Das innere Ausland - Thommie Bayer - E-Book

Das innere Ausland E-Book

Thommie Bayer

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Beschreibung

Andreas Vollmann glaubt, endlich in seinem Leben angekommen zu sein. Nach mehr oder weniger allein verbrachten Jahren besitzt er nun mit seiner Schwester Nina ein Haus im Süden Frankreichs, wo er die Tage in bukolischer Stille verbringt. Aber dann stirbt Nina sehr überraschend, und Andreas wird seine innere Einsamkeit bewusst. Es ist kein Zufall, dass in diesem Moment eine fremde Frau bei ihm erscheint - sie heißt Malin und ist Ninas Tochter, von der Andreas noch nie etwas gehört hat. Während die beiden sich einander annähern und Malin ihm von der unbekannten Seite seiner Schwester erzählt, erkennt Andreas, dass das Leben ihm gerade eine zweite Chance bietet. Doch er muss sie auch ergreifen.

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www.piper.de/literatur

 

ISBN 978-3-492-99253-4

© Piper Verlag GmbH, München 2018

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Eric Forey / Trevillion Images

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

1 – Der Hund des Engländers …

2 – Als sie schließlich …

3 – Den nächsten Tag …

4 – Das Frühstück stand schon …

5 – »Messieurs dames, ceci …

6 – Wir fuhren über die …

7 – Ich trödelte beim Duschen …

Danksagung

 

Für Jone

1

Der Hund des Engländers verbellte auch vorüberziehende Wolken oder Grasbüschel, die der Wind über die Straße trieb. Und er war immer da, auch wenn sein Herrchen mit dem kleinen gelben Nissan zum Einkaufen fuhr – der Hund versorgte die spärlich verstreute Nachbarschaft mit immer wieder Fehlalarm.

Ich brauchte keine Klingel. Mir genügte ein Blick durchs Küchenfenster in entsprechendem Zeitabstand zum Gebell, um zu sehen, ob jemand vor der Tür stand. Das kam nur selten vor. Mal die Postbotin, mal der Getränkelieferdienst und einmal in der Woche Aurélie, die Haushälterin, die sich um alles kümmerte, wozu ich mich nicht aufraffen mochte.

Auch diesmal war es nur der ramponierte Mahindra-Pick-up mit dem Verwalter des benachbarten Weinguts, dessen Felder bis fast nach Cadenet hinüberreichen. Hätte es nicht in der Nacht geregnet, wäre seine Staubfahne Hunderte von Metern weit zu sehen gewesen und erst nach Minuten wieder zu Boden gesunken.

Es war Ende Oktober, die Weinlese noch nicht vorüber, die Olivenernte noch nicht begonnen, und der Hund hatte viel zu tun, weil in dieser Zeit Trupps von Saisonarbeitern die Ruhe stören, die hier das restliche Jahr über herrscht. Ein paar Touristen, die im Hauptgebäude der Domaine wohnen und abends spazieren gehen, sind zwischen April und September so ziemlich die einzigen beweglichen Elemente in der schläfrigen Umgebung, die sich überwiegend der Photosynthese widmet.

Ich strich mir mit der Hand über die Wange und überlegte, ob ich mich gleich oder erst am nächsten Tag rasieren sollte. Im Augenblick war es noch nicht wirklich nötig, aber einen Tag später würde es schon wehtun. Das tickende Gurgeln des Espressokännchens und der Kaffeeduft lenkten mich von dieser Frage ab, und ich nahm das Kännchen vom Gas, schaltete den Herd aus und goss Milch in den elektrischen Aufschäumer. Der Hund bellte wieder.

Wenn man an Straßenbahnschienen oder einer Kirche wohnt, lernt man, den Lärm auszublenden, aber bei Hundegebell scheint das nicht zu funktionieren. Zumindest bei mir nicht. Ich lebte schon fast fünf Jahre hier und erschrak noch immer, wenn es wieder losging. Ich knall den jetzt ab, hatte Nina manchmal gesagt, ich weiß, der Hund kann nichts dafür, aber ich kann dann eben auch nichts dafür.

Es war still seit Ninas Tod. Keine Peter-Gabriel- und King-Crimson-Platten mehr, kein Gesumme französischer Gassenhauer, kein Scheppern und Schimpfen in der Küche und kein Kichern mehr über meine Marotten, zum Beispiel die, den Salat in Plastikbeutel zu packen, bevor er in den Kühlschrank kommt. Nur noch der Hund und dann und wann ein vorbeifahrendes Auto.

~

Es war Ninas Idee gewesen, sich das Haus zu teilen. Sie wollte den hinteren Teil mit dem schöneren Blick behalten, einen ehemaligen Stall, den sie mit ihrem Mann zu einer Art Loft mit großen Fenstern ausgebaut hatte, und ich sollte das Vorderhaus übernehmen, in dem ursprünglich Ferienwohnungen geplant gewesen waren, zu deren Ausbau sich das Ehepaar aber nie so recht hatte aufraffen können. Als sie dann kein Ehepaar mehr waren, hatte sich Nina das Haus ausbedungen und ihrem Exmann die Stadtwohnung in Paris überlassen. Gegen einen entsprechenden finanziellen Ausgleich, versteht sich, denn Nina war zu der Zeit schon längst zur Realistin geworden, die das Wesentliche vom Unwesentlichen trennte. Das Wesentliche war, niemals mehr von jemandem abhängig zu sein.

Du musst nichts dafür zahlen, hatte sie gesagt, ich schenk das lieber dir, als dass ich es einem Fremden verkaufe. Ich starrte sie damals nur an und schwieg, bis sie ins Bad verschwunden war, um zu duschen. »Danke«, rief ich dann irgendwann durch die geschlossene Tür hindurch, und »Willkommen«, brüllte sie zurück, als schimpfte sie mit mir. Direkt danach kam noch ein Schrei von ihr, weil sie das Duschwasser wohl zu heiß eingestellt hatte.

Seit ihrem Tod im Juli hatte ich den Eindruck, alles sei blasser geworden. Draußen war das normal für diese Jahreszeit, die Sonne bleichte das Grün der Umgebung aus, und eine feine Staubschicht legte sich zwischen den seltenen Regengüssen auf Blätter, Gras und Früchte, aber auch innen hatten Küche und Bibliothek, die beiden Räume, in denen wir jeden Tag zusammen gewesen waren, wie auch ihr Hausteil mit dem riesigen Wohnschlafraum und dem nicht viel kleineren Bad ihre Farbigkeit verloren. Oder die Farben ihren Glanz.

~

Ich setzte mich mit meinem Milchkaffee und einem Croissant auf die Terrasse. Es war noch früh, halb neun, den Schatten der Pinie musste ich jetzt noch nicht aufsuchen, das wurde erst ab elf Uhr notwendig, wenn sich die Erntehelfer am anderen Ende des Weinfeldes ihre weißen Mützen aufsetzten und die Hitze den Blick in die Ferne verzitterte.

Nina wäre jetzt im Garten beschäftigt gewesen, aber ich wusste nicht, was zu tun war. Ich sollte Aurélie fragen, ob sie jemanden kannte, der mich anleiten konnte, das nahm ich mir schon seit einiger Zeit vor, vergaß es aber immer wieder. Noch sah es, zumindest für mich, nicht verwahrlost aus, aber hier und da wuchs schon manches, das vor Ninas Augen vermutlich keine Gnade gefunden hätte.

Sie hatte sich bei der Gartenarbeit in diesem Frühjahr immer wieder an den Rücken gefasst und mit schmerzverzerrtem Gesicht kleine Pausen eingelegt, aber immer, wenn ich ihr Hilfe anbot, abgelehnt und gesagt, du hast zwei linke Hände mit zehn Daumen, lass mal. Dass sie keine Rückenprobleme hatte, sondern Metastasen, blieb ihr Geheimnis, bis sie eines Tages verschwunden war, als ich vom Einkaufen in Cadenet zurückkam. Ein Zettel auf dem Küchentisch: Ich bin ein paar Wochen weg, Freunde besuchen im Schwarzwald, mach’s gut, mein Großer, Nina. Keine Adresse, keine Telefonnummer, kein Datum, an dem sie wieder zurück sein wollte. Und dann, kaum drei Wochen später, der Brief von ihr, in dem sie mir erklärte, der Krebs habe zuerst ihre Niere zersetzt, dann so ziemlich den ganzen Rest ihres Körpers, sie habe das viel zu spät entdeckt, eine Therapie sei vollkommen aussichtslos gewesen, und sie habe mir dies verheimlicht, weil es auch jetzt noch früh genug für mich sei, um sie zu trauern, sie danke mir für die Jahre, die sie mit mir genossen habe, sie danke mir für alles, ich sei der beste große Bruder, den man sich wünschen könne, ich solle ihre Asche beim Haus vergraben, bitte mit Blick nach Norden, ich werde Post von einem Anwalt aus Aix-en-Provence erhalten, der alles für sie geregelt habe, falls es doch einen Himmel gebe, werde sie von dort aus auf mich achten, sie umarme mich und gehe, zwar mit Schmerzen, aber ohne Kummer.

Seit diesem Tag stapelte sich die Post auf der alten Anrichte in der Küche, direkt unter dem Kalender. Dort legte ich jeden neuen Brief ab. Es waren nicht allzu viele und nur einer aus Aix. Die Urne kam Anfang September mit einem Kurier. Sie stand neben den Briefen, war aus recyceltem Kunststoff, gesprenkelt, sah aus wie ein Terrazzoboden.

~

»Ciao ragazzo«, rief Filippa, die Postbotin, aus dem Auto heraus und winkte. Ich winkte zurück, ohne zu antworten, sie würde mich nicht hören, denn sie fuhr, um ihre Italianitá herauszustreichen, wie Caracciola und übertönte mit ihrem Motorgeräusch sogar den Hund für einen Moment. Die Staubfahne hinter ihr erhob sich ein paar Zentimeter von der Straße in die Luft, hatte sich aber schon wieder gelegt, als Filippa nach dreihundert Metern mit einem Hupen in die Auffahrt der Domaine einbog.

Mich Ragazzo zu nennen war ein freundlicher Witz. Mein Haar war weiß, ich vierundsechzig, und ohne Brille las ich in der Zeitung allenfalls die Überschriften.

Die genügten mir dann auch, wenn ich sie im Vorbeigehen am Schaufenster der Maison de la Presse überflog oder auf Facebook von irgendwem gepostet sah, die Artikel las ich nicht mehr. Seit Jahren nicht.

Ich hörte Filippa weiterfahren. Der Lärm, den sie dabei machte, drang bis zu mir, weil sie jeden Gang an die Drehzahlgrenze ausfuhr. Wie ein Fünfzehnjähriger mit aufgebohrtem Moped. Vor jeder Kurve schaltete sie herunter und sandte ihr akustisches Signal, eine Art Äquivalent zum Posthorn vergangener Zeiten, über die Felder, durch die Büsche, in alle Richtungen, bis sie endlich um einen Hügel gebogen war.

Ich ging nach drinnen, stellte meine Tasse in die Spüle, ging ins Bad, zog mich aus und stellte mich unter die Dusche. Dann putzte ich mir die Zähne vor dem dampfblinden Spiegel – diese Reihenfolge war Absicht, denn so musste ich meine Tränensäcke, die mir das lächerlich melancholische Aussehen eines Stummfilmkomikers verleihen, nicht betrachten.

Ich zog meine Jeans wieder an, die ich nur im Haus trug, die ausgeleierten hellbraunen Slipper und ein dunkelblaues, kragenloses Hemd, dessen Knöpfe ich nicht schloss. Jetzt, da Filippa vorbeigestoben war, würde mich niemand mehr sehen, wenn ich den Hof fegte und den Löwenzahn zwischen den Pflastersteinen rupfte. Aber vorher machte ich mir einen zweiten Kaffee und legte die weiße Schirmmütze bereit, denn die Sonne würde in einer halben Stunde über den Bergrücken kommen, und ich warte nie, bis sie erst hoch am Himmel steht, sondern wehre schon die ersten milden Strahlen ab, weil ich schneller als andere einen Sonnenstich bekomme.

~

Ich hatte alle Pinienzapfen ins Gebüsch gekickt und ein knappes Viertel des Platzes gefegt, als der Hund wieder anfing und ein Taxi vor der Einfahrt hielt. Eine Frau stieg aus, nahm einen Rucksack vom Rücksitz und hängte ihn über die Schulter, befreite einen Teil ihrer langen schwarzen Locken, der sich zwischen Tragriemen und Körper verklemmt hatte, und ließ sich dann einen großen Rollkoffer vom Taxifahrer aus dem Wagen heben. Sie gab dem Mann einen Schein, bekam von ihm, nachdem er kurz wieder im Auto verschwunden war, Wechselgeld zurück, gab ihm davon noch einen Schein, und er bedankte sich, ging ums Auto, stieg ein und fuhr los.

Ich hatte mir die Szene angeschaut, ohne zu verstehen, warum sie sich vor meinem Haus abspielte. Wenn die Frau zum Engländer nebenan wollte, wieso stieg sie dann hier aus, anstatt die fünfzig Meter bis zu seinem Tor weiterzufahren?

Sie sah zu mir her, schien sich zu fragen, wieso ich ihr nicht entgegenkam, zog dann den Griff des Koffers heraus und kam, vom Rumpeln der harten Räder begleitet, direkt auf mich zu.

»Andreas?«, fragte sie.

»Ja?«

»Ich bin Malin.«

Ich hatte keine Ahnung, wer sie sein könnte, aber besann mich auf meine Manieren, knöpfte das Hemd zu, ging ihr den Rest des Weges entgegen und nahm den Koffer, ergriff die Trageschlaufe und trug ihn, um das Rattern seiner Räder nicht mehr hören zu müssen.

Die zehn Meter bis zum Haus, wo ich den Koffer neben der Tür abstellte, gingen wir schweigend, und ich versuchte, auf irgendetwas zu kommen, das ich vergessen haben und zu dem eine Frau namens Malin passen könnte, aber da war nichts. Kein ehemaliger Kollege, der eine Tochter dieses Namens hatte, keine Facebook-Freundin, die so hieß, und keine Verabredung, die ich getroffen, oder Einladung, die ich ausgesprochen haben konnte. Nichts.

»Keine Kapierung, nein?«, fragte sie. »Überhaupt gar keine?« Sie nahm ihren Rucksack von der Schulter, schüttelte ihre Haare und verschränkte die Arme vor der Brust, als bereite sie sich darauf vor, mir erst einmal den Kopf zurechtsetzen zu müssen.

»Nein«, sagte ich, »helfen Sie mir.«

»Ich bin deine Nichte.«

Ob sie mich schonen oder die Wirkung dieser Aussage in Ruhe genießen wollte, war nicht klar, sie sah mich forschend und vielleicht auch mitleidig an, während ich versuchte, von jedem einzelnen dieser vier Worte die Schale abzuziehen, um einen darunter versteckten Sinn freizulegen.

»Aber Nina hatte doch keine …«

»Tochter. Doch hatte sie.«

»Und Nina ist …«

»Tot. Das weiß ich.«

Ich ging wortlos die paar Schritte zum Tisch unter der Pinie, zog einen der weißen Metallstühle darunter hervor, setzte mich und starrte auf die Zypressen, die das Haus des Engländers umrahmten. Sie kam hinter mir her, nahm sich ebenfalls einen Stuhl, setzte sich und schwieg. Sie ließ mir Zeit.

Irgendwann sagte sie: »Du hast also meinen Brief nicht bekommen, nein?« Und eine Weile später, weil ich schwieg und noch immer auf die Bäume starrte: »Und den vom Anwalt wohl auch nicht.«

»Ich habe Briefe«, sagte ich irgendwann und hörte selbst, wie absurd das klang – wie ein kleines Kind, das versucht, nicht dumm dazustehen. »Ich mache sie nicht auf seit …« Ich wollte es nicht aussprechen und starrte weiter auf die Bäume.

»Seit sie tot ist?« Das fragte sie leise und vorsichtig, so als fürchte sie, mich auf etwas zu stoßen, das ich noch nicht verkraftete.

Und so ähnlich war es wohl auch.

»Ja«, sagte ich.

Sie streckte ihren Arm aus und berührte mich an der Schulter, ließ ihre Hand dort liegen, und ich spürte sie nicht, spürte sie doch, wollte sie aber nicht spüren, wollte nicht, dass diese Frau sich einmischte, auf mich herabsah, sich anmaßte, mich zu trösten oder zu bemitleiden. Sie nahm ihre Hand wieder weg, bevor ich sie brüsk abschütteln oder mit einer Seitwärtsbewegung meiner Schulter einfach von mir fallen lassen konnte.

»Ich habe Durst«, sagte sie, »darf ich mir ein Glas Wasser holen?«

»Perrier im Kühlschrank.«

»Oha«, sagte sie, stand auf und ging ins Haus.

Du trinkst ordentlichen Wein, hatte Nina immer gesagt, ich trinke ordentliches Wasser. Das ist eine Frage der Selbstachtung. Ich hatte die monatliche Bestellung beim Getränkelieferanten Dubois et Frère beibehalten, nur die Menge reduziert. Jetzt reichten zwölf Flaschen.

Malin kam heraus, eine grüne Flasche unterm Arm und zwei Gläser in der Hand. »Vielleicht willst du auch was«, sagte sie und stellte ein Glas für mich auf den Tisch.

Sie schien sich ohne Anstrengung mit meiner Unhöflichkeit abgefunden zu haben, vielleicht war sie darauf vorbereitet gewesen. Sie sah mich fragend an und schenkte mir ein, nachdem ich ein knappes Nicken zustande gebracht hatte.

»Entschuldige bitte«, sagte ich, »ich brauch noch ein bisschen, um zu begreifen, was hier … was sich da jetzt …«

»Ja«, sagte sie, »klar. Tut mir leid, dass es so ein Überfall geworden ist. Ich dachte, der Notar hätte dich auf mich vorbereitet. Und mein Brief.« Sie gähnte. »Ein Glück, dass du nicht verreist bist«, sagte sie dann, »ich hätte mit dem Gepäck in die Stadt zurückmarschieren müssen.«

Während sie trank, konnte ich sie für einen Moment anschauen. Die lange Nase hatte sie mit Nina gemein. Und die dunkelblauen Augen. Die Haarfarbe eher nicht, falls die überhaupt echt war. Ninas Blond war in den letzten Jahren fast unmerklich in Grau übergegangen. Wieso hatte sie nichts von einem Kind erzählt? Das passte nicht zu ihr. Nina war die Art Mensch gewesen, die alles ausspricht, egal, ob es peinlich, beschämend oder verletzend war. Ihre gedankenlose Ehrlichkeit hatte so manchen Menschen irritiert. Dass sie ein solches Geheimnis über all die Jahre bewahrt haben konnte, schien mir einfach unvorstellbar. Allerdings hatte sie auch ihren Krebs für sich behalten.

Wie auch immer, diese junge Frau würde nicht hier sitzen und trinken, als käme sie direkt aus der Wüste, wenn das Ganze ein Missverständnis wäre. Ein Betrug vielleicht?

»Kennst du Nina? Ich meine, kanntest du sie?«, fragte ich, als sie das Glas absetzte und bemerken musste, dass ich sie zum ersten Mal, seit sie hier war, ansah. Und zum ersten Mal, seit sie hier war, hatte ich auch einen ganzen Satz gesprochen, fiel mir auf, und ich nahm die Flasche, um ihr noch einmal nachzuschenken. Sie griff nach dem Glas, führte es aber nicht zum Mund, sondern hielt es in halber Höhe vor sich, als überlege sie noch, in welcher Reihenfolge ihre nächsten Tätigkeiten stattfinden sollten. Reden und Trinken oder Trinken und Reden.

Dann entschied sie sich, das Glas abzustellen, stand auf und ging zu ihrem Rucksack, der neben der Tür an den Koffer gelehnt war. Sie hockte sich davor, zog den Reißverschluss auf und nahm ein Bündel Papier in einer Klarsichthülle heraus. »Hier«, sagte sie, als sie wieder zum Tisch gekommen war und sich setzte, und sie legte das Bündel, einen Brief in Ninas Handschrift, vor mich hin. Ich schob es weg.

»Das schaff ich noch nicht«, sagte ich, »erzähl mir lieber.«

»Du hast sie gerngehabt«, sagte Malin leise und nahm den Brief wieder an sich. Sie legte ihn so auf den Tisch, dass die beschriebene Seite unten war. Dafür sah man jetzt in der Hülle ein kleineres, ebenso durchsichtiges Plastikbeutelchen. Es enthielt eine Locke von Ninas Haar.

Malin bemerkte meinen Blick und sagte: »Zum DNA-Abgleich.« Dann nahm sie den Brief wieder an sich und brachte ihn zurück zum Rucksack.

Vermutlich hatten wir beide das Gefühl, jetzt sei nicht der Moment für Erklärungen, denn wir starrten vor uns hin und schwiegen und ließen unsere Hände dort liegen, wo sie eben lagen, ich auf meinen Knien und Malin um das Glas und an der Stuhlkante. Die Sonne kam über den Berg.

»Gibt es ein Hotel in der Nähe?«, fragte sie, »und könntest du mir vielleicht ein Taxi rufen? Ich muss mich irgendwo hinlegen, ich hab im Nachtzug keine Sekunde geschlafen.«

Einen kurzen Moment war ich erleichtert und dachte, gut so, der Spuk ist vorbei, aber dann hörte ich mich sagen: »Wieso Hotel, du wohnst doch hier?«

»Ich meine nur, weil mein Besuch so ein Überfall geworden ist, lasse ich es vielleicht lieber langsamer angehen.«

»Langsam geht es von selber«, sagte ich, »bis ich verstanden habe, was gerade passiert, brauche ich noch eine Weile.«

»Ich will dir nicht lästig sein.«

»Es ist dein Haus. Du bist Ninas Tochter. Und es ist mein Fehler, wenn ich die Briefe nicht aufmache. Komm.«

Ich war froh, nicht mehr einfach nur dazusitzen und meine Überrumpelung und Verlegenheit auszustellen, stand auf, winkte sie hinter mir her, griff an der Eingangstür ihren Koffer, während sie ihren Rucksack aufnahm und mir in die riesige Küche folgte, die vor hundert Jahren vielleicht als Remise oder großzügige Eingangshalle gebaut worden war.

»Die ist gemeinsam«, sagte ich, deutete mit der freien Hand vage in den Raum und ging weiter zur hinteren Tür, »du hast keine eigene Küche drüben, Nina wollte keine, weil wir hier immer zusammen gekocht haben. Das heißt, ich hab gekocht, und sie hat sich derweil über mich lustig gemacht.«

Das hintere Haus war unverschlossen. Wir betraten den großen, hellen Raum, und ich trug den Koffer zum eisernen Art-déco-Bett, stellte ihn ab und ging zum Schrank, aus dem ich frische Bettwäsche nahm, denn die alte würde muffig riechen nach fast vier Monaten, die sie unbenutzt hier gelegen hatte. Aurélie hatte in der letzten Zeit immer nur gelüftet und alle paar Wochen Staub gesaugt.

Malin sah sich um, drehte sich um die eigene Achse und nahm den Raum in sich auf. Die drei bodentiefen und deckenhohen Fenster, den dunkelroten Terrakottaboden, drei große, quadratische Bilder eines Malers aus Nîmes, der Bonnard verehrte, Schränke von Otto Wagner, Tisch und Stühle von Josef Hoffmann – sie schien zu erkennen, dass es sich um Kostbarkeiten handelte, und sagte, mehr an sich selbst als an mich gerichtet: »Das ist ja unglaublich schön.«

»Ja«, sagte ich und ließ die inzwischen abgezogenen Bett- und Kissenbezüge zu Boden fallen, zog das Leintuch von der Matratze und breitete das frische, leicht nach Lavendel duftende aus. Sie trat zu mir und half beim Feststecken des Leintuchs, dann beim Beziehen der Decke und beider Kissen. Ich bückte mich, nahm die alte Bettwäsche auf und sagte: »Schlaf gut. Willkommen.«

»Nur eine Stunde oder zwei«, sagte sie, »Danke.«

~

Nachdem ich den Kühlschrank und die kleine Speisekammer inspiziert und festgestellt hatte, dass genug da war für ein Essen, ging ich die Briefe auf der Kommode durch, ohne einen davon zu öffnen. Aber ich sortierte sie so, dass der Brief des Notars und der von M. Schneider aus Hamburg ganz oben lagen. Dann setzte ich meine weiße Mütze auf und machte auf dem Vorplatz dort weiter, wo ich aufgehört hatte, fegte den Rest und rupfte danach Löwenzahn und anderes Grünzeug zwischen den Pflastersteinen heraus, bis die Sonne senkrecht stand und ich mich in die Küche zurückzog, wo ich Ordnung machte wie seit Monaten nicht mehr.

Seit Ninas Tod hatte ich zwar das benutzte Geschirr in die Spülmaschine geräumt und Krümel und Flecken oder Spritzer von Tisch, Herd und Arbeitsplatte gewischt, aber leere Flaschen, Verpackungen, ausgespülte Dosen oder Marmeladengläser hatten immer auf Aurélie gewartet, nach deren Besuch die Küche für ein paar Stunden wieder so aussah wie zu Ninas Zeiten.

Aurélie kam immer montags, und ich nutzte die Zeit, in der sie alles im Haus auf den Kopf stellte, um zum Supermarkt zu fahren. Der Kühlschrank war riesig und der Kofferraum des kleinen BMW groß genug für den Einkauf einer ganzen Woche, sodass ich nur einmal täglich am späten Vormittag zum Bäcker fuhr und im Café du Commerce am Cours Voltaire eine Grenadine trank.

Diese tägliche Routine hatte ich in der letzten Zeit immer öfter unterbrochen und mich mit altem Brot zufriedengegeben, das ich anfeuchtete und im Herd aufbuk, aber mich dann jedes Mal schuldig gefühlt, denn die Tour zum Bäcker war früher Ninas Sache gewesen, und ich hatte sie einfach weitergeführt, als wäre das ein Vermächtnis oder nachgetragener Liebesdienst.