiederkehrten, dass er wieder er selbst wurde. Im selben Moment spürte er auch Schmerz – an beiden Knien schien etwas nicht in Ordnung zu sein, auch die Schulter war geprellt. Aber der Schmerz war erträglich, und er nahm ihn als Signal dafür, dass er nicht mehr willenloses Werkzeug in den Händen dieser Männer war.
»Ich befinde mich hier in offizieller Mission der Vereinten Nationen. Ich bin bei Professor Berthé angemeldet. Wo finde ich ihn?«
Der Offizier stand ein wenig zusammengekrümmt da, blickte Arvid von unten herauf an. Ein Moment der Unsicherheit? Der Sanitäter ohne Reaktion, der Unteroffizier in devoter Haltung, ohne eigene Meinung. Der Offizier richtete sich wieder auf.
»Ich kenne keinen Professor Jacobson. Ich werde der Sache nachgehen. Unteroffizier – führen Sie Herrn Siger in eine Zelle!«
Die Androiden ließen Arvid los, dagegen ergriff ihn der Unteroffizier beim Arm und führte ihn fort. Währenddessen stand der Sanitäter nachdenklich vor dem Zylinder, blickte auf den Mann, der darin lag, als versuchte er, an den Klemmen, Röhren und Platten vorbeizusehen, in diesem Gesicht zu lesen, das, so starr und entstellt es schien, doch irgendeine Erinnerung in ihm wachrief.
Lange, leere Gänge, endlos. Eine Biegung, eine zweite, wieder eine lange, gerade Strecke. Boden, Wände und Decke aus matt glänzendem Metall, da und dort eine Tür, in regelmäßigen Abständen Lampen. Ein Strang aus grellfarbenen Röhren, an einer Wandhalterung knapp unterhalb der Decke befestigt. Gelegentlich wechselte er, scheinbar grundlos, von der rechten zur linken Seite und umgekehrt. Die Schritte hallten überlaut.
Zwei- oder dreimal kam ihnen ein Soldat entgegen, ein ausdrucksloser Gruß, flüchtiges Heben der Hand des Vorgesetzten, schon vergessen. Lautlos hinter ihnen sechs Androiden, im Hintergrund, als wenn sie gar nicht da wären. Einmal lief ihnen auch ein Trupp von drei Androiden entgegen, ohne dass der Unteroffizier auswich – sie kamen dicht an der Wand vorbei, ohne ihre Schritte zu verlangsamen.
Fünf Minuten, zehn Minuten? – Sie erreichten eine Erweiterung des Gangs, an der Wand eine Reihe von Türöffnungen, eine dicht an der anderen. Der Unteroffizier griff in die Tasche, hob ein magnetisiertes Plättchen zum Schloss, steckte es in den Schlitz – die Tür reagierte unmittelbar, fuhr automatisch beiseite. Dahinter kam ein Raum zum Vorschein, einige einfache Möbelstücke, ein Bett, ein Sessel, ein Schrank. Der Unteroffizier schob Arvid hinein, blieb selbst an der Türschwelle stehen.
Arvid tat einen Schritt, blieb dann ebenfalls stehen, blickte sich um. Die Wand schmutzig gelb, in einer Ecke ein Waschbecken, ein Klosett. »Bin ich eingesperrt?«
Der Unteroffizier drehte sich um, hob die Hand zum Schloss. »Bin ich eingesperrt?«, fragte Arvid, nun sehr bestimmt.
Unwillkürlich zuckte der Unteroffizier zusammen, erstarrte in seiner Bewegung. »Eingesperrt? Ich habe keine Anweisung, darüber zu sprechen.«
»Darf ich diese … Zelle verlassen?«
»Nein, Sie dürfen die Zelle nicht verlassen.«
Als er das magnetisierte Plättchen wieder in den Schlitz schieben wollte, trat Arvid vor und stellte den Fuß auf die Schiene, in der sich die Gleittür bewegte. Der Unteroffizier blickte kurz zu den Androiden, doch ehe er einen Befehl geben konnte, fragte Arvid noch einmal, jetzt sehr erregt: »Was ist hier eigentlich los? Wurde der Planet vom Militär besetzt?«
»Sie scheinen nicht zu wissen, dass wir uns in einem Krieg befinden.«
»… in einem Krieg?« Arvid musste diese Information erst verarbeiten. »Was für ein Krieg? Ist das nicht die Kolonie der Wissenschaftler? Nathan 4?«
»Gewiss, es ist Nathan 4«, antwortete der Unteroffizier. »Es ist unsere Aufgabe, den Planeten zu verteidigen. Die Wissenschaftler … – gewiss, wir müssen sie beschützen. Aber sie spielen keine Rolle, verstehen Sie? Dieser Planet ist wichtig, strategisch wichtig. Lichtjahre von der Erde entfernt, doch der wichtigste Außenposten der menschlichen Kultur.«
Arvid stand immer noch an der Tür, doch den Fuß hatte er von der Schiene zurückgezogen. »Ich wusste nichts von einem Krieg. Man hat mir nichts gesagt. Seit wann wird hier gekämpft?«
Der Unteroffizier dachte nach. »Seit zweihundert … oder seit dreihundert Jahren. Vielleicht sogar mehr. Geheimhaltung, wissen Sie?«
»Ja, aber …« Arvid stockte. Es musste ein ungeheures Missverständnis gegeben haben. »Ich habe doch klare Anweisungen bekommen. Meine Aufgabe … Professor Berthé erwartet mich.«
»Niemand erwartet Sie«, sagte der Unteroffizier. »Sie materialisierten mitten im Lunoidenring, viel zu nahe am Planeten. Sie haben kein gültiges Codesignal gegeben. Sie können von Glück reden, dass Sie heil heruntergekommen sind.«
»Aber man hat doch meine Ankunft registriert! Von einer Station wurde ich sogar willkommen geheißen. Warum hat man mir keinen Peilstrahl eingerichtet?«
Die Miene des Unteroffiziers wurde wieder undurchdringlich, ihm war anzusehen, dass er das Gespräch beenden wollte. »Sender gibt es viele, damit habe ich nichts zu tun. Sie sind unter verdächtigen Umständen hier angekommen, wer sagt mir, dass Sie kein Spion sind. Ich habe keinen Anlass, mich mit Ihnen zu unterhalten.«
Das Kabinett, in dem Arvid nun stand, war ein wenig heller beleuchtet als der Gang, und so erkannte er den Unteroffizier und die unbewegt hinter ihm stehenden und ihn anstarrenden Androiden nur undeutlich – Schemen ohne Fleisch und Blut, Wesen, menschlicher Verständigung unzugänglich.
Inzwischen hob der Unteroffizier endgültig das Codeplättchen und steckte es mit einer entschiedenen Handbewegung ein. Einen Moment noch blickten sich die beiden ins Gesicht, dann ruckte die Tür an und schob sich als Wand dazwischen.
Wieder befand er sich in den Gängen, wurde geführt, dirigiert, geschoben.
Gegen die Androiden gab es keinen Widerstand – ihre Kräfte übertrafen die der Menschen. Das lag ebenso an ihrer Konzeption wie die Tatsache, dass sie ihrer Befehlsgewalt unwiderstehlich unterworfen waren. Aber wessen Befehlsgewalt? Arvid hatte es versucht, er hatte verlangt, freigelassen zu werden, doch seine Forderungen waren ohne Erfolg geblieben. Hatten sie ihn nicht verstanden? Waren sie auf andere Stimmbilder konditioniert? Was ging hinter diesen metallenen Stirnen vor? Sinnlos, danach zu fragen.
Nun war er in einem anderen Raum, fensterlos wie alle Räume, die er bisher gesehen hatte. Befand er sich unter der Erde? Es war anzunehmen. Ein Krieg, Auseinandersetzungen, Angriffe, Bomben … – war das der Grund dafür, dass sich die Menschen unter die Oberfläche zurückgezogen hatten? Oder bot dieser Planet keinen landschaftlichen Reiz, dessen Anblick sich lohnte? Er war ohnmächtig gewesen, wusste nur, dass sein Raumschiff beim Aufprall beschädigt worden war … dann nichts mehr …
Und nun diese Situation, dieser Raum …
Kunststoffüberzogene Stahlrohrsessel, zwei lange, schmale Tische, an der Wand mehrere Flachschirme, opalfarben schillernd, vorderhand noch ohne Bild.
Arvid lag auf einer schiefgestellten Schaumstoffunterlage, leicht aufgerichtet, das Kinn in einen Bügel gestützt. Seine seitwärts gebreiteten Arme waren an Stativen befestigt, seine Hände waren zu Fäusten zusammengebunden, darin lagen kleine säulenförmige Metallstücke, von denen Leitungen zu einem Schaltgerät liefen. An einigen Stellen seines Hinterkopfes hatte man das Haar abrasiert und Elektroden aufgeklebt; auch sie waren durch Leitungen mit der Schaltanlage verbunden. Vor seinem Gesicht stand ein Mikrofon, und davor saßen auf einigen wahllos zurechtgerückten Stühlen der Offizier, der Sanitäter und einige weitere Mitarbeiter in den mit roten Kreuzen versehenen Uniformen. Einer der Männer hatte direkt am Pult Platz genommen, und nun schaltete er auf einen Wink des Offiziers die Anlage ein. Auf den Bildschirmen erschienen farbige Linien, die meisten in heftiger Wellenbewegung; nur einer, der größte der Monitore, blieb leer.
»Von wem wurden Sie hierher geschickt?«, fragte der Offizier. Er sprach betont akzentuiert.
Arvid zögerte, doch er war sich im Klaren darüber, dass es keinen Sinn hatte, sich diesem Verhör zu entziehen. Und es gab auch keinen Grund dazu.
»Von den Vereinten Nationen. Internationale Gesundheitsbehörde – ich sagte es doch schon!«
Als er zu sprechen begann, begannen zwei bisher ruhige Linien auf einem der Anzeigegeräte mit heftig schlängelnden Bewegungen. Es war nahezu ein Tanz – das Schwingen der einen Linie auf jenes der anderen abgestimmt. Manchmal berührten oder überschnitten sie sich, und dann ertönte ein leise schnarrendes Signal. Arvid registrierte seine Umgebung mit allen Einzelheiten, und er wunderte sich darüber, dass er seine Situation so gelassen hinnehmen konnte.
»Ich wurde avisiert – Professor Berthé erwartet mich. Der Empfang des Funkspruchs wurde bestätigt, ich war selbst dabei.«
Der Offizier und der Sanitäter blickten nicht auf Arvid, sondern auf die Bildschirme. Auf einigen erschienen grüne und rote Zahlenwerte, auf einem anderen war eine Messskala nachgebildet, über die eine Anzeigelinie schwankte. Einen Moment lang war es still – Arvid hatte den Eindruck, dass die beiden Männer keine Ahnung hatten, was die Wellenlinien und Anzeigen auf den Monitoren bedeuteten.
Der Offizier drehte sich plötzlich um, als hätte ihn etwas berührt. »Ein Funkspruch? Von wem unterzeichnet?«
»Von Direktor Bronstein.«
Der Offizier wandte sich wieder den Monitoren zu. »Direktor Bronstein ist für uns nicht maßgebend. Wir haben hier eine militärische Mission zu erfüllen und unterstehen der Generalität.«
Er drückte einen Schaltknopf … War es ein Signal? – ein Befehl? Die stehenden Männer im Raum wandten sich dem großen Bildschirm zu, nahmen Haltung an, auch der Offizier und der Sanitäter standen auf. Über den Bildschirm ging ein Flattern, aus dem opalisierenden Grau heraus wuchs der Kopf eines älteren Mannes mit energischen Zügen und eisgrauem, kurz geschorenem Haar. Er trug ein altmodisches Monokel, auf dem Kopf, tief herabgezogen, saß eine Schirmmütze.
»Sondereinsatzgruppe 2 beim Verhör des Verdächtigen«, meldete der Offizier.
Einen Moment lang geschah nichts, eine fast peinliche Pause, dann ein leichtes Kopfnicken vom Bildschirm. »In Ordnung, machen Sie weiter!«
»Jawohl, Herr General!«
Das Bild auf dem Schirm verlor sich im Grau, nur noch die Andeutung eines negativen Nachbilds blieb auf der Scheibe.
»Sehen Sie!«, sagte der Offizier, als hätte er den Beweis der Berechtigung seiner Maßnahmen geliefert. Er setzte sich wieder, wippte mit dem Stuhl.
»Hören Sie!«, sagte Arvid. »Die Situation ist mir zwar unverständlich, doch zweifle ich nicht daran, dass Sie sich bemühen, das Richtige zu tun. Ich sage Ihnen die Wahrheit, will nichts verschweigen. Ich habe Anweisungen bekommen, und ich muss alles tun, um ihnen gerecht zu werden. Schließlich arbeite ich im Dienst der Vereinten Nationen, der Sie ja auch unterstehen.«
Der Offizier reagierte nicht – er starrte auf das Spiel der Linien und Zeiger, als bekäme er hier Auskunft über die Lösung schwieriger Probleme.
»Von einer militärischen Mission wusste ich nichts«, setzte Arvid fort. »Ich dachte, das sei eine friedliche Welt, ein Arbeitsplatz für die besten Wissenschaftler der Menschheit. Ein Institut für fortgeschrittene Studien. Ich selbst bin Neurologe, beschäftige mich mit Zellregeneration.«
Der Offizier hob den Kopf, fixierte einen Monitor. Auf diesem bewegten sich verschiedene gerade Linien von einem Zentrum aus sternförmig in verschiedene Richtungen.
»Sie sind Neurologe? Sie beschäftigen sich mit Zellregeneration?«
»Ja, ich sollte hier meine Studien fortsetzen – das war der Sinn meiner Reise. Man hat mir gesagt, dass man auf diesem Gebiet hier schon weit fortgeschritten sei. Darum habe ich auch Doktor Jacobson mitgebracht – er sollte schnellstens behandelt werden.«
Bisher hatte sich Arvid mühsam um Fassung bemüht, nun aber klang seine Erregung durch. »… und deshalb verlange ich, dass man mich sofort zu den Wissenschaftlern bringt!«
»… die besten Wissenschaftler der Menschheit? … von einer militärischen Mission nichts gehört?«
Arvid war noch immer erregt, doch nun mischte sich wieder Resignation in seine Stimme.
»Doktor Jacobson ist eine wichtige Persönlichkeit, der führende Physiker unserer Zeit. Es ist außerordentlich wichtig – für die gesamte Menschheit! –, dass er wieder gesund wird. Hier, auf Nathan 4, so hat man mir gesagt, besteht die Möglichkeit, ihn zu heilen.«
Wieder war es eine Weile still, bis auf die undefinierbaren Geräusche der Apparatur: leise Schnarrtöne aus dem Lautsprecher, Knistern wie von Funken, das dumpfe Summen der Kühlanlage. Aus einer gitterverschlossenen Öffnung kam ein kühler Hauch, umgewälzte Luft, ganz leicht nach ranzigem Öl riechend.
Obwohl ihn zu frösteln schien, wischte sich der Offizier mit dem Taschentuch über die Stirn. Er legte es sorgsam wieder zusammen, steckte es in die Tasche, dann griff er zum Mikrofon: »Lassen Sie den Behälter hereinbringen!«
Wieder mehrere Minuten Wartezeit – der Offizier, unruhig auf seinem Stuhl wippend, der Sanitäter wie im Schlaf erstarrt, Arvid, auf dem feuchtklebrigen Schaumstoff liegend … die gespannte Situation eines Verhörs, doch nun mischte sich Langeweile hinein.
Dann öffnete sich die Tür, glitt quietschend über die Bodenschiene, zwei Androiden schoben einen niedrigen Wagen herein, darauf der Metallzylinder mit dem Physiker. Sie rollten ihn in die Mitte des Raums, traten zurück.
Der Offizier drehte seinen Sessel herum, der Sanitäter stand auf, öffnete den Deckel. Beide starrten in das bleiche, unter dem Versorgungssystem halb verborgene Gesicht des Bewusstlosen.
»Kälteschlaf«, sagte der Sanitäter. »In diesem Zustand kann er beliebig lange bleiben. Kein Grund zur Eile.«