SPHINX_2 - Herbert W. Franke - E-Book

SPHINX_2 E-Book

Herbert W. Franke

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Beschreibung

Die Welt ist zu weiten Teilen unbewohnbar geworden, die Menschheit teilt sich auf in die weniger privilegierten Mitglieder der Allianz der freien Nationen und die reichen Bewohner der Union unabhängiger Stadtstaaten: Sie leben unter schützenden Kuppeln, in denen Gewebekulturen und Zuchtautomaten für die Ernährung zuständig sind und virtuelle Spaziergänge, Emotionsboxen und Parasex für Abwechslung sorgen. Der junge Wissenschaftler Gareth wundert sich sehr, als er aus heiterem Himmel Besuch von einem Vertreter der »Gesellschaft für sanften Selbstmord« erhält. Und seine Verwunderung wird zur Panik, als man ihm suggeriert, dass er an Lungenkrebs leide. Es dauert eine ganze Weile, bis er herausfindet, was man eigentlich mit ihm vorhat ... Ein ungewöhnlich spannender Roman über Genforschung, Klonen und eine skrupellose Wissenschaft. Die Warnung des wohl bekanntesten deutschen Scence-Fiction-Autors vor einer inhumanen Zukunft, die wir alle nicht wollen.

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Seitenzahl: 574

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Herbert W. Franke

SPHINX_2

Science-Fiction-Roman

SF-Werkausgabe Herbert W. Franke

Band 25

hrsg. von Hans Esselborn

und Susanne Päch

Herbert W. Franke

SPHINX_2

Science-Fiction-Roman

SF-Werkausgabe Herbert W. Franke

Band 25

hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2024 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

www.art-meets-science.io

Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de

Die Originalausgabe ist 2004 im Deutschen Taschenbuch Verlag (dtv) erschienen.

Titelbild: Thomas Franke

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

E-Book-Erstellung: global:epropaganda

Verlag

art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

c/o mce mediacomeurope GmbH

Bavariafilmplatz 3

82031 Grünwald

ISBN 978 3 911629 24 9

1. Teil:Gareth

1.

Eilmeldung IPra

Wie erst jetzt bekannt wurde, war das Aracone-Center in Nevada gestern am frühen Nachmittag Ziel eines Angriffs, dessen besondere Umstände noch nicht geklärt sind. Zwar blieb das befestigte Hauptgebäude des Instituts unbeschädigt, doch leider befanden sich zur Zeit des Angriffs einige Personen außerhalb des Gebäudes, unter denen es Verletzte gab. Besonders schlimm traf es Troy P. Dryer, den Leiter des Rechenzentrums, der in der medizinischen Abteilung unverzüglich einer Teleoperation unterzogen werden musste. Sein Zustand ist bedenklich, aber die Ärzte hoffen, dass er überlebt. Bisher hat sich noch keine Terroristengruppe zu dem Anschlag bekannt, doch wird angenommen, dass Angehörige der Allianz dahinter stecken, nach Informationen normalerweise gut unterrichteter Kreise sogar die berüchtigte Aktionsgruppe Abd el Masshir. Bisher ist noch völlig ungeklärt, wie die schwer bewaffneten Terroristen auf das mehrfach gesicherte Gelände des Forschungsinstituts vordringen konnten und was mit dem Anschlag erreicht werden sollte, der die wissenschaftliche Arbeit nicht zu stören vermochte. Ein ausführlicher Bericht über das Ereignis folgt in den Abendnachrichten.

In der Mitte des Befragungsraums stand ein Metallstuhl im Boden verankert. Als Gareth sich gesetzt hatte, legten sich Bügel um seine Handgelenke und die Sitzschale passte sich seiner Körperform an – so genau, dass keine Bewegung mehr möglich war.

An der Seite, an einem Pult mit Tastatur und Monitor, saß Doktor Joruba über eine geöffnete Mappe gebeugt. In der Wand vor Gareth ein holografischer Bildschirm, rechts oben eine Uhr mit digitaler Anzeige, auf beiden Seiten je eine große Lautsprecherbox und an der Decke, etwas von der Frontseite abgesetzt, ein Laserprojektor. Auch an den Seitenwänden verschiedene Geräte, an Halterungen befestigt mehrere Teile, die sich wie Waffen auf Gareth richteten: ein Tubus, ein Richtmikrofon, ein Hohlspiegel, der sein Gesicht in lächerlicher Verzerrung wiedergab. Auch die Deckenleuchten zielten auf ihn und übergossen ihn mit blaustichigem Licht.

Es war still. Joruba schlug die Mappe zu. Er stützte sich aufs Pult und ließ eine Brille zwischen seinen Fingern pendeln. Hin und wieder blickte er auf die Uhr.

»Wir werden gleich beginnen«, sagte er und schwenkte mit seinem Schemel zu Gareth herum. »Die Vernehmung wird von einem Programm gesteuert. Folge den Anweisungen der Stimme, die du hören wirst. An einigen Stellen werden wir Aufnahmen einspielen – Mitschnitte von Überwachungskameras und Abhörgeräten. Das dient zur Auffrischung deines Gedächtnisses und gibt uns die Möglichkeit der Überprüfung deiner Aussagen. Achtung, jetzt ist es so weit. Wenn das Gongsignal ertönt, fangen wir an. Bist du bereit?«

Gareth nickte, und da dröhnte auch schon der Gongschlag durch die Stille.

Es knackte, und aus einem der beiden Lautsprecher kam die Stimme, ausdruckslos, in einem Tonfall, der keiner Nuancierung fähig schien.

Wir halten fest, dass die Befragung mit der Einwilligung des Delinquenten erfolgt. Aufgabe ist eine möglichst lückenlose Rekonstruktion seines Lebensweges. Er hat sich zu einer Zusammenarbeit mit uns zu den behördlich festgelegten Bedingungen bereit erklärt. Wir machen darauf aufmerksam, dass die Antworten der Wahrheit entsprechen müssen. Der Wahrheitsgehalt wird laufend überprüft, auf etwaige Unstimmigkeiten wird in geeigneter Weise aufmerksam gemacht. Es besteht dann die Möglichkeit einer Korrektur. Wir sind uns im Klaren darüber, dass das Gedächtnis des Delinquenten, besonders bei weit zurückliegenden Ereignissen, lückenhaft sein kann, oder auch, dass er Irrtümern unterliegt. Da die Richtigkeit der Rekonstruktion im Interesse beider Seiten liegt, werden während der Befragung alle Möglichkeiten der Überprüfung herangezogen. Dabei handelt es sich speziell um die über den Delinquenten gesammelten Ergebnisse der in seinem Heimatland üblichen visuellen und auditiven Überwachung, die wir für diese Sitzungen beschaffen konnten. Wir werden sie, wenn es dienlich erscheint, ergänzend zu seinen Aussagen einspielen – zur Bestätigung der Übereinstimmung, aber auch als Hilfsmittel zur Aktivierung von Erinnerungen. Die Befragung folgt einem vorgegebenen, von einem semantischen Programm gesteuerten und überwachten Schema. Während der Abwicklung wird ein Befragungsleiter anwesend sein, der das Recht hat, in besonderen Fällen, wenn es angezeigt erscheint, einzugreifen. Das gesamte Material einschließlich der Einspielungen und allfälliger Einwürfe des Befragungsleiters wird dokumentiert. Nach Abschluss der Aktion wird das letztendlich vorliegende Protokoll im Archiv der Sicherheitsbehörde aufbewahrt. Weiter dient es als Grundlage einer vom Befragungsleiter vorgenommenen Bearbeitung, deren Zweck es ist, die zur Klärung der besonderen Situation des Delinquenten Gareth Lavalle wesentlichen Ereignisse zusammenzufassen und seine Entwicklung übersichtlich darzustellen.

Jetzt schwebte ein silberner Schleier über der Projektionswand – erst schemenhaft, dann immer deutlicher waren Bilder zu erkennen.

Protokoll Gareth Lavalle. Auszug

Das ist mein Arbeitsraum, eine Nische im Archiv … Ich habe eine neue Aufgabe, es geht um Stilkennzeichen von Ornamenten. Ich soll neue Kategorien entwickeln, Regeln für die Zuordnungen. Eine wichtige Arbeit, ich bin stolz, dass man mich damit betraut hat. Ich weiß schon, wie ich dabei vorgehen werde: Wichtig sind nicht nur die geometrischen Elemente, sondern auch –

Unterbrechung. Alles das ist aufgezeichnet und liegt uns vor. Wir gehen einen Tag weiter.

Ich erinnere mich nicht. Da gab es nichts Besonderes. Ein Tag wie jeder andere. Ich kam mit der Arbeit gut voran … Gotische Rosetten, arabische Bandmuster, Flechtwerke aus Irland …

Doch, da war noch etwas – jetzt weiß ich es wieder: Ich bekam Besuch, es waren zwei, ein Mann und eine Frau. Er etwas älter, sie sehr jung. Unauffällig gekleidet graublaue Carbonfaseranzüge. Eigentlich ungewöhnlich ein solcher Besuch, denn das Archiv ist nicht so ohne Weiteres zugänglich. Sie wollten sich mit mir unterhalten. Etwas Persönliches. Ob es einen abhörsicheren Raum gäbe? Ich war etwas erstaunt. Dann schlug ich vor, in den Innenhof zu gehen. Vielleicht hätte ich es nicht tun sollen, aber ich war neugierig.

Der Blick durch den Torbogen … Hier ist es feucht, riecht nach Erde und Moos. Tropische Pflanzen. Die Blüten bunt, spiegelsymmetrisch. Das Becken, der Wasserfall – wir setzen uns an den Beckenrand. Wenn man sich hier leise unterhält, kann niemand mithören.

Sie wollten etwas über meine Arbeit wissen, aber ich habe natürlich nichts verraten – so leicht kann man mich nicht aushorchen. Dann kamen sie zur Sache. Sie würden vom Verband zur Unterstützung des sanften Selbstmords geschickt. Gibt es so etwas? … nie gehört. Sie hätten ein günstiges Angebot. Beratung, Betreuung … Ob ich Interesse hätte? Es schien mir zuerst höchst merkwürdig, sogar etwas beunruhigend, und so wollte ich die beiden möglichst rasch wieder loswerden.

»Warum kommen Sie gerade zu mir? Ich habe noch nie daran gedacht, mich umzubringen.«

Der Mann holte eine Memorecs-Rolle aus seiner Tasche, öffnete sie und ließ einige Seiten durchlaufen. »Sie stehen auf der Liste. Ich weiß nicht, warum man Sie ausgewählt hat. Sie müssten es doch eigentlich besser wissen. Wie steht es mit Ihrer Gesundheit? Oder haben Sie berufliche Schwierigkeiten? Vielleicht Ärger mit Kollegen –«

»Nicht dass ich wüsste –«

Er blickte wieder auf die Sichtfolie.

»Sie haben den Singlestatus, keine familiären Bindungen. Männlich, sechsundzwanzig Jahre alt, psychische Stabilität achtzehn Freud. Sind Sie mit Ihrem Leben zufrieden? Manchmal merken die Betroffenen nichts von ihren Depressionen.«

»Hören Sie – mir geht es gut, ich brauche Ihre Hilfe nicht. Ich fürchte, Sie verschwenden Ihre Zeit.«

Jetzt mischte sich seine junge Begleiterin in das Gespräch, und es lag eine Andeutung von Mitgefühl in ihrer Stimme, aber auch eine Portion Überlegenheit: »So wie Sie sich geben, könnte man meinen, dass Sie sich Ihrer völlig sicher sind, und wahrscheinlich unterliegen Sie diesem Irrtum selbst. Aber darin kann man sich täuschen. Gewisse Anzeichen … Ich bin Psychologin, und ich weiß, dass sich mancher mit einem hart scheinenden Panzer umgibt, im tiefsten Inneren aber verletzlich ist. Sie sollten unser Angebot ernst nehmen.«

Allmählich empfand ich dieses Gespräch als Belästigung. Ich bedankte mich für das Angebot, das ich im Übrigen aber zurückwies – kein Interesse.

Der Mann hielt mir eine Geschäftskarte entgegen und deutete auf den Magnetstreifen. »Sollten Sie Ihre Meinung ändern – Sie können jederzeit mit uns Verbindung aufnehmen.«

Ich steckte die Karte ein und zeigte den beiden demonstrativ den Weg zum Ausgang.

Unterbrechung. War das alles? Hast du uns nichts verschwiegen? Bevor du dich von den Besuchern getrennt hast, machte die Psychologin eine Bemerkung, die du sicher nicht vergessen hast. Ihr befandet euch im Foyer des Instituts, und dort wurde sie aufgezeichnet.

Ja, sie machte eine Bemerkung … Es erschien mir unwichtig. Sie sagte etwas über ihren Verband – dass er keineswegs darauf aus sei, Mitmenschen zum Selbstmord zu überreden. Dass sie die Situation, die einem solchen Entschluss zugrunde liegt, genau prüfen würden. Und dass sie, wenn sich das Übel beheben ließe, versuchen würden, es abzuwenden.

Ende Protokoll Gareth Lavalle

Tatsächlich: Mit dem Besuch der beiden Vertreter des Verbands zur Unterstützung des sanften Selbstmords hatte alles begonnen. Bisher war er nie auf die Idee gekommen, über sich selbst nachzudenken – ob er zufrieden war oder nicht, ob es irgendwo ein Ziel gab, das jenseits seiner Aufgaben im Institut lag, irgendwo anders, wo es um persönliche Wünsche ging. Nun dachte er erstmals darüber nach. Er war in einem Betreuungsheim aufgewachsen, seine Eltern hatten ihn kurz nach seiner Geburt dem Staat überschrieben, und damit war auch die Verbindung zu allfälligen Verwandten gelöscht. Aber das war ihm nie ungewöhnlich vorgekommen, in diesen Jahren wuchsen viele Kinder ohne Eltern auf, und er hatte angenommen, dass das eher die Regel war als die Ausnahme.

Gareth hatte den üblichen Unterricht absolviert und war dann seinen Fähigkeiten entsprechend zu einer ihm gemäßen Tätigkeit bestimmt worden. Im Institut für formale Ordnungssysteme hatte man ihn mit der vergleichenden Untersuchung von historischen Datenstrukturen betraut, und er hatte nie daran gezweifelt, dass er eine vernünftige, für die Allgemeinheit wichtige Tätigkeit ausübte. Er kam gut voran, fand mehrere bemerkenswerte Entsprechungen in scheinbar verschiedenen Themenbereichen und war dafür durch eine zusätzliche Zuteilung von Credits belohnt worden. Weshalb sollte er unzufrieden sein, gestört, selbstmordgefährdet?

Aber noch mehr gaben ihm die seltsamen Andeutungen zu denken, die er während des Gesprächs mit den unerwarteten Besuchern zu hören bekommen hatte. Gab es in seiner Vergangenheit irgendeine dunkle Seite, von der er nichts wusste? Er dachte nach … war irgendetwas Ungewöhnliches geschehen, hatte etwas den Gleichlauf seines Daseins unterbrochen? Und dann fiel ihm die ärztliche Untersuchung ein, zu der er bestellt worden war. Solche Untersuchungen gab es alle drei Monate, doch diese lag außerhalb des üblichen Plans. Und er hatte eine Injektion bekommen, was bei den früheren Untersuchungen noch nie geschehen war. Ein paar Vitamine, so hatte man es ihm erklärt. Doch vielleicht gab es einen anderen Grund? Und mit einem Mal wurde Gareth unruhig: Hatte man bei ihm vielleicht eine Krankheit festgestellt? War etwas nicht in Ordnung mit ihm, saß irgendwo in ihm ein verhaltenes Leiden, so schwach, dass er bisher noch nichts davon wahrgenommen hatte? Er hatte bisher nicht darauf geachtet, vielleicht wollte er sich vor den Tatsachen unbewusst verschließen, aber nun, nach diesem seltsamen Besuch, musste er sich eingestehen, dass er sich während der letzten Wochen tatsächlich nicht so wohl gefühlt hatte, wie das früher der Fall gewesen war.

Interview mit John Erikson

Red. Es war eine trügerische Ruhe, die im letzten Jahr zur Annahme geführt hat, die AfreNa hätte ihre Attacken eingestellt. Doch der Angriff auf das Aracone-Center hat uns eines Besseren belehrt. Bisher hat es auf dem nordamerikanischen Kontinent nur wenige vergleichbare Anschläge gegeben. Müssen wir damit rechnen, dass sich das Betätigungsfeld der Terroristen nun auf unser Gebiet verlagert?

J. E. Nicht unbedingt. Es hat den Anschein, dass der Anschlag in Nevada unsere militärtechnische Forschung stören oder sogar ausschalten sollte. Das ist der Bereich, dem wir unsere Überlegenheit verdanken, und somit stecken nicht nur lokale Absichten dahinter, sondern das weltweite Interesse aller in der Allianz zusammengeschlossenen Staaten.

Red. Und wie wird unsere Regierung darauf reagieren? Die Beziehungen zwischen den beiden Staatenbünden sind ja sowieso außerordentlich belastet. Könnte es nicht wieder zu einer Verschlechterung kommen?

J. E. Das wird sich wohl nicht vermeiden lassen, denn die UnunSta wird zurückschlagen, irgendwo, vielleicht im arabischen Raum, vielleicht in Südamerika.

Red. Das hört sich so beliebig an. Ist es nicht möglich, jene Gruppen gezielt zu treffen, die für den Anschlag verantwortlich sind?

J. E. Wir wissen, dass sich die Terroristen nach ihren Aktionen trennen und im Bereich der Allianz untertauchen. Offiziell weiß dort niemand etwas davon, und von einer Auslieferung kann keine Rede sein – heimlich werden diese Leute natürlich großzügig unterstützt. Wir kennen aber die Gegenden, in denen sich die Terroristen aufhalten und ihre Unternehmungen vorbereiten. Das ist gewissermaßen Niemandsland, und auf diese Stützpunkte richten wir unsere Strafexpeditionen. Angriffe auf den Herrschaftsbereich der Allianz vermeiden wir, so weit es geht. So etwas würde die Beziehungen zu sehr verschlechtern.

Red. Auf diese Weise lässt sich aber doch keine Verbesserung der Situation erreichen.

J. E. Das ist richtig, trotzdem dürfen wir uns solche Übergriffe nicht gefallen lassen. Dieses Hin und Her ist leider schon zu einer Art Routine geworden. Und es wird keine anderen Folgen haben, als die Kräfte auf der Gegenseite erneut zu mobilisieren – was einen weiteren Anschlag auf unsere Zivilisation zur Folge haben wird. Und so weiter.

Red. Aber wohin soll das führen? Wir haben es mit einem ungreifbaren Feind zu tun, dessen Kräfte über weite Räume verteilt sind und zudem laufend ihre Standorte wechseln. Wir dagegen, in den beengten Räumen unserer Kuppeln, bieten bessere Ziele. Natürlich versetzen wir unseren Gegnern empfindliche Schläge, die sich leider vor allem auf Unschuldige auswirken – die eigentlichen Drahtzieher sind davon nur wenig betroffen. Zwar wird auch bei uns Schaden angerichtet, doch, seien wir ehrlich, so empört wir darüber sind, so bedeuten sie doch nicht mehr als Nadelstiche ohne nachhaltige Wirkung.

J. E. Es geht gar nicht so sehr um materielle Zerstörung, als um die Aufrechterhaltung allgemeiner Furcht und Unsicherheit. Allein durch Verkehrsunfälle kommen jedes Jahr zweitausend Mal mehr Menschen um als durch terroristische Angriffe, doch das nehmen wir hin, ohne uns in unserem Lebensgefühl nachhaltig beeinträchtigt zu fühlen. Aber vor dieser ständigen, unheimlichen Bedrohung, diesen Gerüchten über Angriffe mit Bomben, Radioaktivität, Giftgas, Krankheitskeimen … davor haben wir Angst. Nein – Terrorismus ist ein Akt der Kommunikation, die Wirkung liegt im psychologischen Bereich. Wie sagte doch der Soziologe Peter Waldmann: »Terrorismus ist eindeutig eine Strategie der Schwäche, die ein Mehrstufenkalkül verfolgt: den Gegner reizen, in der Hoffnung, dass er überreagiert, zurückschlägt und dadurch die Mobilisierung der Massen auslöst.« Und genau nach den Regeln dieses uns aufgezwungenen Spiels verhalten wir uns.

Red. Eine Strategie der Schwäche … Da wir offensichtlich überlegen sind, sollte es doch in unserer Macht liegen, die Spirale des Schreckens zu durchbrechen. Wenn man die intellektuellen Kräfte und die finanziellen Mittel nicht zur Zerstörung, sondern für soziale Zwecke einsetzen würde, könnte das die Situation auf beiden Seiten beträchtlich verbessern. Bei der Allianz würde es zu einer Anhebung des Lebensstandards kommen, und die Behörden der Union könnten auf die ständigen Überwachungsmaßnahmen verzichten, die jeden von uns empfindlich in der Bewegungsfreiheit einschränken und zu einer Plage geworden sind; sie treffen uns eigentlich viel empfindlicher als die Terroranschläge. Das sage ich, obwohl ich natürlich mit jedem Opfer tiefstes Mitleid empfinde.

J. E. Das ist die massenpsychologische Seite der Situation: Wir können nicht beschließen, uns mit gelegentlichen Anschlägen abzufinden und sie hinzunehmen wie Verkehrsunfälle. Das liegt daran, dass es sich bei unseren Sicherheitsvorkehrungen eben um Unbequemlichkeiten handelt; im Vergleich zum Leid der Betroffenen sind das Kleinigkeiten. Dieses Leid können wir nicht statistisch verrechnen wie die verlorene Zeit bei Kontrollen, sondern es sind Einzelschicksale, die uns durch die Medien nahegebracht werden und dadurch zu einer Betroffenheit führen, wie sie durch statistische Angaben niemals erreicht wird.

Red. Aber trotzdem wird doch jeder vernünftige Mensch einsehen, dass ein echter Frieden für alle von Vorteil wäre – es wäre nur nötig, die Kontrahenten zu dieser einfachen Erkenntnis zu führen.

J. E. Ich spiele nicht gern die Rolle der Kassandra, aber ich kann Ihnen voraussagen, dass das nicht funktioniert. Denn auf beiden Seiten gibt es einige wenige, die den Frieden ablehnen, sei es aus Hass oder Rachsucht oder einfach aus Gründen des Profits. Und so kann eine noch so kleine Gruppe das Feuer nach Belieben immer wieder anschüren – mit den heutigen Vernichtungsmitteln ist das ganz einfach. Und dann gibt es Löcher in den Kuppeldächern, eingestürzte Gebäude, Tote und Verwundete, und dann werden die uralten Instinkte in uns wach, die nach Strafe rufen, nach Rache, nach Vernichtung des Gegners.

Red. Und trotzdem muss es eine Lösung des Problems geben – besteht denn keine Hoffnung auf ein Ende des Schreckens? Irgendetwas, das uns den Gordischen Knoten lösen lässt?

J. E. Aus dem System heraus kann es keine Lösung geben – die Bahnen, auf denen es sich bewegt, sind festgefahren. Es führt kein Weg hinaus. Es müsste etwas ganz anderes sein, etwas Unerwartetes. Etwas, das den Regeln menschlichen Handelns nicht unterworfen ist. So etwas wie ein Wunder.

Protokoll Gareth Lavalle. Auszug

Die Klinik. Der Untersuchungsraum – das Zimmer des Stationschefs. Es war anders als bei den üblichen Tests – der Chefarzt selbst wollte mit mir sprechen. Ich musste einige Zeit warten. Ein großer Schreibtisch, zwei tiefe Lehnsessel, eine Couch, mit weißem Plastik überzogen. Nur wenige Geräte, darunter ein Computer und ein elektronischer Leuchtkasten.

Unterbrechung. Bitte weiter, zur Sache!

Ich war unruhig. In den letzten Tagen hatte ich mich unwohl gefühlt. Irgendetwas stimmte nicht. Ich fühlte mich matt, vielleicht hatte ich Fieber. Ich litt an Atemnot, mein Hals war trocken, ich hustete. Ich hatte es nicht gemeldet, und trotzdem mussten sie es irgendwie festgestellt haben.

Das da auf dem Bild ist er, der Chefarzt, damals habe ich ihn zum ersten Mal gesehen. Seine Miene ist ernst, teilnahmsvoll … So deute ich es. Er hat einen guten Ruf. Ich habe den Eindruck, dass er sein Geschäft versteht. Wie er mich anblickt, forschend, kritisch, aber auch neugierig …

Er sagte, ich solle mich setzen. Ich sank in die Tiefe eines der Lehnstühle. Er begnügte sich mit einem einfachen Drehstuhl. Er saß hoch über mir, ich musste zu ihm aufsehen. Er blickte auf den Bildschirm seines Computers, schlug ein paar Tasten an, dann drehte er den Monitor herum, sodass ich die Zeichen, die auf der Scheibe aufgetaucht waren, sehen konnte. Zahlenkolonnen, Diagramme, medizinische Ausdrücke, die ich nicht verstand.

»Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen. Es fällt mir schwer, Sie sind noch so jung … Vielleicht kommt es gar nicht so überraschend, in den letzten Tagen müssten Sie es eigentlich schon selbst bemerkt haben … Wie haben Sie sich gefühlt? Schmerzen in der Brust? Die Erklärung ist leider traurig: Ihre Lungen sind angegriffen, genauer gesagt: in recht bedenklichem Zustand. Nun ja, Sie müssen es ja doch erfahren: Es ist Krebs. Haben Sie vielleicht heimlich geraucht?«

Ich brachte kein Wort heraus, schüttelte den Kopf. Ich hatte gehört, dass man hin und wieder einen illegalen Raucher erwischte. Meine Lungen … Ich hatte nie geraucht.

»Beruhigen Sie sich, es ist heute nicht mehr so schlimm wie noch vor zehn Jahren, als es kaum eine Heilungschance gab. Mit Bestrahlung ist da nichts zu machen. Wir entfernen die in Auflösung befindlichen, nicht mehr funktionsfähigen Teile, und gleich darauf werden Sie an die Lungenmaschine angeschlossen. Gewiss, eine Behinderung, die Bewegungsfreiheit eingeschränkt, dafür werden Sie von der Arbeit befreit. Viele würden sich glücklich schätzen, wenn sie sich das Leben so bequem einrichten könnten.«

Jetzt wirkte er ein wenig zerstreut. Er drückte auf eine Taste, die Daten verschwanden, stattdessen erschien das übliche Raster mit den mnemotechnischen Symbolen.

»Ich rufe die Schwester, von ihr bekommen Sie die nötigen Anweisungen. Wir müssen rasch handeln, in den nächsten Tagen werden Sie operiert.«

Er ließ mich allein, wie betäubt saß ich in meinem Stuhl, ein paar Sekunden, ein paar Minuten … ich weiß es nicht.

Und dann handelte ich plötzlich, aus einem mir selbst unerklärlichen Impuls heraus. Ich trat an den Computer und drückte die Taste, die den letzten Befehl rückgängig machte. Da waren sie wieder, meine Daten, die Diagramme und Zahlen, die ich nicht verstand … Das Urteil, das mich für etwas strafte, das ich nicht begangen hatte. Ich hatte keine Zeit, etwas zu lesen, mir über die Bedeutung klar zu werden, aber es bedurfte nur weniger eingetippter Befehle, um den Datensatz über das interne Netz auf meinen eigenen Computer am Arbeitsplatz im Archiv zu kopieren. Dann wechselte ich wieder auf das Übersichtsbild der Desktopbelegung.

Unterbrechung. Das Kopieren der Daten war eine ungesetzliche Handlung. Den eintrainierten Reflexmustern gemäß hättest du Hemmungen haben müssen.

Alles ist so schnell gegangen … Es ist einfach geschehen. Erst nachher begann ich, nachzudenken … Da trat auch schon die Schwester ein. Sie reichte mir einen ganzen Stoß Unterlagen – eine Magnetkarte als Bestätigung für die Einweisung in die Klinik, Formulare für die Meldestelle, die Abmeldung der Visifonverbindung, die Kündigung meiner Arbeit im Institut, und dann noch ein Medikament, das ich regelmäßig einnehmen sollte, dreimal am Tag … Ich hatte es befürchtet, doch jetzt sah ich es schwarz auf weiß: kein Krankenurlaub, sondern eine Kündigung. Meine Tätigkeit im Institut war beendet.

Ende Protokoll Gareth Lavalle

Noch nie hatte sich Gareth in einer solchen Lage befunden. Er war wohl behütet aufgewachsen, immer war jemand da gewesen, um ihm den Weg zu weisen – Erzieher, Lehrer, Psychoberater, Vorgesetzte. Er war als Spezialbegabung für Mathematik und Logik eingestuft worden und hatte deshalb eine 3-W-Position mit den entsprechenden Vergünstigungen – eigene Wohnzelle mit Bildwand und Netzanschluss, frei verfügbares Trinkwasser aus der Leitung, vier Mahlzeiten täglich nach eigener Wahl, dazu fünfzig Credits wöchentlich – in seiner Personalkarte eingespeist. Alles war nach vorgegebenem Plan verlaufen, niemals hatte er Entscheidungen zu treffen gehabt, und deshalb befand er sich nun in einer ungewohnten Situation. Es wäre normal gewesen, sich auch jetzt einfach nach den erhaltenen Anweisungen zu richten, im sicheren Bewusstsein, dass das, was zu tun war, das Beste war, was unter den gegebenen Umständen für ihn, aber auch für die Gesellschaft getan werden konnte.

Mit einem Anflug der Verwunderung über sich selbst stellte er einen aufkommenden Widerstand gegen das fest, was ihm bevorzustehen schien. Es war noch etwas Unterschwelliges, Zögerndes, was er empfand, aber es brachte ihn dazu zu handeln – zumindest über mögliche Handlungen nachzudenken. Nein, so ganz widerstandslos würde er sich nicht fügen, alles ihn ihm sträubte sich gegen diese Operation, die ihn zu einem hilflosen Krüppel machen würde. Und er stellte sich sogar die Frage, ob es nicht vernünftiger war, noch einige Wochen oder Monate unbehindert durch ärztliche Eingriffe und Apparaturen weiterzuleben, um dann … Ja, was dann? Auf einmal kam ihm der Verband zur Unterstützung des sanften Selbstmords in den Sinn. Unter dem Eindruck der letzten Entwicklung bekam der Besuch eine ganz andere Bedeutung. Jetzt auf einmal befand er sich in einer Lage, die es keinesfalls mehr abwegig erscheinen ließ, sich ein solches Angebot zu überlegen. Es drängte sich aber auch die Frage auf, woher diese Vereinigung ihre Informationen hatte, denn Daten des Gesundheitswesens unterlagen strengem Schutz und waren nur der Behörde zugänglich.

Gareth suchte seine Nische im Archiv auf, wo er einigermaßen sicher vor neugierigen Blicken war, und schaltete den Computer ein. Er fand eine Meldung über einen eingetroffenen Datensatz vor – der Transfer aus dem Behandlungsraum war gelungen –, legte unter einer harmlosen Bezeichnung einen neuen Ordner an und speicherte das File dort ab. Da er neugierig war und sich niemand in der Nähe befand, der Interesse an ihm zeigte, sah er sich die Daten auf dem Bildschirm an – und war so klug wie zuvor. Offenbar waren es die Ergebnisse der letzten Routineuntersuchung, doch nirgends ein Hinweis auf eine Erkrankung. Und nun erst fiel ihm etwas Merkwürdiges auf: Diese Daten waren nicht mehr neu, sie gingen auf seine letzte Untersuchung vor drei Monaten zurück. Wenn sich daraus die Notwendigkeit einer raschen Operation ergab – warum reagierten die Ärzte erst einige Wochen verspätet?

Sein Drang zum Widerstand verstärkte sich, zum Widerstand gegen die Bürokratie, die ihn so lange geleitet und behütet hatte. Und merkwürdig. Auf einmal fühlte er ein wohltuendes Gefühl von Tatendrang, das ihm völlig neu war – und trotz seiner prekären Situation außerordentlich belebend. Er überlegte eine Weile, dann druckte er die Datei aus. Er nahm die Blätter aus dem Drucker, faltete sie zusammen und steckte sie in seine Jackentasche.

Er hatte oft in der Bibliothek zu tun gehabt. Diesmal suchte er die medizinische Abteilung auf. Unauffällig blickte er sich um, suchte jemanden, der ihm helfen und auch dazu bereit sein könnte. Er hatte gehört, dass Frauen im Allgemeinen hilfsbereiter waren als Männer, und so setzte er sich neben ein Mädchen – sicherlich eine Studentin. Sie saß vor einem Lesegerät und markierte Abschnitte, die sie dann kopierte. Zufrieden stellte er fest, dass auch sie ihn kurz von der Seite her betrachtete. Er wandte sich ihr zu und lächelte.

»Heiß hier«, sagte er, etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Er holte eine Rolle Pfefferminzdrops hervor und hielt sie ihr hin. Sie zögerte nur kurz, bevor sie zugriff. Jetzt sah sie ihm voll in die Augen. Ihre Augen waren grau. Er wandte den Blick ab und steckte sich ein Bonbon in den Mund. So muss man sich wohl verhalten, wenn man mit einer Frau bekannt werden will, dachte Gareth. Er selbst hatte es noch nie versucht, aber im Kreis seiner Bekannten gab es welche, die an Kontakten mit Mädchen interessiert waren – meist in der Absicht, dabei noch etwas weiter zu gehen, als es erlaubt war, denn sonst hätten sie ja eine Suchanzeige ins Netz stellen können.

»Ich habe eigentlich nichts mit Medizin zu tun«, erklärte er, ohne seine Verlegenheit völlig verbergen zu können.

»Und was suchst du dann hier?« Sie lachte, etwas spöttisch, wie ihm schien, und Gareth erinnerte sich daran, dass ihm einer der bewussten Kollegen die Medizinstudentinnen als besonders kontaktfreudig geschildert hatte.

»Ich studiere Literatur. Ich schreibe an einer Biografie und muss verschiedene Dokumente berücksichtigen.« Er zog das Bündel mit dem Ausdruck seiner medizinischen Daten aus der Jackentasche und breitete die Papiere auf dem Tisch aus. »Aber jetzt habe ich ein Problem: Man hat mir diese Unterlagen zur Auswertung gegeben, und ich habe keine Ahnung, was sie bedeuten.«

»Lass sehen.« Sie zog die Blätter an sich heran, las sie aufmerksam durch, holte sich dann einige Informationen aus der Datenbank.

»Es ist ganz einfach«, sagte sie. »Es sind Ergebnisse einer Untersuchung – im Übrigen ganz unauffällig, der Betreffende ist gesund, ihm fehlt nichts.«

Gareth ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. »Bist du sicher? Wie steht es mit den Lungen?«

Sie sah ihn erstaunt an. »Alles in Ordnung. Wie kommst du auf die Lungen?«

Plötzlich hatte er es eilig. »Ich dachte nur … Es ist gut so, ausgezeichnet. Ich danke dir.« Er nahm die Unterlagen an sich, stand auf – und zögerte kurz. Er sah das Mädchen an, das ein wenig enttäuscht schien. »Danke«, sagte er noch einmal. »Es war sehr nett von dir.« Dann verließ er den Lesesaal – gerade so schnell, dass es nicht auffiel.

Er schlug den Weg zu seinem Arbeitsplatz ein, doch dann nahm er kurz entschlossen den Lift ins oberste Stockwerk, auf die Aussichtsplattform. Er blickte hinunter auf das Rechteckmuster der Häuserblocks und der Straßen. Wie immer um diese Zeit waren lange Reihen von Sammeltaxis unterwegs, die die von den Fahrgästen eingetippten Stationen in der günstigsten Reihenfolge ansteuerten. Wie von Geisterhand bewegt, schoben sich mehrere Reihen ineinander, ohne das Tempo zu verringern. Aber auch die Schwebeboote bewegten sich rasch, um schließlich leise schaukelnd Wartestellung über den Landeplattformen einzunehmen. Es schien keine Menschen zu geben, doch wenn man danach suchte, so waren da und dort ein paar Fußgänger zu erkennen. Über allem lag trübes Licht, das Glas der Kuppeln schirmte das Innere vor der Sonnenstrahlung ab.

Die Stadt sah aus wie immer, alles lief seinen gewohnten Gang, und doch hatte sie sich verändert. Das lag aber nicht an irgendwelchen äußerlich erkennbaren Abläufen, sondern an der veränderten Sicht des Betrachters, in der nichts mehr selbstverständlich war.

Gareth brauchte einige Zeit, um das, was er erfahren hatte, zu verarbeiten. Auch als er sich zur Ruhe zwang, kam er zu keiner Erklärung. Dafür aber wurde ihm immer klarer, dass er nicht bereit war, sich einer Operation zu unterziehen, die offenbar überflüssig war. Jetzt durfte er keine Zeit verschwenden, um über die Ursachen dieser überraschenden Wendung in seinem Leben nachzugrübeln, vielmehr ging es vor allem darum, einen Ausweg zu finden.

Dann fiel ihm etwas ein. Er ging hinüber an die Theke, an der zu dieser Zeit niemand saß. In seiner Tasche steckte noch die Magnetkarte des Verbands zur Unterstützung des sanften Selbstmords, dessen Angebot nun in einem ganz anderen Licht erschien. Besonders die abschließende Bemerkung der Psychologin … War in ihrer Stimme nicht ein ungewöhnlicher Unterton aufgeklungen, etwas Drängendes, Verschwörerisches? Er zog den Magnetstreifen durch die Kerbe eines der ComSets, die hier überall herumstanden. Unmittelbar darauf erschienen auf dem Minischirm das Logo, das neben verschiedenen Informationen auch die Namen der beiden Besucher enthielt, und eine Anweisung zur Aufnahme einer direkten Verbindung mit ihnen. Nach kurzer Zeit tauchte das Gesicht der Psychologin auf dem Bildschirm auf.

»Der von Ihnen beschriebene Fall ist eingetreten«, sagte Gareth. »Ich beziehe mich auf Ihre letzte Information.« Er hatte die Worte mit Bedacht gewählt – aus seiner Formulierung war nichts zu entnehmen, was Verdacht erregen könnte.

»Verhalten Sie sich weiterhin so, wie man es von Ihnen erwartet. Wir werden uns melden.« Die Verbindung brach ab. Gareth atmete auf. Die Antwort war ohne Verzögerung gekommen, und sie war völlig unverfänglich gewesen. Auf einmal spürte er wieder Zuversicht. Es gab jemanden, der ihm helfen würde, und wie es schien, war man auf solche Situationen eingestellt.

Gareth wählte auf dem Touchscreen einen Vitamincocktail und wurde in überraschend kurzer Zeit beliefert. Er nahm das Glas mit der dicken gelben Flüssigkeit vom Laufband und trank es in langen Zügen ohne abzusetzen aus.

Nomenklatur der KofüNo

Verzeichnis Staaten, Ämter und Vereine

Aktionsgruppe Abd el Masshir (AkAMa)

Allianz der freien Nationen (AfreNa)

Amt für Personen- und Datenschutz (AmPeDaS)

Ausschuss für die Normierung von Abkürzungen (AuNoAb)

Büro für Tourismus und Kultur (BüToKu)

Büro für spezielle Ermittlungen (BüspeE)

Fördergesellschaft für ornamentale Chiffren (FöorCh)

Institut für angewandte Kreativitätspsychologie (lanKre)

Institut für formale Ordnungssysteme (Ifo0)

Interessengemeinschaft ›vierdimensionale Skulptur‹ (InvidiSk)

Interessenverband ›Waffen für den Frieden‹ (lwaffF)

Internationales Büro für Patenterteilung und -sicherung (IBüPsi)

Internationale Presseagentur (IPra)

Kommission für mathematische Fachfragen (KomaFa)

Kommission für amtliche Nomenklatur (KofüNo)

Liga für Gerechtigkeit (LifüGe)

Religionsgemeinschaft ›Serendipity‹ (RegeSer)

Spielervereinigung Computergolf (SpiCogo)

Verband für fantastische Architektur (VephaA)

Verband zur Förderung der virtuellen Sportarten (FöviSpo)

Union unabhängiger Stadtstaaten (UnunSta)

Verein für algorithmische Musik (VefüaMu)

Verband zur Unterstützung des sanften Selbstmords (VeUsaSe)

Wissenschaftliche Forschungszentrale der Union (WiFoUn)

2.

Er sollte sich also den Vorschriften gemäß verhalten, und das bedeutete, dass er sich wohl oder übel wieder unauffällig benehmen musste. Wie befohlen meldete er sich von den ihm zustehenden Dienstleistungen ab. Betroffen merkte er, dass das ein entscheidender Schritt war, der ihn von allem, was er zum Leben brauchte, abkoppelte. Von der Versorgung abgeschnitten: keine Mahlzeiten mehr, keine Süßigkeiten, keine Klimatisierung, keine Frischluft, kein Trinkwasser, keine Mittel zur Körperpflege … Die Verbindung über das Netz unterbrochen: keine Kommunikation über Sprache, Text und Bild, kein Zugriff zur Datenbank, keine Lehrfilme … Das Unterhaltungsangebot gestrichen: keine Animationen mehr, keine Konzerte, keine Spiele, kein Cybergolf, kein Parasex, kein Halluzinator … Seine Credits entwertet, die Punkte annulliert, die Gutschriften gelöscht.

Im Wandschrank lagen ein paar persönliche Dinge, Kleidungsstücke: zwei Carbonfaseranzüge, Sandalen für die Innenräume, Tennisschuhe für den Außenbereich, die Notfallausrüstung: eine Gasmaske, eine feuerfeste Folie, ein Desinfektionsspray … Aber was sollte er mitnehmen, was davon war überhaupt sein Eigentum? Genau genommen nichts. Er holte eine Plastiktüte für die Schmutzwäsche aus einem Fach, steckte ein paar Gegenstände hinein, holte sie wieder heraus … schließlich blieben nur einige Andenken aus den Tagen seiner Ausbildung, ein paar holografische Bilder, ein paar Urkunden, recht wenig aus zwei Jahren beruflichen Lebens. Alles, was interessant und wichtig war, lag gespeichert auf den Festplatten seines Computers und – aus Sicherheitsgründen – natürlich auch noch in der zentralen Datenbank. Doch jetzt war seine Arbeitslizenz erloschen, und damit auch das Recht, die Daten aufzurufen. Das wäre eigentlich das Wichtigste gewesen, das Einzige, was der Aufbewahrung wert gewesen wäre – aber freilich nur, wenn er später seine Arbeit wieder aufnehmen könnte. Gerade das aber erschien nun mehr als fraglich.

Die Stunden vergingen, Gareth wurde unruhig, das Gefühl der Zuversicht schwand. Das war die enervierende Untätigkeit, die die Zeit ins Unerträgliche dehnte. Er wartete, doch er wusste nicht, worauf. Jetzt wurde ihm bewusst, was es bedeutete, auf all die Annehmlichkeiten verzichten zu müssen, die einem die Freizeit erträglich machten. Die Raumtonanlage blieb stumm, die Videowand hatte einen schmutzigen Grauton angenommen – ein völlig ungewohnter, ja geradezu Ekel erregender Anblick. Doch manches war noch weitaus schlimmer: Der virtuelle Golfplatz war ihm verschlossen, aus den Boxen kam keine Musik, und er vermisste die fließenden Abläufe des 3-D-Kaleidoskops, die so beruhigend wirkten. An diesem Abend hätte er die hypnotische Wirkung der Schlummerbox gebraucht, die er sonst nur selten verwendet hatte, aber sie stand ihm ja nicht mehr zur Verfügung. Er versuchte zu schlafen, doch er schlief schlecht, Schreckensbilder ängstigten ihn, mehrmals fuhr er aus chaotischen Träumen auf.

Am nächsten Tag, zur angegebenen Zeit am Vormittag, verließ er seine Wohnzelle. Acht Monate hatte er sie bewohnt, sie sah aus wie alle anderen, die ihm vorher zugewiesen worden waren, und er hätte nie gedacht, dass es ihm schwerfallen würde, sie für immer zu verlassen. Aber wahrscheinlich hatte dieses Bedauern, das er jetzt empfand, nichts mit dem Wohnraum zu tun, sondern mit seinem bisherigen Leben, das er damit aufgab, das Leben, das jetzt beendet war – so oder so.

Er sah sich um, der Gang war leer. Kein Anzeichen von etwas, das ihn vor dem angekündigten Eingriff retten könnte. Er merkte, dass dieses Gefühl, das ihn jetzt quälte, nichts anderes war als Angst – eine primitive, elementare Angst, wie er sie bisher noch nie erlebt hatte. Seine Hand, deren Finger sich um den Henkel der Tasche klammerten, war schweißnass. Er war benommen, schwankend machte er sich auf den Weg zum Trakt für chirurgische Eingriffe der Klinik.

Er folgte der Wegbeschreibung auf der Karte, doch er war nervös und hatte bald den Eindruck, sich verirrt zu haben – Institut für Medizingeschichte stand auf einem Schild. Als sich in seiner Nähe eine Tür öffnete und eine ältere Angestellte herauskam, erkundigte er sich nach dem Weg und wies seine Einweisungskarte vor. Die Frau zeigte auf einen Gang. »Es ist schon in Ordnung. Die vierte oder fünfte Tür rechts.« Gareth nickte ihr dankend zu und wollte weitergehen, als die Angestellte ihn am Arm berührte und mit etwas leiserer Stimme sagte: »Es ist der richtige Weg – hast du das verstanden?« Gareth wollte etwas fragen, aber die Frau war schon weitergegangen.

Gedanken wirbelten durch Gareths Kopf. Was hatte das zu bedeuten? War das eine verschlüsselte Botschaft gewesen? Das war zu vermuten – man wollte ihn auf irgendetwas aufmerksam machen. Aber worauf? Doch wegen der Überwachungsanlagen war eine genauere Anweisung offenbar nicht möglich. Immerhin, Gareth schöpfte wieder etwas Hoffnung.

In Gedanken versunken war er etwas langsamer gegangen, und nun stand er endlich vor der Tür mit der richtigen Zimmernummer. Ein Vorraum mit mehreren Glasschränken, durch deren Scheiben er bedrohlich anmutende, altmodische chirurgische Bestecke, Knochensägen, Trepanationsbohrer, Zangen und ähnliche Werkzeuge erkennen konnte. Er sah die Ordinationsschwester im grünen Overall des medizinischen Dienstes erst, als sie hinter einer verstaubten Zimmerlinde hervorkam. »Lungenkrebs, ich weiß. Schön, dass Sie da sind. Wir freuen uns immer, wenn wir aktiv werden können. Warten Sie, wir wollen keine Zeit verlieren, ich gebe Ihnen gleich zwei Tabletten zur Beruhigung.«

Aus einem Schächtelchen holte sie eine rote und eine orangefarbene Pille, füllte einen Becher mit lauwarmem Wasser. »Da, einfach hinunterschlucken, Sie werden bald merken, wie Ihr unbewusster Widerstand verschwindet.«

Sie beobachtete Gareth, als rechnete sie damit, dass er sich irgendwie vor der Einnahme zu drücken versuchte, und nickte dann zufrieden, als die Prozedur erledigt war. »Und nun kommen Sie, es ist alles bestens vorbereitet. Sie können sich selbst davon überzeugen: Die Maschine ist bereits aufgebaut. Wir schließen Sie gleich an. Sie brauchen keine Angst zu haben: ein solides Modell. Etwas ganz Besonderes. Kommen Sie.«

Eine Maschine? Anschließen …? »Ist das die künstliche Lunge?«, fragte er misstrauisch. »Soll die Operation jetzt schon beginnen?«

»Nein, nein«, antwortete die Schwester, »es handelt sich nur um einen vorbereitenden Eingriff. Wir müssen doch ausprobieren, ob sich die Lungen ohne Komplikationen durch die Maschine ersetzen lassen, bevor wir sie entfernen. Dieses Gerät enthält zwar auch eine künstliche Lunge, aber es ist viel mehr: eine Universalmaschine, die nicht nur die Funktionen von Herz und Lungen übernehmen kann, sondern auch jene von mehreren weiteren Organen.«

Gareth wusste wenig von Medizin, doch das, was er da hörte, mutete recht merkwürdig an. Was hatte man mit ihm vor?

Nachdem er sich noch wenige Minuten zuvor wieder sicherer gefühlt hatte, stieg nun die Unruhe wieder hoch. Die Schwester führte ihn in einen Raum, in dessen Mitte eine fahrbare Liege stand. Die Räder standen auf Schienen, die aus einer niedrigen torartigen Öffnung kamen. Sie trat an einen Wandschrank und zog die Schiebetüre beiseite. »Hier, sehen Sie!« Sie wies auf ein Paket, etwa einen Meter hoch, würfelförmig, in dicke Noppenfolie verpackt, sie trat hinzu und riss die Hüllen herab – ein auf Rädern stehender Kasten kam zum Vorschein, darauf ein komplizierter Aufbau: mehrere kleine und große Zylinder aus schwarzem, gefalteten Kunststoff, auch für den Laien als Pumpen erkennbar. Zwei dicke und mehrere dünne, aus der Seitenwand herausführende Schläuche waren mit metallenen Aufsätzen abgeschlossen. Dazu kamen Spulen und offen liegende Schaltungen – offenbar mit dem Lötkolben hergestellt.

»Ich dachte, es ginge nur um meine Lungen«, sagte Gareth. »Meine anderen Organe sind doch gesund. Oder nicht?«

»Man hat es Ihnen doch erklärt, nicht wahr«, sagte die Schwester etwas ungeduldig. »Wir wollen heute nur eine der vielen Funktionen dieser Maschine erproben. Ich kann ja verstehen, dass Sie sich vor dem Eingriff fürchten, das geht jedem so, aber jetzt, wo alles vorbereitet ist, müssen Sie sich schon kooperativ verhalten. Das hätten Sie sich vorher überlegen sollen.«

Der Anblick dieser Maschine war erschreckend: Gareth hatte sich die Lungenmaschine als kleines Gerät zur Inkorporation vorgestellt – und nun dieses Monstrum, mit dem er auf Gedeih und Verderb verbunden werden sollte! Das keine eigenständige Fortbewegung zuließ, das ihn ans Krankenzimmer binden würde …

Der Apparat sah zwar sauber und funktionsfähig aus, aber sein Äußeres entsprach nicht der Vorstellung von modernem medizinischem Gerät. Die Messingaufsätze, die gedrechselten Griffe … das entsprach eher einem Museum als einem zeitgenössischen Hospital. Institut für die Medizingeschichte? – das könnte die Erklärung sein: ein Museumsstück. Aber was hatte das mit ihm zu tun?

»Da ist das gute Stück«, erklärte die Schwester und zog es samt einem Holzgestell aus dem Schrank heraus. Mit einem Staubtuch tupfte sie einige Metallteile ab. »Es ist noch voll funktionsfähig. Wir haben nur selten Gelegenheit, diese wertvollen Geräte praktisch einzusetzen.« Sie lachte, als amüsiere sie die Situation. Sie bückte sich, rollte ein Kabel aus und verband es mit der Stromversorgung. Ein Einblickfenster am oberen Rand des Geräts wurde hell, Ziffern in gotischer Schrift … Die Schwester betätigte einige Hebel und Schalter. Mit leisem Ächzen setzten sich die Pumpen in Bewegung, abwechselnd zogen sich die Gummizylinder zusammen und streckten sich wieder, wobei die Geräusche in leises Pfeifen und Rascheln übergingen.

Einen Augenblick lang war Gareth nahe daran zu protestieren und aus dem Raum zu flüchten, doch dann erinnerte er sich an die Anweisung, sich normal zu verhalten. Normal verhalten – das hieß vor allem, die Anweisungen widerstandslos zu befolgen. War das die Bedeutung der Botschaft, die man ihm übermittelt hatte? Gareth unterdrückte seine Bedenken. Es bereitete ihm Mühe, die Situation zu beurteilen und Entschlüsse zu fassen. Vielleicht wehrte er sich nur deshalb nicht, weil er die Kraft dazu nicht aufbrachte.

»Eine Erfindung, die leider nie zur praktischen Anwendung gekommen ist. Sehr originell. Ein neues Prinzip – damals. Doch die Entwicklung der medizinischen Gerätetechnik ging dann in eine andere Richtung. Es gibt nur wenige Exemplare, wir sind froh, dass wir eines davon in der Sammlung haben. Es ist schön, dass wir es einmal in der Praxis einsetzen können. Ihr Fall passt gut ins Konzept. Wir haben einige Gäste eingeladen, die unbedingt dabei sein wollen. Wir sind Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie sich zur Mitwirkung an diesem Versuch bereit erklärt haben.«

Was hatte die Schwester da gesagt? … freiwillig bereit erklärt? Mühsam atmete er ein und aus. Sein Herz schlug schnell und hart. Jetzt fühlte er sich wirklich krank. Doch jetzt vergaß er alle Anweisungen und Vorsätze und wollte protestieren, den Raum verlassen … vergeblich, er war nicht mehr dazu fähig. Es war, als wäre sein Wille erloschen, als wäre er nur noch ein Reflexwesen, das mechanisch auf das Wort gehorcht.

Die freundliche Frau im grünen Kittel blickte ihn forschend an. »Sie sehen schlecht aus, haben Sie in den letzten Nächten nicht gut geschlafen? Es besteht kein Grund zur Aufregung. Alles ist bestens vorbereitet. Die Maschine ist zwar alt, aber sie sollte einwandfrei funktionieren. Sie bekommen keine Narkose, können alles beobachten, was mit Ihnen geschieht – es wird sicher interessant. Es ist eine schonende Behandlung, Sie werden nicht das Geringste spüren, alle Patienten, an denen wir ähnliche Versuche vorgenommen haben, waren sehr zufrieden.«

Er musste sich entkleiden und wurde unter eine desinfizierende Dusche gestellt. Das Lösungsmittel verdampfte rasch und erzeugte eine Kälte, die ihm Schauer über die Haut jagte. Nackt musste er sich auf der schaligen Vertiefung der Liege ausstrecken, einige Haltebügel senkten sich über ihn. Die Schwester setzte einen Injektionsautomaten an seine Armbeuge, ein paffendes Geräusch, dann wieder eine Zeit des Wartens.

Zunächst spürte er keine Wirkung der Injektion und versuchte, nicht daran zu denken, dass es nun vermutlich für die angekündigte Rettungsaktion zu spät war. Doch allmählich änderte sich sein Körperempfinden – irgendetwas, das eben noch spürbar war, schien zu erlöschen, er verlor die Kontrolle über seinen Zustand, er schien zu schweben – kein Druck mehr an Rücken und Gesäß, und wenn er die Finger aneinander zu reiben oder die Knie anzuziehen versuchte, dann war da kein Widerstand – als hätten seine Gliedmaßen ihre materielle Beschaffenheit verloren. Und als sich der Wagen in Bewegung setzte, merkte er es nicht am Rucken oder an Erschütterungen, sondern nur am schwankenden Sichteindruck. Wie auf der Videowand, bei der Wiedergabe einer Kamerafahrt, zog seine Umgebung an ihm vorbei. Er hatte den Eindruck, unbewegt im Raum zu schweben, obwohl ihm sein Verstand sagte, dass er es war, der sich in Bewegung befand. Ein Tor kam auf ihn zu, die Flügel öffneten sich lautlos, Gareth hing schwerelos in einem unendlichen Raum, kein Geräusch war zu hören, als sie einwärts fuhren und sich die Flügel hinter ihnen schlossen.

Ein Operationssaal tauchte auf. Über Gareth erschienen Greifarme, Schienen, Sensoren aller Art, Laserstrahler, Punktlampen, sie fuhren unter Kabeln und Schläuchen hinweg, durch einen Ring hindurch, von dem ein eng ausgeblendeter Lichtstreif ausging und über sie hinwegglitt. Fernsehkameras an Gelenkarmen, nadelförmige Telethermometer, Greifzangen, und weiter hinten, am Rand des Blickfelds, Bestecke mit chirurgischen Instrumenten in merkwürdig flachen Wannen … Die Ausstattung eines Chirurgieautomaten, alles einsatzbereit. Doch wo war das Operationsteam? Wo waren die geladenen Zuschauer?

Erstaunt registrierte Gareth, dass sie nicht anhielten. Wieder schwenkten Flügeltüren auf, die Fahrt ging weiter. Hier war es düster, hin und wieder tauchten Lichter auf, jähe Drehungen seines Gesichtsfeldes zeigten an, dass sie Kurven einschlugen, dann kippte der Horizont – es ging beschleunigend abwärts … noch eine Kurve, ein Ruck, und sie hielten an. Über ihm ein hoher, schachtartiger Raum, trübes Licht sickerte aus unbestimmter Höhe. Die Bügel öffneten sich, dann kippte die Fläche, auf der er lag. Unten ein dunkler Abgrund, und er stürzte ab.

Nur ein Augenblick, der sich aber lang dehnte, dann landete er auf einer nachgiebigen, schaukelnden Unterlage. Mit ihr bewegte er sich seitlich, aus dem letzten Schimmer von Licht hinaus. Jetzt gab es nichts mehr zu sehen, zu spüren, zu empfinden – er schwebte in einem vollkommenen, grenzenlosen Schwarz.

Protokoll Gareth Lavalle. Auszug

Als ich erwachte … nein, ich habe nicht geschlafen, war nicht bewusstlos. Ich konnte sehen, konnte hören. Und doch bin ich auf irgendeine Art erwacht. Es war mein Wille, der ausgeschaltet war.

Zuerst blickte ich zur Decke, sie war graubraun, grob gemauert und von einem flackernden gelben Schein beleuchtet. Ich richtete mich mühsam auf, mein Rücken schmerzte.

Das Licht kam von einer Kerze – ich hatte noch nie eine echte Kerze gesehen, kannte sie aber aus den historischen Filmen. Sie steckte in einer Flasche, Wachs tropfte hinunter, hatte eine Lache auf dem Tisch gebildet. Auf der anderen Seite des Tisches zwei bekannte Gesichter: meine beiden Besucher, die Abgesandten des Verbands für sanften Selbstmord. Sie beobachteten mich.

In meinen Armen schienen tausend Ameisen zu laufen … ich beugte und streckte sie, um das Blut in Umlauf zu bringen. Ich schob eine Decke zurück, die über mich ausgebreitet lag, richtete mich auf, blickte umher. Jetzt erholte ich mich rasch von dem merkwürdigen katatonischen Zustand, in dem ich mich befunden hatte. Mir war ein wenig übel, aber ich war wieder handlungsfähig. »Wo bin ich?«

Es war der Mann, der antwortete. »Du bist gerettet, aber noch längst nicht in Sicherheit. Wir befinden uns im Kellerraum eines zum Abbruch vorgesehenen Hauses. Hier darfst du nur für kurze Zeit bleiben – bis du dich erholt hast.«

Nach und nach gelang es mir, wieder klarer zu denken. Und dabei wurde mir auch klar, dass ich mich in einem merkwürdigen Zustand zwischen Wirklichkeit und Traum befunden hatte. Doch was war Wirklichkeit, was war Traum? Ich wollte es wissen und bat um Aufklärung.

»Wir haben wirklich nur wenig Zeit … Also ganz kurz: Der Gebäudetrakt, in dem das Institut für Medizingeschichte liegt, stammt noch aus dem vorigen Jahrhundert. Aus historischen Gründen wurde es in seinem ursprünglichen Zustand erhalten. Was dabei für uns wichtig ist: Dort gibt es keine modernen Überwachungsanlagen, und dort besteht die einzige Möglichkeit, jemanden aus dem gesperrten Bereich hinauszubringen – nämlich durch die Entsorgungsanlage, durch die man seinerzeit die Objekte misslungener Eingriffe hinausbeförderte. Sie stammt noch aus der Zeit der gelben Pest, als ein künstlich geschaffener Virus eine ungeheure Zahl von Opfern forderte.«

Also war alles, was ich da während der letzten Stunde erlebt hatte, nichts anderes als ein geschickt eingefädeltes Täuschungsmanöver.

»Dieses Theater hat mich ganz schön mitgenommen. Ich habe mich richtig krank gefühlt und fühle mich auch jetzt nicht viel besser. Diese Atembeschwerden –«

»Ganz einfach: Man hat dir etwas ins Essen gemischt. In einigen Tagen ist das vorbei, keine Sorge.«

»War die Schwester eingeweiht? Eine Schauspielerin? Sie wirkte durchaus echt.«

»Nein, nein – sie hat das alles ernst genommen. Sie ist etwas wunderlich, hatte an Patienten neue Heilmethoden ausprobiert, und deshalb hat man sie schon vor einigen Jahren aus dem Verkehr gezogen und ins Institut für Medizingeschichte versetzt. Doch jetzt ist es höchste Zeit, dass du verschwindest.«

Jetzt wusste ich einiges über die Vorgänge der letzten Wochen und Stunden. Um so eine Befreiungsaktion zu inszenieren, muss man seine Finger tief im Getriebe der Organisation und Verwaltung des Staatswesens haben. Alle diese gefälschten Daten, diese geänderten Anweisungen, die den Gang der Dinge beeinflusst hatten –?

Daraus ergab sich eine Frage, die ich unbedingt noch stellen musste. »Wer seid ihr wirklich? Hinter dem Verband zur Unterstützung des sanften Selbstmords steckt doch vermutlich etwas anderes?«

»Der Verband ist ordnungsgemäß angemeldet, und er wird sogar von der Regierung unterstützt – weil er auf humane Weise dazu beiträgt, dass die Bevölkerung der Kuppelstädte nicht zu stark anwächst. Freilich, was nicht allgemein bekannt ist: Er gehört zu einer Organisation, die sich für Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen einsetzt. Denn dieses in der Verfassung garantierte Recht wird immer öfter verletzt. Dein Fall ist nur ein Beispiel unter vielen.«

»Mein Fall? Was ist denn an mir schon Besonderes? Ich habe keine Ahnung, worum es geht. Ich möchte es unbedingt wissen. Ich vermute, ihr wisst es. Habe ich nicht das Recht, es zu erfahren?«

Der Mann blickte seine junge Kollegin an, als wollte er sie um Beistand bitten. Brauchte es die Erfahrung einer Psychologin, um es mir schonend beizubringen? War es doch eine Krankheit?

Sie antwortete: »Natürlich musst du es erfahren. Es ist ganz einfach: Du bist ein Klon.« Und sie fügte hinzu: »Du weißt, was ein Klon ist?«

»Ja, aber –«

»Ein Klon entsteht aus einer Zelle – durch Zellteilung, wie jedes andere Lebewesen auch. Das Besondere daran ist die genetische Identität mit dem Wesen, von dem die Zelle stammt. Der Klon ist so etwas wie ein nachträglich künstlich ins Leben gerufener Zwillingsbruder.«

»Ich verstehe den Zusammenhang nicht –«

»Ein Klon ist der ideale Lieferant für Ersatzorgane, sozusagen ein lebendiges Ersatzteillager: derselbe genetische Code, keine Immunreaktion. In den Kreisen der Reichen und Privilegierten ist es üblich geworden, Klone erzeugen zu lassen, die mit ihren Organen zur Verfügung stehen, falls eine Transplantation nötig sein sollte: das Herz, die Lungen, die Nieren, die Haut … Dieser Fall ist nun eingetreten – man braucht dich. Man braucht deine Lungen. Man wollte dich zum Krüppel machen, weil jemand mit genügend Einfluss und Geld das Recht auf deine Organe erworben hat.«

»Und wer ist es, der so dringend meine Lungen braucht?«

»Es ist schwer genug, die Kandidaten herauszufinden und sie vor dem ihnen zugedachten Schicksal zu bewahren. Die Namen der Empfänger sind geheim, wir kennen sie nicht.«

Unterbrechung. Diese Antwort erscheint wenig glaubhaft. Hattest du keine Zweifel an ihrer Wahrheit?

Was ich da eben erfahren hatte, hat mich völlig durcheinandergebracht. Ich – ein Klon? Es war kaum zu glauben – ich war fassungslos, verwirrt … Ich brauchte Zeit, um alles zu verarbeiten. Ich schwieg eine Weile, dann besann ich mich auf das Nächstliegende und fragte: »Und was geschieht nun mit mir?«

»Du bekommst eine neue Identität«, erklärte der Mann, »einen neuen Namen, eine neue Einstufung. Es ist die Identität eines jungen Mannes, der vor Kurzem bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Von jetzt an bist du Cliff Myers. Hier ist die Ausweiskarte, und hier ein Speicherchip.« Er reichte mir ein fingernagelgroßes metallisch schimmerndes Plättchen und eine Digitallupe. »Und hier ein Lesegerät. Du brauchst den Chip nur hineinzustecken, die Lupe vergrößert das Textfeld. Es sind Angaben über die Person, deren Stelle du nun einnimmst. Du musst sie auswendig lernen, und zwar innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden, dann werden die Daten unlesbar. Das Lesegerät wirfst du weg, vergiss es nicht. Hier, in dieser Tasche, sind noch einige Dinge, die man zum täglichen Leben braucht – ein wenig Geld, einige Packungen Eiweißkonzentrat, ein paar Kleidungsstücke. Du wirst darin auch Anweisungen finden, die du zu befolgen hast.«

Ich horchte auf – was für Anweisungen sollten das sein? Ich brauchte die Frage nicht zu stellen, man hatte sie wohl erwartet.

»Du musst die Situation richtig verstehen«, sagte die Frau. »Wir haben uns große Mühe gemacht, um dich aus dem Schlamassel herauszuholen. Ganz ohne Gegenleistung geht das nicht – du bist uns etwas schuldig. Gewiss, du bist ein freier Mann, kannst tun und lassen, was du willst, aber wenn du gebraucht wirst, musst du uns für Einsätze zur Verfügung stehen.«

»Einsätze –?«

Sie blickte auf ihre Armbanduhr und stand auf. »Das ist alles, was wir dir heute mitzuteilen haben. Hier liegt Kleidung für dich. Wir verlassen jetzt den Raum, warte zehn Minuten, dann gehst du auch. Die Treppe hinauf, dann siehst du schon das Tageslicht. Du musst durch eines der Fenster klettern – und schon bist du im Freien. Man wird mit dir Verbindung aufnehmen. Leb wohl – wir werden uns wohl kaum wieder begegnen. Aus Gründen der Sicherheit.«

Was sie verlangt hatte, geschah. Nach einer Viertelstunde stand ich auf der Straße – ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand.

Ende Protokoll Gareth Lavalle

Dokumentation:

Rede von Troy P. Dryer vor dem Kongress

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren,

ob es uns gefällt oder nicht: Ohne leistungsfähige Computer wäre unsere Zivilisation nicht lebensfähig. Gelänge es einer uns übel wollenden Instanz, unsere Rechenanlagen mit einem Schlag stillzulegen, dann würde ein übergreifendes Chaos entstehen. Denken Sie nur an die Versorgung mit Energie, mit Luft und Wasser, mit Lebensmitteln und Medikamenten. Denken Sie an die Büros und Fabriken, an den Verkehr, an den Nachrichtenaustausch, an die Krankenhäuser, an die Schulen, an die Sicherheitseinrichtungen. Ein solcher Totalausfall mit seinen weitreichenden Folgen erscheint uns undenkbar. Darum lassen Sie mich erklären: Unser Computersystem ist alles andere als sicher, die angedeutete Katastrophe liegt durchaus im Bereich des Möglichen.

Ich möchte Ihnen erläutern, wie es dazu gekommen ist. Im Prinzip begann es mit der Vernetzung, die durch den ungehinderten, praktisch verzögerungsfreien Datenaustausch immense Vorteile mit sich gebracht hat, aber eben dadurch so angreifbar geworden ist. Das liegt daran, dass man mit den Nachrichten auch versteckte Programme versenden kann, die beim Empfänger Sabotageaktionen veranlassen. Zuerst waren es Viren, die Daten löschten oder kopierten und an den Sender zurückleiteten. Diese Art von Programmen hat sich rasch weiterentwickelt, längst sind es nicht mehr nur schematisch vorgegebene Handlungen, derer sie fähig sind, vielmehr sind sie imstande, sich in die Steuerung einzuschalten, die ablaufenden Vorgänge zu analysieren und in sie einzugreifen. Ich verrate wohl kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, dass der Geheimdienst der Allianz schon mehrfach in unser Netz eingedrungen ist und beträchtlichen Schaden angerichtet hat. Das Ärgste haben wir noch rechtzeitig abwenden können, Kontrollmaßnahmen, redundante Auslegung der Systeme und dergleichen haben ihre Aufgabe erfüllt. Wir beobachten aber mit Besorgnis, dass die eingesetzte Software immer raffinierter wird – wir vermuten, dass es sich in manchen Fällen bereits um Produkte der sogenannten KI, der künstlichen Intelligenz, handelt. Es war uns bekannt, dass man drüben an solchen Forschungsprojekten arbeitet, aber wir haben den Verdacht, dass die Entwicklung viel weiter fortgeschritten ist, als wir annahmen.

Meine Damen und Herren, es ist eine tödliche Gefahr, die da auf uns zukommt, denn aus allen möglichen Gründen, zum Teil sogar aus weltanschaulichen, haben wir dieses Forschungsgebiet vernachlässigt. Wenn uns die digitalen Angriffe auf der Basis der künstlichen Intelligenz eines Tages voll treffen – und das könnte, wie unsere Nachrichtendienste melden, schon in den nächsten Jahren der Fall sein –, dann haben wir nichts Gleichwertiges aufzubieten und sind ihnen hilflos ausgesetzt.

Es ist also höchste Zeit zu handeln. Der Plan, der von meinen Mitarbeitern und mir ausgearbeitet wurde, sieht folgende Schritte vor: Um in nächster Zeit abwehrbereit zu sein, bauen wir durch Zusammenschalten aller verfügbaren Rechenkapazitäten einen Großrechner, der zur Überwachung des Netzes eingesetzt wird und uns bei der Konzeption der Abwehrmaßnahmen hilft. Wir nennen dieses Projekt »Sphinx«. Das zugrunde liegende Programmsystem wird weiter ausgebaut und sollte uns in die Lage versetzen, dem Feind gegenüber jene Überlegenheit zurückzugewinnen, die wir dank unserer Nuklear- und Biowaffen fast ein Jahrhundert innehatten. Ich bin überzeugt davon: Wenn wir alle unsere Kräfte konzentrieren, dann werden wir in kurzer Zeit über die höchste denkbare Maschinenintelligenz verfügen, die auf der Basis unseres wissenschaftlich-technischen Fortschritts überhaupt möglich ist.

Sperrfrist: Ende der Konferenz

3.

Gareth hatte das Institut, das alles bot, was man zum Leben brauchte, nur selten verlassen. Einmal war er mit einem Schwebetaxi in ein Museum gefahren, um eine Sammlung von Schriftenrollen aus Kleinasien zu besichtigen. Allerdings, so sagte er sich nachher, wäre dazu ein zeitraubender Ausflug in die Stadt nicht nötig gewesen – die Abbildungen, die er sich über das Netz aufrufen konnte, waren mindestens ebenso aussagekräftig. Er musste sich aber eingestehen, dass es gar nicht so sehr die verlorene Zeit war, die ihn ärgerte, als der Aufenthalt in einer verwirrenden Umgebung, die schwindelerregenden Kurven, die das Schwebeboot weit oberhalb des festen Bodens zog. Ein Kippfenster stand offen, in Stößen wurde dumpf riechende Luft hereingeweht und mit ihr Staub, der in den Augen brannte. Er war froh, als er das Institut wieder betrat, und brauchte einige Beruhigungstabletten, um wieder ins Lot zu kommen.

Er hatte das Institut nicht gerade als seine Heimat empfunden, früher oder später hätte man ihn sicher versetzt – in ein anderes Institut, Forschung, Lehre oder Infotainment –, und es hätte ihm nichts ausgemacht, er hätte nichts vermisst. Jetzt erst wurde ihm klar, wie behütet und umsorgt er gelebt hatte, und auf einmal erfasste ihn ein bisher noch nie erlebtes Gefühl der Ratlosigkeit, ja, der Verzweiflung. Er wusste nicht, wo er war, hatte keine Ahnung, was er anfangen sollte. Er blickte sich um: ein langer Straßenzug mit löchriger Fahrbahn, die Gebäude verwahrlost, offenbar unbewohnt – konnte man innerhalb der Kuppel so verschwenderisch mit dem Platz umgehen?

»Was machst du hier?« Neben ihm war ein Mädchen aufgetaucht, vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, soweit er das beurteilen konnte. Violette geringelte Haare, ein Rock aus bunten Bändern, die die Beine frei ließen. Mit Kindern hatte er seit seinen eigenen Kindheitstagen nichts mehr zu tun gehabt. Sahen die jetzt so aus?

»Suchst du etwas? Brauchst du etwas zum Rauchen? Da könnte ich dir helfen.« Das Mädchen kam langsam näher, blieb dicht vor ihm stehen. »Ich bin Boba. Hat dich jemand geschickt? Wer bist du? Wie kommst du hierher?«

Gareth wusste nicht, was er antworten sollte. Er hatte ja einen neuen Namen, aber der fiel ihm nicht ein. Und warum hätte er auch Auskunft geben sollen?

»Möchtest du Sex? Darüber könnte man reden. Oder gefalle ich dir nicht?« Sie schwenkte herausfordernd die Hüften.

Gareth trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Aus seinem Gesichtsausdruck ließ sich wohl der Widerwillen ablesen, den er bei dem Gedanken an direkten Sex außerhalb einer Cyberkabine spürte. Das Mädchen, das sich Boba nannte, sah ihn verächtlich an, drehte sich um, rief einen Namen, den Gareth nicht verstand. Daraufhin erschien in einer Türöffnung ein junger Mann mit dunkel geschminkten Augen. Er trug einen Mantel, der bis zum Boden reichte, und eine mit Plastikfedern geschmückte Mütze. Im Mundwinkel steckte eine Zigarre.

»Der Kerl ist frech geworden«, sagte Boba und trat beiseite, als wollte sie ihren Partner auffordern, die weiteren Aktionen zu übernehmen. Als dieser näher kam, stellte Gareth fest, dass er auch nicht älter als das Mädchen war.

»Du willst uns nicht sagen, wer du bist, he!«, sagte der Junge. »Dann lass sehen, was du so mit dir herumträgst. Los, leer die Taschen aus.« Auf einmal blickte Gareth in den Lauf einer Waffe – war es eine Laserpistole, ein Natriumspray oder eine Schleuder für Injektionsnadeln? »Na los, heraus mit dem Mist, ich bin neugierig.«

Gareth zögerte noch, da rauschte es über ihnen und mit einem kräftigen Stoß setzte ein Schwebeboot auf. Zwei Männer in Schutzanzügen sprangen heraus, einer versetzte dem jungen Räuber einen Hieb, der ihm die Pistole aus der Hand schlug, und gab ihm zwei hell klatschende Ohrfeigen.

»Gib dich nicht mit denen ab«, sagte der andere zu Gareth. »Gesindel. Wir haben uns ein wenig verspätet – tut mir leid. Steig ein, es wird Zeit, dass wir uns verdrücken.«

Die beiden jungen Leute waren verschwunden, doch am Ende der Straße tauchten nun weitere verdächtige Gestalten auf. Gareth hatte auf dem Hintersitz Platz genommen, die beiden Männer waren vorn eingestiegen, und schon rauschte es, eine Staubwolke stieg auf, und das Nächste, was er sah, war der beunruhigende Blick in die Tiefe.

Der Jüngere der beiden bemerkte Gareths Unbehagen. »Eine üble Gegend. Ein altes Industriegelände, noch nicht saniert. Dort das Krematorium – aber das kennst du ja. Nur wenige, die da drinnen waren, kommen munter wieder heraus.« Er lachte über seinen Scherz.

»Danke für die Hilfe«, sagte Gareth. »Wer seid ihr?«

»Ich bin Josh«, sagte der Ältere der beiden, der auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, »und das ist Konradin.«

»Und wohin geht die Reise?«

»An deinen Einsatzort. Du wirst schon sehen.«

Gareth gab sich zunächst damit zufrieden. Er war erschöpft und lehnte sich in seinem Sitz zurück.

»Hast du Durst?« Josh drehte sich zu Gareth herum und reichte ihm eine Halbliterflasche mit einem rosafarbenen Getränk, und Gareth trank – etwas ungeschickt, da er nicht gewohnt war, aus einer Flasche zu trinken, und schon gar nicht während eines Kurvenflugs. Die Flüssigkeit hatte einen merkwürdigen chemischen Beigeschmack. Ein Teil davon floss ihm übers Kinn und tropfte auf seine Jacke.