Der große Teufelsrochen - Heinz Kruschel - E-Book

Der große Teufelsrochen E-Book

Heinz Kruschel

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Beschreibung

Am 8. April 1945 starten B17-Bomber von einem Flugplatz in der Nähe von London nach Leopoldshall in Sachsen-Anhalt. Daniel Rosebush sitzt allein in dem Aufklärungsflugzeug und soll die Vernichtung des kleinen Städtchens leiten. Hier ist er aufgewachsen und bis zur 6. Klasse zur Schule gegangen, bis seine jüdischen Eltern mit ihm nach Großbritannien emigrieren mussten. Zur gleichen Zeit machen mehrere englische Fischer Jagd auf den Riesenmanta, einen Teufelsrochen. Das Tier hat den greisen Thor Underhill oft genug genarrt, dieses Mal muss ihm doch der Fang glücken. Eine historische Erzählung schildert die Hintergründe der Ermordung des römisch-deutschen Königs Albrecht von Habsburg im Jahre 1308. Das letzte Buch von Heinz Kruschel aus dem Jahre 2003 enthält sehr unterschiedliche Erzählungen.

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Impressum

Heinz Kruschel

Der große Teufelsrochen

Erzählungen

ISBN 978-3-95655-098-0 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 2003 im Geest-Verlag, Vechta-Langförden.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Der große Teufelsrochen

DER HIMMEL ÜBER DER HALBINSEL DUNGENESS DRÖHNTE.

Es geschah an einem Sonntag, man schrieb den 8. April 1945, und die Fischer, die zu dieser Jahreszeit auf Rochen und Schollen aus waren, blickten nicht von ihrer Arbeit auf, als das Dröhnen begann. Sie waren es gewöhnt, wenn sich die Schwadronen der Bomberverbände über Dungeness und Petersfield formierten, um mit dem eingeladenen Tod an Bord über den Kanal von Dover in Richtung Flandern und dann weiter nach Deutschland zu fliegen. So auch an diesem Sonntag. Fliegende Festungen nannte man die B-17 Bomber ob ihrer starken Bewaffnung.

Sie waren von mehreren Flugplätzen nordöstlich von London aus gestartet, alle gegen 6.15 Uhr.

Die Fischer aber mussten bis zum Mittag das wohlschmeckende Fleisch ihrer Rochen an die Großmärkte von Hastings und Folkestone geliefert haben. In diesem Jahre war neben ungenießbaren Nagelrochen und Spitznasen in dem planktonreichen Gewässer auch ein Manta aufgetaucht, an die sechs Meter breit, wie kopflos wirkend und besonders seines weißen Fleisches wegen begehrt. Mantas waren immer schwer zu fangen, schwammen schnell und elegant, wie fliegend im Wasser. Wenn der Kopflose, wie man den Manta birostris nannte, tonnenschwer die Wasseroberfläche durchbrach, kam das Aufklatschen nach weitem Sprung einem Kanonenschuss gleich. Heute wollten es die Fischer wissen. Ein Manta versprach volle Kassen auf dem Markt. Die Fischer hatten starke Grundschleppnetze und reißfeste, stabile Fangleinen eingesetzt. Die kleineren Fische, die sich im schlammigen Untergrund aufhielten, waren ihnen sicher. Aber nun waren sie heute auf den Manta aus. Großer Teufelsrochen, so nannte man ihn auch.

Einmal gereizt, wird der große Rochen zu einem gefährlichen Kämpfer, sagte Thor Underhill, der die Fische besser kennt als die Menschen. Er warnte: Sie sind starke Gegner, wenn man sie harpuniert, ihr dürft sie nie unterschätzen.

DIE PILOTEN SAHEN DEN MOSQUITO BEI TAGESLICHT NICHT

So weit flog der englische Aufklärer den Bombern voraus, runde tausend Meter höher als sie. Aber alle Bomber besaßen Funkverbindung und wussten um seine Aufgabe: er war dafür verantwortlich, über zweihundert ‚Fliegende Festungen’ gemäß Order und Plan dem Angriffsziel entgegenzuführen.

Daniel Rosebush flog heute ohne einen zweiten Mann, aber er fühlte sich sicher. Seitdem die Deutschen die Lufthoheit verloren hatten, genügte ein Pilot in dem Aufklärer, der fast unangreifbar war, denn er konnte über 11 000 Meter hoch fliegen und war pro Stunde siebenhundert Kilometer schnell, dazu ausgerüstet mit modernster Technik.

Daniel hatte einen Befehl auszuführen, zu dem er keine Meinung zu äußern hatte. Befehle diskutierte man nicht.

Es gab, wie schon so oft, ein Hauptziel und ein Ersatzziel. Das Hauptziel hieß Leopoldshall, eine kleine, knapp achttausend Einwohner zählende Stadt im anhaltinischen Mitteldeutschland, in der es stille Salzschächte mit eingelagertem, kriegswichtigem Material gab, unter anderem auch mit angereichertem Uran.

Ferner existierten noch zwei chemische Fabriken, ein Sodawerk, ein Apparatebau- und ein Flugzeugwerk, das Leitwerke für die Firma Junkers herstellte.

Warum aber Leopoldshall mit der ersten Priorität benannt war, das wusste der Aufklärer Daniel Rosebush nicht, und danach hätte er Captain Trapp oder Colonel Stewart, den Group Leader, nicht fragen können und wollen. Jede Nachfrage gehört sich nicht, und er selber konnte dem Vorgesetzten erst recht nicht erzählen, was sich für ihn mit dem Namen des anzugreifenden Ortes Leopoldshall verband. Er hatte einen Befehl auszuführen, und oft war es gut, jemanden zu haben, der befiehlt und einem selbst damit die Verantwortung abnimmt.

Weit hinter sich sah er die silbernen, gestaffelt fliegenden Vögel, die Schwadronen im Abstand, eine höher als die andere.

ER KANNTE DIE KLEINE STADT LEOPOLDSHALL GUT

Denn sie war seine Heimat. Sie hatte erst in diesem Jahrhundert das Stadtrecht bekommen. Hier war er zur Schule gegangen, bis er sie nach der sechsten Klasse verlassen musste.

Daniel kannte auch das sogenannte Ersatzziel, nämlich Halberstadt am Rande des Harzes: Das war ein alter Bischofssitz, zugleich ein Verkehrsknotenpunkt, in dem Eisenbahnen repariert wurden.

Halberstadt war größer als Leopoldshall, und dennoch für die Order, die auszuführen war, nur von zweiter Priorität. Warum, das wussten nur wenige. Er jedenfalls nicht.

Denn die Priority Nr. 2 trat nur dann in Kraft, wenn vor Leopoldshall eine starke Luftabwehr auszumachen war oder ein massiver Angriff von deutschen Messerschmittjägern erfolgte. Aber jedes der ihm folgenden zweihundert Fernflieger vom Typ B1 besaß zehn Maschinengewehre zur Verteidigung, nicht ohne Grund nannte man den Typ ‘Fliegende Festung’.

GEGEN ACHT UHR ÜBERFLOGEN SIE DEN WESTWALL

Sie befanden sich über deutschem Gebiet, unbehelligt in dieser Höhe von deutscher Abwehr, die den Luftraum schon den Alliierten überlassen hatte, und der Tag versprach sonnig und warm zu werden, so schön, um sich in normalen Zeiten einen freien Tag zu machen. An einem solchen Tag hatte Danie auf einem Radausflug in seinem vorigen Leben auch Halberstadt kennen gelernt.

Er dachte nach und das gefiel ihm. Bevor er Musik einschaltete, erinnerte er sich, dass er Halberstadt im Jahre 1936 besucht hatte, bevor seine Familie das Deutsche Reich verlassen musste. Im Jahre 1936, da war er, der heute dreiundzwanzig Jahre war, ein vierzehnjähriger Gymnasiast gewesen.

Gemeinsam mit dem Mädchen Ebba war er nach Halberstadt gefahren, nicht wissend, warum sie, die blonde Schöne, umschwärmt, mulattenbraun und überaus beliebt und begehrt, ausgerechnet ihn gewählt hatte. Aber es gefiel ihm, natürlich gefiel es ihm.

Und nun, zehn Jahre danach, saß er in einer modernen, schwer zu ortenden Maschine, Typ Mosquito, und hörte Billie Holidays Orchester, und wie sie sang. ‘Soon the deep blue sea’, und er sang mit: ‘Will be calling me’ und merkte, wie er während des Singens in die deutsche Sprache gewechselt war, dass er auf Deutsch sang, das war ihm jahrelang nicht passiert.

Das Netz der Erinnerung zog sich zusammen, während er wie mechanisch die Meldungen, die ihm seine Apparate mitteilten, an die in unterschiedlicher Höhe fliegenden Schwadronen weitergab. Es war noch eine halbe Stunde bis elf Uhr.

BALD WIRD MICH DIE TIEFE BLAUE SEE RUFEN

So sang Billie Holiday. In England hatte Daniel seinen Schulessay zum Abschluss der Public school ‘Über die Liebe der Generationen’ geschrieben und das am Beispiel der achtjährigen Billie dargestellt. Wie ihre vierundneunzigjährige Urgroßmutter, nicht liegend, sondern nur sitzend schlafen durfte und nur noch den Wunsch hatte, einmal flach auf dem Boden liegend zu schlafen. Ohne Erlaubnis hatte sich Billie mit ihr auf die Erde gelegt. Als das Mädchen aufwachte, war die uralte Frau tot und hatte den Arm fest um den Hals Billies gelegt, so fest, dass sie ihr den Arm brechen mussten. Das Geräusch vergaß Billie ein Leben lang nicht, und den Schmerz fühlte sie bis in ihr Herz.

Darüber hatte Daniel in seinem Aufsatz geschrieben, er hatte die Lieder der Holiday und ihre Bewegungen geschildert, wie sie klang, sie klang wie ein Instrument, wie sie keine banalen Phrasen sang, sondern ein Leben besang, ihr Leben, und der Geist der geliebten Großmutter streichelte ihr das Gesicht, über das leicht die Tränen liefen. Billie hingegen formte Melodie und Text mit ihrer schönen Stimme und ließ sie wie Glocken klingen. Um die heimliche Anwesenheit des Geistes der Alten wusste während des Singens nur sie, und sie sang für die ganze Welt, für ihre Angst und gegen ihre Ahnung.

Die kleine, zarte Miss Blade weinte, als sie Daniel die Arbeit zurückgab und sagte, dass man sie eigentlich nicht bewerten dürfte, und dann las sie den Essay allen vor, und dann herrschte eine große Stille in der Klasse, und auch die härtesten Sportler schwiegen, und dann gingen alle leise zur Pause hinunter auf den Hof. Die Liebe ist die herrlichste Sache auf Erden, schrieb die kleine Blade in ihrer perligen Handschrift unter den Aufsatz und bedankte sich bei dem Schüler Daniel.

Miss Blade, dachte er, ob sie noch lebt? Sie stammte aus Coventry und war vor fünf Jahren ausgebombt worden. Eine feine, kleine Frau, in deren Unterricht sie mehr Gedichte und Lieder als Grammatik kennen und lieben gelernt hatten.

STRAFF WAR DER STACHELDRAHT GESPANNT

Aber alle hatten sie Daniel nichts davon gesagt. Es war verboten, im Mühlgraben am Schützenhaus zu schwimmen, und er tauchte auch, wie befohlen, um die Mutprobe zu bestehen, und ratschte mit seinem Leib über den unter Wasser gespannten Stacheldraht, spürte einen beißenden Schmerz und blutete aus den tief gezogenen Wunden.

Ein Mitschüler, sein Freund Klabauter, half ihm sofort, raffte vom Ufer mehrere Blattrosetten ab, sogenannten Froschbiss, und klatschte sie ihm auf die blutenden Stellen. Dann stützte er ihn auf dem Heimweg. Die feinen Narben durchzogen heute noch die Haut auf seiner Brust. Klabauter, Klabauter, dachte er, Klabauter war überhaupt sein Leibwächter gewesen. Und wer war er denn?

Ein Daniel Rosebusch, der Klavier lernte, aber einen Elfmeter weit über das Tor verschoss. Der Sohn des Besitzers des großen Modegeschäftes. Der Behütete, der von seinem Vater im Auto zur Schule kutschiert wurde. Der Angsthase, der vornehm jeder Prügelei aus dem Wege ging.

Einen solchen Jungen hänselt man, aber Klabauter tat das nicht. Und auch Ebba hielt zu ihm. Überhaupt Ebba. Mit ihr war er die schmale Holztreppe des schiefen Turms hochgestiegen. Als er sie zufällig an den Kniekehlen berührt hatte, war sie stehen geblieben, gar nicht empört, sondern lächelnd. Dabei war die Treppe in dieser schwindelnden Höhe ohne Geländer. Warum Ebba ihn mochte und sich von ihm gern anfassen ließ, er wusste es nicht. Das nächste Mal blieb sie bewusst ganz nahe vor ihm stehen und wartete auf seine Hand.

DIE WELLEN BRANDETEN SCHWACH GEGEN DIE KÜSTE

Das Meer blieb ruhig. Sie hatten ein leichtes Fischen und holten die Grundschleppnetze herauf, kippten die Fische, die auf dem Meeresgrund gelebt hatten, heraus und befreiten die Maschen von den zähen Fangarmen, die sie verstopften.

Doch der Manta war nicht darunter. Einige ‘fishermen’ wollten sich mit den gefangenen Mondfischen und großen Adlerrochen zufrieden geben, aber Thor Underhill, der seinen Lehnstuhl auf Deck nicht mehr verließ, gab nicht auf. Ihm widersprach keiner. Dem Captain zuliebe machten sie weiter. Underhill, sehr alt und an einer Zitterkrankheit leidend, war eine Legende an der Küste zwischen New Romney und Hastings. Seine Mutter hatte ihn auf einem Fischkutter zur Welt gebracht, und er selber war als Perlenfischer von einem Manta beinahe erschlagen worden.

Thor spürte die Anwesenheit des Manta, zumal einige Angelhaken abgerissen waren. Also mussten stärkere benutzt werden, also machte er den Vorschlag, das größte Netz mit eisernen Ketten zu beschweren.

WIE EIN VOGEL SAH DANIEL DIE LANDSCHAFT UNTER SICH

Wenige Wolken. Bald müsste er die Straßen sehen, die beiden kleinen Flüsse, die Bode und den Mühlgraben, die Fördertürme, deren Räder stillstanden, die versoffenen Schächte.

In einer Kopfsteinstraße wusste er die Rosenbuschvilla und gegenüber das Mietshaus, in dem die alte Sarah lebte, die ihm oft aus dem Fenster im vierten Stock ein Körbchen an einer Schnur heruntergeleiert hatte. Für sie kaufte er ein. Und gegenüber lebte der blinde Hans, der mit seinem Schifferklavier auf den kleinen Festen auftrat und Hans Albers imitierte.

Damals waren die Tage noch gleich. Sie schienen sich zu wiederholen. Einmal im Monat schickte ihn Mutter in das letzte Haus hinter der Halde, wo die zwergengroße Frau Schikora mit sechs Kindern wohnte, von denen sie drei adoptiert hatte.

Mutter gab ihm immer einen Korb mit, Kleidung für die Kinder, Wurst und Obst und Bonbons, manchmal einen Pullover oder eine Bluse aus dem eigenen Geschäft für die Frau, immer Kindergröße natürlich. Als er das letzte Mal in ihrem alten, brüchigen Hause war, kam ihm der pralle Mann, der bei ihr eingezogen war, in einer braunen Uniform entgegen und reckte die Hand hoch. Heil Hitler, und Daniel kratzte sich den Kopf, als wäre sein Versuch, den Gruß zu erwidern, gescheitert.

Das und mehr fiel Daniel Rosebush ein, während er über zarten Federwolken dahinflog, die sich inzwischen gebildet hatten. Er war körperlich fit, der beste Zehnkämpfer des Standorts, aber nun bemerkte er, dass sein Blutdruck gestiegen war, dass sein Puls raste. Er wollte ihn nicht messen. Das würde ohnehin automatisch geschehen und ausgewertet werden.

Er dachte: Ob jene, an die ich denke, noch leben? Er dachte so, während Billie Holiday improvisierte, unbekümmert und verwegen, und es schien so, als würde sie rufen und zugleich antworten, ohne offene Stellen in ihrem Lied aufzureißen.

Aber er spürte, wie die Spannung in seinen Kopf sickerte, wie er schneller atmete. Was fühlten sie da unten, denn jetzt mussten sie die silbernen Vögel am Himmel sehen.

Die alte Sarah würde nicht mehr in den Luftschutzkeller gehen können. Ebba hat vielleicht Kinder. Ob die Zwergin noch lebt. Vielleicht spielt jetzt der blinde Hans, um den Lärm zu übertönen, mit dem die Flugzeuge herandröhnen.