Schokoladenküsse - Maeve Haran - E-Book
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Schokoladenküsse E-Book

Maeve Haran

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Beschreibung

»Maeve Haran schreibt so, wie sie ist: witzig, warmherzig und temperamentvoll!« You Magazine

Ihr Verlobter findet sie süß, aber chaotisch; ihre perfekte Mutter findet sie zu groß, zu laut und zu mollig; ihre Freundinnen halten sie für einen bunten Hund. Kein Wunder, dass sich die junge Londonerin Maddy nur hinter der Kamera wohlfühlt. Zum Glück ergattert sie einen Traumjob in einer Londoner Fotoagentur, doch leider arbeitet dort auch Patrick Jamieson, ein bekannter Fotograf und der einzige Mensch, der Maddy innerhalb von Sekunden auf die Palme bringen kann. Richtig turbulent wird es aber, als sie sich von ihm überreden lässt, halb nackt und umgeben von ein paar Karotten als »Venus im Gemüse« zu posieren. Denn die Fotos ihrer üppigen Kurven machen in ganz London Furore – und offenbaren ihr eine neue, hinreißende Seite an Patrick …

Mit ihren turbulent-witzigen Geschichten über die Liebe, Freundschaft, Familie und die kleinen Tücken des Alltags erobert SPIEGEL-Bestsellerautorin Maeve Haran die Herzen ihrer Leser im Sturm!

»Maeve Haran erweist sich immer wieder als Spezialistin für locker-amüsante Geschichten mit Tiefgang!« Freundin

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Seitenzahl: 522

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Buch

Ihr Verlobter findet sie süß, aber chaotisch; ihre perfekte Mutter findet sie zu groß, zu laut und zu mollig; ihre Freundinnen halten sie für einen bunten Hund. Kein Wunder, dass sich die junge Londonerin Maddy nur hinter der Kamera wohlfühlt. Zum Glück ergattert sie einen Traumjob in einer Londoner Fotoagentur, doch leider arbeitet dort auch Patrick Jamieson, ein bekannter Fotograf und der einzige Mensch, der Maddy innerhalb von Sekunden auf die Palme bringen kann. Richtig turbulent wird es aber, als sie sich von ihm überreden lässt, halb nackt und umgeben von ein paar Karotten als »Venus im Gemüse« zu posieren. Denn die Fotos ihrer üppigen Kurven machen in ganz London Furore – und offenbaren ihr eine neue, hinreißende Seite an Patrick …

Autorin

Maeve Haran hat in Oxford Jura studiert, arbeitete als Journalistin und in der Fernsehbranche, bevor sie ihren ersten Roman veröffentlichte. »Alles ist nicht genug« wurde zu einem weltweiten Bestseller, der in 26 Sprachen übersetzt wurde. Maeve Haran hat drei Kinder und lebt mit ihrem Mann in London.

Von Maeve Haran bereits erschienen

Liebling, vergiss die Socken nicht · Alles ist nicht genug · Wenn zwei sich streiten · Ich fang noch mal von vorne an · Schwanger macht lustig · Und sonntags aufs Land · Scheidungsdiät · Zwei Schwiegermütter und ein Baby · Ein Mann im Heuhaufen · Der Stoff, aus dem die Männer sind · Schokoladenküsse · Mein Mann ist eine Sünde wert · Die beste Zeit unseres Lebens · Das größte Glück meines Lebens · Der schönste Sommer unseres Lebens

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Maeve Haran

Schokoladenküsse

Roman

Deutsch von Eva Malsch

Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »Luscious«.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright dieser Ausgabe © 2020 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright der Originalausgabe © 2005 by Maeve Haran

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2005 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Buchgewand Coverdesign | www.buch-gewand.de

unter Verwendung von Motiven von depositphotos.com: © Lisann, © Kudryashka

LA · Herstellung: sam

ISBN978-3-641-26306-5V001

www.blanvalet.de

1

»Mmm …«

Mit geschlossenen Augen ließ Maddy ihre Geschmacksknospen vom fabelhaften intensiven Schokoladenaroma des Cadbury’s Flake verführen und ihre Sinne berauschen.

»Mmmmmmm«, wiederholte sie. Lasziv umschlossen ihre Lippen den gerippten Schokoriegel, als wäre er …

»Maddy!«, durchbrach ein Schrei ihren Tagtraum. Das war Shirley, ihre Kollegin im Fotogeschäft FabSnaps, in dem sie arbeitete. »Deine Freundin Jude war am Telefon. In fünf Minuten ist sie hier, hat sie gesagt.«

Verdammt, Maddy hatte ganz vergessen, dass Jude herkommen würde, um sie loszueisen und mit ihr nach einem Brautkleid Ausschau zu halten. Ob sie in der richtigen Stimmung für die Beurteilung eines Brautkleids war, wusste sie nicht. Im April würde sie heiraten, und sie musste streng Diät halten. Unglücklicherweise bildeten Maddy und eine Diät unüberbrückbare Gegensätze. Wäre es der Wunsch des lieben Gottes gewesen, auf seiner Welt nur schlanke Menschen zu sehen, hätte er weder Hobnob-Biskuits noch McDonald’s-Fritten erfunden – und Cadburys Flakes schon gar nicht.

Seufzend wickelte sie den Schokoriegel wieder ein und steckte ihn in die Tasche ihrer engen Jeans. Sie war so glücklich über die Größe 42 gewesen. Dank des großzügig mit dem Denim verwobenen Lycra-Anteils passte Maddy gerade noch hinein und konnte sich trotzdem bewegen.

»Jeans?«, hatte ihre Mutter bemerkt, als Maddy mit ihrer neuen Errungenschaft nach Hause gekommen war. Damit wollte sie zweifellos andeuten: Mit einem Arsch wie deinem? Nicht dass Mum das Wort »Arsch« jemals in den Mund nehmen würde. Sie war eine Meisterin diskreter Umschreibungen. Vielleicht »Kehrseite«. Oder »Hinterteil«. An einem Tag wilden Übermuts allerhöchstens »Gesäß«. Um diese Diskretion noch zu unterstreichen, besaß Maddys Mutter nicht einmal einen Arsch, ebenso wenig wie ihre Schwester Belinda. Die beiden waren zierliche Blondinen und extrem gepflegt, der Frauentyp, den man nur anschauen musste, um zu wissen, dass sie makellose, hübsche Unterhöschen trugen – was Maddy nicht immer von sich behaupten konnte.

Manchmal glaubte Maddy, sie sei nach ihrer Geburt vertauscht worden. Wie sonst hätte eine eins achtzig große, üppig proportionierte Person mit Zigeuneraugen und Oliventeint in eine Familie geraten können, zu der zart gebaute Blondinen gehörten? Jene entnervende Sorte von Frauen, die Verkäuferinnen fragten: »Entschuldigen Sie bitte, haben Sie das auch in Größe 34?« Zugegeben, Maddy kam nach ihrem Vater, allerdings eher geistig als körperlich. Ihre äußere Erscheinung war ihr ein Rätsel.

Ihr Verlobter Chris sagte immer, eines Tages würde eine Zigeunerschar ins vorstädtische Eastfield stürmen und Maddy für sich beanspruchen. Bis dahin würde sie eben weiterhin im FabSnaps jobben müssen.

In diesem Laden arbeitete sie sehr gern, obwohl ihre Mutter das für reine Zeitverschwendung hielt und dann stets auf Belindas glanzvolle Karriere als Balletttänzerin verwies oder auf Alison, die grässliche Tochter der Nachbarin, die als Trainee in der Halifax Bank eine Managementausbildung absolvierte und einen Firmenwagen fahren durfte. Im Fotoladen herrschte eine nette, freundschaftliche Atmosphäre, und das einzige Konkurrenzdenken galt der Frage, wer um halb sechs am schnellsten zur Tür hinaus war.

Neben Cadbury’s Flakes und ihrem Verlobten Chris gab es nur noch eins, was Maddy ganz besonders liebte – das Fotografieren. Sie hatte ziemlich ausgefallene Jobs angenommen – holländischen Studenten Englischunterricht gegeben (die diese Sprache besser beherrschten als sie selbst), am Ende des Piers den Passanten die Zukunft prophezeit (vielleicht das Zigeunerblut in ihren Adern) und im Outfit einer französischen Zofe die Gäste einer Weinbar namens »Lush and Luscious« bedient. Damals hatte sie auch einen Lehrgang in Fotografie am örtlichen Technical College absolviert.

Im FabSnaps genoss sie einen zusätzlichen Vorteil. Mr. Wingate, der Boss, mochte sie und erlaubte ihr, alle ihre Filme kostenlos zu entwickeln. Da sie viel fotografierte, machte das pro Woche mindestens zwanzig Pfund aus. Außerdem durfte sie mit seinem hochmodernen Digital-Developer experimentieren, und er stellte ihr seine romantische, antiquierte Dunkelkammer zur Verfügung, in der sie Schwarzweißfilme entwickelte.

»Maddy!«, kreischte Shirley wieder.

Hastig kehrte sie in den Laden zurück und sah nach den noch nicht erledigten Aufträgen. Eine der großen Entwicklungsmaschinen spuckte Fotos aus.

»He, Jude!«, begrüßte Maddy ihre Freundin auf die übliche Weise, und beide brachen in Lachen aus. »Das muss ich noch fertig machen. Der Kunde hat extra etwas mehr bezahlt, damit er seine Bilder in einer Stunde kriegt.«

Normalerweise schaute sie sich die Fotos kurz an, um die Qualität zu kontrollieren und sicherzugehen, dass sie nichts Obszönes oder Illegales zeigten. Während die Bilder durch die Maschine glitten, musste Maddy blinzeln. Lauter nackte Ärsche. Und als sie genauer hinschaute, grinste sie. Auf den Fotos prangte ein ganzes Rugbyteam ohne Hosen, und die Aufschrift ALLESGUTEZUMGEBURTSTAG, ALTERJUNGE zog sich über die Hinterbacken – oder »Gesäße«, wie es Maddys Mum ausdrücken würde. Im Allgemeinen weigerte sich FabSnaps, Fotos von nackten Tatsachen abzuziehen. Doch Maddy entschied, dass an diesen Bildern kein Mensch Anstoß nehmen könnte, es sei denn, sein Humor wäre chirurgisch entfernt worden.

»Nette Hintern«, kommentierte Jude.

»Hoffentlich teilt das Geburtstagskind deine Meinung.«

»Sehen Sie zu, dass Sie um zwei wieder da sind!«, rief Mr. Wingate. Maddy war eine tüchtige, gewissenhafte Angestellte, die oft genug auf ihre Mittagspause verzichtete, wenn es viel zu tun gab. Deshalb drückte er manchmal ein Auge zu.

»Danke, Mr. Wingate.« Sie steckte die Fotos in einen rot-weiß-blauen Umschlag. Diese Farbkomposition, vom britischen Union Jack inspiriert, hatte sich der Boss ausgedacht, um mit Patriotismus als Marketingwaffe die größeren Rivalen aus dem Feld zu schlagen. »Bald wird der Kunde diese Bilder abholen. Um Punkt zwei komme ich zurück. Das verspreche ich Ihnen.«

Gleich um die Ecke lag das Geschäft, in das Jude sie führen wollte. Obwohl sich Wedding Belles nicht im schicken Knightsbridge oder in den angesagten Regionen von Soho befand, hatte die Boutique schon mehrere TV-Stars und Girly-DJs ausstaffiert. Einem Gerücht zufolge war sogar Madonna schon einmal hier gewesen.

»O Maddy!«, quietschte Jude und zeigte auf ein Kleid in der Auslage. »Darin würdest du sensationell aussehen! Chris würde schon einen Orgasmus kriegen, während er all die vielen Knöpfe öffnet.«

Mit zusammengekniffenen Augen musterte Maddy die hinreißende Kreation. Im Gegensatz zu ihr selbst war das Kleid schmal und elegant, aus elfenbeinfarbenem Satin, täuschend schlicht geschnitten, mit einer Reihe winziger Knöpfe am Rücken.

Gab es eine auch nur annähernd realistische Chance, dass sie da hineinkommen würde? Warum wurde eine Frau, sobald ihre Kleidergröße ein kleines bisschen über 42 hinausging, plötzlich in die Kategorie 46 bis 48 bugsiert?

»Warum gehen wir nicht rein und schauen’s uns an?«, versuchte Jude sie zu umgarnen, wie Satan, der Eva einen Red Delicious hinhielt. »Ich meine – was hast du zu verlieren?«

»Meine Würde und meine ohnehin schon gefährdete Selbstachtung«, erwiderte Maddy und erinnerte sich an diverse Begegnungen mit arroganten Verkäuferinnen, die ihr das Gefühl gegeben hatten, man müsse eigens für sie einen Modeladen für Mammuts gründen. »Warum nicht, zum Teufel?« Verdammt wollte sie sein, wenn sie sich von dieser hochnäsigen Bande einschüchtern ließe.

Den Kopf hocherhoben, versuchte sie ebenso stilvoll zu wirken wie das Kleid – ein schwieriges Unterfangen, weil sie ihre Stretchjeans und ihren vergammelten gestreiften Lieblingshut im Grungelook trug, der ihre widerspenstigen dunklen Haare bändigen sollte … Wenigstens bin ich mit meinen eins achtundsiebzig nicht zu übersehen, dachte sie. Ihr Vater hatte stets betont (meist nach einer von Mums ätzenden Bemerkungen über Elefanten in Porzellanläden), Maddy verfüge zumindest über Ausstrahlung.

»Nun komm schon!« Jude stieß sie zur Tür. »Probier’s an. Du musst es ja nicht kaufen.«

»Dazu werde ich mich wohl kaum durchringen«, murmelte Maddy, »weil ich noch nicht zu sparen angefangen habe.« Oder mit der SlimFast-Diät. Das fügte sie nur in Gedanken hinzu. In der Boutique herrschte eine beängstigend edle Atmosphäre. Das Dekor schrie geradezu nach Platin-Kreditkarten – dicke weiße Teppiche, schwere elfenbeinfarbene Seidenvorhänge, die von geflochtenen Schnüren zusammengehalten wurden, extravagante Seidenblumen in riesigen Vasen und ein kleines Tablett mit Espresso und Fruchtsaft. Als Tüpfelchen auf dem i waren frische Rosenblütenblätter auf dem Boden verstreut. Maddy spürte geradezu, wie die Visa aus ihrer Brieftasche gelockt wurde. Was niemandem etwas nutzen würde, weil sie die Karte schon fast bis zum Limit belastet hatte.

Noch immer ließ sich keine einzige Verkäuferin blicken.

»Wie in einem Geisterladen«, wisperte Maddy. »Vielleicht wurde das Personal von der militanten Brigade alter Jungfern niedergeschossen.« Sie ging zur Auslage und inspizierte das traumhafte Kleid. »Typisch. Kein Etikett mit der Größe, kein Preisschild. Soll ich die Schaufensterpuppe würgen und ins Verhör nehmen?«

»Das wird nicht nötig sein.«

Schuldbewusst drehte sie sich zu einer Verkäuferin mit tintenschwarzem Haar um, die Stiefel mit überdimensionalen Absätzen trug. Es lag Maddy auf der Zunge zu fragen, ob sie irrtümlich in einem Sexshop gelandet seien. Oder in einem Bestattungsinstitut mit einem Spezialangebot für Nekrophilie-Fans.

»Was ist bloß aus den mütterlichen Verkäuferinnen im knitterfreien blauen Trevira geworden?«, flüsterte sie Jude zu.

»Wahrscheinlich arbeiten die jetzt in den Ann-Summers-Läden.«

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Oder wollen Sie sich nur umschauen?« Diese beiden letzten Wörter sprach die Verkäuferin so verächtlich aus, als handelte es sich um eine besonders perverse Sexualpraktik.

»Hier war’s so still, dass wir dachten, Sie wären alle ermordet worden«, erklärte Maddy.

»Wegen des Shootings.«

»Mein Gott«, hauchte Jude, »also wurde tatsächlich jemand erschossen.«

Die Domina ignorierte sie. »Wegen des Fotoshootings«, fuhr sie fort und wies in einen L-förmigen Nebenraum. Dort posierte eine Braut, ausstaffiert wie Britney Spears, wenn auch nicht ganz so raffiniert, in einem Wald aus silbernen Schirmen vor einer Kamera.

Sofort legte Maddy ihre Handtasche beiseite, holte ihren eigenen Fotoapparat hervor und knipste den Knipser.

»Keine Bange, das tut sie immer«, informierte Jude die Verkäuferin, »Fotografieren ist ihr Hobby.«

»Das ist Patrick Jamieson«, verkündete die Frau ehrfürchtig, »und er fotografiert sie für das Bride & Groom Magazine.«

Gleichmütig zuckte Jude die Achseln. »Von Patrick Lichfield habe ich schon gehört. Und von Patrick Sowieso, der damals Prinzessin Di …«

»Patrick Jamieson ist Weltklasse«, fiel ihr die Verkäuferin bissig ins Wort.

Auf Maddys Zunge lag die Frage: Was hat ihn dann nach Eastfield ins Wedding Belles verschlagen?

Selbst wenn Eastfield nur acht Meilen von der Londoner City entfernt lag, kam man sich hier manchmal vor wie auf einem anderen Planeten.

»Dieses glückliche Mädchen hat einen Wettbewerb gewonnen«, erläuterte die Verkäuferin, »und Patrick wird auch die Fotos bei der Hochzeit machen. Außerdem stellt er ein Album für das Brautpaar zusammen.«

»Sicher wird er auf seinen Superbildern nicht den Kopf des Bräutigams abschneiden«, meinte Jude, »oder einen Gast übersehen, der im Hintergrund kotzt – das ist auf der Hochzeit meiner Cousine Susan passiert.«

»Also, Ladys.« Die Frau taxierte die beiden Freundinnen von Kopf bis Fuß, um zu entscheiden, welche eher wie eine Braut aussah. »Was kann ich für Sie tun?«

»Das Brautkleid im Schaufenster.« Tapfer wappnete sich Maddy gegen die demütigende Mitteilung, das sei Größe 38. »Wir wüssten gern, welche Größe …«

»Das Catherine-Walker-Modell? Mal sehen …« Die Verkäuferin trippelte zur Auslage. »Tut mir wirklich leid.« So wie die versnobte Kuh das sagte, klang es ganz anders. »Größe 40.« Bedeutungsvoll starrte sie Maddy an. »Versuchen Sie’s bei Bride Plus in Palmer’s Green. Und falls es da nicht klappt, in einem Kaufhaus. Manche führen auch Brautmoden.«

»Besten Dank.« Maddy richtete sich zu ihrer vollen Länge von eins achtundsiebzig auf. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich das Kleid trotzdem anprobieren.« Das letzte Mal hatte sie bei ihrer Erstkommunion in Größe 40 gepasst. Aber sie wollte wenigstens eine Genugtuung genießen und die aufgeblasene Gans zwingen, ihre Schaufensterdekoration durcheinanderzubringen. Das würde sich unzweifelhaft lohnen. Außerdem würde sie ihr Brautkleid niemals in einem Discountladen kaufen.

»Los, Maddy, versuch’s einfach mal«, wurde sie von Jude ermutigt.

Verstimmt holte die Verkäuferin das Kleid aus dem Schaufenster und trug es mit einer Ehrerbietung, wie man sie normalerweise nur dem Turiner Grabtuch Christi zollt, zur Umkleidekabine. »Läuten Sie, wenn Sie meine Hilfe brauchen«, sagte sie und hängte es an einen Haken.

Mit dem Kleid allein gelassen, fühlte sich Maddy plötzlich am Rande einer Panik. Sie, Madeleine Adams, würde wirklich und wahrhaftig heiraten. Und zwar Chris Stephens, in seiner großen griechischen Familie unter dem Namen Christos Stephanides bekannt, den sie seit den Tagen der Park-Street-Mittelschule kannte. Chris – attraktiv, der Mädchenschwarm in der neunten Schulklasse, allgemein beliebt. Ohne irgendwelche Qualifikationen war er von der Schule abgegangen und ins Autohaus seines Vaters eingestiegen, eifrig bestrebt, mit dem »richtigen Leben« zu beginnen. Chris, der einen brandneuen Mazda-Sportwagen fuhr. Chris, der Maddy amüsant und sexy fand und den es nicht im Mindesten störte, dass sie zweieinhalb Zentimeter größer war als er. Natürlich konnte ihre Mutter nicht fassen, dass Belinda immer noch Single war und nicht einmal einen Freund hatte, während ihre Schwester … Aber nach Mums Ansicht waren Männer nun mal dumm, angefangen bei ihrem eigenen.

Gavin, Maddys Vater, hatte ganz anders reagiert. »Wenn der Junge dich kriegt, kann er von Glück reden. Hoffentlich ist er es wert.«

Als sie in das Kleid stieg, spürte sie den glatten Kuss des Satins auf ihren Hüften und betrachtete die schimmernden Falten. Der Augenblick der Wahrheit lag noch vor ihr. Bestand auch nur die geringste Chance, dass es ihr gelingen würde, das Kleid anzuziehen?

»Soll ich dir helfen?«, rief Jude.

»Ja, bitte!«, schrie Maddy zurück und zog den Bauch ein, so gut sie es vermochte.

»Nun komm schon, Miss Scarlett!« Jude schlug ihren besten Mammy-Ton aus »Vom Winde verweht« an. »Halt dich fest und atme tief ein.«

Während Maddy so tief Luft holte, dass es ausgereicht hätte, um drei Meter tief zu tauchen, zog Jude die beiden Seiten des Kleids am Rücken zusammen. Glücklicherweise verdeckte die Knopfreihe einen Reißverschluss, und – o Wunder – er ließ sich bis ganz nach oben ziehen.

»Also, ich muss schon sagen, Miss Scarlett – du siehst so süß und hübsch aus, mein Lämmchen.«

Vor lauter Freude strahlte Maddy über das ganze Gesicht. Es gab keinen Spiegel in der Umkleidekabine, weil man von den Bräuten erwartete, in den Geschäftsraum zu treten – vor die Augen der Mütter und künftigen Schwiegermütter, die daraufhin entzückt aufstöhnten oder verstohlen kicherten.

Doch Maddy wusste es schon – dieses Kleid könnte das einzig Wahre sein. Darin fühlte sie sich wirklich »sensationell«.

»Willst du die Gotenkönigin herausfordern und zum Spiegel hinauslaufen, um dich in deiner ganzen Schönheit zu bewundern?«, fragte Jude. »Dann solltest du vielleicht deinen …«

Aber Maddy, nach ihrem Erfolg von unbändigem Selbstvertrauen erfüllt, ignorierte ihre Freundin und rauschte hinaus.

Verwirrt zuckte sie zurück, als sie einen Mann neben dem riesigen Spiegel entdeckte. Eine Kamera in der Hand, lehnte er lässig an der Wand und musterte sie.

Das Erste, was ihr auffiel, waren seine Augen – so blau wie die Farbe von Mundwasser. Nein, der Vergleich hinkte, denn dieses leuchtende Blau erinnerte einen eher an den Himmel über Griechenland. Sein Leinenanzug war total zerknittert, das dunkle Haar musste dringend geschnitten werden. Und seine nackten Füße steckten doch tatsächlich in Sandalen!

»Cooles Motiv«, sagte er erstaunlicherweise. »Stört es Sie, wenn ich …« Ohne eine Antwort abzuwarten, begann er zu knipsen. »Und die Braut trug Grunge …« Lachend ließ er die Kamera sinken.

Erst jetzt sah sich Maddy im Spiegel. Das Kleid war ein Traum. Aber – o Gott – sie trug immer noch ihren schäbigen gestreiften Hut. Feuerrot vor Verlegenheit riss sie ihn sich vom Kopf. Dabei bewegte sie sich etwas zu heftig. Ratsch – das Platzen der Naht hallte laut durch den stillen Raum – so gewaltig, als würde ein Bündel Fünfzigpfundnoten entzweigerissen.

»Das wusste ich ja – mit Größe 40 haben Sie zu viel riskiert«, zischte die Verkäuferin und rannte zu ihr, um den Schaden abzuschätzen.

»O Scheiße, tut mir ehrlich leid!«, platzte Maddy heraus. Beide inspizierten den langen Riss unter einem Arm.

»Mir auch«, versicherte die Frau in einem Tonfall, der sogar eine Flasche Bier unter Zimmertemperatur gekühlt hätte. »Wenn Sie ein Kleid beschmutzen oder zerreißen, müssen Sie’s bedauerlicherweise kaufen.«

»Hören Sie …«, mischte sich Patrick ein, sobald er Maddys Miene sah.

»Wir müssen leider darauf bestehen, es ist eines unserer Geschäftsprinzipien, weil diese Kleider unglaublich wertvoll sind.«

Maddy erblasste. Wie teuer das Kleid war, wusste sie nicht. Abgesehen davon hatte sie bisher weder damit angefangen, Diät zu halten, noch zu sparen. Beides wurde jetzt beinahe überlebenswichtig.

Endlich gehorchte ihr die Stimme wieder. »Wie viel kostet es?«

»Eintausendachthundert Pfund«, antwortete die Verkäuferin. »Inklusive Preisnachlass, weil das Modell im Schaufenster gezeigt wurde. Ich fürchte, Sie haben unser teuerstes Kleid zerfetzt.«

Plötzlich drückte Patrick Jamiesons Gesicht tiefes Mitgefühl aus, was Maddy nicht entging. »Ich nehme an, Sie wollen wirklich heiraten?«, fragte er. »Sie denken nicht nur daran?«

Unglücklich nickte sie und versuchte, sich nicht lächerlich zu machen, indem sie in Tränen ausbrach oder vor der Verkäuferin niederkniete und flehentlich darum bat, den Preis in Raten abstottern zu dürfen – am besten innerhalb der nächsten zwanzig Jahre. »Im April. Es ist das erste Kleid, das ich anprobiert habe.«

»Dann ist’s ja nicht so schlimm.« Plötzlich lächelte er, und seine unglaublich blauen Augen wirkten seltsam tröstlich. »Schöne Frauen anzuschauen gehört zu meinem Job. Und ich verspreche Ihnen, Sie werden nichts finden, was Ihnen besser steht. Besonders ohne den Hut.«

»Dass ich ihn vom Kopf gerissen habe, war Ihre Schuld!«, fauchte sie. »Hätten Sie nicht ohne meine Erlaubnis diese Fotos gemacht, wäre das nicht passiert.«

»Moment mal, das war ein fantastischer Schnappschuss.«

»Ich sah verdammt blöd aus. Und Sie haben mich nicht einmal gefragt.« Beim Anblick seiner Kamera wurde sie zumindest kurzfristig von der Sorge abgelenkt, wie sie das Kleid bezahlen sollte. »Ist das eine Leica?«

Er nickte.

»Nur eine Standardlinse?«

Patrick hob die Brauen, als hätte sie eine völlig unerwartete Frage gestellt, zum Beispiel nach seinen sexuellen Vorlieben. »Ja, ich reise lieber mit leichtem Gepäck, statt mich mit überflüssiger Ausrüstung zu belasten.«

»Benutzen Sie nicht einmal ein Stativ?«

»Nur wenn’s unbedingt nötig ist. Ich möchte immer und überall die Möglichkeit haben, unvermutete Motive festzuhalten. So wie Sie mit Ihrem Hut. Fotografieren Sie auch?«

»Verzeihen Sie«, unterbrach die Verkäuferin das Gespräch. »Aber wir sind sehr beschäftigt. Wie wollen Sie das Kleid bezahlen?«

Mit meinem Körper, hätte Maddy beinahe erwidert. Für zwanzig Pfund pro Mal. Einer Ohnmacht nahe, fragte sie sich, ob Patrick Jamieson die kalte Angst in ihrem Blick sah.

»Soll der Schaden unsichtbar behoben werden?«, erkundigte sich die Frau.

Maddy zuckte zusammen. Ein zerrissenes Brautkleid wäre untragbar und astronomisch teuer. Andererseits – wenn’s geflickt wurde, war’s ein bisschen preiswerter.

»Wie viel würde das kosten?«

»Etwa hundert Pfund.«

»Wahrscheinlich habe ich keine Wahl …«

»Wenn Sie ein oder zwei Pfund abnehmen, ist alles okay«, versuchte Patrick sie zu trösten. Offenbar erriet er ihre Gedanken.

Aber sie hatte die Nase voll. Niemals würde ihr das verdammte Kleid passen, genauso wenig, wie sie es sich würde leisten können. Und es war seine Schuld, dass sie es kaufen musste. Sein Vorschlag, eine Diät zu machen, war das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte.

»Warum verschwinden Sie nicht einfach?«

»Nun, ich meine«, fuhr er fort, als sei er an solche Reaktionen gewöhnt, »dass Sie wundervoll aussehen. Und Sie wissen das offensichtlich.«

Nein, das wusste sie nicht. Misstrauisch starrte sie ihn an.

»Ich meinte nur, dass Sie wegen des Kleids ein oder zwei Pfund loswerden sollten. Ansonsten finde ich, eine Frau sollte schon an den richtigen Stellen hübsche Kurven aufweisen.«

»Warum zum Teufel arbeiten Sie dann in der Modebranche?«, fuhr sie ihn unhöflich an. Immerhin war er für ihr Problem verantwortlich. »Da wird Magersucht doch geradezu propagiert. Oder haben Sie das noch nicht bemerkt?«

»Bitte, Maddy …«, bemühte sich Jude, die Wogen zu glätten. »Verzeihen Sie, Sir. In manchen Situationen neigt meine Freundin zu Temperamentsausbrüchen.«

»Freut mich zu hören.« Langsam verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln, das neue Röte in Maddys Wangen trieb.

Diese Unverschämtheit. »Seien Sie nicht so verdammt herablassend!«

»Wissen Sie, was bei Ihnen abnehmen müsste, liebe Maddy? Ihre Paranoia. Alles andere ist in Ordnung.« Dann drehte er sich zu der Verkäuferin um. »Vielen Dank, dass wir hier arbeiten durften. In der Aprilausgabe müssten die Fotos erscheinen.« Wieder zu Maddy gewandt, beteuerte er: »War wirklich nett, Sie kennenzulernen. Hoffentlich feiern Sie eine schöne Hochzeit.« In seinen blauen Augen funkelte ein boshafter Glanz. »Es sei denn, der Bräutigam hält nichts von einem Dreier – Sie, er und die Paranoia.«

»Wie kann er es nur wagen?«, stieß Maddy hervor, während ihre Freundin in einen Seidenvorhang kicherte.

»Eine verpasste Gelegenheit«, sagte Jude zu Patrick Jamiesons Rücken, der sich in Richtung Ausgang entfernte. »Hättest du ihn doch gefragt, ob er deine Hochzeitsfotos machen will.«

»Soll das ein Witz sein? Weiß Gott, was der Mann kostet! Schon um dieses beschissene Kleid zu bezahlen, muss ich mich bis ins nächste Jahrtausend abrackern.« Maddy beobachtete, wie die Verkäuferin das Kleid zusammenfaltete. »So, jetzt habe ich eine Idee, Jude.« Hoffnungsvoll schlug sie vor: »Laufen wir einfach davon und vergessen das Kleid.«

»Klar, das wäre okay, wenn du nicht auf der anderen Straßenseite arbeiten würdest. Jemand könnte dich erkennen. Außerdem hat Patrick so oder so völlig Recht, du hast zauberhaft darin ausgesehen.«

»Da gibt’s nur ein einziges kleines Problem. Wie zum Geier soll ich das Geld dafür zusammenkratzen? Mit meiner Visacard bin ich schon fast ans Limit gegangen. Ich muss meinen Banker um einen Kredit bitten und dann fünf Jahre lang Überstunden machen.«

»Würden dir deine Eltern nicht helfen?«

»Seit Daddy in den Vorruhestand getreten ist – auf keinen Fall. Und Mum war schon immer sparsam. Weil das Haus kaum geheizt wird, behauptet Dad, in seinem kleinen Gewächshaus im Schrebergarten sei’s viel wärmer.« Maddy hatte schon überlegt, ob ihre Mutter nur deshalb für Minustemperaturen sorgte, damit ihr Vater gar nicht daheimbleiben wollte. Wenn ja, war das ein hochwirksamer Schachzug gewesen. Ihr Vater hielt sich fast nie zu Hause auf. Stattdessen kümmerte er sich liebevoll um seinen Porree und die gigantischen Gartenkürbisse. Mit diesem Arrangement schienen beide sehr zufrieden.

Als Maddy und Jude die Umkleidekabine verließen, hatte die Verkäuferin das Kleid in ein Meer aus weißem Seidenpapier gehüllt, mit Duftperlen bestreut und mit rosa Bändern umwunden. Jetzt legte sie es in eine Schachtel mit Goldprägung.

»Du meine Güte«, wisperte Maddy. »Kein Wunder, dass hier alles so teuer ist.«

»Also, das macht achtzehnhundert Pfund plus hundert für die Ausbesserungsarbeit.«

Maddy zögerte. Vielleicht konnte sie die nette Inderin in der Reinigung darum bitten. Doch sie bezweifelte, dass die Frau dieser diffizilen Aufgabe gewachsen wäre. Und so nickte sie.

»Gut. In zwei Wochen wäre das Kleid fertig. Wann findet die Hochzeit statt?« Bei dieser Frage schwang einstudierte Ehrfurcht in der Stimme der Verkäuferin mit.

»Am 8. April.« Irgendwie konnte Maddy noch immer nicht daran glauben.

Draußen auf dem Gehsteig nahm Jude sie in die Arme. »Dieser Patrick Sowieso hat völlig Recht. An deinem Hochzeitstag wirst du umwerfend aussehen.«

Kaum merklich runzelte Maddy die Stirn. Zu den Gründen, warum sie die Trauung fürchtete, zählte die Erwartung der Leute, die ihre äußere Erscheinung betraf. Bräute mussten zerbrechlich wirken. Und eine Braut durfte nicht größer sein als der Bräutigam, sonst war sie – wie Nicole Kidman neben Tom Cruise – selbstverständlich verpflichtet, flache Schuhe zu tragen. Wahrscheinlich würde sie Chris über die Schwelle schleppen müssen.

Maddy sah auf ihre Uhr. »Jetzt muss ich mich wieder an die Arbeit machen und anfangen, das Kleid abzubezahlen. Nach der letzten Rate werde ich so alt sein wie die gespenstische Miss Havisham in diesem Roman von Charles Dickens.«

Auf dem Rückweg zum FabSnaps rechnete sie sich aus, wie viele Stunden sie für ihr Brautkleid würde arbeiten müssen. Was für eine deprimierende Kalkulation … Vielleicht würde Mr. Wingate ihr erlauben, in den Laden überzusiedeln und hinter der Theke zu schlafen.

Maddy eilte ins Geschäft und lächelte Pash Narinder an, einen Mitarbeiter, der gerade einen Kunden bediente. »Schlechte Neuigkeiten, Maddy«, zischte er. »Mr. Wingate sucht dich schon überall.«

Erstaunt schaute sie zu der Uhr hinauf, die hinter ihnen an die Wand projiziert wurde – Mr. Wingates neuestes Spielzeug. »Aber ich komme nur fünf Minuten zu spät. Shirley erledigt in der Mittagspause ihre Einkäufe für die ganze Woche …«

»Darum geht’s nicht. Riesenärger wegen einiger Fotos, die du abgezogen hast. Von unbekleideten Gentlemen.« Sichtlich besorgt biss Pash auf seine Lippen.

»Das ist alles?« Erleichtert atmete Maddy auf. Gewiss, die Bilder waren ein bisschen vulgär, zeugten aber von gesundem Humor, und so hatte sie die Abzüge bedenkenlos gemacht. Sicher würde Mr. Wingate keinen Anstoß an ein paar entblößten Hinterteilen nehmen, oder? Sie holte tief Luft und fragte: »Und wo liegt das Problem?«

»Unglücklicherweise hast du die Fotos in den falschen Umschlag gesteckt. Den hat eine Dame abgeholt und ihn ihrer alten Mutter gegeben, die gerade ihren achtzigsten Geburtstag feierte. Nachdem sie einen kurzen Blick auf die Gentlemen geworfen hatte, hat sie einen Herzanfall erlitten.«

»O Gott! Doch nicht wirklich?«

»Doch, leider. Musste in die Notaufnahme gebracht werden. Großes Drama. Wäre beinah gestorben, sagt die Tochter.«

Nun wurde Maddy von ernsthafter Panik ergriffen. Um den Laden möglichst schnell zu verlassen und das verdammte Kleid anzuprobieren, hätte sie beinahe eine 80-Jährige umgebracht.

»Da drüben steht ihre Tochter.« Pash zeigte auf einen 50-jährigen Drachen mit Kochtopfhaarschnitt. »Sie ist immer noch wütend. Sie hat einen Reporter von der Lokalzeitung mitgebracht.«

»Heiliger Himmel …«

»Also, junge Dame.« Der Drachen rauschte zu Maddy. »Sie haben eine ganze Menge zu verantworten. Wie können Sie sich erdreisten, meiner Mutter Fotos von nackten Männern auszuhändigen? Dagegen müsste es ein Gesetz geben.«

»Oh, ich glaube, das gibt es«, bemerkte der Reporter hilfsbereit.

Maddy drehte sich um und sah ihren Boss auf sich zukommen. Normalerweise der sanftmütigste aller Männer, glich Mr. Wingate jetzt einem Ballon kurz vor der Explosion. »Es tut mir furchtbar leid, aber ich habe keine Ahnung, wie diese Fotos in den Umschlag Ihrer Mutter gelangt sind«, entschuldigte sie sich. Wie war es möglich, dass an einem einzigen Tag so viele schreckliche Dinge passierten?

»Für gewöhnlich arbeite ich sehr gewissenhaft. Und ich kann nur sagen – ich bedauere zutiefst, was Ihnen und Ihrer Familie zugestoßen ist. Wird sich Ihre Mutter erholen?«

»Vermutlich«, entgegnete der Drache, »aber das verdankt sie ganz sicher nicht Ihnen.« Zu Mr. Wingate gewandt, fuhr die Frau fort: »Ich verlange eine schriftliche Entschuldigung.«

Wortlos führte er sie in sein Büro.

»Um bei den Tatsachen zu bleiben …« Zum ersten Mal lächelte der junge Reporter. »Nachdem sich die alte Dame einigermaßen von ihrem Schrecken erholt hatte, bat sie anscheinend um den Abzug eines der Fotos, das ihr am besten gefallen hat. Für diese Art von Humor hat die Tochter anscheinend nichts übrig.«

Maddy erwiderte das Lächeln. Sie war vielleicht pleite, aber wenigstens war sie keine Mörderin.

Doch das Schlimmste stand ihr noch bevor.

»Madeleine?«, rief Mr. Wingate, nachdem der Reporter und die Kundin den Laden verlassen hatten. Seine Stimme nahm einen harten Klang an, den Maddy zum ersten Mal hörte. »Hätten Sie ein paar Minuten Zeit?«

»Viel Glück.« Narinder faltete die Hände, als betete er. »Das werden Sie brauchen.«

Mr. Wingate führte sie in die Dunkelkammer. »Manchmal kann so ein Versehen vorkommen. Doch Sie hätten diese Fotos gar nicht erst entwickeln dürfen. Sie kennen unsere Geschäftsphilosophie bezüglich Nacktheit.«

»Tut mir ehrlich leid, Mr. Wingate.«

Mr. Wingate betupfte die verschwitzte kahle Stelle auf seinem Oberkopf mit dem Tuch, mit dem sie Fotoabzüge reinigten. »Mir auch, Maddy. Ich mag Sie. Und nun ist FabSnaps durch Ihre Unachtsamkeit zum Gespött geworden. Morgen wird ein Artikel in der Lokalzeitung erscheinen, und wir müssen noch froh sein, wenn wir nicht vor Gericht landen.«

»Irgendwann macht jeder mal Fehler. Und unsere Umschläge wurden schon oft vertauscht …«

»Ja, nur – Bilder von fünfzehn Männern, die ihre Kehrseiten entblößen, sind bisher noch nie in die falschen Hände geraten. So schwer es mir auch fällt, mir bleibt nichts anderes übrig – ich fürchte, ich muss Ihnen kündigen.«

»Aber …«, begann Maddy. Was sie jetzt sagen würde, glich einem Schlag unter die Gürtellinie. Obwohl sie das wusste, rang sie sich dazu durch. »Gerade habe ich mein Brautkleid gekauft. Es kostet ein Vermögen. Deshalb wollte ich Sie fragen, ob ich Überstunden machen darf.«

»Vielleicht sollten Sie das Kleid zurückbringen. Sicher wird man in dem Geschäft Verständnis für Ihre Situation aufbringen.«

Sie glaubte zu spüren, wie Wellen kalter Angst über ihrem Kopf zusammenschlugen. Lautlos öffnete und schloss sie den Mund wie eine Ertrinkende.

»Kommen Sie, ich gebe Ihnen das restliche Gehalt aus der Kasse.« Mr. Wingate kehrte in den Laden zurück.

Mitfühlend beobachteten Pash, Theresa und Shirley die Ereignisse, obwohl sie sichtlich erleichtert waren, dass es nicht sie getroffen hatte.

Maddy ging nach hinten, um ihre Sachen zu holen. Als sie sich im Spiegel sah, nahm sie ihren gestreiften Grunge-Hut ab, und ihre üppige Mähne fiel herab wie verschütteter schwarzer Sirup. Das Beste an ihr, meinte ihr Vater. Im Gegensatz zu ihrem Gehirn.

Immer noch benommen, schüttelte sie Pash die Hand. Dann umarmte sie Theresa und Shirley.

»Ohne dich wird’s hier viel langweiliger zugehen, Madeleine«, bemerkte Pash.

»Klar«, stimmte Theresa zu. »Maddy ist einmalig. Übrigens, hat die liebe alte Lady wirklich einen Abzug von diesen nackten Hintern verlangt?«

»Bye, Maddy«, seufzte Shirley. »Natürlich werden wir deine Fotos auch weiterhin entwickeln.«

Alle winkten ihr zu, und Maddys Kehle verengte sich. Mühsam kämpfte sie mit den Tränen. Wie schmerzlich sie die drei vermissen würde und die fantastische Gelegenheit, ihre eigenen Fotos kostenlos zu entwickeln. Und was sie am allerschlimmsten fand – wie zum Teufel sollte sie ihr Brautkleid bezahlen, wenn sie arbeitslos war?

2

Nachdem Maddy das FabSnaps verlassen hatte, musste sie erst einmal ihren Schock überwinden, und so setzte sie sich auf eine Bank in der Nähe des Clock Tower.

Vor zwei Stunden hatte ihr Leben noch sicher und vorhersehbar ausgesehen. Gewiss, sie hatte keine so grandiosen Erfolge vorzuweisen wie ihre Schwester Belinda oder die Tochter der Nachbarin Alison, die von der Halifax Bank. Doch sie war zufrieden mit ihrem Job und nicht bis zum Kragen bei Visa verschuldet gewesen. Jetzt hatte sie ihren Job verloren. Und sie stand mit fast zwei Tausendern in der Kreide.

Der Gedanke an Chris, der sie vielleicht aus dem schwarzen Abgrund ihrer Verzweiflung holen würde, munterte sie plötzlich auf. Immerhin besaß er das einzigartige Talent, alles in rosigem Licht zu sehen. Nur eine halbe Stunde in seiner Gesellschaft, und er hätte ihr eingeredet, die Kündigung bei FabSnaps sei ihre eigene Idee gewesen und sie müsse sich beglückwünschen, weil sie der alten Lady zu einem denkwürdigen Geburtstag verholfen hatte. Nicht zuletzt deswegen liebte sie ihn.

Leider gab es da ein Problem – er war nicht zu erreichen. Statt seiner Stimme drang der Anrufbeantworter des Autohauses aus dem Handy, der ihr mitteilte, ihr Anruf sei der Firma sehr wichtig. Offenbar nicht so wichtig, dass eine lebende, atmende Person an den Apparat gehen und mit ihr sprechen würde.

Maddy beschloss, keine Nachricht zu hinterlassen. Ich brauche dich, weil du mich umarmen und mir sagen musst, dass alles okay ist, obwohl ich gerade gefeuert wurde … Diese Art der Kommunikation war man im Stephens Motors, das Christos Stephanides senior, Chris’ Dad, gehörte, nicht gewöhnt.

Also würde sie es ihrem Verlobten später erzählen müssen. In diesem Moment hielt ihr Bus an der Station. Sie stieg ein und wünschte, sie teilte immer noch eine Wohnung mit Jude. Vor sechs Monaten war sie wieder nach Hause gezogen, um für die Hochzeit zu sparen. Unglücklicherweise hatte das nicht viel genützt.

Der Bus hielt am Ende der Straße, in der sie wohnte, und sie ging die letzten paar Meter zu Fuß. Am Cherry Tree Drive sahen alle Häuser gleich aus – von der Baufirma »Managerresidenzen« genannt. Bedauerlicherweise lebte in Maddys Elternhaus kein Manager. Ihr Vater hatte seinen Job gehasst und sich in den Vorruhestand begeben, sobald seine Töchter ihre Ausbildung beendet hatten und von daheim ausgezogen waren. Das hatte ihre Mutter ihm nie verziehen. Teilweise trug er selbst die Schuld daran, was Maddy inzwischen erkannt hatte. Statt gemeinsam mit Mum und dem Rest der »Fit-mit-fünfzig«-Brigade angenehmen Aktivitäten wie Golf oder Tennis zu frönen, war Gavin in seinem Kleingartenverein verschwunden. Allem Anschein nach bevorzugte er die Gesellschaft Gleichgesinnter, die vor dem wirklichen Leben flüchteten.

Verständlicherweise beschwor das gewisse Probleme herauf, denn Penny, Maddys Mutter, war die geborene Gesellschaftslöwin. Blond und elegant, in Faltenröcken und Blazern, glich sie einer Schulsprecherin in mittleren Jahren. Sie führte einen perfekten Haushalt. Um den beigen Teppichboden zu schonen, zwang sie ihre Familie, die Schuhe in der Diele stehen zu lassen, und ordnete sie nach der Größe (zu Maddys Leidwesen waren ihre die größten). Regelmäßig besuchte Penny ein Fitnessstudio, und sie besaß noch dieselbe Figur wie mit achtzehn. Ganz besonders freute sie sich, wenn Belinda für ihre Schwester gehalten wurde, was ziemlich oft geschah.

Als Maddy das Wohnzimmer betrat, schaltete ihre Mutter gerade den Staubsauger ab. »Warum kommst du so früh heim? Du bist doch hoffentlich nicht krank?« Penny hasste Krankheiten. Während ihrer ganzen Kindheit hatte Maddy nur selten eine Aspirin schlucken dürfen. Nach Mums Meinung wurde man durch mangelndes Mitgefühl abgehärtet und konnte die Widrigkeiten des Lebens besser meistern.

»Ist Dad da?«, fragte Maddy. Unerfreuliche Dinge erzählte sie lieber ihrem Vater.

»Was glaubst denn du?«

»In der Laubenkolonie?«

»Wo sonst?«

Kein Wunder … Den Großteil seiner Zeit verbrachte er in seinem Schrebergarten am Rand von Wellstead Heath. In der Nähe des Cherry Tree Drive gab es ebenfalls Kleingartenanlagen. Doch zu Pennys nicht geringem Verdruss hatte sich ihr Ehemann für einen entschieden, der eine zwanzigminütige Autofahrt entfernt lag.

Angeblich hatte Wellstead Heath die crème de la crème der Schrebergärten zu bieten, das Ritz-Carlton der Gemüsezüchter, ein magisches Königreich, einen hauptsächlich maskulin geprägten Zufluchtsort, wo die Gentlemen aus den Vorstädten ihren stillen Frust mit preiswürdigen Porreestangen, überdimensionalen Kürbissen und glänzenden Gurken bekämpften. Während ihr Eheleben dahinsiechte, schwelgten die Schrebergärten in einer fast unanständigen Fruchtbarkeit.

»Vielleicht schau ich mal schnell bei ihm vorbei«, kündigte Maddy an.

»Jeden Moment wird deine Schwester nach Hause kommen.«

Maddy hörte helle Freude aus diesem Tonfall heraus, den sie Mums »Belinda-Stimme« nannte. Wahrscheinlich ahnte Penny gar nichts davon. Und sie würde es sicher für »blanken Unsinn« erklären, wenn man ihr sagte, dass sie jedes Mal einen besonderen Ton anschlug, wenn sie ihre ältere Tochter erwähnte. Aber so war es nun mal.

In gewisser Weise konnte Maddy ihr das nicht verübeln. Belinda war wirklich vollkommen. Dächte der Allmächtige je darüber nach, welche Tochter er im Lauf seiner diversen Schöpfungen am besten hingekriegt hatte, müsste er Belinda wählen. Hübsch, blond, anmutig und klug, hatte sie immer ausgezeichnete Zeugnisse bekommen, war bei Lehrern und Schülern gleichermaßen beliebt gewesen, und nun brillierte sie als Balletttänzerin. Mit elf Jahren hatte sie ihre Eltern dazu überredet, das mühelos errungene Stipendium an einem Gymnasium abzulehnen und ihr den Besuch einer Ballettschule zu bezahlen. Das verlangte der ganzen Familie große Opfer ab. Trotzdem stellte niemand jemals die Frage, ob es sich lohnte. Belinda sollte Ballett tanzen, und damit basta. Oft genug hatte Penny erklärt: »Wenn man ein echtes Talent besitzt, muss man es nutzen. Da bleibt einem gar nichts anderes übrig.«

Maddy wünschte, ihre Mutter hätte nur ein- oder zweimal auch die Begabung ihrer jüngeren Tochter anerkannt. Vielleicht konnte sie keine so spektakulären Fähigkeiten wie Belinda vorweisen. Doch ihr Lehrer am College hatte ihr immerhin ein beträchtliches Potenzial bescheinigt und ihr empfohlen, hart daran zu arbeiten.

Unglücklicherweise interessierte sich Penny kein bisschen für dieses Talent. Über Maddys Absicht informiert, einen Kurs in Fotografie zu belegen, hatte ihre Mutter nur eine Augenbraue gehoben, als wäre das ein schlechter Witz. »Solange du’s selber bezahlst … Du bist über einundzwanzig.« Eines Tages erschien eines von Maddys Fotos, das ihren Dad mit einem Riesenkürbis zeigte, in der Lokalzeitung. Maddy hatte erwartet, Mum würde es ausschneiden und ans schwarze Brett in der Küche heften, neben Belindas Balletturkunden.

Letzten Endes war es Dad gewesen, der das Bild mit rebellischem Elan mitten aufs Brett geheftet hatte. Dort blieb es zwei Wochen. Nachdem es verschwunden war, hegte Maddy die törichte Hoffnung, ihre Mutter hätte es entfernt, um es so wie Belindas Urkunden in ein Klemmbrett zu stecken. Wenig später fand sie das Foto im Müll und weigerte sich zu weinen. Stattdessen hatte sie ihr Herz verschlossen. Okay, ihre Schwester wurde von Mum bevorzugt. Damit musste sie sich abfinden.

»Hi, Mum!« Belindas Stimme unterbrach Maddys Gedanken. Immer noch in Tanzkleidung, stürmte das Mädchen ins Zimmer. »Gerade habe ich die erste Runde überstanden!«

Belinda war bei einer Audition für einen Solopart gewesen, und davor hatte Penny ihr stundenlang beim Training zugeschaut.

»Oh, das wusste ich!« Durch Pennys liebevolle Worte schien warmer Honig zu fließen. Auch sie hatte eine Karriere beim Ballett angestrebt, war aber nicht gut genug gewesen.

Belinda stellte ihre Tasche ab. »Jetzt gehe ich in die Garage und übe noch ein bisschen.«

Da nur mehr ein Auto in der Doppelgarage stand, hatte Dad die andere Hälfte mit einem großen Spiegel ausgestattet, und Belinda benutzte sie als improvisiertes Studio.

»Trink zuerst eine Tasse Tee«, schlug ihre Mutter vor. Kurz danach kehrte sie mit drei Tassen und einer Platte voller Biskuits zurück, die weder sie selbst noch Belinda anrühren würde.

Warum war Maddy beim Programmieren der Selbstverleugnungsgene, über die zarte Blondinen in so reichem Maße verfügten, leer ausgegangen?

Um ihnen ihre Selbstkontrolle zu beweisen, ignorierte sie die Platte. Der Unterschied zu den beiden bestand nur darin, dass ihr die Existenz der Biskuits deutlich bewusst war, während ihre Mutter und ihre Schwester die Verlockung gar nicht zu bemerken schienen.

»Warum bist du schon so früh daheim?«, fragte Belinda. »Halbtagsarbeit im Fotolabor?«

»Genau genommen wurde ich gefeuert«, gestand Maddy.

»Wieso denn um alles in der Welt?«

»Weil ich Fotos vertauscht habe. Eine 80-jährige Lady bekam den Umschlag, in dem die Bilder eines Rugbyteams mit entblößten Kehrseiten steckten, und erlitt einen leichten Herzanfall.«

»O Madeleine, um Himmels willen!«, jammerte Penny. »Kannst du den gar nichts richtig machen?«

»Was für ein Pech«, meinte Belinda mitfühlend. »Aber ich verstehe nicht, warum das ein Kündigungsgrund ist.«

»Normalerweise ist das auch keiner«, erwiderte Maddy. »In meinem Fall ging’s um die nackten Tatsachen. Solche Fotos dürfen im FabSnaps nicht abgezogen werden.«

»Bei deinem Niveau dürfte es dir wenigstens nicht schwerfallen, einen neuen Job zu finden«, streute ihre Mutter Salz in die Wunde.

Maddy schluckte. »Heute ist es ziemlich kalt. Ich werde Dad eine Wärmflasche mitbringen.«

»Wie du willst«, schnaufte Penny. »Übrigens, was hält Chris von deiner Kündigung?«

Sie fand Chris nahezu perfekt und begriff nicht, wie er sich ausgerechnet in Maddy hatte verlieben können.

»Ich habe ihn noch nicht erreicht.«

Kurz danach verließen die beiden Schwestern das Wohnzimmer. Bevor Belinda zur Garage ging, drückte sie Maddys Arm und zeigte mit dem Kopf in Richtung der Mutter. »Hör nicht auf sie. So ist sie nun mal. Mit mir kommt sie besser zurecht, weil ich ihr ähnlich bin. Und du bist der Bohemien in unserer Familie. Das solltest du genießen.«

Maddy umarmte sie und musste sich beherrschen, um nicht zurückzuschrecken. Unter dem Trikot fühlte sich Belindas Körper wie Haut und Knochen an. Wann war sie so dünn geworden?

»Würdest du Dad liebe Grüße von mir ausrichten? Und sag ihm, ich werde ihn bald mit einem verdammten Kürbis verwechseln, wenn er nicht öfter daheimbleibt.«

»Okay.« Maddy lachte. »Ich werde es ihm ausrichten.« Natürlich traf Bel den Nagel auf den Kopf. Wäre Dad ein Workaholic, der eine multinationale Firma leitete, würde er sich gewiss nicht öfter zu Hause aufhalten.

Um den Schrebergarten zu erreichen, musste sie den Bus nehmen und dann ein Stück zu Fuß gehen.

Sie folgte dem schmalen Weg, der an der Laubenkolonie entlangführte, und trat dabei nach welken Blättern. Es war ein wunderschöner Tag Anfang September, mit einem blauen Himmel, so hell, dass es in den Augen schmerzte. Was immer im Leben auch schieflaufen mochte – an einem solchen Tag konnte man unmöglich Trübsal blasen.

Schließlich stand sie vor dem kleinen, von Ranken überwucherten Eisengatter. Sie besaß einen eigenen Schlüssel, und jedes Mal wenn sie die Tür öffnete, spürte sie einen wohligen Schauer. Dahinter lag ein verborgener Schatz, ein geheimer Ort, beinahe außerhalb von Zeit und Raum. Einen Teil der Magie machte die besondere Gegend aus, denn rings um die paar Hektar im Gemeindebesitz lagen die Prachtvillen von Ölscheichs und Popstars. Und auf diesem kleinen Fleckchen Erde frönten ganz gewöhnliche Menschen ihrer Leidenschaft für alles, was grünte und blühte.

Maddy wanderte an hohen Sonnenblumen vorbei, die sogar ihren Scheitel überragten. In der heißen Nachmittagssonne wippten ihre riesigen gelb-schwarzen Köpfe. Obwohl der September begonnen hatte, brütete eine Hitzewelle über London.

Im nächsten Schrebergarten standen üppige Sträucher. Daran hingen überdimensionale Himbeeren, die beinahe aussahen wie Pflaumen, glänzende rote Johannisbeeren, dicke Loganbeeren und saftige frühsommerliche Brombeeren. Unfähig, der Versuchung zu widerstehen, stopfte sie gierig einige Beeren in ihren Mund. Dabei fühlte sie sich wieder wie das kleine Mädchen, das mit seinem Vater auf Beerensuche in den Wald gegangen und mit leeren Händen heimgekommen war. Unterwegs hatten sie die ganze Ernte aufgegessen.

Nun bahnte sie sich einen Weg durch ein Miniaturlabyrinth, dieser Irrgarten war die Freude und der Stolz seines Schöpfers Maurice, einem von Dads Spießgesellen. Und dann gelangte sie in ihren Lieblingsgarten, den Dennis gepachtet hatte. Auch er gehörte zu Gavins engstem Kreis.

An drei Seiten hatte er Hecken um seinen Schrebergarten gepflanzt und ein sonniges Eckchen geschaffen, in dem Porree, Pastinaken und Winterkohl in wohl geordneten Reihen gediehen. Zucchinipflanzen mit ihren leuchtend gelben Blüten rankten sich wie lange, blumengeschmückte Schlangen an einer Hecke entlang. Am anderen Ende hatte Dennis eine hölzerne Bank gebaut, mit einer Sitzfläche aus gewelltem Plastik. Da konnte er ein Sonnenbad nehmen und beobachten, wie seine Sämlinge wuchsen. Hinter der Bank verjagte die eleganteste Londoner Vogelscheuche in Frack und Zylinder gefiederte Eindringlinge.

Nachdem Maddy um die Ecke gebogen war, blieb sie wie angewurzelt stehen und staunte über einen merkwürdigen Anblick. Gavin und seine beiden Kumpel Dennis und Maurice – von der Mutter kollektiv als »Steckrüben« bezeichnet – saßen in Klappstühlen im Kreis und starrten vor sich hin. Irgendwie sahen sie aus, als wären sie soeben Zeugen eines grauenvollen Verkehrsunfalls geworden und hätten einen Schock erlitten.

Aus einem Impuls heraus duckte sie sich hinter einen Brombeerstrauch, zog ihre Kamera aus der Tasche – eine alte Nikon, eher schlicht wie alle vernünftigen Kameras und ihr ganzer Stolz. Um sie zu kaufen, hatte sie zwei Jahre lang die widerlichen Nachbarskinder als Babysitterin betreut. In der Welt professioneller Fotografie mochten die Digitalkameras allmählich die Oberhand bekommen. Doch Maddy liebte noch immer die Magie konventioneller Filme.

Blitzschnell knipste sie die Gruppe – erfreut, weil sie ihren Lieblings-Schwarzweiß-35-mm-Film in der Kamera hatte.

»Hi, Dad!«, unterbrach sie die intensive Konzentration der drei Männer. Sichtlich erfreut über die Ankunft seiner Tochter, lächelte er und sprang auf.

Schon oft hatte Maddy den Eindruck gewonnen, ihr Vater müsse ein paar Gänge runterschalten, wann immer er aufstand.

Seine rastlose Energie erinnerte sie an einen Kastenteufel, der ständig darauf wartete emporzuschnellen. Ihre Größe hatte sie von ihm geerbt. Doch er war dünn wie ein Pfeifenreiniger, mit klaren Augen, die in heller Begeisterung für zahllose, meistens unpraktische Dinge erstrahlten. Früher hatte er schönes, dichtes Haar besessen, jetzt wurde es allmählich schütter. Ein unschuldiges Flair umgab ihn, die Aura eines Pfadfindergruppenführers, der eine Mission zu erfüllen hat. Das wusste Maddy besonders zu schätzen. Sie liebte ihn. Und was sie am allerbesten fand – er erwiderte ihre Gefühle.

»Großer Gott, was ist denn passiert?«, fragte sie. Dennis und Maurice starrten immer noch düster vor sich hin.

»Stell dir vor, Dennis’ Lauch ist eingegangen«, antwortete Gavin. »Dieser wunderbare Lauch, den er bei der Landwirtschaftsausstellung präsentieren wollte.«

»Eingegangen?«

»Irgendein Witzbold hat ihn mit Ammoniak besprüht.«

Als sie Dennis’ tragische Miene bemerkte, musste sie ihren Lachreiz unterdrücken.

»Völlig ruiniert«, klagte Dennis und hielt Maddy eine welke, verfärbte Porreestange hin.

»Tut mir leid, Dennis.«

Wehmütig seufzte er. »Maurice meint, das ist der Preis des Erfolgs.«

»Da hat er völlig Recht«, stimmte Maddy ernsthaft zu. »Deine Lauchstangen sind die besten weit und breit. Kein Wunder, dass sie Neid erregen.«

»Jedenfalls«, bemühte sich Gavin seinen Freund zu trösten, »müssen wir versuchen, die Dinge auch von der heiteren Seite zu sehen.«

»Was soll mich denn erheitern? Die liebevolle Fürsorge eines ganzen Jahres vergeudet … Diesen Porree habe ich aus winzigen Samen großgezogen. Über jede einzelne Stange habe ich eine Rolle Klopapier gestülpt, um die Schnecken fernzuhalten.« Melodramatisch hielt Dennis inne. »Sogar gesprochen habe ich mit ihnen.«

»Nun ja.« Gavin tätschelte seine Schulter, eifrig bestrebt, die Tragödie nicht zu bagatellisieren. »Aber die Sonne scheint, und Maddy ist da.« Erst jetzt fiel ihm diese ungewöhnliche Tatsache auf, und er unterbrach sich. »Musst du nicht arbeiten? Hast du deinen freien Tag?«

»O Dad.« Ihre Stimme zitterte ein wenig. »Mr. Wingate hat mich heute Mittag gefeuert.«

»Tut mir furchtbar leid, Liebes.« Gavin legte einen Arm um ihre Schultern. »So ein Narr!«

»Und was noch viel schlimmer ist – kurz davor habe ich ein unglaublich teures Brautkleid gekauft. Und jetzt weiß ich nicht, wie ich’s bezahlen soll.«

»Hm …«, murmelte er und streichelte ihr Haar. Von plötzlicher Zärtlichkeit erfüllt, erkannte sie, dass sie größer war als er. Das war ihr nie zuvor aufgefallen. »Dafür haben deine Mutter und ich ein bisschen Geld zur Seite gelegt. Wie viel kostet denn dein Traumkleid?«

Das wagte sie ihm nicht zu gestehen. Ihr Vater lebte in einer anderen Welt. Wahrscheinlich hatte er zweitausend Pfund für die ganze Hochzeit gespart, nicht bloß für das Kleid.

»Sicher findest du bald einen neuen Job, Mädchen.« Dennis blickte von seinem Miniaturschlachtfeld auf. »Und wir werden dir bei der Suche helfen«, fügte er hinzu und stieß Maurice mit einer langen, welken Lauchstange an. »Nicht wahr, Gav?«

Unwillkürlich lächelte Maddy, zutiefst gerührt über die Anteilnahme der drei Gartenfreunde – obwohl sie ebenso wenig hoffen durften, einen guten Job für sie zu finden, wie jemals die Identität des Porreemörders herauszufinden.

»Moment mal!«, rief ihr Vater und versuchte seine Missbilligung zu verbergen, als quietschende Autoreifen die friedliche Stille des abgeschiedenen Paradieses durchbrachen. »Ich glaube, da kommt dein junger Mann. In dieser Gegend fährt niemand anderes so.«

Atemlos rannte Maddy an den Schrebergärten vorbei, zu der schmalen Straße. Helle Freude auf das Wiedersehen erwärmte ihr Herz. Gerade hatte Chris seinen gelben Mazda-Sportwagen abgestellt, mit zwei Rädern im Gras am Straßenrand. Die gelbe Linie, die ein absolutes Halteverbot anzeigte, ignorierte er ebenso wie das große Parkverbotsschild. Ohne die Tür zu öffnen, sprang er aus dem Auto.

Er trug immer noch den korrekten Büroanzug. Doch er sah sogar in Jeans und Polohemd attraktiv aus. Vielleicht, dachte Maddy manchmal, hing das damit zusammen, dass seine Mutter Olimpia ihm jeden Tag nicht nur eins, sondern zwei saubere Hemden hinlegte – eins für die Arbeit, ein anderes für den Feierabend.

»Hi, Baby.« In seinen dunklen Augen glühte die Sorge eines Odysseus, der den Horizont absucht. Sein griechisches Erbe schlummerte stets dicht unter der Oberfläche. Vermutlich würde er sich unter den schlitzohrigen Geschäftemachern in den Cafés von Piräus heimischer fühlen als in Palmer’s Green. »Warum hast du dich nicht auf dem Anrufbeantworter gemeldet? Ich habe deine Handynummer im Display gesehen. Was ist los? Arbeitest du heute nicht bis abends?«

»Das würde ich tun«, klagte sie und warf sich an seine elegant verhüllte Brust. »Wenn ich noch einen Job hätte … Aber ich habe ein paar Fotos von halb nackten Männern in den falschen Umschlag gesteckt. Deshalb hat eine alte Lady einen Herzanfall bekommen. Und vorher habe ich ein sündhaft teures Brautkleid zerrissen, das ich jetzt bezahlen soll. Wovon denn bloß, wenn ich arbeitslos bin?«

»Beruhige dich.« Chris legte einen Arm um ihre Schultern. Dabei musste er ein wenig nach oben greifen, was weder sie noch ihn störte. Er hatte stets verkündet, sie sei wie eine griechische Göttin gebaut. Also passte sie großartig zu ihm, oder? »Maddy, Maddy, was soll ich nur mit dir machen?« Er küsste sie, ohne die »Steckrüben« zu beachten, die aus der Ferne interessiert zuschauten. »Dauernd passieren dir Dinge, die andere Leute nie erleben.«

»Ist das wahr?«

»Natürlich.« Chris drückte sie noch fester an sich. »Keine einzige Braut auf der Welt würde ihr Kleid zerreißen oder alte Damen mit den Fotos nackter Männer erschrecken. Vielleicht ist gerade das der Grund, warum ich dich liebe. Weil du alles so süß vermasselst.«

Maddy reckte ihr Kinn hoch, um zu protestieren. »Nicht alles. In vielen Dingen bin ich sehr gut.«

»Das weiß ich«, fiel er ihr grinsend ins Wort. »Mach dir keine Sorgen, du wirst was anderes finden. Der Job war ohnehin ziemlich mies.«

»O nein«, widersprach Maddy. »Okay – auf der Karriereleiter konnte ich nicht in Schwindel erregende Höhen klettern. Aber ich durfte meine Fotos kostenlos entwickeln. Und experimentieren, so viel ich wollte.«

»Vergiss es. Von jetzt an wirst du sowieso keine Zeit mehr für deine Schnappschüsse haben. Als meine Verlobte bist du vollauf beschäftigt.« Zärtlich küsste er ihre Nasenspitze. »Übrigens, Mum hat gesagt, du sollst zum Abendessen kommen. Sie will dir zeigen, wie sie ihre Dolmades zubereitet.« Inzwischen waren sie zu den »Steckrüben« geschlendert, und Chris winkte ihnen fröhlich zu. »Schon irgendwelche Monster in diesem Jahr gezüchtet?«

Maurice hielt triumphierend einen obszön großen Kürbis hoch, was Maddy angesichts der Porreetragödie, die Dennis peinigte, etwas taktlos fand.

»Verdammt will ich sein!« Chris kniff Maddy in den Hintern. »Komm bloß nicht auf irgendwelche Ideen …« Und dann hatte er selber eine Idee. »Hör mal, warum arbeitest du nicht in unserem Ausstellungsraum? Dort gibt’s sicher was zu tun, das dich nicht in Schwierigkeiten bringt.«

Lächelnd bezwang sie eine leichte Irritation. Sie wünschte, Chris würde sie etwas ernster nehmen. Und außerdem, so nett sie seine zahlreichen, lärmenden griechischen Verwandten auch fand – sie konnten auch ganz schön nerven. Zumindest einen Teil ihrer Unabhängigkeit wollte sie vor und nach der Hochzeit bewahren. »Das ist sehr freundlich von dir. Aber ich möchte mich erst mal umsehen. Und – ja, ich würde wirklich gern lernen, die Dolmades deiner Mum zu kochen.«

»Sie mag dich.« In Chris’ Augen ein gigantischer Pluspunkt, das wusste Maddy.

»Oh, ich mag sie auch.« Olimpia ähnelte ihrem Sohn. Redselig. Temperamentvoll. Von unerschöpflicher Energie erfüllt. »Sie ist ganz anders als meine Mum.«

»So schrecklich kommt mir deine Mum gar nicht vor.«

»Das sagst du nur, weil sie dich vergöttert.«

»Wie alle Frauen«, erwiderte er und grinste unverschämt. Dann wandte er sich zu ihrem Vater. »Auf Wiedersehen, Mr. Adams, ich nehme Maddy mit nach Hause.«

»Richtest du Mum aus, dass ich bei Chris esse?«, bat sie Gavin und gab ihm einen Abschiedskuss.

Wortlos nickte er. Seit einiger Zeit benahm sich Penny unmöglich. Sie jammerte, weil sie täglich kochen musste, als wären alle anwesend, und wenn sie woanders aßen, beschwerte sie sich, sie würden daheim wie in einem Hotel ein und aus gehen. Sie war nicht immer so gewesen.

»Würden Sie mir einen dieser Kürbisse für meine Mum schenken?«, bat Chris. »Wenn er mit Hackfleisch gefüllt wird, schmeckt er sicher großartig.«

Die drei Männer starrten ihn entsetzt an, und Maurice runzelte die Stirn. »Die kann man nicht essen, mein Junge. Unsere Kürbisse sind für eine Ausstellung bestimmt.«

»Genau genommen schmecken sie wie Watte«, wisperte Maddy.

Auf dem Weg zum Auto schüttelte Chris den Kopf. »Was für eine Zeitverschwendung! Also meinen Dad wirst du nie hier antreffen, bei diesen komischen alten Käuzen, die nutzloses Gemüse züchten.«

»Weil dein Dad sein ganzes Leben in diesen reinen Männercafés verbringt, qualmt und Backgammon spielt?«

»Was ist denn daran so falsch?« Chris lachte. »Nach meiner Ansicht müssen wir Männer die Frauen schwängern und in die Küche verbannen.«

Maddy schob ihn auf Armeslänge von sich. »Jetzt machst du Witze, nicht wahr?«

»Natürlich, Baby«, bestätigte er und drückte sie gegen sein glänzendes gelbes Cabrio. »So gut müsstest du mich mittlerweile kennen.«

Da war sie sich nicht so sicher. »Übrigens, danke für das Stellenangebot. Aber ich würde mir gern einen Job suchen, bei dem ich mein Diplom in Fotografie verwerten kann.«

»Willst du wieder in einem Fotolabor arbeiten?«

Sie wusste, dass er nicht absichtlich so herablassend mit ihr sprach. Trotzdem klang es so.

»Scheint ein sympathischer Junge zu sein«, bemerkte Maurice, während Maddy und Chris davonfuhren. »Abgesehen von diesem Auto. Ein bisschen protzig, nicht wahr?«

»Nicht so angeberisch wie der Anzug«, meinte Dennis, der eine Grube aushob, um seine Lauchstangen anständig zu beerdigen.

»Er verkauft Autos«, erinnerte Gavin seine Freunde. »Dafür braucht er ein gewisses Image. Ich finde ihn recht nett. Hoffentlich hat er ein gutes Herz, denn Maddy ist ein ganz besonderes Mädchen.«

Auf der Fahrt zu Chris’ Elternhaus wehte der Wind Maddys langes Haar in ihr Gesicht. Sie konnte es sich noch immer nicht verkneifen, sich zu wünschen, ein paar Bekannte würden sie in diesem Auto sehen. War das schrecklich unreif? Ja, sagte sie sich, aber was soll’s, zum Teufel? Mindestens dreißig Ehejahre lagen vor ihr – genug Zeit, um erwachsen zu werden.

»Hi, Mum! Hi, Gran!«, schrie Chris, als er die Haustür öffnete.

Im Domizil der Stephanides musste Maddy immer an ein großes, weiches Sofa denken, nicht besonders geschmackvoll, aber so bequem, dass man kaum aufstehen konnte, wenn man einmal darin versunken war.

Die ganze Familie bewohnte eine riesige Villa in Eastfield, die Penny »schauderhaft« nennen würde. Doch insgeheim wäre sie neidisch auf den geräumigen Schnitt. In der Hälfte der Räume wurden die Böden immer noch von Linoleum bedeckt. Dafür prangte im Wohnzimmer ein sündhaft teurer, flauschiger weißer Teppich. Genauso willkürlich wirkte die Zusammenstellung des Mobiliars – moderne Stücke standen neben prunkvollen Lehnstühlen mit reich geschnitzten geschwungenen Beinen. Der Fernseher lief ununterbrochen, meist von allen ignoriert, sogar von den Kleinkindern, die zu diesen oder jenen Familienmitgliedern gehörten und unweigerlich am Boden spielten.

Normalerweise saß eine von Chris’ Schwestern am großen Esstisch in einer Ecke des Wohnzimmers, löste Kreuzworträtsel oder las das OK-Magazin. Ein zahmer Hase, den Chris bei einer Spritztour mit einem Kunden im waldreichen Hertfordshire angefahren hatte, hoppelte umher, zum steten Ärger der Großmutter Ariadne. »Für einen Hasen wäre ein Schmortopf genau der richtige Platz«, pflegte Granny zu schimpfen, wenn sie wieder einmal über das Tier gestolpert war und mit Hilfe ihres Gehstocks das Gleichgewicht wiedererlangen musste. »Mit einem Thymianzweig im Hintern.«

Irgendwie wirkten die Katastrophen dieses Tages im lautstarken Überschwang des Stephanides-Heims nicht mehr so schlimm, und Maddy atmete auf.

Chris führte sie in die Küche. »He, Mum! Rate mal, was Maddy heute passiert ist! Sie hat ihren Job verloren. Ausgerechnet jetzt, wo sie für ihr Brautkleid spart! Ich habe ihr gesagt, sie soll bei uns arbeiten. Am besten stellt sie sich in den Ausstellungsraum und begrüßt die Kunden, wie das Mädchen drüben bei Bahnet Motors.«

»Pah!«, schnaufte seine Großmutter und drohte dem Hasen mit ihrem Stock. »So wie sie aufgetakelt ist, würde sie die Leute nur abschrecken.« Chris’ Gran hielt den Kleidungsstil seiner Verlobten für äußerst bizarr.

»Hör nicht auf sie, Maddy«, wisperte Olimpia, Chris’ Mutter. »Nun werde ich dich in die Geheimnisse meiner Dolmades einweihen. Kümmere dich nicht um Granny Ariadne. Leider glaubt sie immer noch, junge Frauen müssten Schürzen tragen und ihre Wäsche auf Steinen schrubben.« Während sie die Zutaten für ihre Dolmades auf dem Arbeitstisch bereitlegte, wies sie mit dem Kopf in Richtung ihres Ehemanns. »Ihr Jungs könnt ins Kafenion gehen. Um neun seid ihr wieder da, eh? Dann essen wir. Und bringt bloß nicht diesen George mit!«

Damit meinte sie einen hoffnungslosen Fall, den Chris seit der Schulzeit kannte und zu dem er treu hielt, obwohl der Mann in Olimpias Augen ein totaler Versager war.

Sie wandte sich wieder zu ihrem Arbeitstisch. »Zuerst nimmst du zwanzig Weinblätter …«

»Wo bekommst du denn Weinblätter, hier in Eastfield?«, fragte Maddy fasziniert.

»Natürlich beim griechischen Gemüsehändler! Du suchst zehn große, besonders schöne aus und gibst sie in kochendes Wasser.«

»In zehn Gläser kochendes Wasser«, korrigierte Granny Ariadne.

Olimpia verdrehte die Augen. »Warum müssen es zehn Gläser sein?«

»Weil’s nun mal so ist«, beharrte Ariadne. »Das weiß jede Närrin.«

»Also, du kochst die Weinblätter zehn Minuten lang in zehn Gläsern Wasser. Dann nimmst du sie heraus, legst sie auf den Tisch und bestreichst sie mit Fleisch und Reis.« Olimpia griff nach einer Schüssel, in der sie Hackfleisch mit Reis und Petersilie vermischt hatte.

Entschieden schüttelte Granny Ariadne den Kopf. »Keineswegs! Man nimmt ein Weinblatt in die Hand, gibt die Füllung hinein und rollt es zusammen. So!« Diesen Vorgang demonstrierte sie mit dem Geschick eines erfahrenen Hippies, der einhändig einen Joint dreht.

»Gut«, seufzte Olimpia, »offensichtlich musst du ein Weinblatt in die Hand nehmen …« Das glitschige Blatt rutschte ihr aus der Hand und fiel zu Boden. Eifrig stürzte sich der Hase darauf. »Dumme alte Schachtel«, flüsterte sie Maddy zu, während die Großmutter das Tier aus der Küche scheuchte. »Wie du die Dolmades füllst, ist völlig egal.«

Lächelnd nickte Maddy. Sie mochte Chris’ Mum wirklich sehr gern. »Übrigens, meine Kündigung war heute nicht die einzige Katastrophe«, vertraute sie ihr mit leiser Stimme an, damit die alte Dame nichts hörte. »Ich habe ein schrecklich teures Brautkleid anprobiert. Und dabei habe ich’s irgendwie geschafft, eine Naht zum Platzen zu bringen.«

Doch Ariadne besaß schärfere Ohren, als sie beide vermuteten. Als Maddy Messer und Gabeln aus einer Schublade nahm, um sie auf den Esstisch zu legen, hörte sie Gran mit gesenkter Stimme zu Olimpia sagen: »Keine Ahnung, was Christos an diesem großen, tollpatschigen Mädchen findet, wo er doch Chrissie Papadopoulos hätte heiraten können … Noch eine lahme Ente, nehme ich an, so wie dieser George, den er sich nicht ausreden lässt. Von dem vermaledeiten Hasen ganz zu schweigen.«

Maddy ließ eine Gabel fallen. Hastig bückte sie sich und hob sie auf. Ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Brennend stieg ihr das Blut in die Wangen. Sie hatte oft genug überlegt, warum Chris so viel Zeit mit George verbrachte, einem fetten, unmotivierten Typen ohne jeden Charme. Wurde sie von Chris’ Familie genauso beurteilt? Ein weiteres nutzloses Anhängsel, für das er sorgen musste?

Entschlossen legte sie die Gabel auf den Tisch und wandte sich zu Ariadne. »Besten Dank für Ihre griechischen Weisheiten, Mrs. Stephanides. Aber ich fürchte, Sie schätzen mich völlig falsch ein. Auch wenn ich gerade meinen Job verloren und mein Brautkleid zerrissen habe – ich bin kein armseliger Tollpatsch, der ihre Verachtung verdient.« Dann packte sie ihre Handtasche und rannte zur Haustür.

3

»Du bist aber früh zurück!«, rief Belinda aus der Garage. »Wolltest du nicht bei Chris’ Familie lernen, wie man eine brave kleine griechische Hausfrau wird?«

»Zum Teufel mit diesen blöden Dolmades, die können sie sich sonst wohin stopfen!« Seufzend lehnte sich Maddy an die Ballettstange und beobachtete ihre Schwester. Tatsächlich – Belinda hatte stark abgenommen. Während sie ihre Übungen absolvierte, traten die Wangenknochen und Schlüsselbeine noch deutlicher hervor. Sogar Ally McBeal sähe neben ihr übergewichtig aus.

»Eigentlich dachte ich, man stopft die Dolmades mit irgendwas voll«, witzelte Belinda.

»Sehr komisch. Und warum trainierst du immer noch? Warst du die ganze Zeit hier? Seit ich weggegangen bin?«