Die alten Eidgenossen - Pfister Christoph - E-Book

Die alten Eidgenossen E-Book

Pfister Christoph

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Beschreibung

Die Schweiz schöpft einen wesentlichen Teil ihres Selbstverständnisses aus einer fernen Vergangenheit, nämlich der Geschichte der alten Eidgenossen. Aber stimmt dieses Bild? Die Erzählung von Wilhelm Tell ist seit langem als Sage entlarvt. Man vergisst dabei, dass die gesamte Geschichte der Entstehung der Schwyzer Eidgenossenschaft eine Erfindung vor allem von Bern ist. Die alte Schweiz entstand im Mittelland, nicht in den Waldstätten. Die Schweiz braucht ein neues Geschichtsbild.

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Cover-Bild:

Berner Bannerträger anläßlich des Festumzugs von 1853

aus:

Peter Jezler/Peter Martig

Von Krieg und Frieden

Bern und die Eidgenossen bis 1800

Bern 2003, 4

Titel-Bild:

Gebet der Eidgenossen vor der Schlacht bei Murten

Monumental-Gemälde von Auguste Bachelin, 1869

Schweizer Privatbesitz

Vergleiche den Kommentar auf Seite →.

Vollständig überarbeitete Neuausgabe des erstmals 2003 unter dem Titel Die Mär von den alten Eidgenossen und 2006, 2013 und 2019 unter dem Titel Bern und die alten Eidgenossen erschienenen Buchs.

Mottos

Was wollen wir der alten Griechen Gedichte,

oder der Römer lesen manche Geschichte?

Wir haben hier die Taten der Eidgenossen,

von denen wir uns rühmen sein entsprossen:

Dies sind lauter große Heldensachen,

die uns billig zur Nachfolge lustig machen [= anleiten]:

In Treue, Liebe und Glauben nüchtern und ehrbar leben!

Johann Jakob Grasser: Schweizerisches Heldenbuch (Schweitzerisch Heldenbuoch), Basel „1624“. Neudruck Bern 1968.

Als Demut weint und Hoffahrt lacht, da ward der Schweizer Bund gemacht.

Michael Stettler: Chronicon und Annales, Bern „1627“, S. 29

Il faut avouer que l’histoire de la pomme est bien suspecte et que tout ce qui l’accompagne ne l’est pas moins.

Man muß einsehen, daß die Geschichte des Apfelschusses sehr verdächtig ist und der ganze Rest der Erzählung ebenso.

Voltaire : Annales de l’Empire I (zum Jahr 1307)

(Übersetzung: Autor)

Wir sind in Ansehung der Geschichten unseres Vaterlands auf eine zweifache Weise unglücklich. Nichts fehlt uns weniger als Geschichtsschreiber: Nichts haben wir weniger als gute Geschichtsschreiber. Von unseren ältesten Zeiten haben wir keine gewissen Nachrichten. Die ersten zwei Jahrhunderte unserer Stadt brachten keine Geschichtsschreiber hervor. Die neuen Zeiten hingegen haben viele, allein nur seichte Nachschreiber gezeugt, welche den Namen eines Geschichtsschreibers mißbraucht und entheiliget.

Gottlieb Walther: Critische Prüfung der Geschichte von Ausrottung des Zäringischen Stamms durch Vergiftung zweier Söhnen Berchtolds V.; Bern 1765; Vorrede$

Bemerkungen

Die fremdsprachigen (inbegriffen altdeutschen) Zitate sind vom Autor übersetzt worden.

Die Bibelzitate folgen der Zürcher Bibel von 1955.

Ältere deutsche Zitate sind soweit wie möglich dem heutigen deutschen Sprachgebrauch angepaßt worden.

Die Epochenbezeichnungen der älteren Zeit, besonders „Altertum“ und „Mittelalter“ sind wegen ihres problematischen Charakters grundsätzlich in Anführungszeichen gesetzt.

Ebenso sind alle Datumsangaben vor dem 18. Jahrhundert nach Christus, „9. Jahrhundert nach Christus“, „1291“, wegen ihrer Irrelevanz grundsätzlich in Anführungszeichen gesetzt.

Von Ausnahmen abgesehen wird von den Schwyzern geredet, wenn die Schweizer Eidgenossen gemeint sind. Dies deshalb, weil die erstere Form den religiösen Ursprung der Bezeichnung deutlicher hervortreten läßt. – Wenn damit die Leute und die Talschaft von Schwyz gemeint sind, so wird das im Text besonders vermerkt.

Falls lateinische Wörter und Namen auf ihre dahinterstehende Bedeutung untersucht werden, so ist vorweg zu bemerken, daß man bei der Analyse Akkusativ und Nominativ auseinanderhalten muß: MITHRIDATEM - Mithridates, - CALAMITATEM - calamitas oder – TYRUM - Tyrus. – Der Akkusativ ist wichtiger als der Nominativ, weil die am meisten gebrauchte Form in der Deklination.

Der vielfach genannte Berner Geschichtsschreiber des 18. Jahrhunderts, Michael Stettler soll nicht mit dem gleichnamigen Berner Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts (Bücher: Bernerlob, Neues Bernerlob) verwechselt werden.

Inhalt

Abbildungen

Abbildung 1: Hie Eidgenossenschaft - Die Schlacht am Morgarten

Abbildung 2: Titelseite von Wilhelm Oechsli: Die Anfänge der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 1891

Abbildung 3: Das Berner Predigt-Mandat von "1523"

Abbildung 4: Zwei römische Inschriften aus Helvetien

Abbildung 5: Der Freiheitsbrief der Schwyzer von "1240"

Abbildung 6: Das sogenannte Weiße Buch von Sarnen

Abbildung 7: Zwei kolorierte Abbildungen aus der kleinen Chronik von Johannes Stumpf

Abbildung 8: Pompeji: Mosaik der Alexanderschlacht (Detail)

Abbildung 9: Spiezer Schilling: Die Schlacht im Jammertal

Abbildung 10: Alte Strukturen unter der Kathedrale Saint-Pierre in Genf

Abbildung 11: Das Grossmünster in Zürich auf einem Gemälde von Hans Leu dem Älteren

Abbildung 12: Spiezer Schilling: Die Vergiftung der Kinder des letzten Herzogs von Zähringen

Abbildung 13: Titelbild einer kritischen Schrift von 1765 über die angebliche Vergiftung der Zähringer-Erben

Abbildung 14: Die Flußschleifen der Aare von Bremgarten und der Enge bei Bern

Abbildung 15: Titelbild der Festschrift zum Jubiläum der Laupen-Schlacht 1939

Abbildung 16: Spiezer Schilling: Zweikampf zwischen einem Mann und einer Frau in der Matte in Bern, "1288"

Abbildung 17: Spiezer Schilling: Englisches Reiterheer vor Straßburg im Elsaß

Abbildung 18: Antonius-Figur aus dem Berner Skulpturenfund

Abbildung 19: Brunnenfigur von Wilhelm Tell in Schaffhausen

Abbildung 20: Brunnenfigur von Ryffli in Bern

Abbildung 21: Ernst Stückelberg: Wilhelm Tell und sein Sohn

Abbildung 22: Die Kantonsgrenzen von Solothurn

Abbildung 23: Beispiele für moderne Gebrauchsgeschichte: Historische Versatzstücke auf Schweizer Bierdosen

Abbildung 24: Drei Schweizer Briefmarken mit historischen Sujets: Tellskapelle (1938), Schlacht bei Giornico (1940), Gründung Berns (1941)

Tabellen

Tabelle 1: Die Parallelen zwischen den Chronisten Michael Stettler, Valerius Anshelm und Konrad Justinger

Tabelle 2: Die Parallelen zwischen dem Laupenkrieg und dem Murtenkrieg

Tabelle 3: Die Parallelen zwischen Alexander dem Grossen, Karl dem Kühnen und den Eidgenossen

Tabelle 4: Numerologisch bedeutende Daten aus der Geschichte der alten Eidgenossen

Tabelle 5: Die Lebensdaten von Hildebrand - Gregor VII.

Tabelle 6: Christus-Chronogramme in der erfundenen Geschichte der alten Eidgenossen

Tabelle 7: Die Parallelen zwischen der Befreiungsgeschichte Berns und der Waldstätte

Zur Titel-Abbildung: Auguste Bachelin, Gebet der Eidgenossen vor der Schlacht bei Murten

Die Geschichtsmalerei als Teilgebiet der bildenden Kunst erlebte im 19. Jahrhundert mit den geistigen Tendenzen des Historismus eine Hochblüte. Es wurden bevorzugt Motive aus der erfundenen antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Geschichte genommen.

Der Neuenburger Maler Auguste Bachelin (1830 – 1890) leistete mit einigen seiner Werke einen wichtigen Beitrag zu den historischen Vorstellungen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.

1867 hielt er in zwei Gemälden das Leben der Pfahlbauer im Gebiet von La Tène am Neuenburger See fest. So gab er der damals durch die Entdeckungen an verschiedenen Schweizer Seeufern entflammten Pfahlbau-Begeisterung eine illustrative Grundlage.

Das hier abgebildete, 1869 entstandene Monumentalgemälde Gebet der Eidgenossen vor der Schlacht bei Murten verdient ein paar Erläuterungen.

Die gelungene Komposition und die ausgewogene Farbigkeit des Bildes verdienen hervorgehoben zu werden. Das Gemälde ist eindrucksvoll, aber weder schwülstig noch pathetisch.

Bachelin scheint für seine Darstellung klassische Vorbilder verwertet zu haben: Die Übergabe von Breda von Velazquez und das Alexander-Mosaik aus Pompeji scheinen durch.

Das Dekor entspricht dem, was man sich damals unter einer bestimmten Geschichte vorstellte, ist also zutiefst unhistorisch: Die fast unheimlich großen Fahnen verraten die Zeit der Entstehung. – Die Rüstungen, die mehrere Krieger tragen, sind wohl nie im Kampf verwendet worden. – Die Langspeere, welche die Silhouette des eidgenössischen Harsts bilden, sind Entlehnungen aus chronikalischen Schlacht-Illustrationen.

Nach Bachelin ist die Schweizer Historienmalerei für Jahrzehnte in teilweise unerträglich schwülstigem Pathos und in leere Monumentalität hinabgesunken. Das belegen etwa die Gemälde von Karl Grob oder Eugène Burnand. – Das bekannte Murtenschlacht-Panorama von Louis Braun 1893 markiert den Gipfel einer degenerierten Geschichtsillustration.

Das Gemälde von Bachelin war bis 2005 im Speisesaal des Hotels Weißes Kreuz in Murten zugänglich. Nach dem Verkauf der Liegenschaft kam das Bild in Privatbesitz.

Erster Teil: Hinführung zum Thema

Die alten Eidgenossen: eine Wundermär?

Die ältere Vergangenheit der Schwyzer Eidgenossen ist sicher schon vielen merkwürdig vorgekommen. Man denkt an den Rütlischwur, an Wilhelm Tell und vor allem an glorreiche Schlachten, von Morgarten über Murten bis Marignano.

Bis ins 16. Jahrhundert soll diese alteidgenössische Heldenzeit gedauert haben. Nachher veränderte sich das Bild grundlegend. Die Reformation kam und damit wurde die Geschichte der Schweiz plötzlich ereignisarm. Sicher erlebte auch die alte Eidgenossenschaft vor 1798 bedeutsame Augenblicke. Aber es waren vor allem innere Konflikte: der Bauernaufstand von 1653, die Villmerger Bruderkriege von 1656 und 1712, die Verschwörung des Majors Davel in der Waadt gegen die Berner Regierung und der Aufstand der Livinen – Leventina gegen ihre Urner Herren.

Bisherigen Forschern ist der rätselhafte Unterschied zwischen alter Heldenzeit und neuerer Ereignislosigkeit in der Schweizer Geschichte ebenfalls aufgefallen:

Das 17. Jahrhundert ist die Stille zwischen der Reformation und der Aufklärung (Richard Feller in: Nabholz: Geschichte der Schweiz, II, 5).

Weshalb hört der Schlachtenlärm der alten Eidgenossen plötzlich auf? – Steht dahinter vielleicht nur eine falsche Geschichte?

Man merkt ein Unbehagen angesichts der älteren Schwyzer Geschichte. Diese wird deshalb seit Jahrzehnten zurückgefahren. Große patriotische Feiern unterbleiben. Es wird nur noch wenig auf alteidgenössische Tugenden zurückgegriffen. In den Schulen befindet sich das Fach Geschichte auf dem Rückzug. Die Zeitgeschichte ersetzt die ältere Vergangenheit. Gleichlaufend nimmt das Interesse an den alten Sprachen, also Latein, Griechisch und Hebräisch ab. – Der Zugang zur älteren Geschichte unseres Landes wird immer schmäler.

Mit der Geschichte befassen sich Historiker. Spüren diese den Wandel und was meinen sie zu den Ursachen der breiten Abwendung von den alten Geschichten?

Man merkt tatsächlich, daß die veränderte weltpolitische Lage nach 1989 und das angefochtene Bundesjubiläum von 1991 sich in der historischen Diskussion niedergeschlagen haben. Die Geschichte der alten Eidgenossen steht nicht mehr felsenfest; sie wird hinterfragt. Dabei geht es längst nicht mehr um die angebliche Existenz von Nationalhelden wie Wilhelm Tell, sondern um die Frage, ob das Gesamtbild richtig sei.

Wenn der Historiker Roger Sablonier 1999 schreibt: Die sogenannte eidgenössische Staatsgründung von 1291 … ist eine Figur des politischen Diskurses, nicht der historischen Argumentation (Sablonier: Schweizer Eidgenossenschaft, 34), so werden damit die Fundamente unserer Überlieferung und des schweizerischen Geschichtsbildes in Frage gestellt. Es wird zugegeben, daß die ältere Geschichte der Eidgenossen nicht stimmt, daß sie aus Sagen und Legenden zusammengesetzt ist.

Noch deutlicher drückte sich schon früher Marcel Beck aus, der seine Festschrift zu seinem 70. Geburtstag mit Legende, Mythos und Geschichte betitelte und dabei die Epoche der alten Eidgenossen meinte (Beck, 1978).

Aber das überlieferte Bild der alten Eidgenossen besteht noch immer. Eine Revision wird gefordert, aber nicht ausgeführt:

Eine Abwendung von diesem Geschichtsbild hat im öffentlichen Bewußtsein trotz aller Kritik bis heute noch nicht stattgefunden, schreibt der Ägidius Tschudi-Herausgeber Bernhard Stettler (Stettler: Tschudi-Vedemecum, 67).

Es harzt bei der Umsetzung der Forderung. Es langt offenbar nicht, „neue Fragestellungen“ zu erfinden. Das ist schon mehrmals geschehen. Zuerst mit der Rechtsgeschichte, dann mit wirtschaftsgeschichtlichen und soziologischen Ansätzen versuchte man, die ältere Schwyzer Geschichte zeitgemäß zu interpretieren.

Hier vergißt man, daß es keinen Zweck hat, Retouchen an dem herkömmlichen Bild zu machen. Neue methodische Möglichkeiten und Einsichten fordert der erwähnte Roger Sablonier (Sablonier: Bundesbrief, 134). Doch wichtiger wäre eine grundsätzliche Kritik an der Überlieferung.

Dazu ist es aber außer in kleinen Ansätzen nicht gekommen. Bisher fehlten der Wille und vor allem die richtigen Werkzeuge, um die ältere Geschichte der Schwyzer Eidgenossen richtig anzugehen.

Hie Eidgenossenschaft!

Als Schüler hat mich ein kleines Werk beschäftigt und wurde mir zu einem Einstieg in die Welt der alten Eidgenossen. Das 62 Seiten starke Büchlein im Format 12 mal 19 cm ist in weißes Leinen eingebunden und trägt ein Schweizerwappen auf der vorderen Seite oben rechts. Wenn man das kleine Werk in der Hand hält, möchte man an einen Reisepaß denken. – Aber die Verbindung war vielleicht bewußt gesucht worden: Es sollte ein Paßbüchlein oder ein weltliches Brevier sein für den aufrechten Schweizerbürger.

Hie Eidgenossenschaft, wie der Titel des kleinen Werkes lautet, ist 1941, in politisch schwieriger Zeit und im Jahr des 650-Jahr-Jubiläums der Bundesgründung erschienen. Geboten wird ein Abriß der Schweizer Geschichte von den Helvetiern bis 1939 in Form von einzeln abgeschlossenen und mit je einer Illustration versehenen Seiten. Als Autor nennt sich ein Edgar Schumacher, der seines Zeichens Oberst war.

Die Bilder – sämtlich kolorierte Holzschnitte - stammen von dem Künstler Paul Boesch. Letzterer war in den 1940er Jahren ein gefragter Illustrator und hat auch historische Briefmarken gestaltet (Abbildung 33).

Der Inhalt ist in drei Abschnitte eingeteilt: Helvetier, Eidgenossen, Schweiz. Drei Seiten sind den Helvetiern gewidmet, der Hauptteil den Eidgenossen und der letzte Teil mit sechs Seiten der modernen Schweiz ab 1848.

Was mich an diesem Büchlein damals am meisten beschäftigte, waren die Schlachten der Eidgenossen, die auch das Kernstück ausmachen. Nach dem Bund von „1291“ findet sich bis zur Reformationszeit eine fast ununterbrochene Reihe von Schlachten und Kriegen dargestellt: Morgarten, Laupen, Sempach, Näfels, Vögelinsegg, Arbedo, Greifensee, Sankt Jakob an der Birs, Grandson, Murten, Giornico, Calven, Marignano, Kappel. Nur das Konzil von Konstanz und das Stanser Verkommnis unterbrechen die lange Kette von Kämpfen und Schlachten.

Nach der Reformation wird es ruhiger. Nur der Bauernkrieg, die Escalade von Genf, die Villmerger Kriege – letztere sonderbarerweise zu einer Seite zusammengefaßt – und die Verteidigung der Tuilerien werden als kriegerische Ereignisse bis zum Einmarsch der Franzosen 1798 erwähnt.

Hie Eidgenossenschaft ist gerade dadurch für das vorliegende Problem aufschlußreich, weil es einen Abriß der Schweizer Geschichte in gewaltiger Verkürzung bietet und einem kritischen Betrachter um so deutlicher die absurde historische Konstruktion aufzeigt.

Es beginnt schon bei den angeblichen Ureinwohnern der Schweiz, den „Helvetiern“. Da soll Julius Caesar dieses tapfere Volk „58 AC“ in Gallien besiegt und ihm befohlen haben, in seine Heimat zurückzukehren.

Dann gibt es eine undatierte Seite über das friedliche Leben in dem prachtvollen „römischen“ Aventicum und – ebenfalls undatiert – eine Erwähnung der christlichen Durchdringung Helvetiens.

Das erste, mit einer eindeutigen Jahrzahl versehene Geschichtsblatt ist die Gründung Berns „1191“. – Nach genau hundert Jahren folgt die Beschwörung des ewigen Bundes auf dem Rütli. Dann beginnt mit Morgarten „1315“ die Reihe von glorreichen Kämpfen und Schlachten der Eidgenossen.

Studiert man das in diesem patriotischen Brevier von 1941 gebotene Geschichtsbild genauer, kommen erste und grundsätzliche Fragen.

Da fällt zum Beispiel die gewaltige Zeitlücke auf zwischen den Helvetiern oder Römern und der Gründung Berns.

Vor 1900 Jahren soll Helvetien unter römischer Herrschaft geblüht haben und vor 1700 Jahren von den barbarischen Alamannen verheert worden sein. Zwischen dem Ende des prächtigen Aventicum und der Gründung des „mittelalterlichen“ Bern liegen aber acht- bis neunhundert Jahre, in welchen es offenbar im Lande nichts, aber auch gar nichts gab: kaum Menschen, keine Kultur, keine verläßlichen Überlieferung.

Gab es wirklich einen solchen Leerraum, oder ist das nur ein durch eine falsche Chronologie hervorgerufener virtueller Irrtum?

Und die kriegerische Vergangenheit der alten Eidgenossen vom 14. bis zum 16. Jahrhundert? Ist sie wahr oder nur das schriftlich niedergelegte Ergebnis von barocken Geschichts- und Heldenphantasien?

Bei den alten Schwyzer Eidgenossen fällt zum Beispiel auf, daß diese zwar viel gekämpft haben, die Früchte ihrer Kriege aber mehr als mager und teilweise sogar ungünstig ausfielen.

Abbildung 1: Hie Eidgenossenschaft - Die Schlacht am Morgarten

Holzschnitt von Paul Boesch

aus: Hie Eidgenossenschaft, Bern 1941, 16

Hie Eidgenossenschaft! – Die Schlacht bei Morgarten

Kaum eine alteidgenössische Schlacht ist im populären Bewußtsein so bekannt wie Morgarten. – Man weiß zumindest, daß dort die Schwyzer Bauern gegen ein adeliges Heer der Österreicher oder Habsburger unter einem Herzog Leopold einen prächtigen Sieg errungen haben.

Auch die Taktik der Waldstätte ist ungefähr bekannt: Man lockte das feindliche Heer zu einem Engpaß am Aegeri-See und überfiel es dort. Dabei ließ man Felsblöcke und Baumstämme über die steilen Talhänge hinunterrollen. Die Ritter mit ihren Pferden wurden dadurch verwirrt, die Ordnung des Heeres kam durcheinander, viele Feinde wurden erschlagen oder ertranken im See.

Eine alle zwei Jahre gefeierte Schlachtjahrzeit erinnert an das angebliche Ereignis.

Dabei sind die heutigen Historiker grundsätzlich offen: Unsere Kenntnisse der Schlacht sind recht mangelhaft (Handbuch der Schweizer Geschichte, I, 189). – Das heißt im Klartext: Die Schlacht von Morgarten ist eine Geschichtserfindung.

Ein Ortstermin am Morgarten zeigt, daß sich der Kampf unmöglich so abgespielt haben kann wie das obige Bild behauptet: Steilhänge nämlich, um Baumstämme und Blöcke herunter zu rollen, gibt es in der fraglichen Gegend am Aegeri-See keine.

Eine kritische Analyse der Quellen zu Morgarten zeigt, daß diese Schlacht ein Parallel-Ereignis aus der erfundenen Berner Geschichte ist. Zuerst schlug Bern eine glorreiche Schlacht gegen die Habsburger. Die Waldstätte übernahmen diese angebliche Heldentat und wandelten sie entsprechend ab.

Die Schlacht bei Morgarten ist übrigens nach einer fiktiven antiken Schlacht gestrickt: Bekanntlich hätten die Griechen im Engpaß der Thermopylen ein zahlenmäßig überlegenes Heer der Perser zwar nicht zurückgedrängt, aber doch mit heldenhaftem Mut aufgehalten.

Und im biblischen Buch Judith werden die Vorbereitungen des Gebirgslands Israel zur Abwehr der Assyrer gleich geschildert wie die der Waldstätte gegen die Habsburger (Judith, 4, 1 ff.).

Der Holzschnitt von Paul Boesch von 1940/41 hat künstlerische Qualitäten. Er verwertet geschickt Anleihen von alten Schweizer Holzschnitten – etwa aus Petermann Etterlin – mit der neuen Sachlichkeit der 1930er Jahre.

Paul Boesch entwarf zu dieser Zeit auch eine Briefmarke zum Jubiläum der Stadt Bern (Abbildung 24).

So haben die Eidgenossen die Burgunderkriege zwar siegreich beendet, aber im Ergebnis nicht einmal die Waadt gewonnen. – Das ist doch reichlich merkwürdig!

Und da in Hie Eidgenossenschaft jede Seite mit einer genauen Jahrzahl versehen ist, könnte man auch dort Argwohn schöpfen.

Ist es bloßer Zufall, daß die Eidgenossenschaft „1291“, also genau hundert Jahre nach der angeblichen Gründung Berns „1191“ geschaffen wurde?

Dann die nachreformatorische Geschichte der alten Eidgenossenschaft.

Wie gesagt gab es auch da kriegerische Auseinandersetzungen. Aber es waren allesamt Bruderkriege, Bürgerkriege und Aufstände einzelner Regionen, Gruppen und Personen. Diese Dinge sind viel weniger glorreich als die „spätmittelalterliche“ Heldengeschichte der Schwyzer Eidgenossen und werden deswegen auch weniger gern behandelt und beschworen.

Es gibt eine Sempacher Schlachtjahrzeit und eine Solennität in Murten, aber keine solche für die Villmerger Kriege.

Und weder der Ort Villmergen noch Samuel Henzi haben je ein Denkmal bekommen.

Dagegen hat man im 20. Jahrhundert sogar für das unbedeutende Geplänkel von Giornico am Rande des dortigen Tessiner Dorfes ein pathetisches Schlachtenmonument errichtet (Pfister: Historische Denkmäler in der Schweiz).

Als Fazit ergibt sich, daß nur die in unwirklicher Ferne angesiedelte erfundene Schwyzer Geschichte Stoff abgibt für Heldentaten und Glorienschein, nicht aber die wahre Überlieferung der letzten zwei bis drei Jahrhunderte.

Einen Jugendlichen mögen die knappen Texte und die eindrucksvollen Bilder von Hie Eidgenossenschaft faszinieren; und die schwierige Lage der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges rechtfertigte vielleicht das Erscheinen des Büchleins. Aber heute ist dieses ein Anstoß, an der älteren Geschichte der Eidgenossen zu zweifeln.

Ursprung der Freiheit

Seit den 1940er Jahren gab der Berner Verlag Paul Haupt die Schweizer Heimatbücher heraus. – Parallel dazu wurde auch eine Reihe Berner Heimatbücher geführt.

Bis in die 60er Jahre sind in jenen gleichlaufenden Reihen eine stattliche Anzahl Titel herausgekommen, alle mit ganzseitigen Illustrationen und schmalem Text.

Bei den Schweizer Heimatbüchern reicht die Themenvielfalt von Gottfried Keller über das Puschlav, den Greifensee, Schwyzer Bauernhäuser bis zu den Brissago-Inseln und die Luzerner Volkskunst.

Bei der Berner Reihe gehen die Titel vom Emmentaler Bauernhaus über bernische Landsitze, das ehemalige Kloster Münchenwiler, den Tierpark Dählhölzli bis zu Niklaus Manuels Totentanz und den Hohgant, die Bergkrone des Emmentals.

Vor kurzem entdeckte ich in der Schweizer Reihe einen Titel Ursprung der Freiheit. Historische Stätten in der Urschweiz.

Die 1965 erschienene Broschüre von Georges Grosjean verdient als kurze Zusammenfassung der Schwyzer Gründungslegende aus jener Zeit besprochen zu werden.

Der Verfasser war Professor für Geographie an der Universität Bern. Als solcher befaßte sich Grosjean auch mit historischen Themen. Unter anderem forschte er über die römische Landvermessung in der Schweiz.

Als Anlaß des schmalen Buches wird das 650-Jahr-Gedächtnis der Schlacht am Morgarten und des Bundesschwurs zu Brunnen „1315“ genannt.

Ursprung der Freiheit gibt zuerst die Quelle für die Bundesgründung der Waldstätte, die entsprechenden Passagen des Weißen Buchs von Sarnen wieder.

Anschließend wird der angebliche Freiheitskampf im Lichte der Urkunden und der modernen Geschichtsforschung beleuchtet.

Fazit dieser Übersicht ist für den Verfasser: Durch die neuesten Forschungen haben die Erzählungen der Bundeschronik ihren Platz in der Geschichte zurückerhalten. Rütli und Hohle Gasse, Tellenplatte und das Gemäuer der alten Burgen sind geschichtlicher Boden und mit der Bundesgründung verknüpft (22).

Abbildung 2: Titelseite von Wilhelm Oechsli: Die Anfänge der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 1891

Das Datum der Gründung der Schwyzer Eidgenossenschaft

Im 19. Jahrhundert hat sich eine historische Festkultur entwickelt – auch in der Schweiz. Bedeutsame Jahrzahlen wurden mit Festen gefeiert und dabei oft Denkmäler enthüllt.

1891 war der heutige Bundesstaat 43 Jahre alt. Mit großem Aufwand wurde das angeblich 600-jährige Jubiläum der Gründung der Schweizer Eidgenossenschaft gefeiert.

Der Historiker Wilhelm Oechsli bekam vom Bundesrat den Auftrag, für den Anlaß ein Buch zu schreiben.

Der Inhalt ist nicht sehr erhebend. Das Werk gibt nur Altbekanntes wieder.

Einen Wert hat jedoch das Titelbild des Jubiläumsbuches. Es zeigt, wie damals alte Geschichte in Szene gesetzt wurde.

Der Titel des Buches spricht den ersten ewigen Bund der Eidgenossen vom „1. August 1291“ an.

1891 war eine Feier für ein pseudohistorisches Ereignis, aber gleichzeitig auch das Stiftungsjahr für den heutigen Schweizer Nationalfeiertag.

Die Zentenarfeier von 1891 markiert eine historiographische Wende in der Schweiz, nämlich die Rückverlegung des Gründungsjahres der Eidgenossenschaft. Bis dahin galt 1307 als Ursprungsdatum. - Noch auf dem bekannten Tell-Denkmal von Altdorf ist diese Jahrzahl eingemeißelt.

Wie kam es zu der Rückverlegung? – „Um 1760“ – eher gegen Ende des Jahrhunderts - wurde in Basel der Bundesbrief von 1291 entdeckt und herausgegeben. Aber damals waren die großen Chronik-Werke schon geschrieben. Und diese kannten nur das Gründungsdatum 1307 und einen Bundesbrief von 1315.

Der Bundesbrief von 1291 ist eine späte Urkundenfälschung oder Urkundenschöpfung. Aber im Laufe von mehr als einem Jahrhundert erhielt dieses Dokument einen Nimbus, der noch heute anhält.

Bei der Diskussion um 1291 oder 1307 vergaßen die neueren Historiker ein wesentliches Element: Die ältesten Chroniken nennen nicht 1307, sondern 1314 als Ursprung des Schwyzer Schwurbundes (vgl. dazu: Pfister: Die Entstehung der Jahrzahl 1291). – Was soll man von einer Geschichtswissenschaft halten, welche Inhalte und Daten nach Belieben ändert?

Es war übrigens der Freiburger Historiker Alexandre Daguet, welcher ab etwa 1860 als erster das Gründungsdatum 1291 verfocht (Vgl. Pfister: Beiträge zur Freiburger Historiographie, Die Entstehung der Jahrzahl 1291).

Grosjean war ein gewissenhafter Forscher. Also erkennt der kritische Leser die Schwachstellen der Argumentation: Die ganze Geschichte der Bundesgründung ruht auf den wenigen Seiten des Weißen Buches. Aber dieses nennt keine Jahrzahlen und erwähnt die Schlacht bei Morgarten nicht.

Deutlich wird auch, daß die ältere Chronistik den angeblichen Bundesbrief von 1291 nicht kennt.

Auch der Ort der sagenhaften Schlacht am Morgarten ist umstritten. Die Vorstellung, daß die Schwyzer bei jenem Kampf Lawinen von Felsblöcken und Baumstämmen auf den Gegner hinuntergewälzt hätten, bezeichnet Grosjean sogar als naiv.

Die Broschüre über die Gründung der Waldstätte läßt den Widerspruch erkennen, den keine wissenschaftliche Bemühung beseitigen kann: Die Bundesgründung wird als eine Legende angesehen, soll aber nichtsdestoweniger einen wahren Hintergrund haben.

Das Heft ist wie die anderen Titel jener beiden Reihen mehrenteils ein Bilderbuch: 32 schöne Schwarzweiß-Fotos stellen Landschaften rund um den Vierwaldstättersee dar, bilden Burgruinen wie die Schwanau, den Meierturm in Silenen, die Zwing Uri, die Gesslerburg und Alt Habsburg ab, zeigen Tell-Darstellungen, eine Ansicht des Bundesbriefarchivs in Schwyz, eine Musterseite aus dem Weißen Buch und eine Illustration aus der Spiezer Chronik von Diebold Schilling.

1965 war die Auffassung von der Bundesgründung der Schwyzer noch unwidersprochen. Aber schon wenige Jahre später wurde die erste Kritik laut.

Die wundersame Entstehung der Eidgenossenschaft

Als ich die Vorarbeiten für dieses Buch begann und Literatur sammelte, erinnerte ich mich an ein Buch, das ich um 1970 gelesen hatte und genau mein Thema war, nämlich eine kritische Auseinandersetzung mit der älteren Geschichte der Eidgenossen. – Unter Umständen könnte mir jenes Werk viel Arbeit abnehmen, stellte ich mir vor.

Bald hatte ich das Buch gefunden. Es stammt von Otto Marchi und ist betitelt mit Schweizer Geschichte für Ketzer oder die wundersame Entstehung der Eidgenossenschaft.

Wie ich aber wieder darin las, erkannte ich bald, daß dieses Werk schon ziemlich Staub angesetzt hatte und nur bedingt nützlich war.

Marchi schrieb sein Buch 1968. In den beiden folgenden Jahren erschien es als Zeitungsserie und wurde darauf für die Erscheinung 1971 in die vorliegende Form umgeschrieben. Die ursprünglich journalistische Abfassung des Werkes erkennt man deutlich am Stil des Inhalts und an Kapitelbezeichnungen wie: Die sagenhafte Apfelschützen GmbH, Die pränatalen Gründerjahre, Die Pensionierung der Bösewichte und Rütli – Rebellion der Sennen?

Die Schweizer Geschichte für Ketzer ist reich, aber chaotisch illustriert – und auch das textliche Layout ist der Lesefreude nicht angetan. - Um das Gewicht des Werkes zu erhöhen, wurde der Zürcher Geschichtsprofessor Marcel Beck um ein Vorwort gebeten – und die bekannten Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel und Kurt Marti schrieben je einen Text als Anhang.

Bei der erneuten Lektüre hatte ich Mühe, die Grundidee des Buches herauszufinden. Gewiß, es geht um eine Entmystifizierung der aufgebauschten und heroisierten Geschichte der frühen Schwyzer Eidgenossenschaft.

Endlich nach über hundert Seiten erklärt Marchi sein Anliegen, durch die Widerlegung der historischen Existenz Wilhelm Tells Sage und Geschichte auch in der Befreiungsgeschichte exakt zu trennen (Marchi, 124).

Erst jetzt erfährt der Leser, daß der Autor nicht die Entstehungsgeschichte der Schwyzer Eidgenossen als solche entlarven will, sondern nur deren märchenhafte Ausschmückung.

Die Tell-Geschichte zum Beispiel sei geschaffen worden, um Herausforderungen einer späteren Zeit zu begründen. Dies sei aber heute nicht mehr nötig. Die heutige Schweizer Schule habe den jungen Staatsbürgern statt unreflektierter Abziehbildchen ein kritisches Geschichtsverständnis beizubringen (Marchi, 124).

Das sind kluge und große Worte von Otto Marchi. Aber der Autor beläßt es mit allgemeinen Deklamationen. Wie ein kritisches Geschichtsbild der Schweiz beschaffen sein müßte, bleibt unklar.

Und mit der Forderung, in der Geschichte Dichtung und Wahrheit zu trennen, zeigt sich Marchi nicht als Einzelner, sondern als einer unter vielen. Diese Absichtserklärung haben andere Historiker abgegeben. Sogar der berühmte Karl Meyer bekannte sich dazu. Aber daraus leitete letzterer den Schluß ab, daß die ganze Befreiungsgeschichte der Waldstätte authentisch und Wilhelm Tell eine historische Person sei.

Je weiter man das Buch liest, desto deutlicher merkt man, daß Marchi eine theoretische und methodische Grundlage fehlt. Er möchte die glorifizierte Schwyzer Geschichte auf ein Normalmaß zurückführen, nicht abschaffen. Der Autor betrachtet die einheimische Geschichte kritisch, aber er greift kritiklos auf die allgemeine Geschichte zurück. Die kaiserlosen, die schrecklichen Jahre von „1250 bis 1273“ sind für ihn unreflektierte Wirklichkeit, so gut wie Rudolf von Habsburg und Kaiser Albrecht I.

Dabei enthält das Werk auch brauchbare Ansätze einer neuen Geschichtsbetrachtung. Dank seiner kritischen Haltung erkennt Marchi zum Beispiel Parallelitäten oder Präfigurationen, wie er sie nennt, und bringt sogar etwas Geschichtsanalyse.

Über die Motive zur Erfindung der Gründungssage wird zum Beispiel gesagt: Das Recht auf eine eigenständige Entwicklung wird damals noch durch eine Anknüpfung an irgendwelche möglichst berühmte Präfigurationen aus der Vergangenheit bewiesen, von denen die eigenen Einrichtungen hergeleitet und damit auch gerechtfertigt werden (Marchi, 39). - Der Stil der Aussage ist allzu historisch, aber der Kern stimmt.

Im Laufe seiner Darlegungen bringt Marchi auch konkrete Beispiele für Präfigurationen oder Parallelitäten. So erwähnt der Autor, daß Doktor Eck, der Anwalt der katholischen Kirche an der Badener Disputation von „1526“, mit dem Riesen Ecke in der Dietrichssage, in dem eidgenössischen Laupenlied und in Niklaus Manuels Gedicht Des Baders und Eggers Badenfahrt zu vergleichen sei. - Nur zieht Marchi nicht die Folgerung, daß die erwähnten Ereignisse und Personen erfunden sein müssen.

Die Schweizer Geschichte für Ketzer ist nicht so ketzerisch wie sie behauptet. Deshalb konnte diese Geschichtskritik nicht greifen und ist schon vergessen.

Der Autor des Werkes verließ danach die Historie und wurde Romanschriftsteller.

Otto Marchi ist im Dezember 2004 bei der Flutkatastrophe in Südasien ums Leben gekommen.

Das Bundesbriefmuseum in Schwyz

Ich hatte dieses Museum vorher nie besucht. Mir fehlte das Motiv, jenen Ort aufzusuchen. Gemeint ist das Bundesbriefarchiv in Schwyz, das seit 1998, nach einem Umbau und einer Neukonzeption Bundesbriefmuseum heißt.

Als ich das erste Mal dort eintrat, war meine Spannung groß. Bei den Vorarbeiten zu diesem Buch war jenes Museum für mich interessant geworden.

Dabei gibt es in diesem Archiv oder Museum wenig zu sehen. - In der Eingangshalle werden verschiedene Dinge der Waldstätte und der Landschaft Schwyz vorgestellt und erklärt. Dann geht es über einen breiten Treppenaufgang hinauf in einen großen Saal, in welchem die Weihegegenstände der Schwyzer Eidgenossenschaft ausgestellt sind: verschiedene Banner und einige Urkunden, allen voran natürlich der Bundesbrief vom „August 1291“ die wichtigste nationale Profanreliquie (Entstehung, Sablonier: Bundesbrief, 132).

Auch Dokumente des patriotischen Bewußtseins des 19. Jahrhunderts werden gezeigt. Man erfährt, daß erst mit der 600-Jahr-Feier der Bundesgründung 1891 der Bundesbrief mit dem Datum 1291 jene überragende Bedeutung im allgemeinen Bewußtsein und in der historischen Betrachtung gewann.

Und niemals vergessen sollte man den Anlaß zum Bau dieses Archivs oder Museums. Die Idee wurde anfangs der 1930er Jahre entwickelt und ausgeführt. 1936 weihte man diese nationale Gedenkstätte mit ziemlichem Pomp ein.

Seine größte Bedeutung erlebte das Bundesbriefarchiv kurz darauf im Jahre 1941, als die Schweizer Eidgenossenschaft vor einer existentiellen Bedrohung wegen der vollständigen Umklammerung durch die Achsenmächte stand.

Die Feierlichkeiten zum 650-Jahr-Jubiläum bedeuteten den Höhepunkt der Bundesbrief-Verehrung.

Der damals auch in der Bundesregierung einflußreiche Historiker Karl Meyer, ein bewußt handelnder staatlicher Propagandapublizist, ein selbsternannter Chefideologe (Entstehung, Sablonier: Bundesbriefmuseum, 174) holte dafür sogar Wilhelm Tell als angeblich historische Figur zurück.

Unterdessen sind viele Jahrzehnte vergangen und der Zeitgeist hat sich gewandelt. Das Bundesbriefarchiv bekam einen neuen Namen und eine neue Konzeption. Die heutige Präsentation und die Erklärungen auf den Tafeln erstaunen durch eine verblüffende Offenheit und Aufgeschlossenheit. Unumwunden wird erklärt, daß das traditionelle Bild von der Entstehung der Eidgenossenschaft falsch und Gemeinplätze wie der Burgenbruch der Waldstätte historisch nicht zu belegen seien.

Das Bundesbrief-Museum in seiner heutigen Konzeption will die monumentale Aufbauschung der mittelalterlichen Frühgeschichte unseres Landes (Marchal: Bundesbriefarchiv, 158) korrigieren und zur historischen Selbstbescheidung anleiten, hat man den Eindruck. Aber reicht das aus oder ist das der richtige Weg?

Die Betreiber haben sich Mühe gegeben, ein aggiornamento des Archivs zu versuchen. – Doch die Frage der Fragen wird nicht beantwortet: Wie steht es um die Echtheit der Urkunden?

Als Fazit habe ich den Eindruck, als sei die Neugestaltung auf halbem Wege stehengeblieben. Man müßte mehr tun.

Schon im Garten des Museums gäbe es etwas aufzuräumen. Dort steht noch immer ein unpassendes, überdimensioniertes Kriegerdenkmal von 1939: ein Bronzesoldat in pathetischer Pose, mit Nagelschuhen und Gamaschen (Pfister: Historische Denkmäler in der Schweiz). Die Figur stört nicht nur den Ausblick auf die Mythenstökke hinter Schwyz, sondern tötet jede Besinnung und weckt dafür Ärger und Aggression. – Doch zur Wegschaffung dieses unzeitgemäß gewordenen Monumentes konnte man sich offenbar bisher nicht durchringen.

Die Stiftsbibliothek Sankt Gallen

Sankt Gallen bezieht seinen historischen Ruhm von dem ehemaligen Kloster, richtiger der Fürstabtei Sankt Gallen. Diese wurde 1805 aufgehoben. Aber die barocke Anlage am Rande der Altstadt besteht noch immer.

Berühmt ist in diesem ehemaligen Stift der Lesesaal im Stil des Barocks oder Rokoko, etwa in den späten 1780er Jahren errichtet.

Und vor allem wird der Reichtum der Bibliothek gepriesen: etwa

15’000 alte Bücher und 2000 Handschriften bilden einen Schatz, der nach außen strahlt.

Kein Wunder, daß Sankt Gallen 1983 in die angesehene Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen wurde.

Für die Vermarktung der ostschweizerischen Stadt mag dieses Etikett gut sein. Doch wir suchen die historische Wahrheit. Also erlauben wir uns einige Fragen zu stellen.

Es gab sicher ein Kloster Sankt Gallen, wenngleich die Stadt die Reformation mitmachte. Fortan bildete das religiöse Zentrum eine fürstliche Abtei der alten Eidgenossenschaft. In diesen Zeiten entstanden die heutige Stiftskirche, die Stiftsbibliothek und die übrigen Gebäude.

Aber die Abtei gab sich nicht mit ihrer bloßen Existenz zufrieden. Mit großem Aufwand stellte sie eine monumentale Geschichtslegende her von einem blühenden Kloster, das 1000 Jahre vorher entstanden sei.

Die Abtei sammelte vor allem einen eindrucksvollen Stock Handschriften, die aus der ganzen Zeit des „Mittelalters“ stammen sollen.

Die gewaltige Geschichtslüge von einem reichen Kloster Sankt Gallen und kostbaren Handschriften in altersgrauen Zeiten wird noch heute geglaubt und staatlich gepflegt.

Die Stiftsbibliothek Sankt Gallen ist zu einer Propagandastätte für das angebliche christliche Mittelalter geworden.

Danach lägen die Ursprünge des Klosters Sankt Gallen in einer nebulösen „frühmittelalterlichen“ Zeit. Es gab damals kaum schriftliche Aufzeichnungen, und die Kultur muß gegenüber der Römerzeit auf ein jämmerliches Niveau gesunken sein.

Das Handbuch der Schweizer Geschichte weiß nichtsdestoweniger erstaunlich viel über jene Anfänge zu berichten:

720 gründete der alemannische, aber in Rätien am Bischofshof erzogene Priester Otmar an der Grabstätte des Gallus, wo sich ja schon immer eine kleine Einsiedelei befunden hatte, das Kloster St. Gallen. In der Folge unterstellte er es der Benediktinerregel. Den Auftrag zur Gründung gab ihm der Tribunus Waltram von Arbon, der Grundherr der Gegend. Unterstützt wurde er aber auch vom Präses Viktor und den alemannischen Herzögen (Handbuch, I, 119).

Der pseudohistorische Nonsens dieser Zeilen ist nicht zu überbieten.

Aus der Einsiedelei und dem Kloster soll im Laufe der Zeit eine reiche und mächtige Abtei entstanden sei.

Auch hier weiß das Handbuch sehr viel mit vielen Einzelheiten:

Dank der Schenkungen, die seit dem Ausgang des 8. Jahrhunderts rasch zunahmen, und um die Mitte des 9. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichten, wurde St. Gallen zu einem der reichen karolingischen Königsklöster. So entstand ein in unzählige kleine und kleinste Einzelstücke aufgesplitterter Großgrundbesitz, nicht etwa ein zusammenhängendes Gebiet, das im Großbetrieb hätte bebaut werden können. Zu Beginn des 10. Jahrhunderts dürften es schätzungsweise 4000 Hufen oder 16000 Jucharten gewesen sein, die sich im Raum zwischen Limmat, Aare und Donau, d.h. in ganz Alemannien verteilten (Handbuch, I, 133).

Es ist schwer zu glauben, daß eine solche hirnrissige Pseudogeschichte noch heute geglaubt und geschrieben wird.

Die gefälschten Urkunden stellen tatsächlich den Grundbesitz des karolingischen Sankt Gallens als riesigen Splitterbesitz dar, der sich sogar auf einem großräumigen Kartenausschnitt kaum ganz darstellen läßt.

Aber was soll ein solcher Streubesitz in einer unendlich fernen Zeit, als Europa angeblich politisch und wirtschaftlich am Boden lag, als es weder Münzen, noch Fernstraßen, noch eine entwickelte Kultur gab und die an sich schon armen Landschaften von fremden Kriegsscharen geplündert und verheert wurden?

Offenbar standen den Verwaltern zur Inspektion ihrer Güter geländegängige Autos mit Allradantrieb zur Verfügung. - Und die Zinszahlungen der Untertanen an das Kloster besorgte wohl die Raiffeisenbank oder der Credit Suisse.

Im Laufe des 18. Jahrhundert blühte das Kloster und danach die Fürstabtei Sankt Gallen auf. – Doch der riesige Grundbesitz achthundert Jahre vorher scheint sich verflüchtigt zu haben, als hätte er nie existiert.

Die Geschichte des Klosters Sankt Gallen nach dem Jahr „1000 AD“ liest sich als ein achthundertjähriger Abstieg, wie auch der Blick auf die Handschriftensammlung des Stifts zeigt.

Die Wissenschaft behauptet hier, fast alle diese Handschriften stammten aus der Zeit bis zum Ende des Mittelalters, also bis zum „16. Jahrhundert“.

Ein Fünftel der Manuskripte soll sogar aus der Zeit vor dem Jahr „1000 AD“ stammen.

Was soll das? Hat denn das Kloster Sankt Gallen in der Neuzeit überhaupt nichts mehr Handschriftliches hervorgebracht? War die Abtei bis zu ihrer Aufhebung nur mehr von einfältigen Mönchen und geistig beschränkten Äbten bewohnt?

Man kann die Absurdität der pseudohistorischen Behauptungen auch vom Bau her aufrollen: Da hat man im letzten Fünftel des 18. Jahrhunderts eine Bibliothek für Handschriften gebaut, die schon viele Jahrhunderte, teilweise schon vor tausend Jahren existiert hätten. – Glaubt jemand an eine tausendjährige Aufbewahrungszeit von empfindlichen Manuskripten?

Über tausend Jahre hätte man in einem legendären Kloster in der Ostschweiz die gleichen Handschriften der Bibel, der Kirchenväter und ausgewählter klassischer Autoren hergestellt, gesammelt und gelesen.

Dabei scheute man in dieser angeblich bettelarmen Zeit keine Mühe und keine Kosten. Gewisse illuminierte Manuskripte müssen ein Vermögen gekostet haben – abgesehen von der Kunstfertigkeit und dem Arbeitsaufwand.

Eine verquere Chronologie und ein absurdes Geschichtsbild führten zu dieser schrägen Optik.

Jeder, der mit etwas kritischem Verstand die Sankt Galler Handschriften betrachtet, wird die falschen Zuschreibungen und Datierungen entlarven.

Auch in der Stiftsbibliothek Sankt Gallen wird nur mit Wasser gekocht. Alle dortigen Handschriften stammen demzufolge aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. – Die „Karolingerzeit“ und das übrige „Mittelalter“ ist eine Erfindung der Renaissance und des Barocks.

Die Kuratoren und Wissenschaftler, die noch heute das Märchen von der karolingischen Blüte eines Klosters Sankt Gallen verbreiten, blenden die einfachsten kritischen Überlegungen aus.

Bei Sankt Gallen, dem Kloster und der Stiftsbibliothek mit ihren Handschriften, fragt man sich einmal mehr: Weshalb muß denn alles so alt, wenn möglich „uralt“ sein? Kann man sich nicht auch an Dingen freuen, die höchstens ein paar Jahrhunderte alt sind?

Hie Schweizerland, hie Bern! - Die Geschichte Berns von Richard Feller

Als Mittelschüler war dies meine erste große historische Lektüre: die monumentale Geschichte Berns von Richard Feller.

Der erste Band - der literarisch am meisten beeindruckt - erschien 1946, behandelt die Geschichte der Stadt von den Anfängen „im 13. Jahrhundert“ bis „1516“ und ist 600 Seiten stark. Der zweite Band mit noch mehr Seiten geht bis 1653, also bis zum Bauernkrieg. - Bis 1798 folgen nochmals zwei Bände, wobei der letzte und dickste nur mehr die Jahre 1790 bis 1798 abdeckt. – Alles in allem eine gewaltige Leistung jenes 1958 verstorbenen Berner Professors.

Fellers Werk ist das große Epos von den wechselvollen Schicksalen des mächtigsten Stadtstaates diesseits der Alpen, seinem Aufstieg, seiner Blüte und seinem Untergang (Feller/Bonjour, II, 759).

Man ist gespannt zu erfahren, wie Bern dieses staunenswerte politische Ergebnis fertiggebracht hat. Und Feller in seiner nüchterndisziplinierten, aber manchmal auch pathetischen Sprache gibt dem Leser eine Antwort:

In tiefer Not verstrickt, gab dieses Geschlecht den nachfolgenden das Beispiel der Selbstüberwindung; der Gemeinsinn siegte über die Leidenschaft. Das ist das Außerordentliche, das Bern durch Jahrhunderte Frucht trug und bereits andeutete, daß in Bern die politische Begabung die anderen Fähigkeiten überragte (Feller, I, 68).

Die scheinbar geniale Einsicht Fellers in die Geheimnisse des staunenswerten Aufstiegs von Bern ist jedoch weit weniger aufsehenerregend, wenn man sie mit der chronikalischen Quelle dieser Aussage vergleicht.

Valerius Anshelm nämlich schrieb am Anfang seines Werkes, er wolle darstellen, daß eine so löbliche, mächtige Stadt Bern durch semliche tugendsame Regierung angefangen, zugenommen, erhalten und so hoch gebracht (Anshelm, I, 8).

Nicht nur die außerordentliche politische Begabung sei es nach Feller gewesen, die Bern groß gemacht habe, sondern auch eine geradezu phantastische divinatorische Begabung seiner Führungsschicht:

In Bern stieg aus dem Dunkel der Frühe ein Wille auf, der die Umstände mit einer Sicherheit erfaßt, als ob er seine Absichten schon durch Jahrhunderte erblickte (Feller, I, 9).

Bern muß wirklich eine politische Sonderbegabung ersten Ranges gewesen sein. Feller nährt mit seiner Diktion und seiner Darstellung diese Meinung. Nach ihm bekommt man den Eindruck, daß diese Stadt eine Art historisch-politisches Utopia gewesen sei, ein Land Kanaan, wo Milch und Honig fließt:

Das Jahr 1420 war wundersam fruchtbar; die Natur spendete so verschwenderisch, daß man schon Ende August mit der Weinlese begann. Wein und Korn wurden so billig, als sich kein Mensch besinnen konnte. Der Wohlstand nahm zu, das Handwerk hatte goldenen Boden, seine Gesellschaften erwarben eigene Häuser und schmückten sie mit schönem Gerät (Feller, I, 258).

Wäre hier nicht eine Jahrzahl drin, so würde man meinen, das sei eine freie Übersetzung von Ovids Gedicht über das goldene Zeitalter.

Wahrhaftig, in Bern war alles im Überfluß vorhanden. Mißernten, Teuerung und Pest machten vor den Stadttoren halt. Da begreift man, weshalb diese gottbegnadete Stadt ringsherum für jeweils Tausende von Goldgulden Städte und Landschaften zusammenkaufen und dennoch einen Staatsschatz äufnen konnte, dessen Größe sich im späten 18. Jahrhundert in ganz Europa herumsprach.

Aber bleiben wir nüchtern und fragen uns, woher Feller die Inspiration holte, um ein solch unwirklich-verklärtes Geschichtsbild einer Stadt Bern in alten Zeiten zu malen. Die kritischen Einwände kamen mir erst mit der Geschichtsanalyse. Vorher war ich Jahrzehnte von Fellers Darstellung voreingenommen und blind gegen Einwände.

Dabei hätte ich schon vor einigen Jahrzehnten auf das Geheimnis von dessen selbstsicherem Urteil kommen können. An einer Tagung sprach ich einmal einen Professor an, der selbst bei Feller studiert hatte. Dieser Mann teilte meine Begeisterung für den Autor der Geschichte Berns keineswegs. Der Hochschullehrer sagte, daß Feller in seinen Seminaren überhaupt keine Quellenkritik betrieben habe. Die alten Zeugnisse wurden gelesen und kommentiert, nicht mehr.

Erst heute habe ich diese Bemerkungen begriffen und ergründe das Geheimnis dieses historiographischen Monuments über Bern.

Feller kann deshalb so selbstsicher die Geschichte der Stadt darzustellen und deren Entfaltung als Werk der göttlichen Vorsehung hinzustellen, weil er getreu die chronikalischen Quellen wiedergibt. Für die ältere Zeit bis nach der Reformation sind das Justinger und Anshelm.

Hat man die letzteren Chronisten analysiert, so versteht man auch Feller. Die Theodizee, die göttliche Bestimmung im menschlichen Handeln, welche der Geschichtsschreiber des 20. Jahrhunderts bringt, folgt teilweise wörtlich derjenigen der genannten alten Historiographen.

Weil Feller unkritisch die alten Chronisten wiedergibt, fallen ihm auch die gröbsten Widersprüche in seiner Darstellung nicht auf. Er stellt keine Fragen, weshalb Bern „in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts“ das Städtchen Aarberg insgesamt dreimal gekauft hat.

Feller erkennt auch die anderen Merkwürdigkeiten in Berns Expansionspolitik nicht. So wird nicht hinterfragt, warum die Stadt häufig ein fremdes Städtchen kriegerisch einnimmt, um es nachher rechtmäßig durch Kauf zu erwerben – geschehen etwa mit Burgdorf.

Auch sucht man bei Feller vergeblich nach einer Antwort, weshalb Berns Westpolitik, also die Beherrschung der Waadt, während drei Jahrhunderten erfolglos war.

Noch gröbere Widersprüche treten hervor, wenn Feller die Bildung und das Latein in der Stadt behandelt. Getreu seiner fixen Meinung, daß hier die Außenpolitik den Vorrang über den Kommerz und die Bildung hatte, zeichnet dieser Historiker ein abstruses Bild der Bildungsverhältnisse im älteren Bern. Zwar hätte es schon „ab dem 14. Jahrhundert“ in der Stadt eine Lateinschule gegeben, aber diese sei nur auf die praktischen Bedürfnisse, also besonders die Kanzlei ausgerichtet gewesen:

Zumeist erreichten geistige Bewegungen anderer Länder den Berner nicht. … Die geistige Speise blieb durch Jahrzehnte unerfrischt. … Berns Durchgang durch das Latein war dürftig, weil man nicht nach dem Geist trachtete, den das Latein erschloß … Mit dem Latein versagte sich Bern den gangbarsten Weg zur geistigen Welt. ...

Die geistige Ausstattung darbte, weil die Kopfarbeit in Bern gering geachtet war (Feller, II, 57 f.).

Die Idealstadt Bern war also eine geistige Wüste. Da verwundert, daß der Ort so bedeutsam wurde, obwohl er doch von Spießern beherrscht wurde. Und man kann kaum begreifen, daß Bern neben Zürich so unglaublich schnell die Reformation übernommen hat, obwohl nach Feller fremde geistige Einflüsse nicht durch die Stadttore eingelassen wurden.

Manchmal muß man sich in Fellers Darstellung sogar wundern, was er überhaupt meint:

Die Verehrung der Ahnen bestimmte das Antlitz der Vergangenheit. Der Berner übte unbewußt die Fähigkeit, in die Vergessenheit zu verstoßen, was ihr Andenken trübte (Feller, II, 64).

War Bern rückwärts gerichtet oder nur traditionsbewußt? Und wie kann man eine kritische Geschichte Berns schreiben, wenn die Altvordern doch bewußt aus ihren Quellen und Darstellungen alles herausgefiltert haben, was das Andenken an die Ahnen trübte?

Schon eine kurze Betrachtung dieser monumentalen Geschichte Berns zeigt, daß wir es bei Feller mit unkritischer Historiographie zu tun haben. Das nüchterne Pathos und die geglättete Darstellung verhüllen nur unzulänglich die Mängel, Widersprüche und Absurditäten in dem Werk. Für die ältere Zeit – und das sind seinen Bänden immerhin die ersten tausendfünfhundert Seiten, folgt Feller nicht nur den ersten Chronisten, er übernimmt auch ihre Tendenzen, ohne es zu merken.

Nur in Einzelheiten gibt es Kritik. So hält Feller dafür, daß die goldene Handfeste Berns in ihrer heutigen Gestalt erst etwa „um 1300“ entstanden sei. – Und an einer anderen Stelle verneint er die Überlieferung, daß die Stadt „1271“ gegen die Habsburger eine Niederlage eingefangen habe, weil dies seiner Meinung nach den Urkunden widerspreche.

Richard Feller hat es noch gewagt, die ältere Geschichte Berns darzustellen.

Nach der Mitte des 20. Jahrhunderts schrieben nicht mehr Einzelne Geschichte. Die Geschichtsbücher kamen als Sammelwerke von verschiedenen Autoren heraus.

Berns mutige, große, mächtige und goldene Zeit oder der Bankrott der Berner Geschichtsforschung

Berns Geschichte ist gut erschlossen und wird fast regelmäßig neu geschrieben.

Nach Richard Fellers großem Werk erschien 1971 ein kurzer Abriß über die Vergangenheit der Stadt und des Kantons von Hans Strahm.

Und zu Beginn der 1980er Jahre kam die vierbändige Illustrierte Enzyklopädie des Kantons Bern heraus, die neben der Geschichte und Kunstgeschichte auch die Geographie und Naturkunde einschloß.

1999 dann erschien in einer neuen Reihe Berner Zeiten ein umfangreiches Werk über die ältere Geschichte Berns: Berns große Zeit. Das 15. Jahrhundert neu entdeckt.

Als ich den 685-seitigen Wälzer in der Hand hielt, stellte ich mir bereits Fragen: Was war an diesem „15. Jahrhundert“ so groß? Und wie schafft man es, über diese doch sehr entfernte Zeit so viel zu schreiben?

Nun, die „große Zeit“ bezieht sich auf die „Burgunderkriege“. – In diesem gewaltigen Ringen sei Bern zu einer Macht von fast europäischer Bedeutung aufgestiegen. Und alle frühen Chroniken, von „Justinger“ bis „Diebold Schilling“, sind zeitlich um dieses Ereignis herum angesiedelt.

Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis und eine erste Durchsicht zeigt Berns große Zeit als Sammelband. In ihm sind die verschiedensten Autoren mit den verschiedensten Themen vertreten. Eine Geschichte jener Zeit wird nicht geboten. Die Burgunderkriege werden kursorisch abgehandelt; die politische Entwicklung in jenem angeblich großen Jahrhundert kaum skizziert.

Durchgeht man das umfangreiche Werk, so staunt man, was es in diesem Bern in einem sagenhaften 15. Jahrhundert alles gegeben hat. – Die Stadt war also damals keineswegs die geistige und kulturelle Wüste, als welche sie Richard Feller beschrieben hat.

Man erfährt in Berns großer Zeit Dinge, die vorher vollkommen unbekannt waren. Der Untertitel des Werkes lügt also nicht: Die ältere Geschichte der Stadt wird tatsächlich neu entdeckt.

Beispielsweise wird erklärt, weshalb es in Berns angeblichem Mittelalter immer wieder zu Stadtbränden kam. – Man erfährt Details über die Trinkwasserversorgung. - Einzelne Architekten wie Bartholomäus May werden vorgestellt. – Der bernische Schloßbau im 15. Jahrhundert mit Worb und Reichenbach wird monographisch in allen Einzelheiten beschrieben.

Wirtschafts-, Sozial- und Verwaltungsgeschichte als moderne historische Themen werden auf das ältere Bern angewendet. Da erfährt man staunenswerte Einzelheiten. Beispielsweise gibt es ein Kapitel über Verwaltungsstrukturen und Verwaltungspersonal. – Und eine Graphik zeigt die durchschnittlichen Getreidepreise in Bern „1435 bis 1474“.

Auch die Technikgeschichte wird gestreift: Die Räder-Uhr am Zytglogge-Turm soll ebenfalls aus jenem 15. Jahrhundert stammen.

Sogar Musik soll es in Berns großer Zeit gegeben haben. Jedenfalls werden einige Komponisten mit ihren Tonwerken vorgestellt.

Ausführlich wird der Münsterbau beschrieben. Denn nach „Justinger“ hätte Bern „1421“ mit jenem großen Architekturwerk begonnen.

Beim Durchblättern kommen die ersten Vorbehalte gegen Berns große Zeit: Das Werk ist zu groß, zu unhandlich und lädt trotz reich illustriertem Aussehen nicht zum Lesen ein. Die meisten Beiträge behandeln marginale Themen. Eine Gesamtschau wird nirgends geboten.

Und die zeitliche Abgrenzung jener angeblich großen Zeit Berns gegen die Neuzeit hin ist verschwommen. – Kulturgeschichtlich wird die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, also auch die Epoche der Reformation, dem Thema einverleibt.

Abbildungen aus Berner Bilderchroniken sind reichlich eingestreut. Aber sonst müssen Illustrationen des 17. oder 18. Jahrhunderts die weit zurückliegende Zeit verdeutlichen.

Nicht mehr das Gesamtbild eines Historikers scheint in Berns großer Zeit durch, sondern ein bunt zusammengewürfeltes Spezialistentum.

Die Kunstgeschichte und Mittelalter-Archäologie, dazu die Sozialgeschichte, haben das Zepter übernommen. Sie sollen dem Publikum weis machen, daß man über jene entfernte Zeit bestens Bescheid wisse – und vor allem genau datieren könne.

Beim Erscheinen jenes Werkes über das Bern im angeblichen 15. Jahrhundert stand ich erst am Anfang meiner Geschichts- und Chronologiekritik.

Doch klar war für mich schon damals: So viel über eine so ferne Zeit konnte man unmöglich wissen. Die Herausgeber und Autoren stellen die ganze Sache aber dar, also gäbe es überhaupt keinen Zweifel, weder an den Quellen, noch an den Inhalten – und schon gar nicht an den Zeitstellungen.

Mit Berns großer Zeit war die Sache aber nicht abgeschlossen.

2003 erschien ein Folgeband des neuen historischen Unternehmens: Berns mutige Zeit, welcher das „13. und 14. Jahrhundert“, also die ersten beiden Jahrhunderte nach der sagenhaften Stadtgründung behandelt.

Schon als ich die Vorankündigung und den Titel hörte, hatte ich dunkle Vorahnungen: Wenn schon Berns große Zeit ein zweifelhaftes Unternehmen darstellte, dann mußte es Berns mutige Zeit erst recht sein.

Als ich das Buch bekam und drin zu blättern begann, war ich wie erschlagen. Hier wird eine Geschichte dargestellt, so als hätte es sie wirklich gegeben. – Im gleichen Jahr, in welchem ich endgültig nachwies, daß es die alten Eidgenossen und das mittelalterliche Bern nicht gegeben hatte, erscheint ein Werk, das offenbar von nichts wußte.

Berns große Zeit ist ein anspruchsvoller Titel für eine zweifelhafte Epoche; und Berns mutige Zeit eine Anmaßung: Da hätte es also in einem weit entfernten Zeitalter, vor achthundert Jahren, in der Aare-Schlaufe große und mutige Leute gegeben. Diese hätten es gewagt, allen Widrigkeiten zum Trotz eine neue Stadt zu gründen, die sie Bern nannten.

Wo sind denn die Helden jener Stadt geblieben? Gibt es heute nur noch Duckmäuser, Anpasser, Opportunisten?

Eine Durchsicht von Berns mutige Zeit läßt den Kopf schütteln. Eine Riege von Dutzenden von Fachleuten schreibt über eine Nicht-Zeit und einen Nicht-Ort ein dickes Buch, ohne sich die geringsten Gedanken über die Plausibilität des Gegenstandes zu machen.

Mit seinen fast 600 Seiten ist das Buch wie der Vorgängerband unförmig dick, überreich illustriert, dabei ein Sammelsurium verschiedenster bedeutungsvoller und bedeutungsloser Themen, ohne einen rechten Zusammenhang. - Von den Grafen von Neu-Kyburg über die Genfer und Zurzacher Messen bis hin zu Berner Kachel-Öfen ist alles vertreten.

Verschiedene Autoren erörtern die Entstehung Berns, wobei sogar archäobotanische (!) Argumente für das Gründungsdatum „1191“ vorgebracht werden und „präurbane“ (nicht pränatale!) Siedlungen im Stadtgebiet vermutet werden.

Weil für das „13. und 14. Jahrhundert“ keine erzählenden Quellen vorliegen, muß einmal mehr „Justinger“ in den Himmel gelobt werden. Von dessen doch reichlich dürren und inkohärenten Chronik wird behauptet, sie stütze sich auf Quellen, sei kritisch und biete eine plastische Darstellung. – Haben die Autoren, die das geschrieben haben, den Justinger überhaupt gelesen?

Die wichtigsten pseudogeschichtlichen Ereignisse jener angeblichen Zeit werden kaum behandelt. Der Laupenkrieg wird nur in anderen Zusammenhängen erwähnt. - Die Schlacht von Jammertal fehlt völlig.

Dafür aber wissen die heutigen Berner Historiker besser Bescheid als die alten Chronisten: Justinger habe sich an einer Stelle verschrieben, wird gesagt: Es sollte heißen „1271“, statt „1241“. – Die Besserwisserei der modernen „Fachleute“ ist unerträglich.

Auch sonst staunt man, wieviel Wissen über Berns sagenhafte Zeit angeblich existiert. Schon „1394“ notierte man zum Beispiel genau, wer in der Stadt wieviel Steuern bezahlte und in welcher Gasse er wohnte.

Man wird fast erschlagen von dem Haufen historischer Trivia, die hier ausgebreitet werden.

Was sollen acht Seiten über die Glasfenster in der Kirche von Königsfelden im Aargau? – Will man etwa glaubhaft machen, die alte Technologie hätte schon vor 700 Jahren Fensterglas herzustellen vermocht?

Und was soll die Nennung der Ordensburg Marienburg bei Danzig samt Bild – sicher ein Bau des frühen 18. Jahrhunderts – in diesem Werk? – Aber korrekt wird dieser Ort mit dem heutigen polnischen Namen Malbork wiedergegeben.

Wie schon in Berns großer Zeit hat auch in Berns mutiger Zeit die Kunstgeschichte und die Mittelalter-Archäologie die Beweisführung übernommen.

Bezeichnenderweise ist der zweite Artikel nach dem Vorwort eine Betrachtung über Gotik in Bern. – Was man damit bezweckt, wird bald klar: Die Architekturgeschichte liefert zu ihren Bauwerken exakte Daten. Damit hofft man, die absurde Konstruktion eines „spätmittelalterlichen“ Berns chronologisch zu stützen.

Nach den Autoren hat zum Beispiel die Französische Kirche in Bern schon „1300“ gestanden – weit über vierhundert Jahre, bevor jener Bau zeitlich glaubwürdig ist!

Man staunt, wie viele uralte Kunstwerke es im Kanton Bern gibt.

Die Wandmalereien in der Kirche von Aeschi bei Spiez sollen „im 1. Viertel des 14. Jahrhunderts“ entstanden sein. – Und im Schloß Köniz soll es Balken geben, die aus der Zeit „um 1260“ stammen.

Bedenkenlos werden auch Kunstgegenstände, die eindeutig nicht in einen „mittelalterlichen“ Zusammenhang gehören vereinnahmt, um zu belegen was nicht zu belegen ist.

Unerhört ist etwa die Wiedergabe des Fragments eines jüdischen Grabsteins. – Dieser wurde vor hundert Jahren an der Kochergasse am Ort des ehemaligen Juden-Friedhofs gefunden. Das Dekor und die Schrift verweisen diesen Überrest in das 19. Jahrhundert.

In Berns große Zeit aber dient das Fragment dazu, Juden und hebräische Sprache in einem Bern „in der Mitte des 13. Jahrhunderts“ zu beweisen.

Der Archäologie-Exzesse greifen zuletzt ins Lächerliche: Was sollen die Ausgrabungen über Holzhütten und einen Wohnturm in Court-Mévilier im Berner Jura aussagen? - Oder archäomedizinische (!) Untersuchungen an Skeletten von einem alten Klosterfriedhof auf der Sankt Petersinsel im Bielersee?

Die Einleitung des Werkes über Berns mutige Zeit ist in einem abgrundtief schlechten Deutsch geschrieben. – Und im ganzen Buch gibt es ärgerliche Druckfehler. – Ein Lektorat scheint es nicht gegeben zu haben. Man merkt die Hast: Das Werk mußte auf Teufelkomm-raus zum Jubiläum „2003 – Bern 650 Jahre im Bund der Eidgenossen“ herausgebracht werden.

Das Werk ist wiederum überreich illustriert – und man merkt warum: Wenn man historisch kein mittelalterliches Bern beweisen kann, so sollen das die Bilder tun.

Bis zum Überdruß werden zum Beispiel Bilder aus Diebold Schillings Spiezer Chronik reproduziert. Wohlweislich wird verschwiegen, daß dieses Werk aus viel späterer Zeit stammt.

Ebenfalls allzu häufig werden Aquarelle des Berner Burgenmalers Kauw wiedergegeben. – Auch hier wird nicht die Frage gestellt, wie Bilder aus dem 18. Jahrhundert für eine Zeit gut sein sollen, die damals schon vor über 300 Jahren zu Ende gegangen war.

Selbstverständlich werden viele Urkunden und Seiten aus illuminierten Handschriften reproduziert, dazu Siegel, Münzen und andere Gegenstände. – Aber die Herausgeber wußten nicht oder wollten nicht wissen, daß alle diese Dokumente nicht einmal ein Alter von 250 Jahren erreichen.

Man fragt sich, für wen dieses ärgerliche Werk von Berns angeblich mutiger Zeit zusammengestellt wurde. - Die veraltete Geschichtsauffassung, die darin vertreten wird, taugt höchstens noch für Zentenarfeiern, nicht für eine fortschrittliche Wissenschaft.

Man hat bei diesen Bänden wohl an das Publikum gedacht. Die opulente Bebilderung und der unförmige Umfang sollten etwa aussagen: Seht ihr Leute, die vielen schönen alten Dinge! Soll noch jemand an einem Mittelalter in Bern zweifeln!

Man könnte einwenden, die verantwortlichen Leute der Redaktion und die wichtigsten Mitarbeiter an diesem unqualifizierbaren Sammelwerk hätten nichts von der Geschichtskritik und den fehlenden Quellen gewußt.

Doch je länger man das Buch studiert, desto mehr merkt man, daß sehr wohl viel überlegt wurde. Eine geheime Blaupause läßt sich herausfiltern, die man etwa so umschreiben kann.

Zuerst sollte nirgends auch nur ein Anflug von Kritik an den Inhalten und Datierungen geäußert werden. Alles wird so dargestellt, wie es sich angeblich zugetragen hat, mit samt den Jahrzahlen und Zuschreibungen.

Vor allem sollte geflissentlich verschwiegen werden, daß alle erzählenden Quellen zu Berns angeblicher mittelalterlicher Geschichte aus späteren Zeiten stammen.

Man behalf sich mit Tricks, etwa dem, daß man einmal mehr die Behauptung auftischt, die vier Pergamentseiten der Cronica de Berno seien ein Vorläufer von „Justinger“ aus der „ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts“ – und nicht der billige lateinische Auszug aus der Entstehungszeit jenes Werkes.

Wenn die erzählenden Quellen nichts hergeben, so werden um so mehr Urkunden, Steuerbücher und einige andere Dokumente ausgequetscht, die angeblich die Existenz einer Schriftlichkeit in einer weit entfernten Nichtzeit an einem Nicht-Ort beweisen.

Wie in Berns großer Zeit, so haben an Berns mutiger Zeit Dutzende von Wissenschaftlern mitgearbeitet. – Aber wenn man den Aufwand betrachtet, so ist der Zweck verfehlt worden. Berns Mittelalter wird nicht bestätigt, sondern widerlegt.

Mit diesen beiden Werken hat die Berner Geschichtswissenschaft ihren Bankrott erklärt. Einem Großaufgebot an Mitteln, an Leuten und Papier steht ein Erklärungsdefizit gegenüber. Auch einem ganzen Harst von willigen Fachleuten ist es nicht gelungen, eine Epoche und einen Ort glaubhaft zu machen, die es nicht gegeben hat.

Die beiden Werke – Berns große Zeit und Berns mutige Zeit - sind, von den Abbildungen und einzelnen Beiträgen abgesehen, unbrauchbar und nicht zitierwürdig.

2006 gesellte sich ein neuer Band zu dem monumentalen Unterfangen der Berner Zeiten: Unter dem Titel Berns mächtige Zeit erschien eine Darstellung über ein angebliches 16. und 17. Jahrhundert bernischer Geschichte und Kultur.

Über diesen Band habe ich bereits ein Jahr vor dem Erscheinen eine Rezension geschrieben. Denn auf Grund der beiden vorherigen Bände konnte man ungefähr erraten, was darinstehen wird und mit welchen Problemen die Herausgeber und Autoren kämpfen werden.

Ich hatte mich nicht getäuscht: Berns mächtige Zeit