Der Attentäter - Clive Cussler - E-Book

Der Attentäter E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

Die Standard Oil Company des mächtigen Millionärs John D. Rockefeller drängt die Konkurrenz mit brutalen Mitteln aus dem Geschäft. Rockefeller wird sogar verdächtigt, einen Auftragsmörder auf seine Gegner angesetzt zu haben. Um seine Weste rein zu waschen, beauftragt er den Privatdetektiv Isaac Bell von der Van Dorn Agency, seine Unschuld zu beweisen. Bell nimmt den Auftrag an – und befindet sich plötzlich selbst im Visier des skrupellosen Meisterschützen.

Die besten historischen Actionromane! Verpassen Sie keinen Fall des brillanten Ermittlers Isaac Bell. Jeder Roman ist einzeln lesbar.

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Seitenzahl: 526

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Autoren

Seit Clive Cussler1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, ist er auch auf der deutschen Spiegel-Bestsellerliste ein Dauergast. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebt in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.

Justin Scottist ein Bestsellerautor von Thrillern, Krimis und historischen Romanen. Er wurde für seine Krimis bereits mehrmals für den renommierten Edgar-Allan-Poe-Preis nominiert. Er lebt mit seiner Frau Amber in Connecticut, USA.

Liste der lieferbaren Isaac-Bell-Romane:

1. Höllenjagd

2. Sabotage

3. Blutnetz

4. Todesrennen

5. Meeresdonner

6. Die Gnadenlosen

7. Unbestechlich

8. Der Attentäter

Clive Cussler& Justin Scott

DER ATTENTÄTER

Ein Isaac-Bell-Roman

Deutsch von Michael Kubiak

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »The Assassin« bei G.P. Putnam’s Sons, New York.
Copyright der Originalausgabe © 2015 by Sandecker, RLLLP By arrangement with Peter Lampack Agency, Inc. 350 Fifth Avenue, Suite 5300 New York, NY 10118 USA Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Blanvalet Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung und -abbildung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com Redaktion: Jörn Rauser HK · Herstellung: sam

PROLOG

1899PENNSYLVANIA

»Ist das ein Zug?«, fragte Spike Hopewell.

»Es sind zwei Züge«, sagte Bill Matters. Das schwere, wasserdampffeuchte Stampfen der 2-8-0-Güterzuglokomotiven der Pennsylvania Railroad war in der stillen Nachtluft meilenweit zu hören. »Sie befinden sich auf der Hauptstrecke, nicht hier auf dem Nebengleis.«

Spike war nervös. Es lockerte seine Zunge und machte ihn gesprächig. »Weißt du, was ich glaube? John D. Rockefeller hat das gesamte Ölgeschäft schon längst an sich gerissen, bevor die meisten Leute geboren wurden.«

»Zur Hölle mit Rockefeller. Zur Hölle mit Standard Oil.«

Bill Matters hatte ihre Achillesferse gefunden. Nach dreißig Jahren Kampf gegen die »Standard«, nach dreißig Jahren Wühlen im Dreck, würde er ihr Pipeline-Monopol endlich brechen.

In dieser Nacht. Unter einem Himmel, silberweiß von Sternen, in einem niedrig gelegenen Heufeld in den Ausläufern der Allegheny Mountains. Bewaldete Berghänge rahmten das Feld ein. Gleise der Pennsylvania Railroad durchschnitten es und überbrückten die Senke in den Bergen auf einem hohen Gerüstpfeilerviadukt, der aus Holz erbaut worden war.

Entgegen seiner besseren Einsicht war Spike Hopewell bereit, den Plan in die Tat umzusetzen. Bill war schon seit jeher für rasende Geistesblitze empfänglich gewesen, die an nackten Wahnsinn grenzten, und es wurde immer schlimmer. Abgesehen davon wusste er: Wenn es darum ging, einen Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, kannte John D. Rockefeller jeden denkbaren Trick, und zwar, weil er ihn selbst erfunden hatte.

»Jetzt!« Bill zog seinen alten Remington Trommelrevolver und feuerte einen Schuss in die Luft.

Peitschen knallten. Maultiere stemmten sich in ihr Zaumzeug. Lastfuhrwerke, besetzt mit Männern und beladen mit Baumaterial, rumpelten über das Feld und bis unter den Viadukt – eine Gitterkonstruktion aus verschraubten Balken, die die Gleise trug und über das tief liegende Gelände hinwegführte.

Rohrleitungen, die Matters und Hopewell bereits verlegt hatten, endeten in den Wäldern an den einander gegenüberliegenden Rändern des Heufelds. Der westliche Strang verlief zweihundert Meilen weit über die Allegheny Mountains bis zu den Ölfeldern Pennsylvanias. Der östliche Strang endete nach einhundertachtzig Meilen in ihrer Raffinerie an der Küste in Constable Hook, New Jersey, wo hochseegängige Tanker ihre Petroleumladungen fassen konnten. Alle dreißig Meilen waren Pumpen und Puffertanks installiert worden, und alles, was jetzt noch zu tun blieb, war, diese offene Lücke auf dem Land, das sie erworben hatten, unter der Eisenbahnstrecke zu schließen.

Spike konnte nicht schweigen. »Weißt du, was der Präsident der Penney meinte? Er hat gesagt: ›Was würde ich mir an Kosten für Lokomotiven und Pullman-Waggons oder an Beschwerden ersparen, wenn ich meine Passagiere verflüssigen und genauso durch die Rohre pumpen könnte wie Sie Ihr Erdöl.‹«

»Ich bin dort gewesen«, sagte Matters. In der Hauptverwaltung der Pennsylvania Railroad hoch oben über der Broad Street Station in Philadelphia, wo sie mit dem Hut in der Hand vorgesprochen hatten, um eine Überführungsgenehmigung zu beantragen. Der Präsident, stinkreicher Eigentümer eines feudalen Anwesens im Main-Line-District der Stadt, hatte die Ölrowdys über seine indigniert gerümpfte Nase hinweg herablassend gemustert.

»Ich beneide Sie, Gentlemen. Ich besäße liebend gern eine Pipeline.«

Wer täte das nicht? Man bräuchte nur Rockefeller zu fragen. Rohöl direkt von der Quelle zur Raffinerie zu pumpen war in jeder Hinsicht besser als der Transport mit der Eisenbahn. Anstatt umständlich und mühsam Fässer, Frachtschiffe und Tankwagen zu be- und entladen, öffnete man einfach ein Ventil. Und das war nur der Anfang. Eine Rohrleitung war außerdem eine Lagerstätte; man konnte Rohöl in den Rohren und Tanks sammeln, bis Lieferengpässe entstanden und der Preis anstieg. Man konnte wie eine Bank Geld verleihen und für den Kredit Zinsen verlangen, die durch das Öl in den Rohrleitungen abgesichert wurden, für dessen Lieferung der Produzent bezahlte. Wenn man eine Pipeline besaß, war das Beste – oder Schlimmste, je nach Geschäftsgebaren –, das man tun konnte, die Frachtraten dergestalt festzulegen, dass man seine Freunde bevorzugte und seine Feinde erpresste. Man konnte sich sogar weigern, egal zu welchem Preis zu verkaufen – was eine Spezialität Rockefellers war, um unabhängige Raffinerien aus dem Feld zu schlagen. Matters’ und Hopewells Raffinerie in Constable Hook lag still und war regelrecht ausgetrocknet, allein weil Standard Oil sich weigerte, Rohöl dorthin zu liefern.

Spike lachte. »Weißt du auch noch, was ich darauf erwidert habe? ›Wir verflüssigen Ihre Passagiere in der Raffinerie, aber dann ist es Ihr Job, sie wieder in einen festen Zustand zu versetzen.‹«

Der Präsident der Eisenbahn hatte für Spikes Scherz nur ein schmales Lächeln übrig und versetzte ihrem Plan, das Gelände zu pachten, den Todesstoß. »Sie können mir gar nicht so viel zahlen, dass ich Ihnen gestatte, mit Ihrer Rohrleitung meine Strecke zu kreuzen.«

»Weshalb nicht?«

»Anweisungen direkt aus der Elften Etage.«

Im Jahr 1899 gab es nur eine einzige »Elfte Etage« in den Vereinigten Staaten von Amerika – Rockefellers Büro in der Hauptverwaltung von Standard Oil im Gebäude Broadway Nr. 26 in New York – und sie war einflussreicher und schlagkräftiger als das Weiße Haus und der Kongress zusammen.

An diesem Tag schlug Bill Matters zurück.

Sechzig Männer, ausgerüstet mit Hacken, Schaufeln, Rohrgreifern und Lagerböcken, stiegen von den Fuhrwerken herab. Im Licht der Sterne gruben sie unter dem Gerüstviadukt eine flache Rinne quer durch das Feld. Mit Rohrgreifern hievten sie zehn Meter lange und zwanzig Zentimeter dicke Stahlrohre von den Fuhrwerken, legten sie auf Rohrböcke auf und schraubten sie zusammen.

Der ferne Eisenbahnlärm, den sie vorher gehört hatten, wurde plötzlich laut.

Matters gewahrte ein Leuchten zwischen den Bäumen und erkannte – jedoch zu spät –, dass er die Position seiner Widersacher falsch eingeschätzt hatte. Sie befanden sich tatsächlich auf dieser Nebenstrecke, nicht weit entfernt, aber sie dampften langsam und leise heran, ein Zug von Norden, einer von Süden.

Die Gräber in der Erdrinne und die Männer, die die Rohrgreifer bedienten, schauten hoch.

Gleißendes Scheinwerferlicht fraß sich durch die Nacht. Die massigen H6-Baldwin-2-8-0-Lokomotiven brachen zwischen den bewaldeten Bergen hervor und rumpelten auf das Viaduktgerüst zu.

»Weiterarbeiten!«, rief Bill Matters. »Das Land gehört uns. Wir haben alle Rechte! Arbeitet weiter!«

Die neunzig Tonnen schweren Zugmaschinen donnerten über ihre Köpfe hinweg und hielten Nase an Nase an, so dass die Kuhfänger sich beinahe berührten, genau über der von Matters und Hopewell soeben verlegten Rohrleitung. Die eine Lokomotive zog einen Flachwagen, dicht besetzt mit Eisenbahnpolizisten, die andere einen Bauzug mit einem Hundert-Tonnen-Kran. Die Eisenbahncops schubsten die Heizer der Lokomotiven vor ihren Feuerkästen beiseite, rissen die Feuerklappen auf und rollten Schläuche ab, die an die Dampfkessel der Loks angeschlossen waren.

Eine riesenhafte Erscheinung stand an der Spitze des Schienenräumzugs. Die grellen Scheinwerfer beleuchteten ein hartes, wutverzerrtes Gesicht und einen massigen Oberkörper mit breitem Brustkorb. Matters erkannte den Mann auf Anhieb. Es war Big Pete Straub, ein hünenhafter Streikbrecher der Standard Oil, mit einem Abzeichen der Firmenpolizei am Revers seiner Weste, einem Revolver in einem Holster an der Hüfte und einem Kreuzhackenstiel in der Faust.

»Werkzeug fallen lassen!«, brüllte Straub zu den Männern auf dem Feld hinunter.

»Hört nicht auf ihn!«, rief Matters. »Weiterarbeiten!«

»Verschwindet!«, brüllte Straub.

»Das Gesetz ist auf unserer Seite! Wir sind im Recht!«

»Gebt’s ihnen, Leute!«

Die Eisenbahnpolizisten schaufelten glühende Kohle aus den Heizöfen und schwenkten zischende Dampfschläuche. Feuer und kochend heißes Wasser regneten auf Matters’ Arbeiter hinab.

»Haltet die Stellung!«

Versengt und verbrüht ergriffen sie die Flucht.

Matters stellte sich dem Ansturm in den Weg. Ließ die Fäuste fliegen und schlug wahllos Helfer nieder, die sich in Sicherheit bringen wollten.

Spike fiel ihm in den Arm. »Sacht, Bill. Lass sie laufen. Sie sind ohne Waffen und hoffnungslos unterlegen.«

Matters brach einem der Gräber die Rippen und schlug einen anderen mit einem einzigen Faustschlag nieder. »Feiglinge!«

Eine brennende Kohle segelte einen Funkenschweif hinter sich herziehend vom Sternenhimmel herab.

Sie setzte Matters’ Jackenärmel in Brand. Kohlenglut rieselte auf seine Wangen. Der Gestank verbrannter Haare drang in seine Nase. Er zog den Remington Colt aus der Jackentasche, rannte zum Viaduktgerüst und schickte sich an hinaufzuklettern.

Spike stürmte auf das Schlachtfeld zurück und bekam im letzten Moment seinen Stiefel zu fassen. »Bist du von Sinnen? Wo willst du hin?«

»Ich bringe Straub um!«

»Er ist zwanzig Jahre jünger als du und hat fünfzig bewaffnete Helfer. Nichts wie weg hier. Hau ab!«

Spike Hopewell war um einiges schwerer als Bill Matters. Er zog ihn vom Gerüst herab.

Feuer und Dampf vertrieben sie von dem Kampfplatz. Bill Matters zielte mit seinem Colt auf Straub. Spike schlug ihm jedoch die Waffe aus der Hand, fischte sie aus dem Morast und steckte sie in seine Jackentasche.

Mit ohnmächtiger Wut verfolgte Matters das Geschehen. Der Hundert-Tonnen-Kran ließ einen Baggereimer herab. Dessen stählernen Zähne bohrten sich wie die Fangzähne eines Tyrannosaurus rex in das frisch ausgehobene Erdreich. Dampf zischte. Die Greifer schlossen sich knirschend. Der Kran krallte Rohre aus der Erde und zerquetschte sie zu einem Bündel verbogenen und geborstenen Stahls.

Ein Paar dünner Lichtfinger tanzte über das sternenhelle Feld. Der County Sheriff näherte sich in einem Pittsburgh Benzinflitzer. Neben ihm saß ein Deputy Sheriff mit furchtsamer Miene.

Bill Matters und Spike Hopewell verlangten Schutz für ihre Arbeiter. Matters erklärte lautstark, dass sie das uneingeschränkte Recht hätten, unter der Eisenbahnstrecke eine eigene Rohrleitung zu verlegen, weil sie den Teil dieser tiefer liegenden Farm, der von den auf einem hohen Gerüstviadukt verlaufenden Schienen überquert wurde, gekauft hätten.

»Die Eisenbahn darf uns nicht den Weg versperren. Wir besitzen dieses Land mit amtlichem Brief und Siegel und können absolut frei darüber verfügen.«

Sie könnten es mit ihrer Urkunde beweisen.

Matters wedelte im matten Schein des Fahrzeugscheinwerfers mit dem Dokument.

Der Sheriff blickte von seinem Platz hinter dem Lenkrad herab. Er antwortete zu schnell, so wie jemand, dem bereits einige Tage zuvor die Lektüre des Schriftstücks befohlen worden war. »In der Urkunde heißt es, die Pennsylvania Railroad habe das alleinige Recht erworben, diese Farm zu überqueren.«

»Das gilt aber nur für das Gleis und den Viadukt.«

»Der Pachtvertrag weist ausdrücklich darauf hin, dass Sie die Bahntrasse nicht beschädigen dürfen.«

»Das tun wir auch nicht. Unser Graben verläuft zwischen den Pfeilern des Viadukts.«

Matters hielt weitere Dokumente ins Licht. Zuerst das Gutachten ihres Ingenieurs! Dann das Schreiben ihres Anwalts, in dem die Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens bestätigt wurde! Und dann auch noch das Gerichtsurteil, das diesen Präzedenzfall betraf.

»Ich bin kein Rechtsgelehrter«, sagte der Sheriff, »aber jeder weiß, dass Mr. Rockefeller großen Einfluss auf die Entscheidungen der Pennsylvania Railroad hat.«

»Aber wir besitzen …«

Der Sheriff lachte. »Was hat Sie auf die Idee gebracht, gegen Standard Oil gewinnen zu können?«

So pechschwarz wie der Himmel über Pittsburgh war Bill Matters’ Verzweiflung.

»Geschäft ist Geschäft«, meinte der Bankier gelangweilt. Zu sehr mit Hypotheken belastet, um eine Pipeline zu bauen, die sie niemals vollenden könnten, mussten sie für Pennys pro Dollar an Standard Oil verkaufen. »Niemand anders wird ein Angebot machen. Ich kann Ihnen nur raten, deren Angebot anzunehmen und damit einigermaßen ungeschoren davonzukommen.«

»Sie haben uns mit einem Trick dazu gebracht, die Rohrleitung für sie zu bauen«, flüsterte Matters.

»Was ist mit Hook?«, fragte Spike.

»Constable Hook?«, fragte der Bankier. »Das ist ein Teil des Pakets.«

»Es ist die modernste Raffinerie der Welt«, sagte Matters.

»Ohne Raffinerie kommt das Geschäft nicht zustande. Ich glaube, Standard Oil hat die Absicht, sie zu vergrößern.«

»Das war unser Plan. Deshalb haben wir den gesamten Hügel und jeden Quadratmeter Küste erworben.«

»Standard ist daran interessiert.«

»Wenigstens halten sich unsere Schulden in Grenzen«, sagte Spike.

»Wir haben gesät«, sagte Matters. »Sie fahren die Ernte ein.«

Das Sprachrohr des Bankiers summte. Er hielt es ans Ohr. Dann erhob er sich hastig. »Mr. Comstock ist da.«

Die Tür sprang auf. Herein kam Averell Comstock, weißhaarig und einer der ersten Partner John D. Rockefellers in den Tagen ihrer ersten Raffinerie in Cleveland. Comstock war ein Mitglied des innersten Kreises des Kartells und gehörte damit zu den wenigen Privilegierten, die von den Zeitungen die Standard Oil Gang genannt wurden.

»Ich darf Sie bitten«, sagte er zu dem Bankier.

Ohne ein Wort verließ der Mann eilig das Büro.

»Mr. Rockefeller hat mich gebeten, Ihnen vorzuschlagen, in die Firma einzutreten.«

»Wie bitte?«, fragte Spike Hopewell und starrte Matters ungläubig an.

Comstock nickte. »Mr. Rockefeller hat den Wunsch, dass Sie die Posten der Kodirektoren des Pipe Line Committee übernehmen.«

Matters wurde bleich vor Zorn. Seine Hände zitterten. Er ballte sie zu Fäusten, aber sie zitterten weiter. »Jetzt sollen wir das Pipeline-Monopol leiten, das wir zuvor brechen wollten? Damit die freien Ölsucher bankrott gehen? Und unabhängige Raffinerien aus dem Geschäft gedrängt werden?«

Der hochgewachsene, selbstsichere Comstock ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und musterte ihn mit kühlem Blick. »Standard Oil lässt sich kein gutes Geschäft entgehen. Wir nutzen jeden Vorteil inklusive – und das ganz ausdrücklich – der cleveren, ehrgeizigen und erfahrenen Ölmänner. Kommen Sie zu uns?«

»Eher würde ich mich mit dem Teufel selbst zusammentun«, sagte Spike Hopewell.

Er stülpte sich den Hut auf den Kopf und stürmte zur Tür hinaus. »Lass uns gehen, Bill. Wir fangen in Kansas von vorn an. Sichern uns die neuen Felder, ehe der Krake auch sie mit seinen langen Armen umschlingt.«

Bill Matters kehrte nach Oil City in Pennsylvania zurück.

Sein bescheidenes dreistöckiges Haus stand in einer mit Bäumen gesäumten Straße Seite an Seite mit ähnlichen Häusern mit reich verzierten Stuckfassaden und Schindeldächern, erbaut von Unabhängigen wie ihm, die während des frühen »Öl-Fiebers« zu Wohlstand gelangt waren, Jahre bevor Standard alles erdrückt hatte. Der Rollschreibtisch, den er als Büro verwendete, teilte sich das Hinterstübchen im Parterre mit den Büchern und Spieltheatern seiner Töchter.

Die Pappmodelle Londoner und New Yorker Bühnen, mit denen seine Töchter lieber spielten als mit Puppenstuben, besetzten jede glatte Abstellfläche. Als farbenfrohe Miniatur ließ sich Julia von Romeo auf ihrem Balkon anhimmeln. Hamlet wandelte mit dem Geist seines Vaters über die Brustwehr. Richard III. überreichte Mördern das Todesurteil.

Als Nellie und Edna ihn dort fanden, hatte er Tränen in den Augen. Im Arm hielt er den Remington Revolver, den er einem Bürgerkriegsveteranen abgekauft hatte. Der »treue Freund« hatte erfolgreich Schießereien mit Gewerkschaftlern ausgefochten, die sich nachts zusammengerottet hatten, um seine erste Pipeline zu zerstören – eine vier Meilen lange Leitung nach Oil Creek –, die ihre Tankwagen arbeitslos gemacht hatte.

Die beiden jungen Frauen reagierten gleichzeitig.

Nellie schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn auf die Wange. Edna wand ihm den Revolver aus den Händen. Er wehrte sich nicht. Lieber würde er sterben, als zuzulassen, dass eine von ihnen zu Schaden kam. Edna, seine adoptierte Stieftochter und Jungreporterin für den Oil City Derrick, die eben erst das Allegheny College abgeschlossen hatte, war die ruhigere der beiden. Die jüngere, extrovertiertere Nellie übernahm gewöhnlich die Rolle der Sprecherin. So auch jetzt, wobei sie eine tiefe Sorge mit launiger Neckerei kaschierte.

»Wen wolltest du denn erschießen, Vater?«, fragte sie in strengem Tonfall. »Hast du etwa einen Einbrecher auf frischer Tat ertappt?«

»Ich war so dicht davor«, murmelte er. »So dicht.«

»Das nächste Mal machst du es besser.«

Matters hob den Kopf und richtete den Blick auf die schlanken jungen Frauen, die ihn mit wachen Augen prüfend musterten. Die Halbschwestern sahen beinahe gleich aus, da sie beide das seidige, kastanienbraune Haar ihrer Mutter und auch ihre ebenmäßigen Gesichtszüge geerbt hatten. Aber damit endete die Ähnlichkeit dann auch. Die eine war ein offenes Buch, die andere eins mit sieben Siegeln.

»Wisst ihr, was Rockefeller getan hat?«, fragte er.

»Wenn er im Fluss ertrunken ist, finden sie seine Leiche irgendwo stromaufwärts«, sagte Edna. »JDR ist für wirklich jede Überraschung gut.«

»Ich wünschte, er wäre im Fluss ertrunken«, sagte Nellie.

»Ich auch«, bestätigte Matters. »Mehr als je zuvor.« Er erzählte ihnen von Rockefellers Angebot, zu Standard Oil zu kommen. »Ausgerechnet als Chef des Pipe Line Committee.«

Nellie und Edna betrachteten die Pistole, die Edna noch immer in der Hand hielt. Dann sahen sie einander an. Sie hatten schreckliche Angst, dass er sich erschoss. Aber würde es ihn nicht ebenfalls umbringen, wenn er seinen lebenslangen Kampf um Unabhängigkeit aufgab? Nur viel langsamer, qualvoller?

»Vielleicht solltest lieber du den Revolver nehmen«, sagte Nellie.

»Vater ist besser als das«, sagte Edna.

Sein tränenverschleierter Blick wanderte von ihren Gesichtern zu den Modelltheatern und blieb schließlich an der Waffe hängen. Edna drückte sie stärker an sich. Ein seltsames Lächeln glitt über Matters’ von Qual verzerrtes Gesicht. »Vielleicht kann ich etwas Besseres tun als das.«

»Das kannst du«, antworteten sie im Chor. »Das kannst du ganz gewiss.«

Ihre hilflosen Mienen zerrissen ihm das Herz. »Geht«, sagte er. »Lasst mich allein. Nehmt die Pistole mit. Beruhigt euch und vergesst die albernen Gedanken.«

»Bist du sicher, dass alles okay ist?«

»Lasst mir Zeit bis morgen, um mich daran zu gewöhnen, dass ich immer wieder besiegt werde.«

Er geleitete sie nach draußen und schloss die Tür. Wilde Gedanken rasten durch seinen Kopf. Er konnte nicht still sitzen. Vater fällt Besseres ein als das?

Er ging durch sein Büro und sah sich um. Ab und zu blieb er stehen, um in eins der Puppentheater zu blicken. Zwei Mal im Jahr unternahm er mit den Mädchen eine Eisenbahnfahrt nach New York, um Theateraufführungen mit ihnen zu besuchen. Und nachdem die Schlittschuhbahn von Oil City in ein Opernhaus umgewandelt worden war, nahmen sie an jedem Gastspiel der umherziehenden Wandertheater teil. Vor allem Shakespeare hatte es ihnen angetan. Die berühmte Balkonszene mit Romeo und Julia. Hamlet, der dem Geist seines Vaters verspricht, ihn zu rächen. Richard III., der seinen Gefolgsleuten Mordaufträge erteilt. Heimliche Versprechen. Heimliche Rache. Heimliche Komplotte.

Konnte er klein beigeben und Rockefellers Einladung, für den Trust zu arbeiten, annehmen?

Oder konnte er so tun, als gäbe er klein bei?

Was meinst du dazu, Hamlet? Triff eine Entscheidung. Willst du Rache? Oder willst du mehr? Mit einem Zehntel des kolossalen Profits von Standard Oil wäre er einer der reichsten Männer Amerikas. Na und? Mehr als sich satt essen konnte er nicht. Und gleichzeitig in mehr als einem Bett schlafen auch nicht.

Ein Zehntel der Macht von Standard Oil würde ihn zum König krönen.

Was meinst du, Richard? Wie viele Intrigen hast du gesponnen? Welche finsteren Pläne verfolgst du?

Sogar Richard war überrascht, wie blind seine Feinde waren.

Matters berechnete seine Chancen, indem er die Schwächen seines Gegners auflistete.

Das allmächtige Monopol war wie ein erstklassiges Pferdegespann. Aber aus Bill Matters’ klarem und bitterem Auge betrachtet, trugen diese Pferde Scheuklappen, wurden gebremst und verfolgt: gebremst durch ihre Furcht vor Veränderungen; verfolgt vom Justizministerium und progressiven Kräften, die entschlossen waren, ihr Monopol zu brechen, und geblendet vom Standard-Oil-eigenen Geheimhaltungsdrang.

Könnten sie ebenso wie Romeo und Julia durch die unheilvolle Verkettung von Geheimnissen ausgeschaltet werden?

Die zum System erhobene Heimlichtuerei von Standard, die geheimen Kartelle und versteckten Tochtergesellschaften, die den Konzern vor der Neugier der Öffentlichkeit schützten, waren ein fruchtbarer Nährboden für fragwürdige Machenschaften. Bei den wenigen Gelegenheiten, da er in die Büros von Standard Oil zitiert worden war, war stets darauf geachtet worden, dass er niemals einen anderen Besucher zu Gesicht bekam. Wer weiß, welche privaten Geschäfte im Zimmer nebenan abgeschlossen wurden?

Richard hätte es in der Hand, Standard zu besiegen. Er wäre der sprichwörtliche »Sand im Getriebe«, der den Apparat zum Stillstand bringen könnte.

Aber wo waren seine Verbündeten? Wer würde ihn unterstützen? Auf wen könnte er zählen? Spike wäre keinen Penny wert. Sein alter Partner war jemand, der sofort die Fäuste fliegen ließ, aber doch kein zuverlässiger Mitverschworener, und außerdem hatte er ein viel zu sonniges Gemüt, um jemanden zu töten, falls es sich als notwendig erweisen sollte. Er dagegen brauchte Helfer, die eiskalt waren.

BUCH EINS GEWEHRKUGELN

SECHS JAHRE SPÄTERKANSAS

1

Ein hochgewachsener Mann mit vollem goldblondem Haar, einem buschigen Schnurrbart und strahlend blauen Augen stieg im Union Depot aus einem zuschlagpflichtigen Expresszug und eilte zum vorderen Zugende, um sein Locomobile aus dem Gepäckwagen zu holen. Er scherzte mit den Angehörigen des Frachtpersonals, die sein großes rotes Automobil die Rampe hinunterbugsierten, klagte darüber, dass Mike Grady, First Baseman von Kansas City, zu den St. Louis Cardinals abgewandert war, und bedankte sich mit einem fürstlichen Trinkgeld, als sein Wagen startbereit auf dem Bahnsteig stand.

Ob sie ihm vielleicht auch noch erklären könnten, wie er schnellstens zur Raffinerie der Standard Oil in Sugar Creek kommen könnte?

Der Wegbeschreibung folgend, verließ er das heruntergekommene, mit Saloons gesäumte Bahnhofsviertel, als er in einer engen Seitenstraße plötzlich von zwei Fuhrwerken eingekeilt wurde. Zwei Männer, deren äußere Erscheinung eher auf Preisboxer als auf Gewerkschaftsmitglieder schließen ließ, sprangen von den Kutschböcken herab. Ein breitschultriger Riese kam in drohender Haltung auf ihn zu, und er erkannte Big Pete Straub, den er in St. Louis schon in den Zug hatte einsteigen sehen.

Straub ließ eine Dienstmarke aufblitzen.

»Standard Oil Refinery Police. Sind Sie Isaac Bell?«

Bell schwang sich aus seinem Automobil. Er war so groß wie Straub, deutlich über eins achtzig, aber mit knapp neunzig Kilo neben Straub geradezu gertenschlank. Sein hocherhobener Kopf und der ruhige, prüfende Blick signalisierten, dass er sich durch nichts und niemanden daran hindern lassen würde, sein Leben in vollen Zügen zu genießen.

Straub schätzte sein Alter auf Anfang dreißig. »Kehren Sie lieber dorthin zurück, woher Sie gekommen sind.«

»Weshalb?«, fragte Bell lässig und ohne ein Anzeichen von Nervosität.

»Weil es in Kansas nichts gibt, das für Sie von Interesse sein könnte. Wir feuern jeden, der mit Ihnen redet, und das wissen die Leute.«

»Machen Sie Platz«, verlangte Bell.

Die Antwort war ein Schwinger, der auf sein Gesicht zielte.

Er lenkte den Treffer jedoch mit der Schulter ab, machte einen Schritt auf seinen Gegner zu, versenkte nacheinander die linke und die rechte Faust in dessen Magengrube und wich genauso schnell wieder zurück. Der Werkspolizist krümmte sich.

»Macht ihn fertig!« Straubs Männer griffen an.

Blitzartig erschien eine automatische Pistole mit riesiger Mündung in Bells Faust. »Schafft den Wagen aus dem Weg!«

Auf dem Güterbahnhof konnte man Benzin tanken. In einem Eisenwarenladen fand er Ersatzrohre und Reservereifen, ein Abschleppseil, Kanister für Wasser, Schmieröl und Reservebenzin sowie eine Bettrolle und ein Winchester Repetiergewehr in einer Ledertasche, die er auf dem Beifahrersitz festschnallte.

An einem Metzgerladen hielt er an und kaufte ein Rindersteak, das er, wenn er eine nächtliche Rast einlegte, über einem Lagerfeuer grillen konnte, und außerdem ein größeres Stück Schinken, Kaffeebohnen und Brot für das morgendliche Frühstück. Im Stadtzentrum von Kansas City wimmelte es von Straßenbahnen, Lastwagen und Pferdekutschen sowie von einer fast unüberschaubaren Anzahl an hochmodernen mit Dampf, elektrischem Strom und Benzin betriebenen Automobilen. Nachdem er sich durch den dichten Verkehr gekämpft und die Randbezirke der Stadt hinter sich gelassen hatte, überquerte er die Staatsgrenze nach Kansas, öffnete die Motordrossel und die Abgasklappen des Locomobile und donnerte in die Prärie.

2

Keine Liebkosung war sanfter, kein Kuss zärtlicher als der Finger des Attentäters am Abzug.

Von einem erstklassigen Waffenschmied angefertigt und maschinell auf perfektes Gleichgewicht getrimmt, belohnte das Savage 99-Unterhebelrepetiergewehr eine derartig fein aufeinander abgestimmte Einheit von Fleisch und Stahl mit absolut tödlicher Zielgenauigkeit. Ein Druck, so sacht wie ein flacher Atemzug, zündete die rauchlose, maßgefertigte und mit sorgfältig berechneter Pulvermenge geladene Hochgeschwindigkeitspatrone, die sich in der Kammer befand. Das Zielfernrohr war das feinste Warner-&-Swasey-Modell, das man kaufen konnte. Spike Hopewell erschien darin groß und zum Greifen nahe.

Spike ging hinter der Brüstung auf einem knapp dreißig Meter hohen Bohrturm auf und ab, der am Rand einer Ansammlung von etwa einhundert ähnlichen Türmen stand, die von freien, auf eigene Rechnung arbeitenden Ölsuchern betrieben wurden. Sie überragten die Überreste eines kleinen Dorfs an einer Straßenkreuzung in Kansas, vierzig Meilen nördlich des Indian Territory. Seitdem er auf Öl gestoßen war, hatte eine Schar Neuankömmlinge, die die Aussicht auf Reichtum hierhergelockt hatte, den Ort in Hopewell Field umbenannt.

Häuser, Stallungen, Holzzäune und Grabsteine auf dem Friedhof neben der Kirche erschienen mit braunen Flecken von Ölfontänen übersät, die von den Winden verweht worden waren. Rohöltanks – stählerne, mit Abdeckungen aus Holz versehene Behälter mit einem Durchmesser von fast dreißig Metern und knapp zehn Meter hoch – waren bis zum Rand gefüllt. Rohrleitungen verbanden die Tanks mit einer modernen Raffinerie, in der zweihundert Barrel fassende Destillierkessel, umwickelt mit einem dichten Geflecht aus Kühlschlangen, auf gemauerten Öfen standen. Ihre Schornsteine pumpten dichte Rauchsäulen in den Himmel.

Dicht daneben war aus Baracken und Buden eine Boomtown aus dem Boden gestampft worden, um die Ölarbeiter zu verpflegen und ihnen den Feierabend zu verschönen. Die Ansammlung von Gebäuden war auf den Namen Hope-Hell getauft worden. Die Arbeiter schliefen in einer eigenen Zeltstadt. Genauso wie in Wichita und Kansas City missachteten die Saloons das gesetzliche Alkoholverbot. Untergebracht in ausrangierten geschlossenen Güterwagen, bestand für sie nur eine geringe Gefahr, dass sie von der Carrie Nation heimgesucht würden, die ihr Alkohol vernichtendes Beil schwang. Hinter ihnen warben rote Eisenbahnlaternen für Bordelle.

Eisenbahngleise führten an der geschäftigen Ansiedlung vorbei. Aber bis zur nächsten Stadt mit einem Bahnhof waren es noch zehn Meilen. Investoren verkauften Aktien, um den Bau einer elektrischen Straßenbahn zu finanzieren.

Die Raffinerie stank nach Benzin.

Der Attentäter konnte es siebenhundert Meter entfernt riechen.

Ein feuerrotes Locomobile raste über die Kansas-Prärie und ließ eine mächtige Staubwolke aufblühen.

Spike Hopewell sah es näher kommen, und sein Gesicht verzog sich trotz der Sorgen, die ihn plagten, zu einem breiten Grinsen. Das Automobil und der Geschwindigkeitsfanatiker, der wie ein Wirbelwind durch die Landschaft tobte, waren der lebendige Beweis dafür, dass Benzin – einst ein für seine Unreinheit berüchtigtes Raffinerieprodukt, das häufig Petroleumlampen in den Haushalten seiner unglücklichen Benutzer explodieren ließ – der Treibstoff der Zukunft war.

Seine brandneue Raffinerie stellte Unmengen von dem Stoff her und holte sechzig Liter Benzin aus jedem Barrel Kansas-Rohöl heraus. Einhundertneunzigtausend Liter waren es bereits, und sie hatte soeben erst den Betrieb aufgenommen. Wenn er das Benzin nur auf den Markt bringen könnte.

Der Attentäter wartete darauf, dass ein Windhauch den Qualm vertrieb.

Bei großen Entfernungen durfte man den Wind nicht ignorieren. Man musste genau berechnen, wie weit er eine Kugel ablenkte, und in seinen Berechnungen musste man außerdem berücksichtigen, dass die Wucht und damit auch die Durchschlagskraft abnahm und die Wirkung der Schwerkraft mit wachsender Entfernung zunahm. Man konnte jedoch nicht auf etwas schießen, das nicht zu sehen war. Der alte Ölsucher war eine undeutliche Erscheinung im Zielfernrohr, verhüllt von dem Rauch, der in dichten und schwarzen Wolken von hundert Dampfmaschinen und Raffinerieöfen aufstieg.

Hopewell unterbrach seine Wanderung, legte die Hände aufs Geländer und blickte auf etwas, das offenbar seine Aufmerksamkeit fesselte.

Ein leichter Wind erhob sich. Die Rauchwolke löste sich darin auf.

Sein Kopf erschien kristallklar im Zielfernrohr.

In Anatomie geschult, stellte sich der Attentäter Knochen und Bindegewebe aus Sehnen und Muskeln und Nerven unter der Haut seines Zielobjekts vor. Der Hirnstamm war zweieinhalb Zentimeter breit. Diesen zu durchtrennen würde einen Mann fällen wie einen Baum.

Spike Hopewell bewegte sich abrupt. Er wandte sich zu der Leiter um, die von der Bohrturmplattform nach oben führte. Der Attentäter griff wieder zu seinem Fernglas, um den unerwarteten Besucher im weiteren Gesichtsfeld des Feldstechers zu inspizieren.

Ein Mann in einem weißen Anzug überwand die letzte Sprosse der Leiter. Der Attentäter erkannte die geschmeidige, lässige, aber auch verhaltene Eleganz, die sonst eher einem Raubtier eigen war – einem ebenbürtigen Raubtier. Und jeder Nerv schaltete schlagartig in höchste Alarmbereitschaft um.

Instinkt, Logik und gesunder Menschenverstand waren perfekt miteinander im Einklang. Schalte zuerst die Bedrohung aus.

Sein Stolz revoltierte. Niemand – niemand! – stört meine Kreise. Ich erschieße, wen ich will und wann ich will.

Isaac Bell schwang sich auf den schmalen Laufgang, der die Spitze des Bohrturms wie ein Ring umgab, und stellte sich Spike Hopewell mit einem einnehmenden Lächeln und einem kräftigen Händedruck vor.

»Bell. Van Dorn Detective Agency.«

Spike grinste. »Ein Privatermittler in einem roten Locomobile? Ich dachte, Sie kämen von der Feuerwehr.«

Isaac Bell war der forsche unabhängige Ölsucher auf Anhieb sympathisch. Nach allem, was er gehört hatte, musste der Mann so offenherzig wie kampflustig sein. Mit einem wissenden Blick auf die Ursache von Spikes Problemen – einen riesigen Lagertank voll Benzin, fünfundzwanzig Meter breit und zehn Meter hoch, am anderen Ende des Raffineriegeländes – verzog Bell keine Miene, als er auf die Bemerkung des Ölmannes erwiderte:

»Nachdem ich ermittelt habe, dass Sie nur so in Benzin schwimmen, habe ich mein Pferd gegen ein Automobil eingetauscht.«

Hopewell lachte. »Jetzt haben Sie mich aber erwischt. Es ist das größte Überangebot, seit das Automobil erfunden wurde … Was führt Sie hierher, mein Sohn? Was wünschen Sie?«

Bell antwortete: »Die Corporations Commission der Regierung hat Standard Oil wegen eines Verstoßes gegen den Sherman Anti-Trust Act aufs Korn genommen.«

»Ach nee«, meinte Hopewell gar nicht mehr so freundlich.

»Die Commission hat die Van Dorn Agency engagiert, um Beweise dafür zu sammeln, dass Standard ihre Konkurrenten mit unlauteren Methoden aus dem Markt drängt.«

»Was hat das mit mir zu tun?«

»Fünfzigtausend Gallonen Benzin, die Sie nicht zu Ihren Kunden transportieren können, sind genau jene Art von Beweis, die ich suche.«

»Das Benzin befindet sich in diesem Tank dort drüben. Sehen Sie es sich an, solange Sie wollen.«

»Können Sie mir erklären, wie es zu dieser Schwemme kam?«

»Nee. Und ich werde mich auch weiterhin nicht dazu äußern.«

Isaac Bell hatte mit Widerstand gerechnet. Hopewell eilte der Ruf voraus, streitbar wie ein Kampfhahn und rauflustig wie ein einäugiger Straßenkater zu sein. Aber der Erfolg der Van-Dorn-Ermittlungen hing davon ab, wie weit man die freien Produzenten überreden konnte, den Mund aufzumachen, und zwar sowohl vertraulich als auch in Form öffentlicher Erklärungen. Nur wenige Ölproduzenten hatten mehr Erfahrung im Kampf gegen das Monopol.

Das Alter hatte seinen Unternehmungsgeist nicht im Mindesten gebremst. Anstatt abzukassieren und sich zur Ruhe zu setzen, als er in Kansas auf ein riesiges Ölfeld gestoßen war, hatte Spike Hopewell direkt neben dem Feld eine moderne Raffinerie erbaut, um Rohöl für die anderen unabhängigen Ölsucher zu verarbeiten. Nun führte er den Kampf seines Lebens, um eine Pipeline zur Küste zu verlegen, durch die ihr Petroleum und ihr Benzin zu den Tankdampfern in Port Arthur, Texas, transportiert werden könnte.

Standard Oil kämpfte mindestens ebenso hartnäckig, um ihn daran zu hindern.

»Sie wollen nicht aussagen? Standard hat ein ganzes Heer von Anwälten aufmarschieren lassen, um Ihnen den Weg zum Golf von Mexiko zu versperren.«

Hopewell war kein Anfänger, wenn es darum ging, seine Position wirkungsvoll zu vertreten. »Ich wehre mich im Parlament gegen sie. Die Abgeordneten in Topeka wissen verdammt genau, dass die Ölproduzenten und Raffinerien in Kansas so gut wie tot sind, wenn ich es nicht schaffe, ihre Ware auf den europäischen Markt zu bringen, den Standard Oil zur Abwechslung mal nicht kontrolliert.«

»Ist das der Grund, weshalb die Eisenbahn Ihr Nebengleis abgetrennt hat?«

Auf dem Nebengleis der Raffinerie standen keine Tankwagen. Eine einsame 0-6-0-Rangierlok war zwar unter Dampf, hatte jedoch nichts anderes zu tun, als die verschiedenen Bereiche der Raffinerie mit Material zu versorgen. Eine Viertelmeile brach liegendes Land, bewachsen mit Gras und Salbeisträuchern, trennte Hopewells Fabrikgleise von der Hauptstrecke nach Kansas City. Der Gleiskörper war planiert, das Schotterbett bereits gefüllt, und die Telegrafenleitung spannte sich von Mast zu Mast. Aber das Verbindungsgleis für die Waggonladungen Baumaterial, die der Fertigstellung der Raffinerie dienen sollten, war aus dem Erdreich gerissen worden. Weichen, Schienen und Schwellen waren auf dem Gelände verstreut worden, als hätten zornige Riesen alles in Stücke geschlagen.

Hopewell sagte: »Meine Anwälte haben gerade eben eine Einstweilige Verfügung erwirkt, in der die Eisenbahn dazu verdonnert wurde, mich wieder an die Hauptstrecke anzuschließen.«

»Damit haben Sie aber einen Sieg errungen, der eigentlich nichts wert ist. Standard Oil hat jeden Kesselwagen in der Region blockiert. Die Kartell-Kommission möchte wissen, wie das geschehen konnte.«

»Bestellen Sie der Kommission, sie solle sich darüber mit der Eisenbahngesellschaft unterhalten.«

Die Augen des Detektivs funkelten eisig. Sein Lächeln erkaltete. Leisetreterei brachte ihn hier nicht weiter. »Andere Van-Dorn-Agenten haben die Eisenbahn bereits im Visier. Ich möchte wissen, wie Standard Ihre Pipeline gesperrt hat.«

»Ich hab’s doch bereits gesagt, mein Sohn, dazu äußere ich mich nicht.«

»Ohne Pipeline«, entgegnete Bell, »und ohne Eisenbahngleis, um Ihre Ware zum Kunden zu transportieren, sind Ihre Quellen und Ihre Raffinerie wertlos. Alles, was Sie hier aufgebaut haben, wäre für die Katz.«

»Ich war schon einmal pleite – lange bevor Sie geboren wurden, Sonny –, aber diesmal hab ich vielleicht noch ein Ass im Ärmel.«

»Sollten Sie Angst haben«, sagte Bell, »wird die Van Dorn Agency Sie beschützen.«

Spikes Miene hellte sich ein wenig auf. »Vielen Dank für das Angebot, Mr. Bell. Und ich bezweifle auch gar nicht, dass Sie im Ernstfall eine echte Hilfe wären.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf das Locomobile fünfundzwanzig Meter unter ihnen am Fuß des Bohrturms. »Dass Sie daran gedacht haben, für Ihre Überlandfahrt ein Abschleppseil einzupacken, sagt mir, dass Sie ein vorausschauender Mann sind.«

»Und genügend Ersatzteile, um einen neuen Wagen zu bauen, der den alten aus jedem Graben ziehen kann.« Bell erwiderte das Lächeln und dachte, dass sie am Ende doch noch miteinander ins Gespräch kamen.

»Aber Sie unterschätzen Standard Oil. Sie beseitigen die Konkurrenz nicht durch Mord.«

»Sie unterschätzen die Gefahr.«

»Sie brauchen uns nicht zu töten. Sie haben es doch selbst gesagt. Die haben Lobbyisten, die die Gesetzgebung zu unserem Nachteil beeinflussen, und sie haben Anwälte, die uns vor Gericht vernichten.«

»Kennen Sie Big Pete Straub?«, fragte Bell und beobachtete Hopewells Reaktion.

»Pete Straub ist Angestellter des Industrie-Service von Standard Oil. So nennen sie ihre Werkspolizei, ihre Streikbrecher und Werksspione. Er hat meine Pipeline in Pennsylvania zerstört.«

»Ich habe Straub erst gestern in Kansas City getroffen.«

Der ältere Mann zuckte die Achseln, als ob ihm dies nicht die geringste Sorge bereitete. »Standard Oil hat kein Monopol auf private Polizei und Streikbrecher. Big Pete kämpft in Kohlebergwerken, bei den Eisenbahnlinien und in Stahlwerken gegen die Gewerkschaften. Sie werden es kaum glauben, aber er ist unterwegs nach Colorado, um sich mit der Bergarbeitergewerkschaft anzulegen. Verdammt, Rockefeller gehören da draußen die meisten Bergwerke.«

»Er ist jetzt aber nicht in Colorado. Er ist in Kansas. Als Straub das letzte Mal in Kansas war, wurden Inhaber unabhängiger Raffinerien in Fort Scott und Coffeyville tot aufgefunden.«

»Unfälle«, sagte Spike Hopewell verächtlich. »Reed Riggs ist unter eine Lokomotive geraten – stockbesoffen, wie üblich –, und der arme Albert Hill hatte einen Dissolver repariert, als er in einen Destillationskessel stürzte.« Hopewell sah Bell herausfordernd an. »Wissen Sie, was ein Dissolver ist, Mr. Detective?«

»Der Dissolver versetzt Naphtha-Destillat mit Schwefelsäure, wäscht anschließend die Säure mit Wasser heraus, neutralisiert es mit Natronlauge und trennt es vom Wasser.«

Hopewell nickte. »Offenbar haben Sie Ihre Hausaufgaben gemacht. In diesem Fall wissen Sie sicherlich auch, dass die Dämpfe einen benommen machen, wenn man nicht vorsichtig ist. Was Albert eigentlich nie war.«

»Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, dass beides Unfälle waren.«

»Ich bin mir vollkommen sicher«, erwiderte Hopewell.

Plötzlich fixierte Bell ihn eindringlich. »Wenn Sie keine Angst haben, weshalb wollen Sie dann nicht aussagen?«

Hopewell verschränkte seine muskulösen Arme vor der Brust. »Petzen liegt mir nicht.«

»Petzen? Ich bitte Sie, Spike, wir sind doch keine Schuljungen. Ihr Betrieb ist in Gefahr, also alles, was Sie aufgebaut haben, und vielleicht sogar Ihr Leben.«

»Ihre Kommission wird Jahre brauchen, falls sie es überhaupt jemals schafft, auch nur das Geringste zu ändern«, hielt Spike ihm entgegen. »Aber die Leute in Kansas sind in diesem Augenblick zum Kampf bereit. Wir besiegen Standard Oil im Parlament – verbieten per Gesetz Preisnachlässe und garantieren gleiche Transportraten für alle. Und wenn es Standard Oil nicht gefällt, baut Kansas seine eigene Raffinerie – oder noch besser«, fügte er mit einem rauen Lachen hinzu, »kauft mir meine ab, so dass ich mich auf den Bau meiner Pipeline konzentrieren kann.«

Isaac Bell fand, dass das Lachen hohl klang. Spike Hopewell war sich seines Erfolgs keinesfalls so sicher, wie er vorgab.

Konnte man einen Mann auf siebenhundert Meter mit einem einzigen Schuss in den Hals töten?

Das sollten Sie den Gewinner der Goldmedaille des President’s Rifle Match von 1902 fragen.

Konnte man den Mann überhaupt in einer Entfernung von einer Drittelmeile sehen?

Dazu sollten Sie den von Theodore Roosevelt unterzeichneten Empfehlungsbrief lesen, in dem TR, der Held von San Juan Hill, dem Scharfschützen seinen Respekt ausdrückte, der das President’s Match um die Military Rifle Championship der Vereinigten Staaten gewonnen hatte.

Sie glauben mir nicht?

Dort können Sie nachlesen, dass er sogar auf eintausend Meter mehrmals ins Schwarze getroffen hat.

Hatte Präsident Roosevelt Bravo! gerufen, als sich der Meisterschütze auf Französisch empfahl?, dachte der Attentäter.

Aber wer hätte den Mut gehabt, Teddy zu berichten, dass der gefährlichste Scharfschütze der Armee desertiert war?

»Mr. Hopewell«, sagte Isaac Bell, »wenn ich Sie nicht überreden kann, für sich und Ihre unabhängigen Mitbewerber das Richtige zu tun, würden Sie mir dann wenigstens einige Fragen über einen Ihrer ehemaligen Partner beantworten?«

»Bill Matters.«

»Woher wussten Sie, dass ich Matters meine? Sie hatten doch viele Partner, sei es bei der Ölsuche, bei der Planung der Pipeline oder beim Bau der Raffinerie.« Bell nannte drei Namen.

Hopewell antwortete langsam und mit sorgfältig gewählten Worten, als spräche er mit einem geistig zurückgebliebenen Kind. »Die Kommission, die Ihre Detektei engagiert hat, durchleuchtet Standard Oil. Bill ist zu Standard gegangen. Er geht mit der Firmenleitung zum Lunch. Und dort, beim Lunch, Mr. Anti-Trust Corporations Commission Detective, hecken sie ihre Strategien aus.«

Bell nickte und ermutigte Hopewell weiterzusprechen, nachdem er ihn offenbar in Fahrt gebracht hatte. Seine bisherigen Ermittlungen hatten ihm einen Eindruck davon verschafft, wie ein riesiger Konzern die Vorstellungskraft anheizte und die Fantasie beflügelte. Standard Oil hatte bereits eine beherrschende Position eingenommen, bevor die meisten Leute geboren waren. So erschien es völlig natürlich, dass man dieser Firma mystische Kräfte zuschrieb.

»Hat Sie das überrascht?«

»Nicht, nachdem ich eingehender darüber nachgedacht habe. Standard hat ein gutes Gespür für Profite und Vorteile. Es betrifft Öl, Grundbesitz, Technik und Menschen. Standard sichert sich in jedem Bereich das Beste und ist bereit, entsprechend dafür zu bezahlen. Und Matters war auf seinem Gebiet der Beste.«

»Ich meinte, waren Sie überrascht, als Matters die Seiten wechselte?«

Spike Hopewell hob den Kopf und schaute Bell direkt in die Augen. Dann überraschte er den Detektiv mit seinem Tonfall – der sanft war, voller Gefühl. »Sie haben die Namen einiger meiner Partner genannt. Aber mit Bill und mir, das war etwas vollkommen anderes. Wir hatten zusammen angefangen. Wir haben gekämpft, Seite an Seite, und haben gesiegt. Wir hatten die gleichen Ziele und wussten jedes Mal vorher, was der andere gerade dachte. Wenn Sie fragen, ob ich überrascht war, dass Bill zu Standard ging, dann lautet meine Antwort, dass ich es so lange gewesen bin, bis ich darüber nachdachte. Wissen Sie, Bill war nicht mehr der Alte, nachdem er seinen Jungen verloren hatte.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Bell. »Welchen Jungen? Mir wurde erzählt, er habe Töchter.«

»Der arme kleine Knirps lief von zu Hause weg. Bill hat nie wieder von ihm gehört.«

»Weshalb sagen Sie ›armer kleiner Knirps‹? War er ein unglückliches Kind?«

»Nein, nein, nein. Er war ein fröhlicher kleiner Bursche, hat immer gelacht. Ich hätte niemals angenommen, dass er unglücklich ist. Aber von einem Tag auf den anderen – peng – war er weg: Bill ist nie darüber hinweggekommen.«

»Wann ist er denn verschwunden?«

»Es muss vor sieben oder acht Jahren passiert sein.«

»Ehe Bill zu Standard Oil ging?«

»Lange davor. Und wenn ich zurückblicke, wird mir klar, dass ihn das Verschwinden des Jungen gebrochen hat. Er war nicht mehr der Alte. Er war härter geworden. Hart wie Diamant – nicht dass wir Chorknaben gewesen wären. Chorknaben halten sich nicht lange im Ölgeschäft. Aber irgendwann in dieser Zeit haben sich seine moralischen Wertvorstellungen verändert, und danach …«

Hopewell verstummte abrupt. Er blickte an Bell vorbei auf den Benzintank. Er mahlte mit den Zähnen, seine Kaumuskeln zuckten. Es schien, dachte Bell, als denke er noch einmal darüber nach.

»Aber wenn Sie das Ölgeschäft verstehen wollen, Mr. Detective, dann sollten Sie sich klarmachen, dass Bill Matters nicht der Erste war, der vor Standard Oil kapituliert hat. Die Hälfte der Männer im New Yorker Büro wurde von Rockefeller vernichtet, ehe er sie überhaupt anheuerte. John D. Rockefeller ist der Teufel, hinter dem Sie her sein sollten.«

»Und wenn ich Ihnen verrate, dass ich überzeugt bin, über einen dieser neuen Männer wie Bill Matters an ihn heranzukommen?«

»Dann würde ich Ihnen entgegnen, dass niemand, der halbwegs bei Vernunft ist, die Hand beißt, die ihn füttert, so wie er es mit Bill Matters tut.«

»Hätten Sie die Seiten gewechselt, wenn Standard es Ihnen angeboten hätte?«

Der Ölmann richtete sich kerzengerade auf und starrte Isaac Bell an. »Sie haben mich gefragt. Sie haben mir das Gleiche angeboten wie Bill.«

»Offensichtlich haben Sie abgelehnt. Aber – hatten Sie es ernsthaft in Erwägung gezogen?«

»Ich habe ihnen gesagt, sie sollen sich zum Teufel scheren.«

Bell musterte ihn prüfend. »Erkennen Sie nicht, dass ich Ihnen dabei helfen könnte, sie tatsächlich dorthin zu schicken?«

Er deutete auf die langen akkuraten Reihen von Lagertanks und die qualmenden Schornsteine und dann auf den Wald von Bohrtürmen, die über die Dächer einer früher einmal sicherlich friedlichen Stadt hinausragten. Eine Windböe vertrieb den Qualm. Plötzlich reichte sein Blick bis zu den fernsten der vielen Holztürme.

»Sie haben Ihre Raffinerie aufgebaut, um das Rohöl der Unabhängigen zu verarbeiten. Würden Sie mir nicht darin zustimmen, dass Sie es allen freien Ölsuchern schuldig sind, vor Gericht auszusagen?«

Hopewell schüttelte den Kopf.

Bell hatte noch eine weitere Karte im Ärmel. Darauf setzte er alles. »Wie viel hat Standard für Rohöl gezahlt, als Sie vor zwei Jahren mit dem Bohren anfingen?«

»Einen Dollar dreißig pro Barrel.«

»Und wie viel zahlen sie jetzt? Vorausgesetzt Sie können liefern.«

»Siebzig Cents pro Barrel.«

»Sie haben den Preis künstlich hochgehalten, fast doppelt so hoch, um Sie zum Bohren zu animieren. Sie und Ihre Kollegen, die anderen Ölsucher, haben für Standard auf eigene Kosten sämtliche Entwicklungsarbeiten geleistet. Dank Ihrer Bohrungen kennt man nun bei Standard den Umfang der Ölfelder in Kansas und wie sie im Vergleich mit den Feldern im Indian Territory und in Oklahoma einzuschätzen sind. Sie wurden ausgenutzt und über den Tisch gezogen, Mr. Hopewell.«

»Schon wieder fleißig gewesen, Mr. Bell?«, fragte Spike Hopewell. »Ist dies das Motto der Van Dorns? ›Macht eure Hausaufgaben?‹«

»Das Van-Dorn-Motto lautet ›Wir geben nicht auf. Niemals!‹«

Hopewell grinste. »Das ist auch mein Motto … also, es fällt schwer, jemanden abzuweisen, der seine Hausaufgaben gemacht hat. Und so gut wie unmöglich wird es, wenn es jemand ist, der niemals aufgibt … Okay, schlagen Sie ein!«

Spike Hopewell reichte Bell seine kräftige Hand. »Was wollen Sie zuerst wissen?«

Bell machte einen Schritt, um die Hand zu ergreifen, und erwiderte: »Ich bin verdammt neugierig, welche Karten Sie im Ärmel haben.«

Hopewell taumelte zurück und fasste sich an den Hals.

3

Während er die Hand festhielt, die Hopewell ihm entgegengestreckt hatte, hörte Isaac Bell einen gedämpften Gewehrschuss und erkannte, dass der Knall durch die Zeitspanne verzögert wurde, die ein Projektil brauchte, um eine enorme Entfernung zurückzulegen. Er zog Spike auf den schmalen Bretterboden des Laufgangs hinunter und hinter den teilweisen Schutz der niedrigen Brüstung. Aber es war zu spät. Der Ölsucher war bereits tot. Ein Geschoss hatte sich in seinen Hals gebohrt und war im Nacken wieder ausgetreten.

Ein zweites Projektil passierte den Raum, den Bells Kopf noch einen halben Herzschlag zuvor ausgefüllt hatte. Es prallte mit einem metallischen Klirren gegen die stählerne Führungsrolle, prallte davon ab und löste einen Splitterregen aus, als es in das eichene Holzgerüst einschlug. Bell hielt Ausschau, wo es herkommen mochte. Der Schuss drang als verzerrtes Echo an seine Ohren. Anscheinend kam er von Westen, wo sich eine von Gräben durchfurchte Ebene zu einem kleinen Fluss hinabsenkte. Auf der anderen Flussseite erstreckten sich bewaldete Hügel bis zum Horizont. Nördlich seiner Position nahm Bell eine Bewegung wahr. Eine Gestalt kletterte in nahezu unglaublichen siebenhundert Metern Entfernung einen Bohrturm hinunter.

Immer drei Stufen auf einmal nehmend, polterte Isaac Bell die Leiter hinab.

Sein Locomobile parkte zwischen den gespreizten Eckpfeilern des Bohrturms und dem Maschinenhaus. Der Motor, der immer noch warm war, sprang bereits bei der zweiten Kurbelumdrehung an. Bell schwang sich hinter das Lenkrad und startete mit dumpf grollendem Motor in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war, suchte sich einen verschlungenen Weg zwischen den dicht beieinanderstehenden Bohrtürmen und umrundete schlingernd Bohrgestänge, Pumpstationen, Maschinenhäuser und Reparaturwerkstätten. Als er die letzte Bohrturmreihe hinter sich hatte und anhielt, sah er einen großen Mann auf einem Pferd über das offene Land jenseits des Ölfelds galoppieren.

Bell raste hinter ihm her.

Der flüchtende Reiter war mit einem starken, grobknochigen Pferd von ganzen siebzehn Handbreit Schulterhöhe bestens beritten. Bell trat das Gaspedal bis aufs Bodenblech durch und riss das Lenkrad hin und her, während er über das raue Gelände pflügte, um Hügel herummanövrierte und Gräben auswich.

Nicht weit vor dem Reiter endete das Grasland abrupt am Rand eines dichten Waldes. Wenn er es bis zwischen die Bäume schaffte, wäre er frei. Bell beschleunigte. Das tief eingeschnittene Flussbett trennte das Grasland von der ersten Baumreihe. Bell frohlockte innerlich. Seine Jagdbeute saß in der Falle.

Er öffnete die Auslassklappen der Auspuffanlage, um die Motorleistung noch einmal zu steigern. Unbehindert von dem bremsenden Abgas-Gegendruck, entwickelten die vier Zylinder des Motors nun ihre volle Kraft.

Der Reiter galoppierte direkt auf den Fluss zu und bearbeitete die Flanken seines Pferdes mit den Hacken. Das Tier zog die Beine an und sprang ab. Die Vorderhufe setzten auf dem gegenüberliegenden Ufer auf. Der linke Hinterhuf rutschte an der Lehmböschung des Flusses ab. Der rechte Huf grub sich jedoch ins Gras, und das Tier gelangte auf festen Boden und stürmte in Richtung der Bäume.

Isaac Bell war gezwungen, die mickrigen Bremsen des Locomobile zu aktivieren, so dass der Wagen seitlich ausbrach und zum Stehen kam, ehe er in den Fluss stürzte. Er zog seine Winchester aus dem Futteral auf dem Beifahrersitz. Der Reiter war bereits in den Wald eingedrungen und wurde teilweise von den Stämmen der ersten Baumreihen geschützt. Bell erkannte eine einzige Chance und feuerte.

Blitzschnell betätigte er den Unterlaufrepetierhebel der Winchester. Hätte sich eine Patrone verklemmt, wäre der Hebel in seiner Hand zerbrochen. Das schwere Gewehr donnerte mehrmals hintereinander. Der Hut des Reiters wirbelte durch die Luft. Der Reiter selbst schwankte und schien schon fast aus dem Sattel zu rutschen. Eine hektisch nach Unterstützung suchende Hand fand jedoch das Sattelhorn, und so vermochte sich der Mann gerade noch im Sattel zu halten. Ehe Bell abermals feuern konnte, verschwanden Pferd und Reiter im Schutz des Waldes.

Hinter sich hörte Bell einen lauten Knall. Ein weiterer Schütze? Er kam anscheinend von den Bohrtürmen. Ihm folgte unmittelbar danach ein metallisches Klirren wie von einem Schmiedehammer, der auf einen Amboss prallt. Dann hörte er einen dröhnenden Knall wie von einer Zündkapsel oder einer Viertelstange Dynamit.

Ein blendender Lichtblitz zuckte in der Raffinerie.

Dumpfer Donner brachte die Luft zum Vibrieren. Die Explosion sprengte den Deckel eines Rohöltanks auf, der in der äußersten Reihe der riesigen Behälter stand. Zum Teil zertrümmerte Holzbalken wirbelten himmelwärts. Schwarzer Rauch wallte empor. Die erste Explosion, so vermutete Bell, hatte das natürliche Gas entzündet, das von dem Rohöl aufstieg und sich im oberen Teil der Tanks zu sammeln pflegte. Die Gasexplosion hatte danach das Öl in Brand gesetzt.

Dass das Feuer drohte, Spike Hopewells gesamte Raffinerie zu vernichten, wurde durch den Anblick der Scharen von Ölarbeitern deutlich, die sich – mit Schaufeln und Hacken bewaffnet – im Laufschritt näherten, um zwischen dem brennenden Tank und seinen Nachbarn einen Graben auszuheben. Sie kamen von den Bohrtürmen und der Raffinerie, aus der Zeltstadt und den Saloons. Eine Gruppe zog eine Kanone auf einer zweirädrigen Lafette hinter sich her.

Ein Feldgeschütz in dieser Umgebung wäre sicherlich ein verwirrender Anblick gewesen, wenn Bell sich nicht intensiv über das Ölgeschäft informiert hätte, um sich auf die Ermittlungen der Corporations Commission vorzubereiten. Die übliche Methode, einen in Brand geratenen Öltank zu löschen, bestand darin, unterhalb der Füllgrenze Löcher in den Tank zu schießen, um das Öl abfließen zu lassen und dem Feuer auf diese Weise seine Nahrung zu entziehen. Die Artillerietaktik erlaubte den Löschtrupps, sich außerhalb des tödlichen Explosionsradius aufzuhalten.

Eins der Lafettenräder rutschte in einen flachen Graben und versank bis zur Achse in dem nassen, schwammigen Erdreich. Bell beeilte sich, den Männern zu helfen, die das Geschütz in Stellung bringen wollten. So schnell die dicken Grasbüschel es erlaubten, lenkte er das Locomobile über die Prärie. An der Basis der in den Himmel wallenden Rauchsäule konnte er einen diamanthellen Flammenkern erkennen, der stetig breiter, höher und heller wurde.

Bell wuchtete das Lenkrad nach links und lenkte den Wagen so nahe wie möglich an das Geschütz heran, während er darauf achtete, dass die Räder des Locomobile auf festem Grund blieben. Er schleuderte das Ende des Abschleppseils, das um das Reserverad gewickelt war, zur Kanone hinüber. Die Männer befestigten es an der Fahrlafette. Bell gab Gas, und der PS-starke Wagen zog die Kanone aus dem Graben. Während er so langsam weiterfuhr, dass die Männer, die die Kanone dirigierten, Schritt halten konnten, zog er die Lafette in eine Position, von der aus sie einen ungehinderten Schuss auf den brennenden Tank abfeuern konnten.

Die enorme Hitze brachte das Rohöl in einem Mahlstrom aus roten Flammen, weißem Dampf und schwarzem Qualm zum Sieden und Schäumen. Die Hitze war für die Männer, die den Graben aushoben, viel zu stark. Sie wichen zurück. Und plötzlich explodierte der brodelnde Öltank. Tentakel flüssigen Feuers schossen zum Firmament hinauf, ergossen sich auf den Untergrund und regneten auf die benachbarten Tanks herab.

Die Feuerwehrmänner ließen die Schaufeln und Spitzhacken fallen und ergriffen die Flucht. Zwei weitere Explosionen kurz hintereinander sprengten die Deckel von ihren Behältern. Beide Tanks verwandelten sich in Flammensäulen, die zum Himmel aufstiegen und auf Behälter herabprasselten, die bisher noch nicht in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Eine Explosion brachte die Seitenwand eines Tanks zum Bersten. Öl quoll hervor, sprudelte über das Grasland, füllte Gräben und brandete gegen einen brennenden Schuppen, walzte den Holzbau nieder und verwandelte die Trümmer in ein Flammenmeer.

Die Feuerlawine breitete sich aus und gewann an Tempo.

Die Flammen sprangen in den äußeren Graben, der die Raffinerie umgab. Mehrere Gebäude gerieten in Brand, und sehr schnell rauschte die Feuerwalze an der Raffinerie vorbei und näherte sich dem größten Vorratstank in Kansas, den Spike Hopewell erbaut hatte, um sein überschüssiges Benzin zu lagern.

Die Angehörigen der Geschützmannschaft wechselten furchtsame Blicke.

»Schießt!«, brüllte Isaac Bell. »Schnell, schnell!«

Keine Reaktion erfolgte, dafür gab es weitere besorgte Blicke. Die meisten brachten sich so schnell ihre Beine sie trugen in Sicherheit. Nur drei tapfere Männer blieben bei Bell zurück: ein freier Ölsucher in kniehohen Reitstiefeln und mit einer Uhrkette an der Weste, ein graubärtiger Bürgerkriegsveteran mit Feldmütze auf dem Kopf und ein junger Farmer mit versengtem Schlapphut.

»Man darf nicht auf Benzin schießen«, warnte der Ölsucher.

»Es entzündet sich zu schnell«, sagte der Veteran. »Es würde den Tank hochgehen lassen – wie eine geballte Ladung Nitro. Und jeden im Umkreis von einer Meile töten.«

»Aber die Kanone entzündet es doch nicht«, sagte Bell, »das geschieht nur mit offenem Feuer.«

Seine Gedanken rasten, dann deutete er auf die 0-6-0-Rangierlokomotive, die unter Dampf, aber untätig auf dem Nebengleis der Raffinerie stand. »Wer kann die Lok bedienen?«

»Ich«, meldete sich der bärtige alte Soldat.

»Dampfen Sie mit ihr bis ans Ende des Gleises und so nah es geht an den Tank heran.«

Bell deutete auf eine riesige Trommel Bohrseil. Die anderen beiden Männer begriffen sofort, welchen Plan er verfolgte. Der entsetzte Ausdruck ihrer rußgeschwärzten Gesichter verriet, dass ihnen der Plan ganz und gar nicht gefiel.

»Es ist unsere einzige Chance«, sagte Bell.

Die Trommel war zwei Meter hoch. Sie zogen das lose Seilende herunter, stemmten sich mit den Schultern gegen die Trommel und setzten sie in Bewegung, um das Seil abzurollen. Männer, die sahen, welche Absicht sie verfolgten, kamen ihnen zu Hilfe.

Ein Bohrtechniker mit großem Schraubenschlüssel und einem Sack Kabelklemmen, Schrauben und Muttern erschien wie aus dem Nichts. Vom Rennen außer Atem, rief er laut genug, um das Prasseln der Flammen zu übertönen: »Ihr müsst komplett verrückt ein.« Er schüttelte den Kopf und grinste trotzig. »Ich glaub, da mach ich mit.« Er legte das lose Ende des Seils zu einer Schlinge zusammen, fixierte sie mit einer Klemme und schleppte sie zur Lokomotive, während Isaac Bell und die anderen ihr Seilende zum Benzintank schleiften.

Hinter ihnen und auf beiden Seiten brannten weitere Behälter. Rauchsäulen wallten über dem brennenden Rohöl und rotierten wie Tornados. Sie stiegen zügig in die Höhe und färbten den Himmel schwarz.

Vom Feuer verfolgt, schleiften Bell und seine Helfer das Kabel bis zum Benzintank. Er war so hoch wie ein dreistöckiges Haus. An der Seite führte eine Leiter hinauf. Bell schlüpfte mit dem Arm in die Seilschlinge, fixierte diese um seine Schulter und nahm den Aufstieg in Angriff. Die Männer am Fuß des Benzintanks hievten das schwere Seil nach oben, um Bell seine Last so weit wie möglich zu erleichtern. Mühsam rang er nach Atem, als er das obere Ende der Leiter erreichte und auf den Holzdeckel kletterte. Der Farmer folgte ihm mit einem Brecheisen und einer Axt.

»Können Sie mir diesen Schraubenschlüssel holen?«

»Was haben Sie vor?«

»Ich hacke ein Loch ins Dach«, sagte Bell und schwang die Axt mit aller Kraft. »Hauen Sie ab«, fügte er hinzu. »Falls ich auf Metall treffe und Funken durch die Luft fliegen.«

Die Flammen kamen schnell näher. Der nächste Öltank explodierte, und schweres brennendes Rohöl segelte durch die Luft. Da er nur wenig Zeit hatte, um sein Vorhaben zu verwirklichen, dankte er seinem Glücksstern, dass er auf einen früheren Fall zurückgreifen konnte, für dessen Aufklärung er in die Rolle eines Holzfällers hatte schlüpfen müssen. Teerbrocken und Holzsplitter flogen ihm um die Ohren, als sich die Axt ins Holzdach fraß.

Er hackte ein Loch in den Rand des Holzdachs, nicht weit von der stählernen Seitenwand entfernt. Die Dämpfe, die plötzlich durch die Öffnung austraten, waren betäubend. Ein Gefühl der Benommenheit machte sich bemerkbar. Vor seinen Augen drehte sich alles. Der Farmer tauchte am Ende der Leiter wieder auf und rang krampfhaft nach Luft. Er reichte Bell den Schraubenschlüssel.

»Was geschieht damit?«

»Ich benutze ihn als Anker«, sagte Bell und klemmte das Kabel zwischen die Backen des Schraubenschlüssels. »Bringen Sie sich lieber in Sicherheit.«

Er schob den Schraubenschlüssel und die Kabelschlinge durch das Loch und verkeilte die Konstruktion mit dem Brecheisen und der Axt. Dann gab er dem Bürgerkriegsveteran ein Zeichen und rutschte an der Leiter, so schnell er konnte, abwärts und rannte zu ihm hinüber.

Eine Fläche, etwa so groß wie zwei Footballfelder, erstreckte sich zwischen dem Benzintank und der Rangierlokomotive, die nun zurücksetzte und das Bohrseil spannte. Als es zwischen dem oberen Rand des Benzintanks und dem Nebengleis einen flachen Winkel bildete, kletterte Bell in den Führerstand der Lok. »Ich übernehme.«

»Habe nichts dagegen.«

Bell legte die Hand auf den Fahrthebel und den Quadranten, ließ Dampf in die Zylinder strömen und ging behutsam in langsame Rückwärtsfahrt. »Und nun immer schön vorsichtig.«

»Sehr gut«, lobte der ehemalige Soldat. »Wo haben Sie das gelernt?«

Bell beobachtete das Kabel, das mittlerweile so stramm wie eine Bogensehne war. »Als ich auf dem College war, hab ich mir mal eine Lokomotive ausgeliehen.«

Das Bohrseil war stabil genug für die Aufgabe, die es lösen sollte. Und die Rangierlokomotive entwickelte die entsprechende Leistung, die dazu nötig war. Aber würde der behelfsmäßige Anker der eisernen Wand des Behälters auch standhalten?

Bell gab mehr Dampf zu. Er versuchte, durch den Qualm hindurch etwas zu erkennen. Wölbte sich die Wand des Behälters nach außen, oder bildete er sich das nur ein?

»Wohin sind Sie mit der Lok gefahren?«

»Zu Miss Potter’s.«

»Der Schule für Mädchen?«

»Für junge Damen.«

Noch ein wenig mehr Dampf. Die Beule war deutlich zu erkennen.

Plötzlich peitschte das Kabel hoch in die Luft.

»Das Seil ist gerissen!«, rief der Kriegsveteran.

»Nein«, sagte Bell. »Die Wand hat nachgegeben.«

Ein Teil der eisernen Seitenwand des Tanks – eine Platte von zwei Metern Breite, deren Nieten an den Rändern herausgesprungen waren – klaffte auf und bog sich wie der Deckel einer Sardinendose nach unten. Benzin schäumte heraus.

Isaac Bell hielt die Luft an.

Es gab zwei Möglichkeiten, was nun geschehen würde. Nichts sprach für die eine oder die andere.

Mit ein wenig Glück würde das Benzin die Funken löschen, die beim Aufreißen der Eisenwand entstanden.

Aber wenn das nicht geschah und die Benzinflut brennbare Gase vor sich herschob, dann würden die Funken die Dämpfe anzünden und die Raffinerie, das Ölfeld, die Ansammlung von Holzhäusern, die Baracken der Boomtown und die Zeltstadt in einer gigantischen Explosion ins Jenseits befördern.

4

Ein Strom von einhundertneunzigtausend Litern Benzin sprudelte durch die Öffnung, die Isaac Bell in den Tankbehälter gerissen hatte, und ergoss sich in das Gelände. Das Benzin floss die flache Böschung hinunter, die den Tank umgab, und verteilte sich als eine wogende Sturzflut, die stellenweise kleine Stromschnellen und Strudel entstehen ließ.

»Nichts wie weg!«, sagte Bell und startete durch.

Dass sie noch am Leben waren, bedeutete, dass er eine katastrophale Explosion verhindert hatte. Aber das Feuer ließ sich nicht aufhalten – nicht wenn Klumpen brennenden Rohöls aus den explodierenden Lagertanks wie Schwefel vom Himmel fielen. Zumindest, so hoffte er, hatten die Menschen nun eine Gelegenheit zur Flucht.

Das Benzin entzündete sich innerhalb von Sekunden. Die Flammen loderten hoch und tanzten wie gigantische Irrlichter über die Prärie. Wellenartig ergossen sie sich in die Gräben und Senken und füllten sie mit Feuertentakeln, die sich rasend schnell dem fernen Fluss entgegenstreckten und ihn ebenfalls in Brand setzten.

Während er flüchtende Männer vor sich hertrieb und dabei jeden, der zu Fall kam, wieder auf die Füße stellte, entdeckte Bell das Gebäude, von dem aus Hopewell seinen Betrieb verwaltet hatte. Es war ein Wohnhaus, das er in ein Büro umgewandelt hatte. Was früher ein Garten gewesen sein musste, wurde jetzt von einem Destillationsofen und einem Lagertank eingerahmt. Telegrafenleitungen verliefen am abgetrennten Nebengleis entlang bis zur Hauptstrecke.

Bell stieß die Tür des Gebäudes auf.

»Können Sie nach Washington kabeln?«

Der Telegrafist starrte auf die Flammenwand, die den nebenan stehenden Lagertank einhüllte, turnte durch das Fenster hinaus und suchte das Weite. Isaac Bell zog die Morsetaste zu sich herüber und ratterte, so schnell er konnte, eine Nachricht an die Van-Dorn-Zentrale:

Sofort Ermittler zum Hopewell-Ölfeld entsendenMord BrandstiftungSchnell –

Die Taste verstummte unter seiner Hand.

Er blickte aus dem Fenster. Die Telegrafenmasten, die die Leitung trugen, die Hopewell Field mit dem Western-Union-System an der Hauptstrecke verbanden, waren in Brand geraten. Das letzte Wort erreichte den Adressaten zwar nicht mehr, aber jeder Detektiv der Van Dorn Agency wusste schließlich, dass dringende Telegramme von Isaac Bell stets mit dem Befehl endeten, höchste Eile an den Tag zu legen.

Wertvolle, fähige Männer trafen am nächsten Tag mit schnellen Postzügen ein.