Das größte Glück meines Lebens - Maeve Haran - E-Book

Das größte Glück meines Lebens E-Book

Maeve Haran

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Beschreibung

Man ist nie zu alt, um seinen Träumen zu folgen …

Stella Ainsworth führt ein ruhiges Leben mit ihrem leicht pedantischen Mann, ihrer chronisch unzufriedenen Tochter und ihren drei geliebten Enkeln. Eigentlich ist sie nicht unglücklich, auch wenn es sie zunehmend stört, dass ihre Familie sie für selbstverständlich nimmt. Doch dann steht ihr Leben plötzlich Kopf, denn ihre Jugendliebe taucht wieder auf. Cameron Keene verließ England vor vielen Jahren und wurde zur Rockikone der 60er-Jahre. Zu Stellas Verwunderung erklärt er in einem Interview, dass sein berühmtester Song – der zur Liebeshymne einer ganzen Generation wurde – von ihr handelt und dass er zurückgekommen sei, um sie zu finden …

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Buch

1969 war die hübsche Kunststudentin Stella die Geliebte des erfolgreichen Rocksängers Cameron Keene. Doch als der in die USA auswanderte, beschloss Stella, in England zu bleiben, und heiratete schließlich den soliden, aber leicht pedantischen Matthew.

Knapp fünfzig Jahre später, im Jahr 2016, führt sie ein ruhiges Leben mit Matthew, ihrer immer etwas unzufriedenen Tochter Emma und ihren drei geliebten Enkeln. Unglücklich ist sie nicht direkt, doch es stört sie mehr und mehr, dass ihre Familie sie für selbstverständlich nimmt. Und dann steht ihr Leben plötzlich Kopf, denn sie hört ein Radiointerview mit Cameron, in dem er erklärt, dass »Don’t Leave Me in the Morning«, sein berühmtester Song – der zur Liebeshymne einer ganzen Generation wurde –, von Stella handle und dass er zurückgekommen sei, um sie zu finden …

Autorin

Maeve Haran hat in Oxford Jura studiert, arbeitete als Journalistin und in der Fernsehbranche, bevor sie ihren ersten Roman veröffentlichte. Alles ist nicht genug wurde zu einem weltweiten Bestseller, der in 26 Sprachen übersetzt wurde. Maeve Haran hat drei Kinder und lebt mit ihrem Mann in London.

Von Maeve Haran bei Blanvalet lieferbar:

Die beste Zeit unseres Lebens

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www.twitter.com/BlanvaletVerlag.

MAEVE HARAN

ROMAN

Deutsch von Karin Dufner

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »What Became of You, my Love?« bei Pan Books, an imprint of Pan Macmillan, a division of Macmillan Publishers Limited, London.
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Maeve HaranCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Blanvalet Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Angela KuepperUmschlaggestaltung: www.buerosued.deUmschlagabbildung: Getty Images/Matilda DelvesSatz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad AiblingLH ∙ Herstellung: samISBN: 978-3-641-19875-6V003
www.blanvalet.de

Für meine musikalischen Helden

(die nach Aussage meines Mannes alle vor 1972 populär waren)

Wie Bruce Springsteen in »Glory Days« schrieb, hoffe er, er werde im Alter nicht herumsitzen und daran denken, wie toll das Leben gewesen sei, als wir noch alle jung waren.

Wahrscheinlich tut er es doch.

Prolog

1969

Obwohl es ein sonniger, wenn auch kalter Tag war, nahm Stella sogleich die seltsame Atmosphäre in der Villa wahr. Früher, vor seinem Verfall, musste das Glebe eine Pracht gewesen sein. Doch inzwischen wirkte es geradezu abweisend.

Natürlich konnte das auch an ihrem schlechten Gewissen liegen.

»Der Grund ist, dass es hier angeblich spukt«, stellte Duncan fest, ohne sie anzuschauen. »Wir haben es gemietet, weil es billig ist und auch schon von anderen Bands genutzt wurde. Also gehen wir davon aus, dass es okay ist.«

Seit jener Nacht in der vergangenen Woche konnten sie einander nicht mehr in die Augen sehen. Inzwischen verstand sie kaum noch, wie sie mit Duncan dem Langweiler, Camerons schüchternem und linkischem Freund, hatte im Bett landen können. Doch sie hatte sich wirklich mies gefühlt, und er hatte ihr vorübergehend Trost und Verständnis geboten.

Cameron hingegen wirkte merkwürdig aufgekratzt. Von seinem spontanen USA-Trip war er ziemlich niedergeschlagen zurückgekehrt, aber seit er seinen neuen Song produziert hatte, hatte er wieder Oberwasser. Offen gestanden war er so überschwänglich, dass sie sich fragte, ob er etwas einwarf.

Die Plattenfirma hatte ihm gnadenlos mitgeteilt, sie habe kein Interesse, wenn er nichts Neues und Durchschlagenderes zu bieten habe.

Aber das war ihm gelungen.

Es war fantastisch. Cameron und seine Musiker hatten sich hier im Glebe versammelt, um einige alte Stücke zu überarbeiten, den neuen Song aufzunehmen und ihn anschließend im Transporter draußen zu mischen. Dann würde man ja sehen, ob die Plattenfirma es sich nicht doch noch anders überlegte.

Innen im Haus war es eiskalt. Die Heizung funktionierte eindeutig nicht, und obwohl es einige riesige offene Kamine gab, hatte sich niemand die Mühe gemacht, als Willkommensgruß ein Feuer zu schüren. Die zerschlissenen roten Brokatvorhänge zuzuziehen würde auch nicht viel bringen, denn sie waren von Motten zerfressen und fielen auseinander, obwohl sie früher sicher einmal wunderschön gewesen waren. Stella graute bei dem Gedanken, wie es wohl in den fünf Schlafzimmern aussehen mochte, und sie versuchte sich einzureden, hier zu sein sei ein großes und unbeschreiblich cooles Abenteuer.

Laurie, der Roadie, hatte seine Pudelmütze aufbehalten und empfahl den anderen, das Gleiche zu tun.

Stella wünschte, sie hätte etwas Wärmeres angezogen als das fließende bodenlange Seidenkleid mit Paisleymuster, das sie auf dem Markt in Kensington gekauft hatte. Sie war begeistert gewesen, als sie es entdeckt hatte, weil es so exotisch und ausgeflippt aussah, genau das Richtige für die Freundin eines Rockstars. Sie hatte sogar überlegt, es mit einem geblümten Stirnband zu kombinieren, doch jetzt, mit nur einem dünnen Unterrock darunter, zitterte sie vor Kälte.

»Kann ich mir deine Jacke leihen?«, fragte sie Cameron und deutete auf seine übliche scharze Bomberjacke von Levi’s.

»Wir sind hier nicht auf einem dämlichen Ball in Oxford«, lautete seine spitze Antwort.

Duncan gab ihr seine, noch immer, ohne sie anzusehen.

»Wo soll ich die Drums aufbauen, Dunc?«, erkundigte sich der Hintergrundmusiker, den sie für diese Session angeheuert hatten.

Offenbar hatte Duncan sich zu einer Art Manager entwickelt. Er ließ den Blick durch das Wohnzimmer mit den indischen Überdecken auf den Sofas schweifen und schnupperte den Duft der Patschuli-Räucherstäbchen.

»Vermutlich, um den Muffgeruch zu übertünchen«, hatte Laurie gejammert.

»Hier.« Duncan deutete auf eine Stelle in der riesigen Vorhalle, direkt unter einem Kronleuchter, der dringend hätte geputzt werden müssen.

»Was, auf den Fliesen?«

»Drin ist kein Platz.«

Mit Lauries Hilfe baute er einige schalldämpfende Schirme in jeder Ecke des ehemals prachtvollen Wohnzimmers auf, um die Instrumente voneinander zu trennen. Die Leadgitarre und der Bassist nahmen, mit Cameron in der Mitte, ihre Positionen ein.

Cameron stand am Mikro und strich sich das dichte schulterlange Haar zurück, von dem seine Mutter stets behauptete, es sähe aus wie bei einem Mädchen. Nur, dass Cameron Keene so gar nichts Mädchenhaftes an sich hatte.

»Ich muss jetzt anfangen, damit ich mir nicht den Arsch abfriere.« Grinsend stimmte er den neuen Song an.

Don’t leave me in the morning,

Baby, I don’t want to let you go;

Don’t leave me in the morning,

Baby, I know our love could grow …

Beim Zuhören vergaß Stella die Kälte. In Camerons Stimme schwangen so viel Verletzlichkeit, ungeschönter Schmerz und Sehnsucht mit, dass sie ihn am liebsten in die Arme genommen hätte. Sie war sehr gerührt.

Wenn die Plattenfirma nicht kapierte, dass dieser neue Song ein Hit werden würde, hatten die dort eine Schraube locker.

»Füg noch ein bisschen Echo von der Echo-Maschine hinzu«, riet Duncan. »Mit dem Rückhall der Holzvertäfelung klingen die Drums unglaublich. Und deine Stimme ist toll, Cam, wie Leonard Cohen mit einem Hauch Frank Sinatra.«

Alle lachten. Cameron streckte die Hand nach Stella aus. »Ich muss eine Viertelstunde Nickerchen halten«, verkündete er und schleppte Stella in Richtung der windschiefen Treppe, während die anderen ihnen mit unterschiedlichen Graden von Neid und Lüsternheit nachblickten.

»Gut, aber nicht länger.« Duncan sah sie noch immer nicht an. »Wir haben den Laden nur für drei Tage.«

Stella unterzog ihre verworrenen Gefühle einer Prüfung. Da war eine gewisse Hochstimmung, weil sie die Freundin eines Rocksängers war und so richtig über die Stränge schlug, gemischt mit einer gewissen gutbürgerlichen Verlegenheit aus genau demselben Grund. Außerdem war sie eindeutig erleichtert, weil Duncan den nächtlichen Ausrutscher Cameron gegenüber offenbar nicht erwähnt hatte. Und dazu kam noch eine gehörige Portion Ärger, weil ihnen nur eine Viertelstunde bleiben würde, um sich zu lieben.

Daran würde sie etwas ändern müssen.

»Dieser Song …«, begann sie, weil sie unbedingt mehr darüber erfahren musste. »Er enthält so viel Schmerz und Verlust …«

»Glaubst du, er handelt von dir?« Plötzlich lachte Cameron sie aus. »Warum glaubt ihr Frauen immer, ihr wärt der Mittelpunkt im Universum eines Typen? Es ist ein Song, Stell. Ein Kunstwerk. Wie ein Picasso, nur dass die Ohren an der richtigen Stelle sitzen.« Er tätschelte ihr die Hand. »Ach, komm schon, sorry, Schatz. Wir gehen besser wieder runter, sonst kreuzt Duncan noch auf und hält uns einen Vortrag darüber, dass wir die Miete verschwenden.«

Stella wandte sich ab, um die Tränen zu verbergen, die ihr angesichts seines gefühllosen Tonfalls in die Augen stiegen. Die Freundin eines Leadsängers zu sein brachte einiges mit sich, auf das sie, offen gestanden, liebend gern verzichtet hätte.

Kapitel 1

2016

Stella breitete die Zutaten für die Spaghetti bolognese auf der hölzernen Arbeitsplatte ihrer im Stil der Arts-and-Crafts-Bewegung gestalteten Küche aus: Rinderhack, Zwiebeln, Knoblauch, Dosentomaten, Tomatenmark, Salz, Pfeffer, getrockneter Oregano und Basilikum. Dazu kamen noch ihre geheimen Ingredienzien: Rotwein und eine Parmesanrinde, die laut Aussage eines Fernsehkochs das Gericht verwandeln würde, was tatsächlich stimmte. Stella fragte sich, wie oft sie wohl schon Spaghetti bolognese gekocht hatte. Prufrock von T. S. Eliot mochte sein Leben in Kaffeelöffeln bemessen haben, doch Stellas teilte sich eindeutig in Töpfe mit Spaghetti bolognese auf.

Es war zwar ein einfaches Gericht, eignete sich aber ausgezeichnet für einen Tag, an dem ihre Tochter Emma mit Schwiegersohn Stuart und den geliebten Enkelkindern plus ihrem überkorrekten Mann Matthew und dazu noch ihre unzuverlässige beste Freundin Suze zu unterschiedlichen Zeiten aufkreuzen würden.

Außerdem hatte sie heute Nachmittag einen Termin mit einem ganz besonders mäkeligen Hundebesitzer. Stellas Karriere als Tiermalerin florierte zu ihrer großen Überraschung, seit es soziale Medien gab. Alles hatte damit angefangen, dass sie zu dem Schluss gekommen war, ein Blog könne gut fürs Geschäft sein. Also hatte sie einen mit einem niedlichen Jack Russell namens Frank angefangen, den sie vor einigen Jahren porträtiert hatte. Nach und nach hatte sie Bilder von Franks vierbeinigen Freunden hinzugefügt, und so war die ganze Sache ins Rollen gekommen.

Und sie musste zugeben, dass das Resultat ausgesprochen zufriedenstellend war: eine ganze Reihe von Haustieren, die gemalt werden sollten. Natürlich war es schwierig, sie so reizend darzustellen wie Frank. Doch wie jeder erfolgreiche Porträtmaler wusste, war ein wenig Schmeichelei stets angebracht, ganz gleich ob es um Menschen, Haustiere und vermutlich auch um Marsmännchen ging. Selbst wenn man es damit wohl nie in die National Portrait Gallery schaffen würde, konnte man doch ganz ordentlich daran verdienen. Außerdem war es Stella, seit Matthew nicht mehr arbeitete, immer wichtiger geworden, aus dem Haus zu kommen. Darüber dachte sie lieber nicht zu gründlich nach, insbesondere deshalb, weil die Statistiken zum Thema »gestiegene Lebenserwartung« ihnen mögliche weitere dreißig gemeinsame Jahre verhießen.

Bei dieser Vorstellung wären Stella beinahe die Zwiebeln angebrannt. Sie wurde von Suzes Ankunft gerettet, der Freundin, die ihr seit der Kindheit und während des Kunststudiums treu geblieben war. Sie hatte einen Käsekuchen von Marks and Spencer mitgebracht. Wie immer bot Suze ein farbenfrohes Bild, ein wenig wie Vivienne Westwood mit einem Hauch von Grayson Perry. Auch in ihrem Alter liebte sie es, Secondhandläden nach Samtvorhängen und Überresten von Lampenschirmen aus Brokat zu durchkämmen, die sie dann erstaunlich geschickt auf ihrer betagten Singer-Nähmaschine zu beeindruckenden Gewändern verarbeitete.

»Der kommt gerade aus der Gefriere und muss auftauen«, verkündete Suze. »Deshalb bin ich jetzt schon da. Es stört dich doch nicht, oder? Wenn ich nicht so damit beschäftigt wäre, mir die Wiederholungen von The Wire anzusehen, hätte ich einen fettfreien Schokokuchen mit einer Füllung aus Pariser Creme zaubern können, aber wie du ja weißt, habe ich mit meiner hausfraulichen Phase abgeschlossen.«

Stella verkniff sich die Frage, wann das bei ihrer Freundin je anders gewesen wäre, und nahm den Kuchen dankbar entgegen. »Magst du einen Kaffee?«

»Tolle Idee. Hast du Schokokekse da? Ich muss nämlich meinen Cholesterinspiegel hochtreiben. Meine dämliche Ärztin verschreibt mir keine Statine, solange er nicht höher ist, also gebe ich mir Mühe, ihr den Gefallen zu tun.« Suze war davon überzeugt, dass Statine die Antwort auf sämtliche Zipperlein ihrer Generation waren, und hatte sich schrecklich geärgert, als man ihr dieses Wundermittel mit der fadenscheinigen Ausrede, sie sei doch kerngesund, verweigert hatte. Erstaunlicherweise bewahrte Suze sich diesen Zustand, obwohl sie hauptsächlich im Bademantel herumlungerte und eine DVD nach der anderen glotzte. »Wenn man keinen Mann hat«, lautete ihr Lieblingsargument, »sind Filme ein annehmbarer Ersatz. Wenigstens muss man nicht stundenlang darüber debattieren, wer wohl der Mörder ist.«

»Ich dachte immer, genau darum geht es bei den Serien«, erwiderte Stella. »Sie liefern alten Ehepaaren Gesprächsstoff, wenn die Kinder erst mal aus dem Haus sind. Ehen, gerettet von sadistischen Mordfällen.«

Offen gestanden, hatten Stella und Matthew auch Spaß daran. Eigentlich, so dachte Stella manchmal, war es das Einzige, woran sie noch Spaß hatten. Vielleicht sollte man diese Lebensphase danach benennen. Sich verlieben. Sich häuslich niederlassen. Kinder kriegen. Das Haus abzahlen. Rente. Und danach Serien schauen.

Stella holte die Schokokekse aus der Speisekammer. Natürlich befanden sie sich in einer Arts-and-Crafts-Dose. Auf dieser hier prangte ein beliebtes Drossel-Dekor.

»Leidet Matthew noch immer am William-Morris-Wahn?«, fragte Suze. »Wo ist er eigentlich? Versucht er, die letzte Tapetenrolle des großen Meisters auf irgendeinem Flohmarkt aufzutreiben?«

Sie lachten beide.

Eigentlich hatte alles ganz harmlos angefangen. Als die meisten ihrer Altersgenossen vor dreißig Jahren in die Metropole gezogen waren, hatte Matthew darauf gedrungen, in Camley an Londons südlichstem Stadtrand zu bleiben, wo die Immobilienpreise günstig waren und die Hauptstraße unter dem Einfluss seiner Helden stand, der Vertreter der Arts-and-Crafts-Bewegung. Also hatten sie sich hier niedergelassen und ein Haus mit einem Türmchen und einem Erkerfenster entdeckt. Mit der Zeit hatte es Matthew mit Schätzen aus der Arts-and-Crafts-Periode gefüllt – Kaminumrandungen aus gehämmertem Kupfer, schlichten Holzstühlen mit Sitzflächen aus Binsen, marokkanisch inspirierten Couchtischen von Liberty, der großen Stilikone, runden Messingspiegeln mit Intarsien aus türkisfarbenem Emaille. Was nicht in jene Zeit passte, wurde im Haus nicht geduldet. Das Prunkstück war ein gewaltiger bestickter Wandteppich, auf dem der berühmteste Ausspruch von William Morris prangte:

HABE NICHTS IN DEINEM HAUS,

VON DEM DU NICHT GLAUBST,DASS ES NÜTZLICH ODER SCHÖN IST.

Wenn Stella den Wandteppich betrachtete, musste sie hin und wieder den Gedanken beiseiteschieben, dass Matthew inzwischen möglicherweise in keine dieser beiden Kategorien mehr passte.

»Warum ziehst du nicht einfach in ein Museum, da hast du es gemütlicher?«, hänselte Suze sie gelegentlich, und Stella wusste genau, was sie meinte. Das Haus spiegelte Matthew viel mehr wider als sie selbst. Es war Stella unangenehm zuzugeben, wie unsicher sie zu Anfang ihrer Ehe in Geschmacksfragen gewesen war (wie peinlich für eine Frau!) und welches Selbstbewusstsein Matthew hingegen in diesem Bereich besaß. Allerdings hatte auch sie ihre Refugien: das Schlafzimmer und ihr Atelier. Den Rest hatte sie der Arts-and-Crafts-Bewegung geopfert. Deren Vertreter hätten sich sicher hier wie zu Hause gefühlt, wenn sie je zu Besuch gekommen wären. Nur, dass sie schon tot waren.

Natürlich war es nicht immer so gewesen. Als sie sich kennenlernten, war Matthew nicht exzentrisch und zwanghaft, sondern auf interessante Weise anders. Obwohl er einen Abschluss in Chemie hatte, interessierte er sich hauptsächlich für Matisse und für alte Saxophone, die er in aller Stille sammelte. Vielleicht hätte sie die Anzeichen damals schon bemerken sollen. Er war düster und faszinierend und trug nur Schwarz und ab und zu eine Baskenmütze und eine Sonnenbrille wie seine saxophonspielenden Abgötter. In der Hippiezeit, die geprägt war von langen Haaren und Schlaghosen, war er damit eindeutig aufgefallen.

Man musste ihm zugutehalten, dass er sofort nach ihrer Hochzeit und Emmas Geburt seinen Traum von einer Musikerkarriere aufgegeben und stattdessen eine Ausbildung zum Steuerberater gemacht hatte. Immer wieder hielt Stella sich streng vor Augen, dass sie es ohne Matthews Einkünfte niemals geschafft hätten. Allerdings hatte auch sie Kompromisse gemacht. Sie hatte den Wunsch, Architektur zu studieren, auf Eis gelegt und war Hausfrau und Mutter geworden. Hatte sie zu schnell das Handtuch geworfen und sich eingeredet, dass sie sich während Matthews Ausbildung auf gar keinen Fall eine Kinderbetreuung leisten konnten?

Doch sie hatte große Freude daran gehabt, sich um Emma zu kümmern. Während es ihrer eigenen Mutter schwergefallen war, Gefühle zu zeigen, hatte Stella nichts mehr geliebt, als in ihrem großen Vorstadtgarten mit ihrem niedlichen Baby auf einer Decke unter dem Apfelbaum zu liegen. Als ihre ehrgeizigen Freundinnen, die Camley verlassen hatten, um sich höherfliegenden Träumen zu widmen, entsetzt die Augen aufrissen, weil sie lieber in der Vorstadt blieb und ihr Kind bemutterte, schloss Stella neue Freundschaften. Und Suze, exzentrisch wie eh und je und überhaupt nicht in eine Vorstadt passend, hatte eine Brücke zwischen den beiden Welten geschlagen und interessierte sich so wenig dafür, was andere Leute dachten, bis die irgendwann nicht mehr gewagt hatten, sich irgendetwas zu denken.

Also dachte sie, dass es Matthew nach einem Leben voller Maloche vermutlich verdient hatte, so exzentrisch zu sein, wie er wollte. Sie wünschte nur, er würde Golf spielen, anstatt auf Flohmärkten seinem Morris-Wahn zu frönen. Allein die leiseste Andeutung, sie könnten sich vielleicht verkleinern und in eine hübsche Wohnung mit tiefen, gemütlichen Sofas, dicken Teppichen und Fußbodenheizung ziehen, anstatt in ästhetisch perfekten Räumen mit gebohnerten Dielen und akkurat platzierten Kunstgegenständen zu leben, war für Matthew in etwa so, als würde man die Entdeckung der DNA infrage stellen oder an der Existenz des freien Willens zweifeln. Also ein absoluter Affront gegen alles, woran er glaubte.

»Komm schon«, forderte Suze sie auf, »am besten machst du jetzt mit deiner Haute Cuisine weiter. Lass uns wenigstens ordentliche Musik hören.« Sie drehte an dem Retro-Radio von Roberts herum, das Matthew zähneknirschend in der Küche duldete.

»Radio 2!«, protestierte Stella, eine eingefleischte Anhängerin von Radio 4.

»Hast du es noch nicht mitgekriegt? Radio 2 bringt inzwischen unsere Musik.«

Stella war entsetzt. Zum letzten Mal hatte sie vor dreißig Jahren Radio 2 gehört, und zwar bei ihrer Schwiegermutter, als Jimmy Young noch ein Star gewesen war und einem Tausende von Tipps gab, was man mit einer ausrangierten Strumpfhose alles anfangen konnte.

Wie, um sie zu überzeugen, füllte die fröhliche Stimme von DJ Mike Willan den Raum. »Hallo, Blumenkinder! Alle, die sich noch an die verrückte Hippiezeit erinnern, heben jetzt die Hände.«

Stella und Suze reckten lachend die Hände in die Luft. »Ich verstehe, was du meinst!«

»Ich habe später in der Show noch eine Überraschung für euch!«, begeisterte sich Mike. »Einen mega-berühmten Überraschungsgast, der dafür sorgen wird, dass ihr Mädels in Ohnmacht fallt! Also zückt eure Streichhölzer!«

»Es wird doch nicht etwa Bob Dylan sein?«, mutmaßte Suze. »Weißt du noch, die Dylan-Konzerte, bei denen wir alle Streichhölzer angezündet und hochgehalten haben?«

»Emma sagt, inzwischen nehmen sie die Lichter ihrer Handys.« Beide schüttelten missbilligend die Köpfe.

»Wie alt ist Dylan eigentlich?«

»Etwa hundertzwei.« Stella zuckte die Achseln.

Suze konsultierte ihr Telefon. »Fündundsiebzig. Verdammt, Stell, wie konnte das passieren?«

»Weißt du, was Chrissie Hyde sagt? Alle unsere Helden werden in den nächsten zehn Jahren sterben.«

»Wie aufmunternd! Obwohl, bei Today melden sie jeden Tag den Tod eines Rockstars«, räumte Suze bedrückt ein. »Die sollten die Sendung von ›Gedanken des Tages‹ in ›Todesfall des Tages‹ umbenennen! Aber wir sind noch da. Wie heißt es noch in dem Song von den Small Faces? ›Mustn’t grumble‹ – mecker nicht rum.«

Zum Glück lenkte das nächste Stück sie von ihren trübsinnigen Gedanken ab. »Das ist Steppenwolf!«, rief Suze und drehte das Radio so laut auf, dass die Bilder an den Wänden klirrten. »›Born to Be Wild‹! Herrje, ich liebe dieses Lied. Ich weiß noch, wie ich bei irgendeinem Festival die ganze Nacht aufgeblieben bin und auf meinem Schlafsack gesessen habe, bis sie bei Morgengrauen auftraten!«

Sie überließen die Spaghetti bolognese ihrem Schicksal, hüpften in der Küche herum, ließen imaginäre Harley Davidsons aufheulen und sangen aus voller Kehle »Born to Be Wild«.

»Und hier ist er, unser Überraschungsgast – Cameron Keene!«

»Das kann nicht sein!«, platzte Stella heraus. »Der war doch schon seit Jahren nicht mehr auf Tournee.«

»Vielleicht braucht er ja die Kohle wie Leonard Cohen, als sein Manager mit dem ganzen Moos durchgebrannt ist.«

Stella lehnte sich an die Kommode und betrachtete das Foto, das Matthew ihr im ersten Semester abgeschwatzt hatte. Riesengroße Augen, blondes Haar und eine Frisur wie Marianne Faithfull, in einem ultrakurzen Minirock und kniehohen Wildlederstiefeln.

Auf die Kunsthochschule zu gehen war ihr wie ein gewaltiges Abenteuer erschienen. Wundervoll und gleichzeitig beängstigend. Sie hatte sich als Erste in ihrer Familie für ein Studium entschieden. Als ihre Eltern sie am ersten Tag zum College gebracht hatten, hatten sie sich fein gemacht wie für eine Hochzeit, ihr Dad in seinem einzigen Anzug, ihre Mum mit einem Blumenhut. Wie entsetzt und peinlich berührt sie gewesen waren, als sie die lässige Kleidung der anderen Eltern bemerkt hatten! Sie hatten nie wieder einen Fuß in die Nähe des Colleges gesetzt. Vielleicht hatten sie ja recht gehabt mit ihrer Furcht, dass ihr einziges Kind sie nun verlassen und in eine fremde Welt ziehen würde, die es für immer verändern würde. Dass sie sich, wie Bob Dylan es prophezeit hatte, sehr bald ihrem Einfluss entziehen würde. Verständnislos und ein wenig gekränkt hatten sie beobachtet, wie sie ihre Röcke kürzte, auf Demos ging und sich mit jungen Männern umgab, die mit ihren langen Haaren in ihren Augen wie Mädchen aussahen. Bei ihren Besuchen zu Hause verschwand sie mit dicken Wälzern, deren Titel sie nicht verstanden, in ihrem kleinen Zimmer und drehte dort ebenso unverständliche Musik auf. War seitdem wirklich eine Lebenszeit vergangen?

»Doch bevor wir uns mit Cameron selbst unterhalten«, fuhr Mike Willan fort, »hören wir uns den Song an. Er ist noch immer eines der bekanntesten Stücke aller Zeiten. Meine Damen, schlagen eure Herzen schon schneller? Wie lange ist das jetzt her, Cameron?«

»Ich war noch nie gut in Mathe«, erwiderte eine raue, sonore Stimme, die einen an verqualmte Räume und durchzechte Nächte denken ließ.

»Mein Gott, er ist es wirklich!«

Suze legte den Arm um Stella, und sie standen wie von einer Hippiefee verhext da und lauschten den Worten von Cameron Keenes berühmtestem Stück »Don’t Leave Me in the Morning«.

»Nicht auszudenken, dass wir ihn mal kannten«, flüsterte Suze ehrfürchtig. »Und du sogar noch besser als ich.«

Stella hatte ihrer Freundin gar nicht zugehört. Stattdessen verfolgte sie gebannt die Worte, die weltweit zu einer Hymne der Liebenden geworden waren. Wie viele Menschen waren mit jemandem ins Bett gegangen und hatten inständig gehofft, dass dies der Beginn einer großen Liebe sein würde. Wie viele waren zugleich voller Furcht gewesen, der andere könne bereits der Ansicht sein, das sei ein Fehler gewesen, und könne es nicht erwarten, sich anzuziehen und aus dem Staub zu machen?

Cameron Keenes raue Stimme vermittelte eine leidenschaftliche Sehnsucht, untermalt mit der nackten Angst, verlassen zu werden. In diesem Song kam das Gefühl noch überwältigender rüber, weil es diesmal den Mann traf, wo es doch sonst meist die Frau war, die sich benutzt und weggeworfen fühlte. Und während Stella lauschte, spürte sie, wie die Jahre von ihr abfielen, bis sie wieder ihr achtzehnjähriges Selbst war, das zuhörte, wie das Demo-Band vor so langer Zeit im Glebe aufgenommen wurde.

»Ich frage mich, wie viele Leute in ihrem Schlafzimmer gesessen und das Lied immer wieder abgespielt haben«, wandte sich Mike Willan an sein Publikum, als die Musik verklang. »Auf mich trifft es ganz sicher zu. Und wenn du das hörst, Janet Morgan, möchte ich dir gerne sagen, dass ich endlich über dich hinweg bin.« Er sprach seinen Studiogast an. »Ich habe hier eine Beschreibung deiner Stimme, Cameron. Die gefällt dir ganz sicher.« Der DJ verfiel in ein erotisches Raunen. »Sie erzählt von rauchiger, einsamer Konkupiszenz, die vom Herzen kommt, wo Liebe und Verlust wohnen.«

»Was bedeutet Konkupiszenz?«, fragte Cameron romantiktötend.

»Ich glaube, dass man wirklich, wirklich auf jemanden steht.«

Cameron Keene lachte auf. »Dann stimmt es ganz eindeutig. Ich habe wirklich total auf die Frau gestanden, für die ich diesen Song geschrieben habe.«

»Hat sie dich verlassen?«

Wieder lachte Cameron auf. »Sie hat einen Steuerberater geheiratet.« Seine Stimme klang ungläubig, noch immer nach all den Jahren. Dann fügte er hinzu: »Oh, Stella, wie konntest du mir das antun?«

Suze packte ihre Freundin am Arm. »Mist, Stella, hast du das gehört? Er hat den Song wirklich für dich geschrieben!«

Stella schüttelte den Kopf. Sie erinnerte sich genau daran, dass er ihr gesagt hatte, in dem Lied ginge es gar nicht um sie. Er hatte ihr sogar vorgeworfen, sie verhielte sich wie die meisten Frauen, die sich immer als Mittelpunkt des Universums sähen. Typisch Cameron, seine wahren Gefühle zu verbergen. Vielleicht hatte er ja Angst vor Nähe gehabt oder sie kränken wollen, als Strafe, weil sie sich geweigert hatte, mit ihm nach Amerika zu gehen?

Stella sagte sich, dass sie vernünftig bleiben musste und sich nicht in etwas hineinsteigern durfte. »Wahrscheinlich war das nur ein Publicity-Gag. Klingt doch ziemlich beeindruckend.«

Mike Willan war offensichtlich fasziniert. »Und hast du sie seitdem wiedergesehen?«, erkundigte er sich, weil er die Geschichte einer längst verlorenen Liebe witterte.

»Nein«, antwortete Cameron und wirkte dabei erstaunlich bescheiden und bedrückt. »Aber vielleicht jetzt, da ich wieder hier bin. Sie hatte so eine erstaunlich strahlende Unschuld an sich. Möglicherweise inspiriert sie mich ja noch einmal.« Cameron lachte gleichzeitig sexy und enttäuscht auf. »Denn das könnte ich wirklich brauchen. Obwohl ich zehn Alben rausgebracht habe, war das mein größter Hit.«

»Und du hattest ein recht ereignisreiches Leben …«

»Meinst du den Alkohol, die Drogen und die Scheidungen?«

Suze lachte auf. »Den Typen muss man einfach gernhaben.«

»Ja. Erinnert mich an Keith Richards.« Stella klammerte sich an die Realität.

»Obwohl sie inzwischen wahrscheinlich …« Sie hielten beide inne. Es war, als ob nicht nur sie beide, sondern ganz England oder sogar die ganze Welt eine Pause einlegten. »… über sechzig sein muss. Womöglich ist sie eine grauhaarige Oma.«

Cameron Keene, der vom Schicksal gebeutelten Rockikone, schien es die Sprache verschlagen zu haben. »Mein Gott, daran habe ich gar nicht gedacht. Vielleicht sollte ich doch nicht versuchen, sie zu finden.«

»Der Mann hat Nerven!«, erboste sich Suze. »Ich wette, der ist auch kein Ölgemälde mehr.«

»Wirst du während deines Aufenthalts hier Konzerte geben?«, lieferte Mike Willan ihm das Stichwort.

Sein Studiogast schien über den Themenwechsel erleichtert. »Ja. Danke, dass du mich dran erinnerst. Mein Manager wird sich sicher darüber freuen. In zwei Wochen fange ich im Roundhouse an, danach kommen Cardiff, Manchester, Leeds, Glasgow und zu guter Letzt Brighton.«

»Fantastisch. Vielen Dank, Cameron Keene, und viel Glück bei der Suche nach deiner Inspiration von damals.«

Stella und Suze standen ehrfürchtig da, während hinter ihnen auf dem Herd still und heimlich die Spaghettisauce anbrannte. Es war kaum zu fassen. Gerade noch war Stella eine Vorstadt-Großmutter gewesen, und nun war sie die Inspiration zu einem weltberühmten, von Schmerz und Leidenschaft strotzenden Liebeslied. Manchmal hatte sie sich gefragt, wie es wohl sein mochte, Pattie Boyd zu sein, wenn sie »Layla« hörte. Oder die Frau von Chris de Burgh, wenn »Lady in Red« lief. War es ihnen zur Last gefallen, oder zauberte es ein kleines, heimliches Schmunzeln auf ihre Lippen – so wie bei ihr in diesem Moment? Ich bin eine Inspiration, hielt sie sich, noch immer erstaunt, vor Augen. Auch wenn ich sonst im Leben nicht viel geschafft habe, bin ich auf diese Weise unsterblich geworden. Wie toll ist das denn?

Suze ergriff zuerst das Wort. »Hast du geahnt, dass das Lied in Wirklichkeit von dir handelt?«

Stella schüttelte den Kopf. »Er hat gesagt, es wäre nicht so. Schon vergessen? Er wollte, dass ich die Kunsthochschule hinschmeiße und mit ihm nach Amerika gehe. Er hat mich angefleht mitzukommen, aber ich hatte eine Todesangst. Ich war achtzehn, mein Gott! Ich konnte mich nicht einmal entscheiden, welche Hose ich morgens anziehen soll, geschweige denn, alles aufzugeben, um mit Cameron zusammen zu sein. Er war so wütend auf mich. Es war schrecklich. Also haben wir uns getrennt, und ich habe bis eben nichts mehr von ihm gehört.«

»Schon verstanden. Stella Ainsworth, Muse.«

»Genau genommen war es damals noch Stella Scott.«

»Okay, dann eben Stella Scott, Muse. Überleg mal: ›Wonderful Tonight‹, ›My Sharona‹, ›Don’t Leave Me in the Morning‹ – du hast jemanden zu einem weltberühmten Hit inspiriert! Ist das nicht absolute Spitzenklasse?«

»Nur, dass es auch schräg ist«, musste Stella zugeben, als sie vernünftig darüber nachdachte. »In diesem Song schwingt so viel Schmerz mit, deshalb hören ihn sich so viele Leute ja an. Ich glaube, ich habe es sogar auch getan, als Charlie Maynard mich wegen Daphne abserviert hatte, die Blonde, weißt du noch? Riesentitten, mindestens Doppel-D.«

»Tja, Ironie des Schicksals!«

»Vermutlich.« Sie lachten beide. »Stell dir mal vor, ich in meinem Alter inspiriere jemanden zu einem Welterfolg!«

»Nun, nicht unbedingt in deinem Alter. Als du jung warst mit all deiner – wie hat er das genannt – außergewöhnlich strahlenden Unschuld? Ich finde, jetzt wäre ein Schlückchen angesagt. Was hast du da?«

»Um halb elf?«

»Ein absolutes Muss für Musen. Schau dir nur Marianne Faithful an, bevor sie trocken geworden ist.«

»Und Anita Pallenberg. Offen gestanden sehe ich verglichen mit denen noch recht jung aus.«

»Sie haben sich für Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll entschieden, du dich für Matthew und Camley.«

Ziemlich getroffen von diesen Worten, blickte Stella in den runden Messingspiegel mit den dekorativen türkisfarbenen Kringeln, den Matthew zu seiner großen Freude bei einem Trödler aufgestöbert hatte. Ein noch immer elfenhaftes Gesicht schaute ihr entgegen. Ihr Haar war, dem Friseur sei Dank, weiterhin aschblond und schulterlang, wie Frauen es so gerne trugen, die ihr wahres Alter verheimlichen wollten. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie trotz all der Jahre denselben Look beibehalten hatte. War das nicht ein Trauerspiel? Insbesondere deshalb, weil man bei näherer Betrachtung die Kräuselfältchen an ihrer Oberlippe bemerkte. Und die Nasolabialfalten waren auch tiefer geworden.

»Weißt du, was das bedeutet?« Suze schaute über ihre Schulter hinweg in den Spiegel und schnitt eine Grimasse.

»Dass er vor Enttäuschung tot umfallen wird? Weil ich keine achtzehn mehr bin, im Minikleid und in Biba-Stiefeln?«

»Jeder bescheuerte Reporter im ganzen Land wird versuchen, das Mädchen aufzuspüren, das ihn zu ›Don’t Leave Me in the Morning‹ inspiriert hat.«

»Auf gar keinen Fall werden die das.« Stella nahm die schwarz verkohlte Bolognese wahr. »Diese Sauce kann ich vergessen.«

»Dann nimm halt eine fertige aus dem Glas.«

Stellas Tochter Emma war nahezu fanatisch, wenn es um die Ernährung ihrer kleinen Tochter ging. »Ruby darf nur Selbstgekochtes essen. Aus Biozutaten.«

»Dann lüg eben. Du bist eine Muse. Verstoße gegen ein paar Regeln.«

Stella öffnete den Kühlschrank. »Trinken Musen Chardonnay, der schon angebrochen ist?«

»Wenn der Jahrgangskrug alle ist, trinken sie, glaube ich, alles, was sie kriegen können.«

Nachdem Stella ihnen beiden ein großes Glas eingeschenkt hatte, machte sie sich auf die Suche nach einem Glas Tomatensauce aus dem Supermarkt. »Schmeckt wahrscheinlich sowieso besser als meine.« Sie musste sich setzen. »Ich fasse es noch immer nicht. Heute Morgen war ich noch eine Großmutter, die Hunde malt. Und nun stelle ich fest, dass ich ein Lied inspiriert und für Aufnahmen davon vermutlich gutes Geld bezahlt habe. Ich fühle mich wie Alice im Kaninchenloch.«

»Wer ist sonst noch dabei? Was ist mit Duncan dem Langweiler, Camerons ödem Freund? Ist der auch mit nach Amerika gegangen?«

»Ja, ich denke schon. Mensch, das ist alles so seltsam.«

Plötzlich verschwanden die Jahre und gaben den Blick auf die verrückte und wundervolle Zeit frei, als sie, Suze, Cameron und Duncan an der Kunsthochschule gewesen waren. Es war ein wildes Abenteuer gewesen, voller Musik und mit tollen, ausgeflippten Klamotten. Ein paar – recht schüchternen – Experimenten in Sachen Drogen und Sex. Und sie hatten sich gefühlt, als gehöre ihnen die Welt. Dann hatte Cameron den Vertrag mit der Plattenfirma unterzeichnet, und plötzlich war alles anders geworden.

Gerade hatten Suze und Stella ihren Wein ausgetrunken, als Matthew in die Küche gestürmt kam, mit wirrem Haar und wie immer strotzend vor Tatendrang. »Ihr werdet nicht fassen, was die jetzt schon wieder vorhaben!«

Mit die war fast immer der Stadtrat von Camley gemeint, Matthews Erzfeind und seiner Ansicht nach Gegner von allem, was entweder nützlich oder schön war.

»Was denn?«, fragte Suze, die sich inzwischen daran gewöhnt hatte, von Matthew ignoriert zu werden.

»Die wollen die Ecke an der High Street abreißen!« Kopfschüttelnd drehte er sich zu Stella um, um kundzutun, was er von der Kurzsichtigkeit und Dummheit moderner Bürokraten hielt. »Du weißt schon, die Backsteinhäuser mit den Giebeln und Erkerfenstern! So etwas gibt es nur in Camley! Und jetzt soll da wieder ein verdammtes Einkaufszentrum hin.« Seine Stimme bebte vor Empörung.

»Klingt, als wolle man das Paradies einebnen, um einen Parkplatz zu bauen«, frotzelte Suze.

»Was meinst du damit, Susannah?«, seufzte Matthew entnervt.

»Joni Mitchell. ›Big Yellow Taxi‹. Warst du in den Sechzigern und Siebzigern überhaupt wach, Matthew?«

Nun bemerkte er ihre Gläser. »Ich habe Joni Mitchell schon immer verabscheut. Und warum trinkt ihr um diese Uhrzeit Alkohol? Wäre um elf Uhr vormittags nicht eher Kaffee angebracht? Und was riecht denn hier so fürchterlich?«

»Ich habe die Spaghettisauce anbrennen lassen«, gab Stella zu, die nichts gegen einen Supermarkt in Laufnähe einzuwenden gehabt hätte, auch wenn man die Fassade halb mit Holz hätte verkleiden müssen, damit sie sich in die umliegende Architektur einfügte.

»Ach, herrje, Stella, kriegst du nicht mal die einfachsten Gerichte hin?«

Stella erwiderte seinen finsteren Blick. Wie konnte es sein, dass zwei Menschen, die sich einmal geliebt hatten, einander inzwischen nur noch auf die Nerven gingen?

»Reg dich ab, Matthew«, meinte Suze, froh darüber, dass sie Single war. »Sie hatte einen bedeutenden Anlass. Außerdem ist es kein gewöhnlicher Vormittag. Soll ich es ihm erzählen, oder übernimmst du das?«

»Mach nur.« Stella zuckte die Achseln.

»Matthew, du bist mit einer Inspiration verheiratet.«

Matthew schüttelte den Kopf. Offenbar teilte er diese Auffassung nicht.

»Wir haben gerade auf Radio 2 ein Interview mit Cameron Keene gehört, in dem es um seine Tournee geht, die nächste Woche im Roundhouse anfängt.«

»Aber wir hören nie Radio 2. Das ist etwas für übergewichtige Prolls, die süchtig nach AOR sind.«

»Was, um Himmels willen, ist AOR?«, hakte Suze nach.

Matthew seufzte auf. »Adult-Oriented Rock. Obwohl man es besser MOR nennen sollte – Moron-Oriented Rock, Rock für Idioten.«

»Huch, Matthew, du bist ja wirklich ein kleiner Sonnenschein. Vermutlich meinst du die Eagles, Crosby, Stills and Nash und James Taylor? Gut, dann bin ich eben eine Idiotin.«

»Da hätten wir’s ja. Radio 2 ist genau deine Wellenlänge.«

»Nun, heute haben wir es uns angehört. Und Cameron Keene wurde von Mike Willan interviewt.«

»Cameron Keene?«, fragte Matthew, der endlich aufmerkte. »Der Cameron Keene, den alle für tot gehalten haben?«

»Schwachsinn. Es ist in letzter Zeit nur ein bisschen still um ihn geworden.« Obwohl Suze sauer auf Matthew war, konnte sie ihre Aufregung nicht verbergen. »Jedenfalls hat er gestanden, dass er ›Don’t Leave Me in the Morning‹ für Stella geschrieben hat!«

»Gütiger Himmel.« Matthew drehte sich zu seiner Frau um. »Ich dachte, du hättest den Mann kaum gekannt.«

»Wir waren etwa ein Jahr lang zusammen«, gab Stella zu. »Er hat das College abgebrochen, und ich habe dich kennengelernt.«

»Außerdem hat er gesagt, er habe Stellas strahlende Unschuld nie vergessen und hoffe, er könne sie wieder treffen, damit sie ihn noch einmal inspiriert«, verkündete Suze mit einem selbstzufriedenen Grinsen.

»Stella ist viel zu alt für so einen Unsinn«, entgegnete Matthew im Brustton der Überzeugung, wobei ihm der eindeutig finstere Blick seiner Frau entging. »Er hat das Bild im Kopf, wie sie damals war. Wenn er sie wirklich trifft, steht ihm ein übler Schock bevor.« Matthew überlegte kurz. »Stammt er nicht ursprünglich aus Camley?«

»Acacia Avenue, gleich an der Brighton Road, obwohl er sicher nicht möchte, dass sich das herumspricht.« Suze spürte, wie verärgert ihre Freundin war, und sie konnte das gut nachvollziehen. Wenn sie mit Matthew verheiratet gewesen wäre, hätte sie ihm schon längst eines seiner Arts-and-Crafts-Kunstwerke über den Schädel gezogen, je schwerer, desto besser. »Camley ist viel zu provinziell für einen King of Rock wie ihn.«

»Brighton Road«, beharrte Matthew. »Das ist doch genau neben den Häusern, die sie abreißen wollen. Vielleicht könnte ich ihn dafür interessieren. Er könnte einen Song schreiben wie dieser Ire … ihr wisst doch, wen ich meine?«

»Bob Geldof?«

Suze und Stella wechselten Blicke. Entweder wurde es mit Matthews Tunnelperspektive schlimmer, oder er gebärdete sich absichtlich als alter Meckeronkel, nur um sie zu ärgern.

»Ich weiß nicht so recht, Matthew«, antwortete Suze und bemühte sich, ein Kichern zu unterdrücken. »Hier handelt es sich ja nicht unbedingt um eine weltweite Hungersnot.«

»Du hast nicht vergessen, dass Stuart, Emma und die Kinder heute Abend kommen?«, wechselte Stella das Thema.

Matthew zuckte die Achseln. »Ich hoffe, nicht während der Sportsendung.« Sport im Fernsehen war Matthews neue Leidenschaft.

»Es sind deine Enkelkinder, schon vergessen? Die dämliche Sportsendung kannst du aufzeichnen«, entgegnete Stella. »Sie möchte uns etwas mitteilen.«

»Hoffentlich ist sie nicht schon wieder schwanger. Sie kann sich die Kinder, die sie bereits hat, ja kaum leisten.«

»Matthew.« Suze schüttelte ungläubig den Kopf. »Du solltest dich mal reden hören.«

Matthew achtete nicht auf sie und wechselte das Thema. »Was gibt’s zum Mittagessen?«

»Woher soll ich das wissen?«, entgegnete Stella gereizt. »Ich habe einen Termin mit einer Mopsbesitzerin. Also wirst du dir selbst etwas zusammensuchen müssen.«

»Ich mache mich besser vom Acker.« Suze zwinkerte. »Dann also bis um sieben.«

»Die kommt doch nicht etwa wieder, oder?«, fragte Matthew, sobald Suze zur Tür hinaus war. »Warum zieht sie nicht gleich hier ein?«

»Wahrscheinlich, weil du hier wohnst«, murmelte Stella, während sie die Sachen für ihren Besuch bei der Hundebesitzerin zusammenpackte, die sie beauftragt hatte, ihren neuesten Mops zu malen. Selbst Möpse waren Ehemännern zuweilen vorzuziehen. Stella seufzte auf. Sie fragte sich, ob Matthew sich dieses Image als eine Art Selbstverteidigung zugelegt hatte. Schließlich hatte er, als sie sich kennengelernt hatten, Musik ebenso gemocht wie sie. Auch Joni Mitchell. Sie hoffte nur, dass das keine Folge ihrer Ehe war. Ein niederdrückender Gedanke.

»Bis später. Vergiss Emma und Stuart nicht.«

Kurz schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit, zurück zu jenen wilden und berauschenden Tagen, als alles möglich erschien und sie die Welt hatten verändern wollen.

Vor allem Cameron hatte den Wunsch gehabt, sich zu befreien und alles hinter sich zu lassen, die Fesseln der Vorstadt abzuschütteln und zu leben.

Und jetzt war er wieder hier.

Stella ertappte sich bei einem Schmunzeln, als sie sich fragte, ob er es wirklich schaffen würde, sie aufzuspüren. Und was sie empfinden würde, falls es ihm tatsächlich gelänge. Und, genauso wichtig, was in ihm vor sich ginge, wenn er feststellte, dass seine blonde Ikone aus den Sechzigern noch immer in Camley wohnte und drei Enkelkinder hatte? Aber natürlich würde er das sowieso nicht tun. Das war nur ein Gag fürs Radio gewesen.

Prue Watson, eine erfolgreiche Geschäftsfrau, lebte in einem schmucken Häuschen in einer modernen Siedlung, nicht weit entfernt vom Zentrum von Camley. Von dort aus waren der Bahnhof und der Flughafen Gatwick mühelos zu erreichen. Obwohl sie ständig auf Achse war, besaß sie drei Möpse.

»Wie kriegen Sie das nur alles unter einen Hut?«, erkundigte sich Stella.

»Ich bringe sie zum Hundesitter-Service.«

Stella bekam einen Lachananfall. »Gibt es so was im Ernst?«

»Oh, ja. Der ist gleich neben dem Bahnhof. Viele Leute geben ihre Hunde dort ab, bevor sie in die Stadt fahren. Und falls ich zu spät dran bin, habe ich eine nette Dame, die sie abholt und bei mir wohnt, wenn ich verreist bin.«

Die Möpse schnappten zu Prues Füßen nacheinander und kämpften um die Aufmerksamkeit ihres Frauchens.

»Sind sie nicht reizend? Ich konnte mich einfach nicht für einen entscheiden, als sie noch Welpen waren, also habe ich alle genommen. Einer hellbraun. Einer apricot. Einer schwarz.«

Stella hatte gar nicht gewusst, dass es Möpse in verschiedenen Farben gab. Sie fragte sich, ob Prue, die Innenarchitektin zu sein schien, sie so ausgesucht hatte, dass sie zur Einrichtung passten. Beinahe hätte sie nachgehakt, ob Möpse auch cappuccinofarben existierten, befürchtete aber, damit zu weit zu gehen. Sie persönlich verabscheute Möpse; ihre traurigen Glupschaugen blickten stets so panisch drein, als ob hinter der runzeligen Haut und dem keuchenden Atem ein ganz normaler Hund darauf wartete, befreit zu werden. Und dennoch erfreuten sie sich offenbar großer Beliebtheit.

Stella fand es stets amüsant, nach welchen Kriterien die Leute ihre Hunde auswählten. Die Latte-macchiato-Mamas, die gerne die Landadelige gegeben hätten, entschieden sich für schokoladenbraune Labradore, die zu ihren Jagdgummistiefeln passten. Dann waren da noch die leicht überspannt wirkenden Damen, die sich zum Mittagessen trafen, mit ihren flauschig weißen Bichon Frisés, die sich nicht schmutzig machen durften. Große, magere Menschen hatten eine Schwäche für große, magere Lurcher, eine Kreuzung aus Windhund und Retriever. Und nur die Selbstbewusstesten und Furchtlosesten nahmen es mit dem dickköpfigsten Hund von allen auf, einem Jack Russell. Und noch etwas war Stella bei Hundebesitzern aufgefallen: Sobald ihr Hund starb und die Kinder aus dem Haus waren, sodass sie tun und lassen konnten, was ihnen gefiel, und reisen durften, wohin sie wollten – was machten sie stattdessen? Sie legten sich einen wirklich schwierigen Hund aus dem Tierheim zu, vorzugsweise einen mit Trennungsängsten, der ständige Fürsorge, absolute Zuverlässigkeit und dauernde Zuwendung brauchte. Und schon waren sie nicht länger frei und in der Lage, sich auszuleben, genau wie die Gartenbesitzer, die im Sommer nicht verreisen konnten. Aus unerklärlichen Gründen machte sie das glücklich.

Stella versuchte, nicht auf den Geruch zu achten, den die Hunde verströmten und den selbst durchgestylte Frauchen wie Prue zu ihrem Erstaunen gar nicht wahrzunehmen schienen.

Heute bestand ihre hoffentlich einfache Aufgabe darin, den Hellbraunen zu fotografieren. Selbst Stella, die gegen Hunde abgehärtet war, musste zugeben, dass dieser Mops etwas wirklich Niedliches an sich hatte. Selbstverständlich hatten sie alle Namen, die mit M begannen: Moppelchen (natürlich), Mopsi und Mini. Als sie Mini, dem Kandidaten des Fotoshootings, ein Leckerli hinhielt, wurde sie von Moppelchen und Mopsi überrannt. »Könnten Sie die beiden vielleicht in ein anderes Zimmer bringen? Es dauert höchstens fünf bis zehn Minuten.«

»Oh, aber ich würde ihm gern verschiedene Sachen anziehen, um festzustellen, worin er am niedlichsten aussieht.« Prue förderte eine winzige venezianische Opernmaske, eine Schwesternschürze mit Haube und – das Prachtstück – ein Nikolauskostüm zutage. »Wenn mir das Bild gut gefällt, mache ich vielleicht eine Weihnachtskarte daraus.«

»Wären die anderen dann nicht eifersüchtig?«, erkundigte sich Stella, ohne eine Miene zu verziehen, während sie mit ihrer geliebten Fujifilm X-M1 Fotos schoss. Im nächsten Moment hätte sie sich ohrfeigen können, denn Prue holte die anderen beiden keuchenden Geschöpfe zurück, schnappte sich zwei weitere Nikolausmützen und erwartete von Stella, dass sie alle drei Hunde auf einem Foto unterbrachte.

Eine Stunde später und kurz davor, ein Hundemassaker anzurichten, hatte Stella ihre Bilder im Kasten.

»Wie lange werden Sie brauchen?«, fragte Prue aufgeregt.

»Da ich jetzt drei malen muss, wird es ein wenig länger dauern. Und ich muss leider den genannten Preis erhöhen.«

»Dann hoffe ich, dass Sie ihre Persönlichkeiten richtig einfangen. Sie sind nämlich absolut verschieden, wissen Sie?«

»Absolut«, entgegnete Stella, betrachtete die Reihe glupschäugiger japsender Tiere und versuchte, sich zu erinnern, wer welcher war.

Als sie um halb sieben die Haustür öffnete, gab sie sich kurz dem Traum hin, Matthew könnte wenigstens den Tisch gedeckt und die Spülmaschine ausgeräumt haben. Einige Ehemänner ihrer Freundinnen hatten als Rentner den Großteil der Einkäufe übernommen und kochten für sie. Ein paar hatten sich zu richtigen Hobby-Meisterköchen entwickelt, die sogar unter der Woche zum Abendessen Garnelen auf Safranreis oder Wild mit Preiselbeeren zauberten. Als ihre Frauen noch für die Küche zuständig gewesen waren, hatte es Kartoffelauflauf oder Schweinekoteletts gegeben. Leider gehörte Matthew nicht zu dieser Spezies, obwohl Stella ehrlich genug war, sich einzugestehen, dass sie nicht sicher war, wie sie es aufnehmen würde, wenn die Last die Haushalts plötzlich von ihr abfiele. Andererseits hätten sie ein gedeckter Tisch oder ein gemachtes Bett bestimmt nicht gestört.

Um Punkt sieben erschien ihre Tochter Emma mit ihren Kindern im Schlepptau. Jesse, gerade sechzehn geworden, war blass und mager; das lange schwarze Haar hing ihm wie ein Vorhang übers Gesicht. Nach Stellas Ansicht war er besorgniserregend schüchtern, doch als sie versucht hatte, Emma darauf anzusprechen, hatte sie sich sofort eine Abfuhr eingefangen. Alle Jungen seines Alters seien so, lautete die pikierte Antwort. Bald hatte sie herausgefunden, dass die Rolle einer Großmutter darin bestand, die Brieftasche zu öffnen und den Mund zu halten.

Seit ihrer letzten Begegnung war Jesses Haar sogar noch länger geworden, sodass er fast aussah wie ein Kind der Sechziger. Wenn er sich nicht hinter seinen schimmernden Locken versteckt hätte, wäre er ein hübscher Junge gewesen. Emma hatte ihn mit Mitte zwanzig bekommen, früher als ihre Altersgenossinnen, und Stella vermutete, dass die Schwangerschaft Stuart, ihren Mann, ziemlich überrascht hatte. Damals arbeitete Stuart erst seit zwei Jahren bei einer bekannten linken Anwaltskanzlei, deren Ansichten, was eine verlängerte Elternzeit für ihre Angestellten betraf, wohl doch nicht ganz so links waren. Nicht, dass Stuart sich große Mühe gegeben hätte, seine Forderungen durchzusetzen.

Manchmal fragte sich Stella, ob Jesses Zurückgezogenheit zum Teil daran lag, dass er seinen Vater nicht genug sah und seine Mutter unablässig darüber jammerte. Ironie des Schicksals war, dass Stuart deshalb durch Abwesenheit glänzte, weil er anderen Menschen half, gegen Justizirrtümer ankämpfte und den Benachteiligten eine Stimme gab, wie sein Chef es gerne ausdrückte. Ein löbliches Vorhaben. Solange man nicht Teil seiner Familie war.

Die elfjährige Izzy war so überschwänglich und aufmerksamkeitsheischend, wie Jesse schweigsam und abweisend war. Gewöhnlich stürmte sie ins Zimmer, drehte Pirouetten und verbeugte sich dann, als fühle sie sich von einem begeisterten Publikum erwartet. Sie war ein kluges Mädchen und hätte eigentlich für den Übertritt in die höhere Schule büffeln sollen. Doch stattdessen hielt sie ihr Leben in Selfies fest, die sie mit ihren beiden besten Freundinnen Freya und Bianca teilte. Ihre Welt faszinierte Stella, in deren Jugend das Warten neben dem Telefon die einzige Hoffnung auf Kommunikation gewesen war. Emma allerdings war entnervt und drohte ständig, ihr Smartphone zu konfiszieren, eine derart schwere Strafe, dass niemand, insbesondere nicht Izzy, glaubte, sie könne es ernst damit meinen.

Und dann war da noch Ruby, das Baby. Stella war entsetzt gewesen, als Emma ihr verkündet hatte, sie sei nach einer Pause von zehn Jahren wieder schwanger. Ihr erster Gedanke war gewesen, dass Emma sich genauso wie die Hundebesitzer nach dem Auszug ihrer Kinder verhielt – als melde sie sich freiwillig für eine neue Verpflichtung.

Natürlich hatte Emma behauptet, es handle sich um einen Unfall.

»Ich dachte, du wärst begeistert!«, hatte Emma anklagend gesagt, als sie ihrer Mutter die Nachricht überbracht hatte.

Stella hatte sich nicht erkundigt, was Stuart davon hielt, da sie die Antwort bereits zu kennen glaubte. Als Stella eines Abends auf Izzy aufgepasst hatte, damit Emma und Stuart zum Essen gehen konnten, um »sich auszusprechen«, hatte diese ihr berichtet, sie hätten in Wirklichkeit jemanden aufgesucht, um über die Situation zu reden. »Dad ist sauer und hat Mum gesagt, sie hätte das mit Absicht gemacht. Jetzt sind sie zu einer Frau in Croydon gegangen, die sich Paarungstherapeutin nennt. Sie denken, ich wüsste das nicht, aber ich habe gehört, wie sie sich angeschrien haben. Was ist denn eine Paarungstherapeutin, Oma?«

Stella hatte sich ein Grinsen angesichts dieses Versprechers verkneifen müssen, wobei »Paarung« ja im Grunde das Thema war. Das war es nämlich meistens. »Das ist jemand, der Leuten hilft, Probleme in ihrer Familie zu lösen. Ein netter Mensch, der zuhört und dazu beiträgt, dass man den Standpunkt des anderen versteht, damit beide wieder glücklich werden.«

»So wie bei Jeremy Kyle, wo ein Dad vorkommt, der mit der Schwester der Mum im Bett war?«

»Nein! Genau das Gegenteil von Jeremy Kyle! Der macht die Leute nur noch wütender!«

»Und wenn sie zurückkommen, sind sie dann wieder glücklich?«

»Vielleicht muss die Frau sich ein paarmal mit ihnen treffen, aber ja. Ich bin sicher, dass sie dann wieder glücklich sind.« Zumindest hoffte sie das von ganzem Herzen.

Ruby selbst entpuppte sich als die Lösung. Sie war ein unwiderstehliches Baby, lächelte stets zufrieden, schlief von Anfang an durch und war von allem begeistert, insbesondere von den Hunden, die ins Haus kamen, damit Stella sie fotografieren oder malen konnte. Selbst der launischste Jack Russell schien sich zu beruhigen, wenn Ruby ihn anflötete, obwohl Stella, nur für alle Fälle, stets in Habachtstellung daneben stand. Zu Stellas Erleichterung waren Stuart und Emma offenbar im Begriff, sich wieder zu versöhnen.

»Hallo, Liebes.« Stella umarmte ihre Tochter. Sie wollte schon »Kommt Stuart nach?« hinzufügen, beschloss aber, dass das nach Einmischung klingen könnte. »Wie schön, dass ihr hier seid.« Sie fragte sich, ob sie Emma von Cameron Keene erzählen sollte, aber das hätte sich vielleicht angeberisch angehört, und Emma stand vermutlich unter Stress. »Ein Gläschen Wein?«

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich den jetzt brauche.« Emma seufzte auf.

Jesse, schweigsam wie immer, ging in den Garten, um einen Fußball herumzukicken. Da er dabei seinen Kopfhörer trug, war er von jeglicher Kommunikation abgeschnitten.

»Darf ich auf deinem iPad spielen, Oma?«, fragte Izzy.

»Was meint deine Mutter dazu?«, erwiderte Stella diplomatisch, doch Emma schien nur darauf zu warten, dass Izzy sie in Ruhe ließ. »Geh nach oben zu Pappy und sag ihm, ich habe dir erlaubt, seinen PC zu benutzen.«

Aus irgendeinem Grund konnte Matthew es nicht leiden, wenn man ihn »Opa« nannte. Er fand, es erinnere ihn an einen Song von Clive Dunn, in dem dieser so tat, als sei er ein Tattergreis.

Sobald Izzy aus dem Zimmer gehüpft war, wandte Emma sich an ihre Mutter. »Stuart kommt später. Er rettet wie immer die Welt. Inzwischen hasse ich das Wort ›Pflichtverteidiger‹.«

»Warum? Was meinst du damit?«, hakte Stella nach.

»Zum Wohle der Gemeinschaft, das heißt kostenlos. Es bedeutet, dass ein benachteiligter Mensch mit einem ehrenwerten Anliegen, ein Asylbewerber aus Äthiopien oder sonst jemand irgendwo auf der Welt in einer Todeszelle sitzt und Stuart unmöglich bezahlen kann. Doch Stuart verbringt sein ganzes Leben damit, für diese Leute zu kämpfen, und weil es für eine gute Sache ist, habe ich kein Recht, mich zu beschweren.« Offenbar bemerkte sie selbst, dass ihre Stimme schrill wurde. »Herrje, Mum, ich klinge wie eine richtige Zicke. Die Sache ist nur, dass wir ihn kaum zu Gesicht kriegen.«

Stella verstand, dass das recht anstrengend sein konnte.

»Und ich sitze mit den Kindern zu Hause.«

»Aber ich dachte …«, begann Stella, die nicht ganz begriff, warum sie Ruby bekommen hatte, wenn sie so empfand.

»Jedenfalls habe ich mir eine Lösung einfallen lassen …«

Mitten in diesen bedeutungsschweren Satz hinein läutete es an der Tür, und da kein Mensch, Matthew zum Beispiel, erschien, um aufzumachen, musste Stella aufstehen und es selbst erledigen.

Suze kam, bewaffnet mit einem Blumenstrauß und einer Flasche Prosecco, hereingestürmt. »Für meine Freundin, die Rock-Göttin!«, verkündete sie lautstark.

»Nicht jetzt.« Stella schüttelte abwehrend den Kopf. »Komm rein und hilf mir beim Tischdecken. Emma und die Kinder sind hier.« In ihrem derzeitigen Zustand brauchte Emma nichts über ihre Mutter, die Muse, zu hören.

»Sollen wir auf Stuart warten oder schon mal anfangen und ihm etwas aufheben?«

»Was mich betrifft, kannst du sein Abendessen auch in den Müll schmeißen«, sagte Emma. Das war kein gutes Zeichen für Fortschritte bei der »Paarungstherapie«. »Weißt du, dass er mir vorgeworfen hat, ich würde den ganzen Tag nur rumsitzen, bloß weil ich ihn gebeten habe, ein bisschen früher nach Hause zu kommen und mir beim Babybaden zu helfen? Er hat sogar angedeutet, ich hätte Ruby nur gekriegt, um nicht wieder arbeiten gehen zu müssen.«

»Jetzt setzen wir erst mal die Spaghetti auf«, erwiderte Stella, die spürte, dass ihr die Felle davonschwammen. Ganz gleich, was sie auch sagte, es würde das Falsche sein, insbesondere zum Thema Ruby. Emmas plötzliche Schwangerschaft hatte sie ebenso überrascht wie alle anderen. Doch sie hatte die Entscheidung ihrer Tochter voll und ganz unterstützt und sie ermutigt, das Kind zu bekommen, wenn sie es wirklich wollte. Ein Schwangerschaftsabbruch in einer gut situierten Mittelschichtfamilie erschien ihr irgendwie falsch, obwohl sie wusste, dass Suze und ihre feministischen Freundinnen heftig protestiert hätten. »Wofür haben wir denn gekämpft, wenn nicht für das Recht von Frauen, über ihre eigene Fruchtbarkeit zu bestimmen?«, hätten sie entgegnet. Nur, dass das Emmas komplizierte Beweggründe nicht wirklich erfasste.

Stattdessen nahm Stella ihre Tochter in die Arme. »Das muss sehr kränkend für dich sein.«

Emma wurde ein wenig versöhnlicher. Sie hatte während der Schwangerschaft mit Ruby zugenommen, gehörte aber zu den Frauen, denen ein paar zusätzliche Kilos durchaus standen. Ihr Haar war blond wie Stellas, doch ihre Haut hatte einen leicht goldenen Schimmer, der vermutlich von Matthews Seite der Familie kam. Stella selbst war blass und neigte zu Sommersprossen, ebenso wie Stuart. Vielleicht hatte einer von Matthews ziemlich verklemmten Verwandten vor vielen Generationen ja eine Affäre mit einer italienischen Gräfin gehabt. Jesse hatte dieselbe blasse, fast durchscheinende Haut wie Stella. Zum Glück wurden Ruby und Izzy wie ihre Mutter im Sommer knackbraun.

»Okay, wenn ich kein Mitgefühl bekomme, trinke ich stattdessen eben Tee oder besser Wein.« Sie streckte ihr Glas aus.

»Du bekommst doch Mitgefühl«, merkte Suze an.

»Jedenfalls« – Emma knallte ihr Glas auf den Tisch – »habe ich eine kleine Überraschung für Stuart.«

Das klang so unheilverkündend, dass Suze und Stella gleichzeitig aufstanden und sich daranmachten, die Spaghettisauce aufzuwärmen und den Tisch zu decken.

Kapitel 2

»Wo ist denn Pappy?«, fragte Stella ihre Enkelin, die plötzlich wieder im Zimmer stand.

»Der arbeitet an einem schrecklich wichtigen Dokument, das irgendwas mit dem Stadtrat zu tun hat. Er hat mir sein Handy gegeben, das mir nicht viel gebracht hat, weil ich eigentlich mit einem Test für meine Prüfungen anfangen wollte«, verkündete Izzy, die es genoss, einmal auf Kosten der Erwachsenen den Inbegriff der Tugendhaftigkeit spielen zu können.

»Herrje, dann muss es aber wirklich wichtig sein. Obwohl er mit dem Handy nicht umgehen kann, bewacht er es schärfer als ein Terrier seinen Knochen. Er leiht es nicht einmal mir, wenn mein Akku leer ist. Matthew! Abendessen«, rief Stella die Treppe hinauf.

Dann nahm sie die Spaghettisauce und verteilte sie auf die Nudeln.

»Hmmm.« Emma schnupperte. »Eine selbst gemachte Sauce erkennt man doch immer.«

Stella fing Suzes Blick auf und ersparte sich die Antwort. Angesichts der momentanen Anspannung beschloss sie, die Herkunft der Sauce zu verschweigen. Ruby würde die Fertigsauce schon überleben.

»Richtig!« Matthew erschien, einen Papierstapel in der Hand. »Ich bin gerade dabei, eine Inititative mit dem Namen ›Rettet unsere High Street‹ zu starten. Wollen wir doch mal schauen, was die Mistkerle von der Planungskommission dazu sagen!« Er schwenkte seine Unterlagen mit der gleichen selbstzufriedenen Miene, wie sie wahrscheinlich auch Sir Walter Raleigh gehabt hatte, als er seinen Mantel für Queen Elizabeth I. auf dem Boden ausbreitete. Natürlich war der arme, alte Walter letztlich einen Kopf kürzer gemacht worden. Hoffentlich würden sich Matthews Erzfeinde im Stadtrat zivilisierter verhalten.

»Leckere Sauce, Oma.« Jesse grinste. Sein blasses Gesicht wurde lebendiger, wenn er lächelte. »Kann ich etwas Parmesan haben?«

»Der ist mir ausgegangen. Aber ich habe noch alten Cheddar da.« Sie reichte ihm das Käsestück – nicht sehr manierlich, wie sie zugeben musste. Dabei bemerkte sie, dass Emma die Augenbraue hochzog. Möglicherweise durfte die kleine Ruby auch keinen englischen Cheddar essen.

Unterdessen hatte Ruby so viel Gefallen an der Sauce gefunden, dass sie sich diese über das ganze Gesicht geschmiert hatte, bis sie aussah wie das Opfer eines besonders brutalen Babykillers. Sie griff nach der Sauciere und schleuderte den restlichen Inhalt so gekonnt in die Luft, dass er auf den kostbaren Unterlagen landete, welche die High Street von Camley vor skrupellosen Investoren retten sollten.

»Sie ist nicht einverstanden.« Jesse lachte. »Wahrscheinlich ist sie für die Torys. Hallo, Tory-Baby!«

Ruby fand ihren neuen Spitznamen offenbar komisch.

In diesem Moment läutete es an der Tür.

Jesse sprang auf. Die Freude schwand aus seinem Gesicht. »Sicher Dad. Ich mache auf.«

Die Frage, ob Jesse etwas von dem Konflikt zwischen seinen Eltern ahnte, erübrigte sich damit.

Stuart kam mit einem großen Blumenstrauß und einer Flasche Rotwein herein. Er trug einen Nadelstreifenanzug, der anders geschnitten war als die Modelle, die Banker bevorzugten, und ihm einen zerknitterten linken Charme verlieh. Er hatte dunkles Haar wie Jesse, nur dass es sich an seinem Kragen lockte. Seine schwarz geränderte Brille ließ Stella an den jungen Elvis Costello denken. Sie hatten sogar die gleiche eindringliche Ausstrahlung. Es freute Stella, dass er die Blumen nicht ihr, sondern Emma überreichte, die sie jedoch achtlos hinter sich auf einen Tisch legte. Der Strauß stammte von einem richtigen Floristen und war nicht an einer Tankstelle oder in einem Supermarkt erworben worden.

»Lilien, wie zauberhaft. Ich hole dir eine Vase, Em. Sie duften wundervoll. Also, Stuart, möchtest du auch Spaghetti?«

Währenddessen betupfte Matthew seine Unterlagen mit einem Spüllappen und versuchte, so zu tun, als störe es ihn nicht, was eindeutig nicht der Wahrheit entsprach.

Stella löffelte die restlichen Spaghetti und die Sauce auf einen Teller und reichte ihn ihrem Schwiegersohn. »Interessanter Fall?«

»Nun, wenn ich ihn nicht übernommen hätte, würde es niemand tun.«

»Stu gehört nicht zum Typus Anwälte, die sagen: ›Ihr Elenden sollt hängen, damit die Geschworenen nicht zu spät zum Essen kommen‹«, merkte Emma spöttisch an.

Ihre Eltern musterten sie erstaunt, obwohl ihr Tonfall unmissverständlich gewesen war.

»Pope, Der Lockenraub«, klärte sie sie auf. »Ich habe einen Uni-Abschluss in Englisch, auch wenn ich ihn nicht nutze, weil ich den ganzen Tag faul vor dem Fernseher herumliege.«

»Also«, wechselte Stella mit fröhlicher Stimme das Thema. »Erzähl uns doch von deinem Plan, die High Street zu retten, Matthew.«

»Ich habe mich in Sachen Stadtplanung kundig gemacht«, erwiderte ihr Mann begeistert. »Offenbar müssen wir nichts weiter tun, als die High Street zur LASC zu erklären.«

»Klingt spitze«, meinte Jesse in dem verzweifelten Versuch, die Stimmung zwischen seinen Eltern aufzuheitern. »Denn ich stehe nämlich auf LASC.«

Matthew starrte ihn an, als habe er Suaheli gesprochen.

»Das war ein Wortspiel auf LASH, Matthew«, warf Suze ein. »Going on the lash ist Jugendslang für ›eine Kneipentour machen‹.«

»Aha, oh, ich verstehe. LASC bedeutet Local Area of Special Character – ein Stadtgebiet mit Ensembleschutz. Wir müssen nur beweisen, dass Camley keinen weiteren bis spät in die Nacht geöffneten Supermarkt braucht, der seinen Mitarbeitern nicht einmal den Mindestlohn zahlt. Es gibt durchaus andere Methoden, der Gegend wieder Leben einzuhauchen.«

»Herrje, wie willst du denn das anstellen?«

»Ja, Dad. Wenn Mary Portas, Camerons Beauftragte in Sachen Stadterneuerung, schon kein Glück damit gehabt hat, werde ich mein Geld wohl besser nicht auf dich setzen.«

»Eigentlich hatte ich auf die Hilfe deiner Mutter gehofft. Schließlich ist sie die Kreative hier.«

Stella riss erstaunt die Augen auf, war jedoch auch gerührt, weil Matthew ihre künstlerische Seite offenbar zu schätzen wusste.

»Kommst du mit mir dort hin und schaust dir alles an?«

»Natürlich.«

»Vielleicht hat Matthew ja recht.« Suze konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihre Erkenntnis des heutigen Tages hinauszuposaunen, ob es Stella nun gefiel oder nicht. »Vielleicht solltest du versuchen, deinen berühmten Freund vor euren Karren zu spannen. Schließlich wimmelt es in Camley nicht von Rockstars, oder?«

»Was meint sie denn jetzt damit?«, fragte Emma brüsk.

Suze hielt es für an der Zeit, dass Emma aufhörte, ihre Mutter zu unterschätzen, obwohl das bei Kindern anscheinend angeboren war. Einer der Gründe, warum Suze keine hatte. »Cameron Keene«, verkündete sie mit der Miene eines Magiers, der ein Kaninchen aus dem Hut zaubert.

Emma sah Stuart an. »Wer ist das?«

»Ein Rocksänger.« Stu zuckte die Achseln. »Ein großer Star in den Sechzigern und Siebzigern. Noch immer ziemlich beliebt. Ich glaube, er hat weitere Alben rausgebracht, obwohl nur der Himmel weiß, wer die kauft.«

»Genau genommen«, entgegnete Suze empört, »hatte er einen Hit, der ihm Platin eingebracht hat und auf jeder jemals erschienenen CD mit Liebesliedern veröffentlicht wurde. ›Don’t Leave Me in the Morning‹.«

Alle nickten wissend.

»Den Song kenne ich«, rief Jesse aus. »Ein bisschen so was wie die männliche Version von ›Will You Still Love Me Tomorrow‹?«

Suze blickte ihn erstaunt an. »Genau der. Und weißt du auch, wer ihn dazu inspiriert hat?«

Emma und Stu zuckten die Achseln und schienen sich allmählich zu langweilen. »Ist das hier ein Oldies-Quiz?«

Suze blickte Stella unverwandt an. »Eure Mutter.«

»Ach, mach dich doch nicht lächerlich«, höhnte Emma.

»Er hat es heute Morgen in der Mike-Willan-Show zugegeben. Zwei Millionen Zuhörer haben gehört, dass die Frau, für die er das Lied geschrieben und die ihn dann verlassen hat, um einen Steuerberater zu heiraten, Stella hieß.«

»Ach, du heiliger Strohsack.« Stuart wirkte zumindest beeindruckt. Er wandte sich an seine Schwiegermutter. »Und du warst wirklich mit ihm zusammen?«