Liebling, vergiss die Socken nicht! - Maeve Haran - E-Book
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Liebling, vergiss die Socken nicht! E-Book

Maeve Haran

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Beschreibung

»Maeve Haran ist eine großartige Erzählerin!« Sunday Times

Ally Boyd will alles: persönliche Unabhängigkeit, Erfolg und ein glückliches Familienleben. Darum entschließt sie sich nach sechzehn Jahren Familienpause wieder in ihren Beruf einzusteigen. Anfangs findet das Ehemann Matt auch ganz in Ordnung. Als Ally jedoch immer erfolgreicher wird, während er einen totalen Karriereknick hinnehmen muss, hört für Matt der Spaß auf. Für Ally hingegen fängt er jetzt erst richtig an …

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Buch

Ally Boyd will alles: persönliche Unabhängigkeit, Erfolg und ein glückliches Familienleben. Darum entschließt sie sich nach sechzehn Jahren Familienpause wieder in ihren Beruf einzusteigen. Anfangs findet das Ehemann Matt auch ganz in Ordnung. Als Ally jedoch immer erfolgreicher wird, während er einen totalen Karriereknick hinnehmen muss, hört für Matt der Spaß auf. Für Ally hingegen fängt er jetzt erst richtig an …

Autorin

Maeve Haran hat in Oxford Jura studiert, arbeitete als Journalistin und in der Fernsehbranche, bevor sie ihren ersten Roman veröffentlichte. »Alles ist nicht genug« wurde zu einem weltweiten Bestseller, der in 26 Sprachen übersetzt wurde. Maeve Haran hat drei Kinder und lebt mit ihrem Mann in London.

Von Maeve Haran bereits erschienen

Liebling, vergiss die Socken nicht · Alles ist nicht genug · Wenn zwei sich streiten · Ich fang noch mal von vorne an · Schwanger macht lustig · Und sonntags aufs Land · Scheidungsdiät · Zwei Schwiegermütter und ein Baby · Ein Mann im Heuhaufen · Der Stoff, aus dem die Männer sind · Schokoladenküsse · Mein Mann ist eine Sünde wert · Die beste Zeit unseres Lebens · Das größte Glück meines Lebens · Der schönste Sommer unseres Lebens

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Maeve Haran

Liebling, vergiss die Socken nicht!

Roman

Deutsch von Ariane Böckler und Irene Nießen

Die Originalausgabe erschien 1993 unter dem Titel »Scenes from the Sex War« bei Michael Joseph, Ltd., New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright dieser Ausgabe © 2020 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright der Originalausgabe © 1993 by Maeve Haran

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 1993 by Wilhelm Goldmann Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Buchgewand Coverdesign | www.buch-gewand.de unter Verwendung von Motiven von depositphotos.com: © orangeberry,

© Juristka, © 9george

DN · Herstellung: sam

ISBN978-3-641-26296-9V001

www.blanvalet.de

Für meine Mutter, der das ganze Theater gefallen hätte

1. Kapitel

Allegra Boyd lehnte sich auf dem großen Doppelbett zurück und sah ihrem Ehemann Matt dabei zu, wie er mit der einen Hand die Socken auszog, während die andere den Sportteil der Zeitung umklammert hielt. Er warf die Socken auf den Teppich, wo sie auch liegen bleiben würden. Irgendein dienstbarer Chauvi-Geist hatte sie durch Zauberhand unsichtbar werden lassen, bis Ally oder Mrs O’Shock, ihre irische Zugehfrau, sie aufhoben.

Immer noch in die Beschreibung der sensationellen Abwehrtaktik der Tottenham Hotspurs vertieft, streifte Matt seine Boxershorts ab und griff nach der Schlafanzugjacke, die neben ihm auf dem Bett lag. Er kaufte hartnäckig immer wieder das gleiche Modell, allerdings in zehn verschiedenen Farben, trug dann aber nur das Oberteil, so dass seine Eier einladend herausguckten, was ihm bei seinen zwei halbwüchsigen Töchtern lauten Spott einbrachte und Mrs O’Shock zu einem wissenden Blick veranlasste, wenn sie sich durch die Bügelwäsche arbeitete.

Während sie ihren Mann beim Zubettgehen beobachtete, stieg eine Welle der Zärtlichkeit in Ally auf, und sie fragte sich, was wohl seine Zuschauerinnen von dem Anblick halten würden, den Englands Talkshow-Moderator Nummer eins ohne Schlafanzughose bot. Sie wären begeistert – so viel war sicher. Seine Sekretärin hatte ihr einmal anvertraut, dass Matts Fanpost selbst Linda Lovelace die Schamesröte ins Gesicht treiben würde. Ally schüttelte den Kopf, als sie die anstößigen Kleidungsstücke aufsammelte. Eigentlich hätte sie ihm sagen müssen, er solle es selbst tun. Zum Glück war ihre beste Freundin Susie nicht Zeugin dieser Szene geworden. Susie warf ihr nämlich ständig vor, den Fußabstreifer zu spielen.

Als sie die Sachen in den Wäschekorb stopfte, sah Matt von seiner Zeitung auf und lächelte. »Kommst du bald ins Bett?«, fragte er und klopfte mit verführerischer Miene auf ihre Seite des Bettes.

Ally grinste. Matt ging auf die vierzig zu, was ihm gut stand, da es den spitzbübischen Charme verstärkte, der ihn im Fernsehen so gut wirken ließ. Und dann noch das verruchte Glitzern in seinen blauen Augen. Matt Boyd war alles andere als ein »Neuer Mann«. Im Gegenteil – er war sogar ein Musterexemplar der alten Schule, was sein Publikum offensichtlich hinreißend fand. Aber das Publikum musste auch nicht mit ihm leben.

»Komme gleich.« Ally beugte sich hinab und gab ihm einen Kuss, bevor sie nach nebenan ging, um sich auszuziehen.

Im Badezimmer zog sie ihren BH zur Taille herab, schob ihn herum, bis die Häkchen nach vorne zeigten, und machte ihn auf. Diese Methode hatte ihre Mutter ihr beigebracht, als sie dreizehn war, und aus irgendeinem Grund machte sie es mit achtunddreißig immer noch so. Meist fiel ihr diese kleine Eigenheit nicht auf, aber heute, wo sie vor dem Badezimmerspiegel stand, eben doch.

Warum hatte ihre Mutter ihr nicht gezeigt, wie man den BH von hinten öffnet, gleich einer schmollenden Marilyn Monroe? Nicht dass es wichtig gewesen wäre, sie zog sich ja schon seit Monaten hier aus. Aber als sie in den Spiegel sah, fragte sie sich, warum eigentlich. Abgesehen von den leichten Pölsterchen unten an den Hüften und der etwas breiter gewordenen Taille war ihr Körper noch immer straff. Ihr schulterlanges Haar war mit einem Minimum an Unterstützung von L’Oreal so glänzend und braun wie eh und je. Als Teenager hatte sie es gebügelt, damit es glatt wurde, doch heute war sie froh darüber, dass es sich sanft wellte und die Krähenfüße verdeckte, die sich um ihre Augen eingenistet hatten. Matt sagte immer, die Augen mit ihrem hellen grünlichen Blau seien das Schönste an ihr. Sie haderte auch nicht mit ihren Falten, denn sie stammten vom Lachen, nicht von Enttäuschungen. Die frühe Sonne in diesem Jahr hatte lustige Sommersprossen auf ihrem blassen Teint hinterlassen. Trotz allem war es ihr peinlich, sich zu zeigen. Vielleicht kam es daher, dass sie an all die glamourösen Frauen dachte, die zum Fernsehen strömten, als würden dort die Kandidatinnen für die Wahl der Miss World ausgesucht. Aber da war auch noch etwas anderes. In letzter Zeit hatte sich eine kaum merkliche Distanziertheit zwischen Matt und ihr eingeschlichen, und Matt war aus Gründen, die sie nicht richtig durchschaute, ständig launisch und reizbar.

Aber heute Abend war es anders. Vielleicht konnten sie heute Nacht etwas von der alten Zärtlichkeit zurückerobern. Matts einladenden Blick im Gedächtnis, putzte Ally sich schnell die Zähne und fuhr mit dem Kamm durchs Haar. Sie sprühte sich ein wenig Parfüm hinters Ohr und hauchte rasch in die Hand. Minzfrisch. Mit einem Lächeln auf den Lippen ging sie zurück ins Schlafzimmer.

Sie war vermutlich keine zwei Minuten draußen gewesen. Matt lag im Bett und umklammerte noch immer seine Zeitung. Doch als sie sich hinabbeugte, um ihn zu küssen, sah sie, dass seine Augen geschlossen waren. Er schlief tief und fest.

Sanft nahm sie ihm die Zeitung aus der Hand und streifte mit ihren Lippen die seinen. Dabei spürte sie das vertraute Kratzen seines Schnurrbarts an ihrem Kinn, dieses Schnurrbarts, den Matt unter keinen Umständen abrasieren wollte, weil er dessen verwegene Ausstrahlung schätzte, auch wenn ihn die Maskenbildnerinnen deshalb als Camel-Mann aufzogen.

Als sie nach dem Nachthemd griff, musste sie sich zu ihrer eigenen Schande eingestehen, dass sie nicht den Schmerz unerfüllten Begehrens empfand, sondern verwirrenderweise erleichtert war. Jetzt konnte sie ihr Buch lesen.

Seit mehr als zehn Jahren bewies Matt Boyd dreimal pro Woche, dass er der König der Talkshow war. Jüngere, mehr am Zeitgeist orientierte Rivalen waren gekommen und wieder gegangen, doch Matt hatte durchgehalten. Dem Publikum gefiel es, dass er seinen Gästen wirklich zuhörte, aber trotzdem die Wichtigtuer mit seinen vernichtenden Einwürfen auf den Teppich zurückholte. Er schien stets genau darüber im Bilde zu sein, was die Zuschauer zu Hause wissen wollten, und traute sich, die entsprechenden Fragen zu stellen. Und irgendwie kam er damit durch. Die Stars hingegen – und das war das Wichtigste – fühlten sich trotzdem in seinen Händen sicher. Und ihren Agenten gefielen seine Zuschauerzahlen.

Viele glaubten, Matt sehr gut zu kennen. Ally, seine Frau, Stephen Cartwright, der Programmdirektor, und Bernie Long, der Produktionsleiter seiner Show. Aber eines wussten sie nicht:

Matt Boyd begann sich zu langweilen.

Während der Tontechniker das Mikrofon an ihm befestigte, blickte Matt sich im Studio um. Er fand die neue Kulisse entsetzlich. Alles in Rot- und Lilatönen mit einem riesigen Neonschild, das die Matt-Boyd-Show ankündigte. Matt schauderte und dachte, dass so wohl die Schwulennacht in einer Disco aussehen müsse.

Er riss ein paar Witze mit dem Praktikanten auf Kamera vier und überflog den Ablaufplan für die bevorstehende Show. Das übliche Konzept. Erst die Null, Andy Green, ein »Schauspieler« aus einer zweitklassigen Seifenoper, der gern mit nackter Brust und einer Gurke in der Hose posierte. Die Chance, dass er etwas sagen könnte, das auch nur im Entferntesten von Interesse war, schien minimal. Danach die mittelmäßige Berühmtheit, Linzi Watson, eine Rockjournalistin mit scharfer Zunge und einem Faible für zarte Jünglinge, die nur geringfügig dynamischer war als Green. Wenn sie nüchtern war.

Zum Schluss der Star oder vielmehr, was in einer Zeit, in der alle Prominenten der Stadt das Frühstücks- und Nachmittagsfernsehen sowie die abendlichen Talkshows abklapperten, bis das Publikum mehr über sie wusste als die eigene Mutter, als Star gelten konnte. Heute war es Jon Leighton, die neueste Größe in der Garde der jungen Hollywoodschauspieler. Er war erst zweiundzwanzig und konnte drei Millionen Dollar für einen Film verlangen, obwohl er als ausgesprochen launisch galt und sich selbst viel zu ernst nahm.

Der Tontechniker war bereit zur Aussteuerung. Matt grinste hinterhältig.

»Produzent, Produzent, hinter der Wand.« Er wedelte mit seinem Skript und sprach klar und deutlich ins Mikrofon, so dass alle, die außer Sichtweite im Regieraum saßen, ihn verstehen konnten. »Wer ist der dümmste Star im ganzen Land?«

Die Produktionsassistentin im Regieraum kicherte nervös und blickte nach hinten zu der verglasten Galerie, wo sich die Gäste vor ihrem Auftritt in der Show gelegentlich aufhielten. Dort saß tatsächlich Andy Green, der aber glücklicherweise die Bemerkung überhört hatte.

»Was, zum Teufel, ist mit Matt los?«, fauchte Bernie Long, der Produktionsleiter.

»Keine Ahnung«, entgegnete die Produktionsassistentin mit einem Schulterzucken und unterdrückte ein Lachen. Sie mochte Matt. Er behandelte sie wie einen Menschen. Für Bernie Long dagegen war eine Produktionsassistentin eine Kreuzung aus einem Doppelbett und einer automatischen Kaffeemaschine.

Belinda Wyeth, die zuständige Produzentin, strich verärgert ihr langes dunkles Haar zurück. »Er soll sich mal ein bisschen zusammenreißen. In zwei Minuten sind wir auf Sendung.«

Belinda schloss die Augen und fluchte leise vor sich hin. Sie war neu im Team der Show und fest entschlossen zu beweisen, dass sie besser war als die beiden männlichen Produzenten, die im Wechsel mit ihr je eine Show pro Woche produzierten. Doch langsam hatte sie die Nase voll von dem verdammten Matt Boyd. Seit Wochen wurde er zunehmend schwieriger. Aufbrausend, gelegentlich unflätig zu den Gästen. Wenn es nach ihr ginge, würde Belinda ihn hinauswerfen und sich jemand anders suchen.

»Noch eine Minute bis zur Sendung«, erinnerte die Produktionsassistentin und begann mit dem Countdown. »Und Ton ab.« Die vertraute Titelmelodie der Matt-Boyd-Show erklang.

In den folgenden fünfzehn Minuten beobachtete Belinda mit wachsender Verärgerung, wie Matt sich durch die ersten beiden Gespräche lavierte. Als Andy Green, der Seifenopernstar, sich darüber ausließ, wie schwierig und problematisch es war, megaberühmt zu sein, konnte Matt ein Gähnen kaum unterdrücken.

»Du lieber Gott!« Belinda rollte mit den Augen und fragte Bernie: »Warum, um alles in der Welt, wirfst du ihn nicht raus?«

Die Produktionsassistentin funkelte sie giftig an. In diesem Moment führte der Aufnahmeleiter Jon Leighton durch den Regieraum und hinaus ins Studio, wobei er ihn unterwegs Belinda und Bernie vorstellte. Leighton sah sie kaum an. An der Tür blieb er stehen und lehnte sich gegen die Wand.

»O Gott«, flüsterte Belinda und konnte ihr Pech nicht fassen. »Er ist besoffen.«

Als die Musik aus Jon Leightons neuestem Film ertönte, stand Matt auf. »Und nun begrüßen Sie bitte meinen letzten Gast.« Er blickte sich erwartungsvoll um und konnte mit ansehen, wie Leighton durch das Studio stolperte und elegant auf dem Sofa zusammenklappte.

Belindas Magen machte einen Satz, und ihre Handflächen wurden feucht. Sie war es gewesen, die darauf bestanden hatte, Jon Leighton einzuladen, während Matt dagegen argumentiert hatte, weil er ihn für langweilig und eingebildet hielt. Guter Gott, warum hatte sie ihn nicht unter die Lupe genommen, als er eingetroffen war? Dann hätte sie wenigstens einen Ersatzmann auftreiben oder Matt warnen können. Belinda vergrub vor Grauen das Gesicht in den Händen. Sie mussten noch zwölf Minuten der besten Sendezeit durchstehen. Sie rang um Fassung und ging ihre Möglichkeiten durch. Sie konnten ausblenden und etwas anderes senden. Das Studio müsste ein paar Trickfilme auf Lager haben. Doch das wäre eine demütigende Niederlage. Sie zwang sich dazu, auf den Bildschirm vor ihren Augen zu schauen.

Auf der Stelle hatte Matt die Lage erfasst. »Ach du liebe Zeit.« Er wandte sich zum Publikum, lächelte breit und genoss sichtlich jede Minute. »Hat vielleicht jemand eine Alka-Seltzer?«

Der Sturm von Beifall und Gelächter schien nicht enden zu wollen. Belinda schaute verblüfft. Alles würde gut gehen. Matt war nicht aufgeschmissen. Er würde es auf die witzige Tour nehmen. Langsam entspannte sie sich und hoffte, dass niemand ihre Verzweiflung bemerkt hatte.

»Du fragst, warum wir Matt nicht rauswerfen.« Belinda spürte, wie sich Bernie Longs spöttischer Blick tief in ihren Rücken bohrte. »Jetzt weißt du’s. Weil Matt Boyd der Beste ist, den es gibt.«

Als der Nachspann lief, klatschte das gesamte Team Matt Beifall, und Leightons betretener PR-Mann half seinem Schützling aus dem Studio. Normalerweise hätte Belinda sich jetzt zu den anderen ins Studio gesellt, um Matt zu gratulieren, doch sie blieb noch eine Weile in der Dunkelheit des leeren Regieraums und tat so, als suche sie ihre Sachen zusammen.

Auf einmal stand Matt in der Tür. »Hast du Bernie gesehen?«

Belinda sah auf. Sie war verlegen, weil sie ihn dermaßen unterschätzt hatte. »Ich glaube, er ist reingegangen, um dir zu gratulieren.«

Matt lächelte und wandte sich zum Gehen.

»Matt …« Belinda schwieg verzagt.

Verwundert über ihren plötzlichen Mangel an Selbstbewusstsein, drehte er sich um. Belinda mit ihrem messerscharfen Verstand und den kurzen Röcken, die verwirrenderweise weniger sexuelle Verfügbarkeit als vielmehr eine Warnung vor streng verbotenem Terrain bedeuteten, jagte allen Mitarbeitern der Sendung Angst ein. »Postfeministin« hatte Bernie sie einmal genannt und sie damit beleidigen wollen. Doch Belinda hatte nur gelacht.

»Ich wollte mich bloß entschuldigen.« Sie sah beiseite und fingerte an ihrem Skript herum. »Wegen Jon Leighton, meine ich. Ich hätte es mitkriegen und dich warnen müssen.«

»Es hat mir Spaß gemacht.« Matt lächelte entwaffnend, und ihr wurde klar, dass er es ernst meinte. »Er war interessanter als in nüchternem Zustand.«

Belinda begegnete seinem Blick und spürte zum ersten Mal, was es mit seinem berüchtigten Charme auf sich hatte.

»Und überhaupt« – auch in Matts Tonfall lag ein Hauch von Verlegenheit – »bin ich derjenige, der sich entschuldigen sollte. Ich war in letzter Zeit eine echte Landplage.«

»Stimmt.« Nun erwiderte sie sein Lächeln. »Du warst absolut nervtötend.«

Matt zuckte mit den Achseln und wurde plötzlich ernst. »Ich weiß.« Er zögerte einen Moment. »Das Problem ist, dass ich mich zu Tode langweile. Ich mache diese Show jetzt seit zehn Jahren. Heute Abend war ich endlich einmal wieder gefordert.«

»Wenn du so über die Show denkst«, die Herausforderung in ihren dunklen Augen war fast maskulin in ihrer Direktheit, barg aber einen Hauch von Provokation, der alles andere als maskulin war, »warum tust du dann nichts dagegen?«

Ally kam eine Viertelstunde zu früh vor Janeys und Jess’ Schule an, um auch ganz bestimmt dort einen Parkplatz zu bekommen, wo die beiden sie sehen würden. Sie hatte ihren Töchtern nicht gesagt, dass sie sie abholen würde, aber es war ein so schöner Tag, und deshalb hatte sie beschlossen, sie mit einem Picknick zu überraschen. Stunden hatte sie damit zugebracht, winzige Gurkensandwiches zu machen und Janeys geliebte Schokoladentörtchen zu backen. Sie hatte über sich selbst gelacht, als sie eine frische weiße Tischdecke, Teetassen und Untertassen zusammenpackte. Perfekt organisierte Picknicks gehörten zu Allys Leidenschaften. Sie fiel regelmäßig auf Zeitschriftenartikel herein, in denen beschrieben wurde, wie man am Fuß eines Wasserfalls eine Lachsmousse für vier Personen hervorzaubert. Nicht einmal das sichere Wissen, dass die Speisen lackiert waren, damit sie fotogener wurden, konnte ihre Phantasie erschüttern.

Ally drückte auf den Knopf, um das Verdeck herunterzulassen, und stellte sich die Gesichter ihrer Töchter vor, wenn sie sie hier entdeckten. Seit Jahren hatten sie kein richtiges Picknick mehr gemacht. Als die ersten Mädchen in ihren braun-weiß karierten Sommerkleidern aus der Hill-Hall-Schule kamen, wurde Ally plötzlich unsicher. Was, wenn sie keine Lust hatten?

Ally wusste, dass Unsicherheit ihr ganz persönliches Problem war. Sie hatte nie richtig gelernt, Janey und Jess loszulassen. Es gab zwar eine Menge Bücher darüber, wie man kleine Kinder versorgte, aber keines, das erklärte, wie man sich später von großen wieder löste. Dass Kinder sich auf Risiken einlassen, ausbrechen und einen vergessen mussten, war ihr bekannt. Aber niemand sagte einem, wie schmerzhaft dieser Prozess war und welche Lücke er hinterließ. Einen Augenblick lang beneidete sie Matt um seinen Beruf, in dem er völlig aufging. An ihren eigenen konnte sie sich kaum noch erinnern. Witzig, sich vorzustellen, dass sie auch einmal Fernsehmoderatorin gewesen war, allerdings in kleinerem Rahmen, als Nachrichtensprecherin für MidWest TV. Und sie war gut gewesen.

Doch dann waren die Kinder gekommen, und sie hatte den Job aufgegeben. Als Jess zwei war, hatte man ihr angeboten, wieder einzusteigen. Es hätte sie auch durchaus gereizt, aber dann war Matts große Chance gekommen, und sie waren in den Süden gezogen. Und später wurde er einfach zu berühmt und erfolgreich, als dass es sich für sie gelohnt hätte zu arbeiten. Und sie hatte es nicht bereut. Es machte ihr Freude, die Kinder aufzuziehen und für sie da zu sein, ein sicherer Fels inmitten ihrer Familie.

Doch heute regte sich erstmals eine leise Angst in Ally. Matt war in letzter Zeit seltsam distanziert gewesen, abgesehen von der einen Nacht, in der er mit ihr schlafen wollte. Irgendwo tief in ihrem Inneren wusste sie, dass er ihr entglitt. Und bald würden auch die Kinder aus dem Haus sein.

»Hallo, Mum!« Jess’ laute Begrüßung schnitt ihre Überlegungen ab, und sie sah mit einem Lächeln auf. »Was machst du denn hier?«

»Ich habe ein Picknick vorbereitet.« Ally deutete auf den Korb, der neben ihr auf dem Sitz stand. »Ich dachte, wir könnten uns eine schöne Stelle suchen und dann dort essen.«

»Aber ich habe dir doch heute Morgen gesagt, dass ich zu Alice rübergehe und mir ihre neue Platte von Take That anhöre.« Jess schüttelte ihren Rucksack ab und stellte ihn auf den Rücksitz. In ihrer Stimme lag ein Hauch von Ungeduld, aber dann glitt ein Anflug von Schuldbewusstsein über ihr Gesicht. »Oder soll ich ihr sagen, dass ich nicht kommen kann?«

»Nein, natürlich nicht.« Ally fummelte am Außenspiegel herum, um ihre Enttäuschung zu verbergen. »Wo ist Janey?«

»Heute ist doch Mittwoch. Theatergruppe. Sie kommt erst um sechs raus.«

Ally lachte und streckte ihrer Tochter die Hand entgegen. »Das hab ich ganz vergessen. Wie dumm von mir.«

»Weißt du, was dein Problem ist, Mum?« Jess neigte sich mit der ganzen Weisheit ihrer fünfzehn Jahre zu ihr herab. »Du hast nicht genug zu tun.« Ohne den Schmerz in Allys Blick zu bemerken, winkte sie wie wild ihrer Freundin Alice zu. »Warum suchst du dir nicht auch einen Job wie alle anderen Mütter?«

2. Kapitel

Ally sah erstaunt auf den Wecker. In nicht einmal einer Stunde mussten Janey und Jess in der Schule sein, und Matt war an der Reihe, sie hinzubringen. Sie sprang aus dem Bett und stolperte durch das stockfinstere Zimmer, um die Vorhänge aufzuziehen. Erst kürzlich hatten sie das Schlafzimmer von einem Raumausstatter renovieren lassen, und dabei hatte er Vorhänge angebracht, die so dick und undurchdringlich waren, dass kein Lichtstrahl hereinfand und sie ständig verschliefen. Außerdem, jammerte Matt, sei überall so viel Chintz, dass er das Gefühl habe, in einem Blumenbett zu liegen.

Ally klopfte an Janeys Tür und stellte verärgert fest, dass sie schon wieder ihre Jeans zum Trocknen aufs Treppengeländer gehängt hatte.

»Jane!«, rief sie der schlafenden Gestalt zu, die völlig von der Daunendecke verborgen wurde. »Es ist acht Uhr. Und wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du deine Jeans nicht auf das Treppengeländer hängen sollst?«

Aus dem Bettzeug kam ein schlaftrunkener Kopf hervor. »Wo soll ich sie denn sonst trocknen«, fragte Janey und zog ihr Rettet-den-Regenwald-Nachthemd aus, »nachdem dein tuntiger Dekorateur die Heizung mit Gittern verkleidet hat?«

»Warum versuchst du’s nicht mit dem Wäschetrockner?«, schlug Ally vor, wobei ihr klar war, dass ihre elterliche Logik einen Haken haben musste.

»Mum«, antwortete Janey langsam und geduldig, »es weiß doch jeder, dass man eine 501 nicht in den Wäschetrockner stecken kann. Sie sind vorgewaschen.«

Ally gab den aussichtslosen Kampf auf, mit einer Siebzehnjährigen, die noch dazu die eigene Tochter war, zu streiten.

Das Sonnenlicht strömte in die große Küche, einen der wenigen Räume, die der Raumausstatter nicht aufpoliert hatte. Hier gab es tatsächlich ein Kissen, das nicht zu den Vorhängen passte, welch ein Frevel! Angetan von der liebenswerten Schäbigkeit, blickte Ally sich um und beschloss, von nun an sämtliche Musterbücher und Farbtabellen aus dem Haus zu verbannen. In diesem Raum fühlte sie sich wirklich zu Hause.

Bevor sie hier eingezogen waren, war Fairlawns mit seinen viktorianischen Türmchen und Giebeln und dem Labyrinth von Zimmern ein Club gewesen, und zwar einer von der noblen Sorte, wo reifere Herren gern auf einen Drink und eine Partie Billard hereinschauten, während sie vorgaben, das Hündchen Gassi zu führen. Bei ihrem Einzug hatte Matt darauf bestanden, den Billardtisch in der Vorhalle stehen zu lassen, und alle Jubeljahre einmal schneite ein alter Knabe mit Panamahut herein, der einen Billardstock unter dem Arm hielt und einen Gin Tonic bestellen wollte.

Ally schaltete den Wasserkocher ein und rief noch einmal nach Matt und den Mädchen. Sie holte die Müslischüsseln heraus und deckte den Tisch. Als sie die Spülmaschine öffnete, sah sie, dass sie voll von schmutzigem Geschirr war. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie am Vorabend einzuschalten. Typisch.

Ally spürte, wie der Ärger in ihr hochstieg, und beschloss, sich mit einer Dosis aus dem Klassiksender zu beruhigen. Doch kaum hatte sie die Radiotaste gedrückt, zerriss ihr ohrenbetäubende Rockmusik fast das Trommelfell. Vor Schreck schüttete sie sich den Kaffee über den Morgenrock. Sie holte tief Luft. Familienleben.

»Hallo, Mum.« Ally fuhr herum und entdeckte ihre jüngere Tochter Jess, die fertig angezogen hinter dem Wirtschaftsteil der Tageszeitung hervorgrinste. »Ich hab gar nicht gewusst, dass du auf Heavy Metal stehst.«

Jess studierte mit Hingabe die Börsenberichte. Mit neun hatte sie herausgefunden, dass man für jedes Jugendsparbuch, das man anlegte, ein Geschenk bekam. Innerhalb eines Jahres hatte sie gleich mehrere eingerichtet und dafür gratis ein Snoopy-Federmäppchen, zwei Sparschweine aus Keramik, ein Werbe-T-Shirt und ein Abonnement für die Junior-Computerwelt auf Lebenszeit bekommen. Falls Ally jemals das Geld ausging, wusste sie, an wen sie sich wenden musste, und Matt drohte von Zeit zu Zeit, seinem Steuerberater zu kündigen und stattdessen Jess zu engagieren.

»Möchtest du Toast?«, fragte Ally mit einem Blick auf die Uhr.

»Gibt es keine Croissants?«

»Nein, gibt es nicht«, erwiderte Ally streng. Wie, um Himmels willen, hatten sie ein Kind in die Welt setzen können, das an Werktagen Croissants erwartete? Matts Mutter wäre entsetzt. Die Boyds waren immer stolz auf ihre Herkunft aus der Arbeiterklasse gewesen. »Die sind für besondere Gelegenheiten.«

»Schade«, meinte Matt, der gerade auftauchte und wundersamerweise bereits angezogen war. »Ich hätte auch gern eines gehabt.«

Ally tätschelte die leichte Wölbung in seiner Taille. »Du kriegst sowieso keines. Die Kamera legt noch mal zehn Pfund drauf, vergiss das nicht.«

»Vielen Dank, Liebling.« Er packte sie von hinten, fuhr mit den Händen in ihren Morgenrock und tastete nach den Pölsterchen an ihrer Taille. »Dann ist es ja gut, dass du nicht im Fernsehen auftrittst.«

Ally schob lachend seine Hände beiseite.

»Warum könnt ihr zwei euch nicht wie Erwachsene benehmen?«, fragte Jess, ohne vom Ergebnis einer Studie über die ertragreichsten Investmentfonds des Jahres aufzusehen.

»Frag ich mich auch«, bekräftigte Janey, die gerade hereingekommen war und trotz ihrer Schuluniform aussah wie eine Siebzehnjährige, die auf die fünfundzwanzig zugeht. Janey besaß ein Gefühl für raffinierte Veränderungen – ein etwas hochgenommener Saum, bis zum Ellbogen aufgekrempelte Manschetten, umgeklappte Kragen –, die sogar die langweilige Schuluniform von Hill Hall wie frisch vom Laufsteg aussehen ließen. Wenn Matt recht hatte und die Montur dazu gedacht war, die Moral der Schülerinnen zu schützen, so hatte sie in Janeys Fall kläglich versagt.

Ally blickte an ihrem nun von Kaffeeflecken beschmutzten Morgenrock hinunter und dachte, dass Janeys Sinn für Schick nicht zu den Eigenschaften gehörte, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte.

»Komm, sei ein braves Kind und iss deinen Teller leer«, witzelte Matt, schnappte Jess die Zeitung weg, bevor sie protestieren konnte, und schlug die Seite mit der Fernsehvorschau auf. Zu seinem Verdruss grinste ihm Danny Wilde, der junge Talkmaster von Big City TV, frech auf einem großen Foto entgegen. Der Matt-Boyd-Show waren nur drei Zeilen gewidmet.

Matt schlug die Zeitung wieder zu. Es war lächerlich, sich aufzuregen. Die Presse schätzte eben neue Gesichter. Danny Wilde war kein ernstzunehmender Rivale. Er gefiel nur der Jugend und den Schickimickis. Matts Publikum war fünfmal so groß.

Jess, die ihren Toast aufgegessen und die Schultasche griffbereit neben sich stehen hatte, drückte auf die Fernbedienung, und der Fernseher auf der Küchenarbeitsfläche begann zu laufen. Matt sah das Gesicht des Premierministers auf der Bildfläche auftauchen. Angewidert schaltete Jess um. Nun erschien Danny Wilde und kündigte seine Show für den Abend an.

»Hey, toll! Er hat King Rap in der Sendung!« Jess begann, im Takt mit dem penetranten Beat zu zappeln. Matt versuchte, ihr die Fernbedienung wegzunehmen, aber Jess hielt sie kokett außer Reichweite. »Dad«, fragte sie mit Unschuldsmiene, »warum hast du nicht auch so interessante Leute wie King Rap in deiner Show?«

Matt schwieg einen Moment und suchte nach einer Antwort. Schließlich beugte er sich über den Tisch, packte die Fernbedienung und gönnte sich die Befriedigung, Danny Wilde ins Nichts verschwinden zu lassen. Dabei ging ihm auf, dass er keine Ahnung hatte, wer King Rap war.

»Los, Leute. Bewegt euch.« Ally überlegte kurz, ob sie Matt fragen sollte, wann er heimkäme. Sie hätte gern etwas gekocht, um dann nach dem Essen mit ihm zusammenzusitzen und über den Tag sprechen zu können. Doch jedes Mal wenn sie diese Frage stellte, kam sie sich vor wie eine nörgelnde Ehefrau. Sie fragte trotzdem.

»Wann kommst du heute Abend heim, Liebes?«

Matt dachte kurz nach. »Wir werden nach der Show noch etwas trinken, und vielleicht muss ich mit Bernie die nächste Woche besprechen. Ich weiß es nicht genau.«

Matt bemerkte den ausweichenden Unterton in seiner Stimme und spürte einen Anflug von Schuldbewusstsein. »Wann kommst du wieder?« war eine der ewigen Fragen zwischen Männern und Frauen, die der gefragten Person Macht verlieh und sie der fragenden wegnahm.

»Pass auf«, sagte er einlenkend. »Komm doch einfach nach der Show auf einen Drink in den Gesellschaftsraum.«

Ally wurde angst und bange bei dem Gedanken an all die intelligenten und schicken jungen Leute, die an Matts Sendung mitarbeiteten. Sie war schon öfter bei solchen Anlässen zugegen gewesen und hatte sich zum Schluss immer wie die Mutter von irgendjemandem gefühlt. Vor fünfzehn Jahren hätte sie sich noch behaupten können, doch die jahrelangen Pendeldienste zur und von der Schule und die ewigen Sitzungen des Elternbeirats hatten ihren Geist abgestumpft. Worüber hätte sie, um alles in der Welt, mit diesen Fernsehleuten reden sollen? Ihre Antwort kam eine Idee zu schnell.

»Ich kann nicht. Jess hat Klavierstunde.«

»Ach, Mum.« Jess schüttelte verzweifelt den Kopf. »Sei doch nicht doof. Ich fahre mit dem Bus. Geh ruhig und amüsiere dich ein wenig mit den glitzernden Fernsehtypen.«

Wie ein Blitz durchzuckte Ally die Erkenntnis, dass Jess nicht abgeholt werden wollte. Im Grunde brauchte also nicht einmal Jess sie noch.

Einen Moment lang schwieg Ally unschlüssig. Sie sollte sich eigentlich von diesen Fernsehleuten nicht so einschüchtern lassen. Ihre Entscheidung fiel, als sie sich vorstellte, Bernie Long zu begegnen, der schon Matts Produzent gewesen war, als sie noch beide bei MidWest TV gearbeitet hatten. Bernie Long war rüde, unfreundlich und herablassend. Einmal hatte sie mitbekommen, welchen Spitznamen er ihr verpasst hatte: Mrs Boyd, die spießige Doppelhaushälfte.

»Vielleicht nächste Woche«, hörte sie sich selbst sagen und versuchte, Jess’ Blick auszuweichen.

Als Ally Matt und den Kindern vom Garten aus nachwinkte, wurde ihr bewusst, dass sie ungeschminkt und noch in Hausschuhen, wie sie war, mustergültig dem Klischee über das langweilige Hausfrauendasein entsprach. Ihre Mutter hatte immer gesagt, es sei nachlässig, nach halb neun noch einen Morgenrock zu tragen.

Ally sah auf ihre Uhr. Viertel vor neun.

Matt kurbelte sein Fenster herunter und warf ihr einen Kuss zu. »Komm doch. Du wirst dich amüsieren.«

Sie sah dem Auto nach, bis es verschwunden war. Es war ein herrlicher Morgen. Der Himmel zeigte bereits ein strahlendes, optimistisches Blau, und nur ganz hoch oben schwebten ein paar flaumige Wölkchen. Immer wieder staunte sie, wenn sie daran dachte, dass zwischen ihrem Dorf in Surrey und London nur vierzig Kilometer lagen, es hier aber so grün und ruhig war, als lebte man mitten auf dem Land. Doch anders als in richtig ländlicher Umgebung waren hier alle Nachbarn reich und versteckten sich hinter hohen Hecken. Es war keine Gegend, wo man sich über den Gartenzaun beugen und eine Tasse Zucker hätte borgen können. Die Leute hier hatten Filipinos angestellt, die dafür sorgten, dass ihnen der Zucker nicht ausging.

Mit einem Mal zog Ally den Morgenrock enger um sich zusammen. Zum Teufel mit ihrer Mutter und den versnobten Fernsehleuten. Sie drehte sich um und ging auf das Haus zu. Während ihr die warme Sonne den Rücken wärmte, fasste sie einen Entschluss. Matts Aufforderung war eine Geste gewesen, die sie törichterweise zurückgewiesen hatte. Sie würde heute Abend zu Century gehen und ihm eine Überraschung bereiten.

»Hier ist es gut, Dad.« Matt musste darüber lachen, wie sehr Janey daran lag, dass er sie außer Sichtweite der Schule absetzte. Janey hasste es, wenn jemand sie darauf ansprach, wer ihr Vater war. Als man ihn einmal gebeten hatte, eine Preisverleihung in der Schule zu moderieren, hatte sie eine Grippe vorgetäuscht.

Matt drehte sich um und gab ihr einen Kuss, während sie bereits die Tür öffnete und schnell aussteigen wollte, bevor jemand sie sah. Er bekam einen Schreck, als er die hochgewachsene, fast frauliche Gestalt betrachtete, die sich elegant aus dem Wagen schlängelte. Sie war nicht mehr sein kleines Mädchen. Und doch schien es wie gestern, dass er vor dem Kreißsaal nervös eine Zigarette nach der anderen geraucht und sich geschworen hatte, das Rauchen für immer aufzugeben, wenn nur alles gut ging. Und es war alles gut gegangen. Er konnte sich noch genau an den Augenblick erinnern, in dem die Hebamme ihm eine niedliche, plärrende Janey in die ausgestreckten Arme gelegt hatte. Am liebsten hätte er einen Freudentanz aufgeführt, hatte aber zu große Angst, dabei das kleine, zerbrechliche Wesen fallen zu lassen, das so dick verpackt war, dass man nur ein Eckchen des winzigen Gesichts sah.

Zu Allys großem Vergnügen hatte Matt Janey, sobald sie alt genug war, als Kumpel behandelt, als Wildfang, der seine Begeisterung für Schach und Fußball teilte. Bei den Boyds lachte man noch heute darüber, dass Janey, seit sie zehn Jahre alt war, jeden Spieler mit Namen kannte, der seit 1951 ins Pokalendspiel gekommen war.

Matt verehrte die Frauen, und Mädchen hatte er im Grunde schon immer den sich raufenden und prügelnden Jungen vorgezogen. Und er sorgte dafür, dass sich seine Töchter genauso stark fühlten wie Jungen. Das Motto, nach dem er sie erzog, hieß: »Mädchen können alles!«

Er drückte auf den Knopf, um das Fenster herunterzulassen, und lehnte sich hinaus. »Bye, meine Schöne!«, rief er, was Janey furchtbar peinlich war. »Und vergiss nicht: Mädchen können …«

»Alles!«, murmelte Janey und marschierte los. Warum wiederholte Dad das ständig? Natürlich konnten Mädchen alles. Wer hatte je etwas anderes behauptet?

Matt wandte sich zu Jess, die neben ihm saß. »Steigst du nicht hier aus?«

Jess schüttelte den Kopf. Im Gegensatz zu Janey genoss sie den Prominentenstatus ihres Vaters.

»Ist schon recht, Dad. Mich kannst du am Vordereingang absetzen.«

Vor den Toren der Hill-Hall-Schule standen in drei Reihen Volvo-Kombis und Range Rovers. Die meisten der Eltern, die ihre Kinder herbrachten, waren es gewohnt, in mächtigen und einflussreichen Kreisen zu verkehren, und hatten es weiß Gott nicht nötig, stehen zu bleiben und ihn anzustarren. Trotzdem drehten sich ein paar Köpfe diskret in ihre Richtung, um zuzusehen, wie Matt Boyd seiner jüngeren Tochter die Tür aufmachte. Und eine oder zwei Mütter empfanden – auch wenn sie es nie zugegeben hätten – leisen Neid, als er Jess in die Arme nahm und sie voller Zuneigung übertrieben heftig an sich drückte.

Jock Wilson, einer der diensthabenden Wachmänner, sah, wie Matt sich in seinem Wagen der Rampe näherte, die in die Tiefgarage von Century Television führte, und drückte auf den Knopf, damit die Schranke aufging. Er winkte, als das Auto auf dem gewohnten Platz einparkte. Im Gegensatz zu einigen anderen Stars war Matt privat genauso freundlich wie vor der Kamera.

»Guten Morgen, Jock. Schöner Tag heute.«

»Traumhaft.« Er lächelte und freute sich, dass er aus seinem Kasten wenigstens ein Stückchen Himmel sehen konnte. »Ein Jammer, dass Sie im Studio sitzen müssen.«

»Erst später. Erst mal habe ich eine zweistündige Besprechung im sechzehnten Stock.«

Matt erwiderte Jocks Lächeln und ging zum Lift. Unterwegs blieb er kurz stehen, um Bryony zu becircen, die furchterregende Empfangsdame, auch »der Rottweiler« genannt, die hinter einem riesigen grauen, mit Telefonen übersäten Tisch saß und den Zugang zum Allerheiligsten von Century Television bewachte. Matt fragte sich manchmal, ob man Bryony in Wahrheit vielleicht eingestellt hatte, um alle Leute abzuwimmeln, anstatt das Naheliegendere zu tun und ein paar von ihnen hereinzulassen. Aber immerhin war sie demokratisch. Als nach langwierigen, heiklen Verhandlungen vonseiten der Nachrichtenredaktion der König von Norwegen eingewilligt hatte, in der Mittagssendung ein Kommuniqué zu verlesen, hatte Bryony sich Gerüchten zufolge bei seinem Eintreffen vorgereckt und ihm nachgebrüllt: »He, Sie! Was haben Sie noch mal gesagt, wo Sie König sind?«

Matt betrat den Sitzungssaal ein paar Minuten bevor die allwöchentliche Produktionssitzung beginnen sollte. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und starrte aus dem Fenster auf den von der Sonne beschienenen Fluss hinab, der mehr als fünfzig Meter unter ihm dahinfloss. Century Television befand sich in der besten Lage Londons, an einer Biegung der Themse, von wo man eine atemberaubende Aussicht auf die Lambeth Bridge und das Parlament hatte. Zur Tate Gallery waren es nur fünf Minuten zu Fuß. Matt schlich sich manchmal zur Mittagszeit davon und vertiefte sich in die Turners.

Doch heute hatte er kein Auge für die Pracht, die sich vor ihm erstreckte und im Licht einer frühsommerlichen Hitzewelle glänzte. Immer wieder ging ihm im Kopf herum, was, zum Teufel, er tun sollte. Seine Langeweile und Unruhe nahmen langsam bedrohliche Ausmaße an.

Bernie Long brauchte ihm gar nicht erst zu sagen – obwohl er dies mit Vergnügen tun würde –, dass er seine eigene Karriere ruinieren würde, wenn er nicht aufpasste. Matt hatte bemerkt, dass man seine Gereiztheit inzwischen auf dem Bildschirm erkennen konnte, und das war unverzeihlich.

»Hallo, Matt, altes Haus!« Als er den vertrauten knurrenden East-End-Tonfall hörte, wandte Matt sich um. »Da bin ich ja froh, dass ich dich allein erwische.«

»Ist schon recht, Bernie, du musst es gar nicht erst sagen.«

»Was sagen?«, fragte Bernie ruhig, zog seine ramponierte Lederjacke aus und drapierte sie über einem Stuhl. Darunter trug er ein Sweatshirt und eine Trainingshose, was völlig irreführend war, da Bernie gern behauptete, einer der unsportlichsten Menschen von ganz London zu sein. Seine einzige körperliche Betätigung bestand darin, ab und zu einen zu heben. Und das machte er, wie sie beide wussten, ein bisschen zu oft.

»Dass du stinksauer auf mich bist.«

Bernies Mundwinkel hoben sich um einen Millimeter. »Nicht so stinksauer wie damals, als wir Tom Jones bei MidWest TV hatten und du ihn andauernd Engelbert Humperdinck genannt hast.«

»Das ist fünfzehn Jahre her«, wandte Matt ein. »Außerdem war es am ersten April.« Er grinste bei der Erinnerung. Damals hätte man ihn beinahe hinausgeworfen, doch dann hatte Bernie die Direktoren davon überzeugen können, dass das Ganze ein Scherz sein sollte.

»Wir haben es weit gebracht seit damals.« Bernie legte Matt die Hand auf die Schulter. Das stimmte allerdings. Weiter als sie sich jemals hätten träumen lassen. Fünfzehn Jahre erfolgreiche Zusammenarbeit, die Matt Boyd zu einem der bekanntesten Namen im Fernsehen hatten werden lassen.

Matt sah Bernie in die Augen. »Und jetzt meinst du, dass ich alles verpfusche.«

Bernie betrachtete einen Moment lang den Fluss. »Du respektierst das Publikum nicht mehr, Matt. Glaub bloß nicht, dass sie es nicht merken.« Er wandte sich wieder zu ihm um. Mit seiner narbigen, zerfurchten Haut kam er Matt wie ein altes, mitgenommenes Nashorn vor. Er hatte ihn selten so ernst erlebt. »Du hältst dich nicht an die Regeln, Matt. Es ist ein Abkommen. Es macht ihnen Spaß, weil es dir Spaß macht. Du betrügst dein Publikum.«

Hinter ihnen ging die Tür auf, und Bernies Sekretärin Marie kam herein. Nach und nach trudelte jetzt der Rest des Teams ein. Zuerst kamen die Eifrigen, meist Neulinge, die sich unbedingt profilieren wollten. Sie schleppten solche Mengen an Zeitungsausschnitten mit sich herum, dass sie ein Pressearchiv hätten anlegen können. Als Letzte kam Belinda. Sie hatte eine dunkle Brille auf der Nase und ein großes Glas Mineralwasser in der Hand, als hätte sie eine harte Nacht hinter sich.

Trotz des schönen Wetters trug sie etwas, das wie ein Herrenanzug aussah. Darunter lugte jedoch deutlich ein weißes Seidentop hervor, das eher fürs Schlafzimmer als für den Sitzungssaal gemacht schien. Matt dachte sich, dass es ihr vermutlich Spaß machte, widersprüchliche Signale auszusenden.

Bernie schlug mit seiner Kaffeetasse gegen die Untertasse, um für Ruhe zu sorgen. »Also, Leute, legen wir mal los! Wer hat ein paar brillante Eingebungen für die nächsten Shows?«

Matt wartete ab. Mit fast hundertprozentiger Sicherheit sah er voraus, welche langweiligen und abgegriffenen Namen fallen würden. Namen von Leuten, die nur dann in der Show mitwirken würden, wenn sie dabei für ein neues Buch, einen Film oder einen Auftritt die Werbetrommel rühren konnten. Oder sie waren schon so jenseits von Gut und Böse, dass sich von vornherein niemand für sie interessierte.

Er schaute aus dem Fenster und versuchte, eine Entscheidung zu treffen. Er und Bernie arbeiteten schon so lange zusammen, dass er ihn jetzt nicht überfahren wollte. Auf einmal spürte Matt, ohne in ihre Richtung zu sehen, dass Belinda ihn anblickte und an ihr Gespräch einige Abende zuvor dachte. Er wandte sich um. Als läse sie seine Gedanken, begann sie zu lächeln.

Matt beschloss, dass es Zeit zum Handeln war. »Bernie, bevor wir ins Detail gehen …« Er sprach ganz beiläufig, da er Bernie nicht gegen sich aufbringen wollte. »Könnten wir vielleicht kurz über die Show im Allgemeinen sprechen?«

Bernie hob den Blick von dem linierten Block, den er bei solchen Besprechungen immer benutzte, und legte seinen Lieblingsdrehbleistift hin. So etwas hatte er befürchtet. »Natürlich, Matt. Schieß los.«

»Das Problem mit der Show ist«, fuhr Matt fort, »dass wir mittlerweile nur noch kalten Kaffee aufwärmen. Leightons betrunkener Auftritt neulich war das aufregendste Ereignis seit Monaten.« Matt begegnete dem Blick seines alten Freundes. »Wir müssen mehr Risiken eingehen, gewagte Interviews führen, mehr an die Grenzen gehen. Sonst schläft uns das Publikum noch ein.« Er setzte sein berühmtes provokantes Lächeln auf. »Oder ich.«

»Ist noch jemand dieser Ansicht?«, fragte Bernie.

Die Mitglieder des Teams sahen sich nervös um. Sie spürten, wie gefährlich es war, zuzustimmen, ohne die Konsequenzen bedacht zu haben.

Belinda überlegte kurz. Sie wusste, dass Bernie ihr nie verzeihen würde, wenn sie sich jetzt äußerte. Wenn Bernie sich überhaupt auf demokratische Diskussionen einließ, dann darüber, ob man Filter- oder Pulverkaffee einkaufen sollte. Und sogar da setzte er sich regelmäßig durch.

Doch noch bevor sie den Mund aufmachen konnte, meldete sich jemand anders. »Ich schließe mich Matt an.« Es war Helen, die Produktionsassistentin.

Matt lächelte. Er wusste, was es sie gekostet haben musste, ihre Meinung zu sagen. Sie war ein schüchternes Mädchen und außerdem leicht ersetzbar. Sicher hatte sie ihren ganzen Mut zusammennehmen müssen.

Belinda ärgerte sich, dass ihr jemand zuvorgekommen war, und zögerte. Doch schließlich ergriff sie das Wort. »Ich mich auch. Es ist an der Zeit, die Show aufzupolieren.«

Matt zwinkerte fast unmerklich. Zu ihrem Erstaunen genoss Belinda seine Zustimmung.

Matt wandte sich an seinen alten Gefährten. »Und du, Bernie, was meinst du?«

»Ich meine« – Bernies Äuglein funkelten gefährlich – »dass wir eine verflucht erfolgreiche Show haben und an ihr festhalten sollten. So, können wir nun vielleicht die Besprechung fortsetzen?«

Matt stand auf, und einen Moment lang dachte Bernie, er würde den Raum verlassen. Aber Matt ging nur langsam zum Tisch an der Wand hinüber und goss sich eine Tasse Kaffee ein. Dann nahm er einen Teller mit Plätzchen und offerierte sie der Runde. »Möchte jemand einen Ingwerkeks?«

Vom anderen Ende des Tisches ertönte ein unterdrücktes Kichern, und alle lächelten erleichtert, als sich die Spannung löste. Außer Bernie. Er kannte Matt gut genug, um sich darüber im Klaren zu sein, dass es gerade erst losging. Und als er mitbekam, wie Matt Belindas Blick auffing und einen Moment lang festhielt, fragte er sich, ob die beiden womöglich unter einer Decke steckten.

Ally stand unter dem starken Strahl eiskalten Wassers und warf den Kopf in den Nacken. Das Wasser war so kalt, dass es ihr zuerst den Atem geraubt hatte, doch nun genoss sie es als eine Art masochistisches Vergnügen. Von allen Häusern, in denen sie je gewohnt hatte, war dieses das erste mit einer leistungsfähigen Dusche. Matt, ein eingefleischter Anhänger der Badekultur, war auf einer Amerikareise über Nacht zum Duschen bekehrt worden. Inzwischen duschte er zweimal täglich und zog Ally manchmal, wenn sie nicht gerade allzu emsig ihren hausfraulichen Pflichten nachging, mit zu sich hinein.

Ally stieg aus der Dusche, schmiegte sich in anderthalb Meter angewärmtes Frottee und ging ins Schlafzimmer. Überall lagen Kleider herum. Wenn sie sich gegen die furchteinflößenden jungen Schickimickis in Matts Show behaupten wollte, musste sie selbstbewusst auftreten. Und – ob ihr das nun behagte oder nicht – ihr Selbstbewusstsein hing zumindest teilweise davon ab, dass sie gut aussah.

Nachdem sie fast ihren ganzen Schrank durchprobiert hatte, musste sie zu ihrem Bedauern feststellen, dass sie zwar genügend Kleider dafür hatte, sich groß in Schale zu werfen oder im Haus herumzugammeln, aber das atemberaubende und doch unaufdringliche Stück, das Matts Produktionsteam angesichts ihres Schicks und Stilgefühls die Sprache verschlagen würde, fand sich leider nicht.

Ally tauchte erneut in ihren Fundus und zog einen mit grellfarbenen Spiralen bedruckten Kasack hervor, von dem ihr die Verkäuferin seinerzeit eingeredet hatte, er sei die perfekte Kopie eines Versace-Modells, nur zu einem Viertel des Preises. Sie zog ihn mit dazu passenden Leggings an und betrachtete sich im Spiegel. Unscheinbar war das jedenfalls nicht.

Sie hörte, wie unten die Haustür ging. Jess musste von ihrer Klavierstunde heimgekommen sein. Janey würde nicht vor sechs aus der Schule kommen. Nun gut, dann musste eben Jess sie beraten.

Ein paar Minuten später ging die Schlafzimmertür auf, und Jess spähte mit einem Erdnussbutter-Marmelade-Sandwich in der Hand herein.

»Hi, Mum.« Sie warf einen Blick auf den Aufzug ihrer Mutter. »Gehst du auf ein Kostümfest?«

Ally widerstand dem Wunsch, Jess den Hals umzudrehen, und schob sie zum Schrank. Jess, die sich fast überhaupt nicht für ihre eigene Kleidung interessierte, hatte ein Händchen für die anderer Leute.

»Okay, meine Modespezialistin, such du aus.«

Jess legte ihr Sandwich beiseite, wühlte ein paar Minuten zwischen den Kleiderbügeln herum und zog schließlich zwei Gewänder hervor.

»Welchen Typ möchten Madame denn heute Abend verkörpern? Eher Madonna oder Simone Signoret?«

»Vielleicht irgendetwas dazwischen?«, fragte Ally hoffnungsvoll.

Jess drückte ihr ein dunkelgrünes Kostüm in die Hand, das sie für die Hochzeit eines Cousins gekauft hatte. Ally schlüpfte hinein.

»Stinkfad«, befand Jess, verzog das Gesicht und griff nach ihrer anderen Wahl, einem schwarzen Volantkleid aus Crêpe de Chine.

Ally sah es erstaunt an. Dann fiel ihr ein, dass sie es noch nie getragen hatte, weil der Saum acht Zentimeter über dem Knie saß.

»Mach schon. Lass uns wenigstens mal schauen, wie du darin aussiehst.«

Ally schälte sich aus dem grünen Kostüm und schlüpfte in das Volantkleid. Während Jess hinter ihr stand und den Reißverschluss zuzog, bemerkte sie mit Erstaunen, dass sie schon wieder gewachsen war. Ihre Tochter war bereits drei Zentimeter größer als sie.

Als sie in dem Kleid steckte, betrachtete Ally sich im Spiegel und war ganz verblüfft, wie jung und schick sie aussah. »Okay.« Sie grinste Jess an. »Dann ziehe ich das an.«

»Toller Entschluss.« Jess umarmte ihre Mutter stürmisch, wie um sie zu beglückwünschen, wodurch der Saum weitere fünf Zentimeter nach oben rutschte. Ally begann es sich noch einmal zu überlegen. Das Kleid würde Janey oder Jess hervorragend stehen, aber bei ihr sah es doch wohl danach aus, als wollte sie auf jung machen. »Nein«, entschied sie dann. »Ich kann es nicht tragen. Sie würden mich auslachen.«

»Oh, Mum!« Ally entging der frustrierte Tonfall ihrer Tochter nicht. »Du bist so feige! Es sieht toll aus!«

Ally zog das Kleid aus und griff nach dem Kostüm. Eigentlich sollte es ihr mit fast vierzig egal sein, was die Leute dachten. Aber das Leben funktionierte anscheinend nicht so. Jedenfalls ihres nicht.

Jess zuckte mit den Schultern und zog mit ihrem Sandwich ab, um sich an die Hausaufgaben zu machen.

Ally öffnete ihre Wäscheschublade und holte olivgrüne Strümpfe heraus. Aber irgendwie schienen sie den trostlosen Eindruck des Kostüms noch zu verstärken. Sie zog sie wieder aus und suchte nach hauchdünnen Strümpfen mit Schleifchen an den Fersen. Vorsichtig schlüpfte sie hinein und betrachtete ihre Beine im Spiegel. War das nun zu frivol?

Plötzlich schloss sie die Augen. Jess hatte recht. Sie war ein Jammerlappen. Wen kümmerte es schon, was sie für Strümpfe trug? In ihrer Wut auf sich selbst bohrte sie mit dem Fingernagel ein Loch in das dünne Gewebe. Sie sank auf dem Bett zusammen und war den Tränen nahe. Früher war sie munter und selbstsicher gewesen. Heute setzte sie schon die kleinste Entscheidung außer Gefecht. Wie, zum Teufel, sollte sie mit dem Rest ihres Lebens fertigwerden, wenn sie nicht einmal in der Lage war, sich für ein Paar Strümpfe zu entscheiden!

Als Janey zehn Minuten später von der Schule heimkam, wäre sie in der Diele fast über ihre Mutter gestolpert. Ally griff sich ihren Mantel und konnte es nicht lassen, im Vorbeigehen die welken Blüten aus dem riesigen Bund Lilien auf dem Tisch auszusortieren.

»Hi, Mum. Wohin des Wegs?«

»Ins Studio, um Dad zu einem Überraschungsessen zu entführen.«

»Dann kommst du wohl spät zurück?« Janeys desinteressierter Tonfall konnte Ally nicht eine Sekunde lang täuschen. Sie nahm Janey in den Arm und wusste genau, was sie dachte. »Zu spät dafür, dass du dir das Auto ausleihen könntest. Wie sehe ich aus?«

Janey legte den Kopf schief. »Äußerst dezent.«

Ally seufzte.

Das Wetter war immer noch herrlich, und Ally spürte, wie sich ihre Stimmung besserte, während sie langsam auf baumgesäumten Sträßchen zur Autobahn tuckerte. Beim Gedanken daran, dass sie unerwartet auftauchen und Matt zum Abendessen entführen würde, stieg langsam eine verrückte, mädchenhafte Aufgeregtheit in ihr hoch. Ein bisschen mehr Spontaneität war genau das, was ihrer Ehe fehlte.

Eine Stunde später kam sie bei den Studios an. Gerade in dem Moment hüpfte ein Vertreter mit einer dicken Aktentasche in seinen Wagen und machte einen Parkplatz frei.

Ally parkte sorgfältig ein, nahm ihre Tasche vom Rücksitz und schritt summend die Stufen zu Centurys imposanter Eingangshalle aus grauem Marmor empor. Der heutige Abend könnte ein Neubeginn sein. Es war dumm von ihr gewesen, nicht hierherzukommen, bloß weil Matts Kollegen sie vielleicht einschüchtern könnten.

Sie lächelte auf ihrem Weg durchs Foyer und rechnete damit, dass Bryony am Empfang sitzen würde. Aber es war nicht Bryony. Es war eine andere, ebenso streng blickende junge Frau, die sie noch nie gesehen hatte. Matt vermutete immer, dass die Empfangsdamen für Century vom Geheimdienst ausgebildet wurden.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.

»Ich möchte gern zu dem Empfang nach der Matt-Boyd-Show.«

Das Mädchen sah auf ihrer Liste nach. »Wie war noch mal Ihr Name?«

»Boyd. Ich bin die Frau von Matt Boyd. Aber ich stehe sicher nicht auf Ihrer Liste.«

Das Mädchen zog noch einmal ihren Zettel zurate. »Sie stehen leider nicht auf der Liste.«

»Nein, das habe ich ja gesagt. Es soll eine Überraschung sein.«

Die Empfangsdame beäugte sie misstrauisch und bat sie, auf einem der weichen grauen Sofas Platz zu nehmen, die um einen großen Fernsehbildschirm im Eingangsbereich gruppiert waren. Dann drehte sie sich um und telefonierte mit irgendjemandem so leise, dass Ally nichts verstehen konnte.

Offensichtlich war das Ganze doch keine so gute Idee gewesen.

»Tut mir leid, Mrs Boyd«, rief das Mädchen, »aber im Büro scheint niemand zu sein. Vermutlich sind sie im Studio.«

»Könnte ich dann nicht dorthin gehen?«

Das Mädchen sah sie an, als hätte Ally gefragt, ob sie in den Zehn-Uhr-Nachrichten einen Tango vortanzen dürfe. »Es ist eine Livesendung. Außer den Gästen darf bei einer Livesendung niemand hinein.«

Fast eine halbe Stunde lang saß Ally da, schaute sich Matts Show auf dem Bildschirm an und wünschte, sie wäre der Typ Frau, der ein Talent für Szenen hatte. Ihre beste Freundin Susie säße garantiert nicht einfach herum. Susie hätte mit der Faust auf den Tisch geschlagen und verlangt, dass jemand die Sache regelte. Doch leider war sie nicht Susie. Zum zehnten Mal sah sie auf die Uhr. Sie hätte genauso gut zu Hause bleiben können.

»Allegra, wie schön, Sie zu sehen!« Ally fuhr herum. Hinter ihr stand Stephen Cartwright, der Programmdirektor von Century. »Wollen Sie Matt bei der Arbeit zuschauen?«

Ally stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Stephen, hallo! Ja. Ich wollte Matt eine Überraschung bereiten und ihn zum Abendessen entführen.« Befriedigt nahm sie wahr, wie die Empfangsdame plötzlich aufmerksam wurde. »Aber diese junge Dame kann niemanden von der Show auftreiben.«

»Du lieber Himmel, Melanie, warum haben Sie denn Mrs Boyd nicht einfach zum Gesellschaftsraum geschickt?«

»Sie steht nicht auf der Liste.«

»Schicken Sie sie in Gottes Namen auf der Stelle hoch. Sie braucht keinen Passierschein.« Er brachte sie selbst zu den Aufzügen. »Entschuldigen Sie bitte, Allegra. Melanie ist nicht gerade ein Einstein.« Er lächelte bedauernd. »Aber wenn sie das wäre, säße sie auch nicht an unserem Empfang. Amüsieren Sie sich gut.«

Ally stieg aus dem Lift und blieb kurz stehen. Von links drang das Geräusch eines Fernsehers an ihr Ohr, und sie folgte ihm in einen großen, offen angelegten Raum mit einer Bar am einen Ende. Hier trafen sich Darsteller, Team und Gäste nach der Sendung. Ein weißbefrackter Barkeeper verteilte Kartoffelchips in kleine Schälchen.

Zwei junge Frauen sahen auf, als sie hereinkam. Die größere von ihnen trug blassgelbe Shorts mit dicken schwarzen Strümpfen darunter und einen schwarzen Rollkragenpullover. Ihr Haar war kurz und stachelig. In einem Ohr hatte sie einen Ohrring in Form des Weiblichkeitssymbols. Die andere trug ein weißes T-Shirt, auf dem die Aufschrift »SPUNK« prangte. Die Alltagsuniform von Fernsehleuten.

Der Raum begann sich zu füllen, und Ally nahm an, dass die Show gerade zu Ende war. Sie nahm sich einen Drink. Irgendwie hatte sie das Gefühl, sie würde ihn brauchen. Von allen Seiten drangen Fachsimpeleien an ihr Ohr, deren Jargon sie nicht verstand.

»Hallo, Allegra.« Ally fuhr herum und sah Bernie Long neben sich stehen. Sein Lächeln war so einladend wie Salzsäure. »Ich wusste gar nicht, dass Sie heute Abend kommen.«

Ally lächelte zurück. Bernie würde ihr nicht die Laune verderben. Nach so vielen Jahren sollte sie doch an ihn gewöhnt sein.

»Es ist eine Überraschung.«

»Wie reizend.« Er sah drein, als fände er irgendetwas überaus komisch. »Und wie geht’s der Familie?«

Am liebsten hätte Ally gesagt: »Bestens, Janey nimmt Ecstasy, und Jess geht auf den Strich.« Aber wahrscheinlich hörte Bernie sowieso nicht zu. Langsam bereute sie, dass sie gekommen war. Das war nicht ihre Welt. Der Raum war überfüllt, es war unglaublich heiß, und Matt war nirgends zu sehen. Vielleicht kam er ja gar nicht? Sie entschuldigte sich und schlüpfte unauffällig zur Damentoilette. Als sie sich an die Tür einer Kabine lehnte, konnte sie die kühle Luft aus der Klimaanlage spüren und fühlte sich auf der Stelle besser. Gleich würde sie wieder hineingehen.

Dann hörte sie die beiden Mädchen mit den ausgefallenen Klamotten im Vorraum tratschen, während sie sich vor dem Spiegel die Haare toupierten und Gel darin verteilten.

»Tun sie’s, was meinst du?«

»Tun sie was?«

»Du müsstest es doch gerade wissen, wo du die größte Expertin in Sachen Bumsen mit dem Boss bist.«

»Ach das.«

»Ja, das.«

Büroklatsch, dachte Ally. Er gehörte genauso zur Arbeitswelt wie die Kaffeemaschine oder die allwöchentliche Lohntüte. Das ewige Spekulieren darüber, wer was mit wem hatte.

»Nein, ich glaube nicht. Oder jedenfalls noch nicht.«

Ally betätigte geräuschvoll die Spülung und öffnete die Tür. Sie nickte den beiden zu, und sie nickten zurück und fragten sich, wer sie wohl war.

Ally nahm all ihren Mut zusammen, strich sich das Haar glatt und ging wieder auf das Stimmengewirr zu. Der erste Mensch, den sie in dem lauten, überfüllten Raum entdeckte, war Matt, ins Gespräch mit einem berühmten Schauspieler vertieft. Sie war jedes Mal aufs Neue verblüfft, wenn sie Matt bei der Arbeit beobachtete. Er stand so sehr im Mittelpunkt, alles kreiste um ihn. Neben ihm bildete sich eine kleine Schlange von Leuten, die hofften, seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu können. Aufstrebende Stars, ein PR-Agent und eine junge Redakteurin mit einer alten Dame am Arm, die aussah wie ihre Oma. Die Aussicht darauf, Matt Boyd kennenzulernen, ließ ihre Augen leuchten.

Dann sah er sie. Auf der Stelle kam er herüber und lächelte erfreut. »Ally, Liebes, du hast gar nicht gesagt, dass du kommen würdest!« Er umarmte sie und gab ihr einen Kuss. »Was ist denn mit Jess’ Klavierstunde passiert?«

»Sie ist mit dem Bus gefahren.«

»Was hat deinen Umschwung ausgelöst?« Er hielt einen Kellner an und besorgte ihr ein Glas Wein. »Ich dachte, du fändest uns Fernsehleute oberflächlich und egozentrisch.«

»Tu ich auch.« Sie drückte voller Zuneigung seine Hand. »Deshalb habe ich einen Tisch für uns bestellt, damit ich dich ihrem Einfluss entreißen kann.«

»O Gott, Liebes, warum hast du das nicht heute Morgen gesagt?« Man konnte seine Enttäuschung heraushören. »Ich habe versprochen, mit zu Joe Allen’s zu gehen. Alle gehen dorthin. Ein seltener Anfall von Teamgeist. Warum kommst du nicht mit? Es wird sicher lustig.«

Allys Mut schwand. »Okay. Natürlich. Mit Vergnügen.«

»Fein. Ich sage es gleich Bernies Sekretärin. Sie organisiert das Ganze.«

Ally nahm einen Schluck Wein. Es war nicht ganz das, was sie geplant hatte, aber immerhin … Sie wollte sich schließlich stärker für seine Arbeit interessieren, und das war seine Arbeit.

Auf der anderen Seite des Raumes blieb er stehen und sprach mit einer aufsehenerregenden jungen Frau mit langen dunklen Haaren, die einen Herrenanzug zu tragen schien. Sie war groß und schick und strahlte jene lässige Selbstsicherheit aus, die Ally stets gefehlt hatte. Sogar aus dieser Entfernung konnte Ally erkennen, dass sie übertrieben dicht bei ihm stand und immer wieder seinen Arm berührte. Dann lächelte sie ihn mit einem Ausdruck solcher Vertrautheit an, als wären sie allein im Raum. Ally durchzuckte ein warnender Anflug von Angst.

Sie drehte sich zu Bernie Long um, der sich neben sie gequetscht hatte, um noch einen Drink zu ergattern. »Bernie«, Ally beugte sich zu ihm hinüber, »wer ist denn das dunkelhaarige Mädchen, mit dem Matt spricht?«

Bernie sah von Ally zu der jungen Frau hinüber und wieder zurück. »Das ist Belinda, die neue Produzentin. Ihr Geburtstag wird heute Abend gefeiert.« Er hob sein Glas und stieß damit gegen ihres. »Hat Matt nichts davon gesagt?«

Ally starrte verwirrt zu ihnen hinüber. Und dann fiel ihr das Gespräch wieder ein, das sie auf der Toilette mitgehört hatte. Jetzt war ihr klar, um wen es sich gedreht hatte.

Und ganz plötzlich hatte sie keine Lust mehr, essen zu gehen.

3. Kapitel

»Hallo, Ma.« Janey lag auf dem Sofa vor dem Fernseher und reckte ihrer Mutter überrascht die Arme entgegen. »Du kommst aber früh.«

Gerührt von der ungewohnten Wärme, mit der ihre ältere Tochter sie begrüßte, beugte sich Ally hinab und gab ihr einen Kuss. Dann ließ sie sich neben sie auf die weichen chintzbezogenen Polster sinken. Normalerweise lehnte Janey im Moment jeglichen Körperkontakt ab. Ally wusste, dass das ganz normal und völlig in Ordnung war und zum Erwachsenwerden gehörte. Da ihre Abnabelung vom Elternhaus aber mittlerweile so weit ging, dass Janey bereits die schlichte Frage danach, wo sie hinging, als unerträglichen Eingriff in ihre persönliche Freiheit betrachtete, war es etwas anstrengend geworden.

Als Janey sich an sie kuschelte, stellte Ally mit Entsetzen fest, dass sie ihre Fallschirmspringerstiefel auf der neuen Polstergarnitur hatte. Diese Angewohnheit hatte sie von ihrem Vater, obwohl der wenigstens erst die Schuhe auszog.

»Füße runter«, kommandierte sie und gab Janey einen Klaps auf die Beine.

»Ach, Mum«, protestierte Janey, »ist das hier ein Zuhause oder ein Museum?«

Angesichts der Ungeheuerlichkeit dieser Unterstellung musste Ally grinsen. Trotz der Bemühungen des Raumausstatters, die Ally nun sowieso unterbinden wollte, war Fairlawns alles andere als ein Museum. Sogar im Wohnzimmer lag haufenweise Zeug herum, das Ally unaufhörlich dorthin zurückzubringen versuchte, wo es hingehörte. Matts Schuhe, Janeys riesige Ohrringe, die sie abnahm, weil sie drückten, um dann Jess vorzuwerfen, sie hätte sie gemopst, abgelegte Pullover, die übersät waren mit weißen Haaren von Sox, ihrem alten englischen Hirtenhund. All diese Dinge trugen das ihre dazu bei, das Haus ausgesprochen wohnlich zu machen.

Eigentlich sollte Sox nicht aufs Sofa, da sie aber als einzige die Abschlussprüfung in Miss Watsons Hundetrainingsinstitut nicht geschafft hatte, durfte sie doch. Nachdem sie die Höchstzahl an Stunden gehabt und so gut wie keine Fortschritte gemacht hatte, bat Miss Watson die Boyds darum, Sox nicht mehr zu bringen, da sie einen schlechten Einfluss auf die anderen Hunde hätte. Ally hatte Verständnis für Sox. In ihren eigenen Schulzeugnissen hatte in etwa das Gleiche gestanden.

Ally bemerkte die ausgetretenen Stellen in den türkischen Teppichen. Auf dem goldbraunen, gebohnerten Parkettboden gefielen sie ihr alt und verblichen wesentlich besser als neu und mit leuchtenden Farben. Sox hatte die Teppiche verabscheut, da sie auf ihnen ständig ins Rutschen kam und Sachen umwarf, bis Ally das Zauber-Antirutsch-Band entdeckte, das man auf die Unterseite kleben konnte. Sie lächelte, und ihr Blick fiel auf einen von Sox’ Wassernäpfen, die Jess während der Hitzewelle hartnäckig in jedem Zimmer aufstellte. Gestern war Matt in einen hineingetreten und war dann Jess damit nachgerannt und hatte gedroht, ihr das Wasser in den Kragen zu kippen, wenn sie ihn nicht in die Küche zurückbrachte, wo er hingehörte. Ab und zu wünschte Ally sich zwar, dass das Haus ein bisschen mehr nach Schöner Wohnen aussähe, aber stets fiel ihr ein, dass sich dann niemand mehr darin wohlfühlen würde.

»Wo ist Jess?«, fragte sie, als ihr aufging, dass ihre jüngere Tochter nirgends zu sehen war.

»Oben an diesem grässlichen Computer. Meinst du nicht, dass es schädlich ist, wenn eine Fünfzehnjährige ihre ganze Zeit mit Computerspielen vergeudet?«

»So wie ich Jess kenne, wird sie bald ihre eigenen auf den Markt bringen.«

»Du hast sie immer lieber gemocht als mich.« Janeys Tonfall war scherzhaft, aber Ally entgingen die Spuren geschwisterlicher Rivalität nicht. Manchmal schien es gar nicht so lang her zu sein, dass eine eifersüchtige Zweieinhalbjährige dermaßen wütend darüber gewesen war, auf einmal ein Schwesterchen zu haben, dass sie es mit Komposterde gefüttert hatte.

»Janey, du bist meine Große, meine Erstgeborene. Du wirst immer etwas Besonderes für mich sein.«

Janey wurde kurz schwach und ließ sich knuddeln. »Vielleicht wäre es ja möglich«, sagte sie schmeichelnd, »nachdem du schon so früh wieder zurück bist, deiner Erstgeborenen für eine Stunde das Auto zu leihen?«

»Zieh los.« Sie hielt ihr den Autoschlüssel hin. »Aber du musst versprechen, nicht schneller als sechzig und nicht weiter als bis Guildford zu fahren.«

Janey sprang auf. Alle Anzeichen von Rivalität waren mit einem Mal wie weggeblasen.

»Danke, Ma. Bis später. Mach’s gut.«

Ally stand auf, um ihr nachzuschauen. Es war schon nach zehn, aber noch erstaunlich hell. Auf einmal war ihr danach, in den Garten zu gehen.