Die besten Ärzte - Sammelband 6 - Stefan Frank - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 6 E-Book

Stefan Frank

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Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1771: Elenas letztes Konzert
Notärztin Andrea Bergen 1250: Ab heute darfst du glücklich sein
Dr. Stefan Frank 2204: Hochzeit in der Gartenstraße
Dr. Karsten Fabian 147: Der Mann, den sie hassen wollte
Der Notarzt 253: Bitte, bitte, liebes Christkind ...

Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 597

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Impressum

BASTEI ENTERTAINMENT Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG Für die Originalausgaben: Copyright © 2013/2014/2015 by Bastei Lübbe AG, Köln Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller Verantwortlich für den Inhalt Für diese Ausgabe: Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln Covermotiv von © Bastei Verlag/A.v.Sarosdy ISBN 978-3-7325-8239-6

Katrin Kastell, Hannah Sommer, Stefan Frank, Ina Ritter, Karin Graf

Die besten Ärzte 6 - Sammelband

Inhalt

Katrin KastellDr. Holl - Folge 1771Als die letzten Noten ihres romantischen Abschlussliedes verklingen, brandet frenetischer Applaus in der Halle auf! Die schöne Elena Bernardi steht ganz still im glitzernden Konfetti-Regen auf der Bühne und lässt sich feiern - ein letztes Mal! Noch ahnt keiner ihrer Fans, dass Elena an diesem Abend der Bühne und dem Rampenlicht für immer den Rücken kehrt - und dass es den Megastar, der die Massen verzauberte, schon morgen nicht mehr geben wird ... Nach einem Unfall liegt ihre Schwester Katrin schwer verletzt in der Berling-Klinik - und die Einzige, die ihr von jetzt an beistehen kann, ist Elena ...Jetzt lesen
Hannah SommerNotärztin Andrea Bergen - Folge 1250Blass und eingefallen wirkt das Gesicht, das Mareike im Spiegel entgegensieht. Tiefe Schatten liegen unter ihren Augen, und die Schlüsselbeine treten spitz unter ihrer fahlen Haut hervor. Sie muss nicht auf die Waage steigen, um zu wissen, dass sie weiter abgenommen hat - Mareike spürt auch so, wie ihre Kräfte immer mehr schwinden. Doch heute will sie stark sein, um mit Leon, ihrem Freund, noch einen einzigen unbeschwerten Tag zu verleben. Danach will sie ihm Lebewohl sagen, denn Leon soll nicht erfahren, wie krank sie ist und dass es kaum noch Hoffnung gibt. Er soll leben, lieben und glücklich sein. Die Trennung von Mareike bricht dem jungen Chirurgen Leon Winterfeldt das Herz. Doch er soll sie noch einmal wiedersehen: vor sich auf dem OP-Tisch! Und da liegt Mareikes Leben allein in Leons Händen ...Jetzt lesen
Stefan FrankDr. Stefan Frank - Folge 2204Als Jakob Westermann dem jungen Gärtner Timo kennenlernt, hat der lebenslustige Rentner nur einen Gedanken: Das ist der richtige Mann für meine Enkelin! Aber wie soll er die beiden zusammenbringen? Da ist guter Rat teuer, zumal Timo eher schüchtern und Franziska Fremden gegenüber skeptisch ist. Doch nachdem Timo einige Wochen in Jakobs Garten gewirkt hat, kommen sich der attraktive Landschaftsgärtner und die bildhübsche Franziska endlich näher. Und tatsächlich scheinen die beiden wie füreinander geschaffen zu sein. Bereits nach wenigen Wochen beschließen sie, zu heiraten. Natürlich soll Jakob seine Lieblingsenkelin zum Altar führen. Aber dann geschieht etwas, was das Glück des jungen Paares in seinen Grundfesten zu erschüttern droht...Jetzt lesen
Ina RitterDr. Karsten Fabian - Folge 147Ina Hengstenberg ist zutiefst bestürzt, als ihre beste Freundin Daniela überraschend mit rot geweinten Augen vor ihr steht und unter heftigem Schluchzen berichtet, dass Erik sie verlassen hat. Alle seine süßen Schwüre und Versprechungen ... nichts als Lügen! Für Erik war sie nur eine weitere Kerbe im Bettpfosten. Daniela kann überhaupt nicht mehr aufhören, zu weinen, und Ina weiß nicht, wie sie ihre Freundin noch trösten soll. Aber rächen wird sie Daniela! Denn Erik behandelt Frauen auf eine ganz miese Art, und das will Ina ihm heimzahlen. Sie wird ihm eine Lektion erteilen, die er so schnell nicht vergessen soll ...Jetzt lesen
Karin GrafDer Notarzt - Folge 253In der Notaufnahme der Sauerbruch-Klinik arbeitet seit wenigen Wochen der charismatische Noah Wenzel. Notarzt Peter Kersten ist zunächst alles andere als begeistert von dem jungen Kollegen, denn Noah verdreht sämtlichen Schwestern der Klinik den Kopf und sorgt für einigen Herzschmerz unter dem weiblichen Personal. Sobald der Schwerenöter eine Frau "herumgekriegt" hat, wendet er sich bereits der nächsten zu. Schon mehrmals hat sich Peter Kersten vorgenommen, Noah Wenzel einfach zu kündigen, damit wieder Ruhe auf der Station einkehrt. Doch da gibt es auch diese andere Seite an dem jungen Mann ... Noah ist ein brillanter Arzt, der um jedes Menschenleben kämpft, als wäre es sein eigenes. Und immer wieder gibt es Situationen, in denen deutlich wird, dass unter der äußeren Schale des attraktiven Mediziners ein außergewöhnlich mitfühlendes Herz liegt. Als Noah von der herzzerreißenden Geschichte der fünfjährigen Leni erfährt, ist er außer sich vor Sorge und Mitleid. Dem kleinen Mädchen stehen unsagbar traurige Weihnachten bevor: Ihr Papa ist schon lange im Himmel, und nun ist auch noch ihre geliebte Mama gestorben. Wenn sie wenigstens bei ihrer Oma bleiben könnte, doch die ist schon alt und hat starke Schmerzen beim Laufen ...Jetzt lesen

Inhalt

Cover

Impressum

Elenas letztes Konzert

Vorschau

Elenas letztes Konzert

Ein trauriges Geheimnis beendet ihre Karriere

Von Katrin Kastell

Als die letzten Noten ihres romantischen Abschlussliedes verklingen, brandet frenetischer Applaus in der Halle auf! Die schöne Elena Bernardi steht ganz still im glitzernden Konfetti-Regen auf der Bühne und lässt sich feiern – ein letztes Mal! Noch ahnt keiner ihrer Fans, dass Elena an diesem Abend der Bühne und dem Rampenlicht für immer den Rücken kehrt – und dass es den Megastar, der die Massen verzaubert, schon morgen nicht mehr geben wird …

Nach einem Unfall liegt ihre Schwester Katrin schwer verletzt in der Berling-Klinik – und die Einzige, die ihr von jetzt an beistehen kann, ist Elena …

„Du warst großartig, mein Schatz!“

Zwei große Hände griffen nach ihr und drückten sie an eine breite Brust. Die zerbrechlich wirkende Gestalt der jungen Frau verschwand fast in der besitzergreifenden Umarmung des Mannes. Gleichzeitig spürte sie seine Küsse auf der Stirn und im feuchten Haar.

Wie immer war sie nach einem Konzert vollkommen verschwitzt. Und jetzt sehnte sie sich danach, das enge Kleid loszuwerden, das ihren Körper wie eine zweite Haut umgab. Sehnsuchtsvoll dachte sie an den weichen Bademantel, der in ihrer Garderobe hing und nur darauf wartete, sie flauschig einzuhüllen.

Nach den drei Zugaben auf der Bühne fühlte sie sich erschöpft und ausgebrannt. Zum Schluss hatte sie auf das lautstarke Drängen der Fans noch einmal ihren aktuellen Hit gesungen: „Gib mir die Liebe zurück …“

Nun musste sie noch Martins Lob über sich ergehen lassen, das sich immer in Umarmungen und Küssen ausdrückte. Mit ausgestreckten Armen schob sie sich von ihm weg.

„Lass mich bitte erst mal durchatmen …“

„Wie lange brauchst du?“ Martin Runge, ihr mit allen Wassern gewaschener Manager, lockerte seinen Griff ein wenig und beäugte die Sängerin erwartungsvoll.

Elena Bernardi bog den Kopf zurück, um ihn ansehen zu können. „Ehrlich gesagt, habe ich wenig Lust auf eine After-Show-Party. Ich bin müde, möchte mich ausruhen und mindestens zehn Stunden am Stück schlafen.“

„Na komm, ein, zwei Stunden wirst du wohl noch durchhalten! Du darfst nicht fehlen. Wie immer werden interessante Leute da sein. Soll ich dir mal die Liste der Zusagen vorlesen?“

„Nein, bitte nicht.“

Elena löste sich nun endgültig aus diesen eisernen Greifarmen und fragte sich, ob ihm wohl bewusst war, dass er sie manches Mal fast erdrückte. Einige Male hatte sie ihn auch schon gebeten, etwas feinfühliger mit ihr umzugehen. Beim nächsten Auftritt dachte er auch daran, dann aber geriet die erbetene Vorsichtsmaßnahme wieder in Vergessenheit.

„Also, wie lange brauchst du?“

„Gib mir eine halbe Stunde!“, bat sie. Den stillen Seufzer, den sie ihren Worten hinterherschickte, überhörte er.

Wenig später spülte das warme Duschwasser Bühnengeruch, Staub und Schweiß von ihr ab. Sie wusch das lange Haar und wäre am liebsten noch eine weitere Viertelstunde unter den prasselnden Wasserstrahlen geblieben, aber wenn sie Martin zu lange warten ließ, setzte sie sich seiner Kritik aus. Kurz entschlossen drehte sie den Hahn zu, stieg aus der Duschkabine, trocknete sich ab und rubbelte ihr Haar trocken.

Ja, er war manchmal schwierig, ihr Manager. Andererseits aber auch der beste, den eine Künstlerin wie sie überhaupt haben konnte. Geduld zählte nicht zu seinen Stärken. Dafür kannte er sich aus mit Verträgen und Honoraren, plante die Tourneen gut durch, mietete große Säle für ihre Auftritte und verhandelte mit diversen TV-Sendern.

Den großzügigen Prozentsatz von ihren Einkünften hatte er mit seiner Tätigkeit mehr als verdient. Elena selbst verfügte mit ihren achtundzwanzig Jahren schon über ein Vermögen, von dem andere Menschen in ihrem Alter nur träumen konnten. Allerdings hatte sie dafür auch kein Privatleben mehr. Kaum ein Schritt von ihr in der Öffentlichkeit blieb unbeobachtet.

Martin Runge hatte sich im Laufe der Jahre auch als ein unentbehrlicher Finanzverwalter erwiesen, der ihr Geld gut, aber ohne ein übertrieben großes Risiko anlegte. Ja, sie konnte mit ihm zufrieden sein. Dafür musste sie eben hinnehmen, dass er sie immer wieder zu solchen Partys mitschleppte, die ihr im Grunde ihres Herzens zuwider waren.

„Aber du musst dich auch hin und wieder zeigen“, sagte er immer wieder. „Sonst kriegst du schnell ein arrogantes Image, das können wir uns nicht leisten. Wir wollen doch beide, dass unsere Firma auch die nächsten zwanzig Jahre noch gut läuft, nicht wahr, mein Schatz?“

Natürlich wollte sie das, aber ob sie diesen Job, der ihr schon jetzt manchmal an die Substanz ging, so lange durchhalten würde, wagte sie zu bezweifeln. Was sie ihm natürlich nicht sagte. Sie vermied es immer häufiger, ihn aufzuregen. Weil es dann meistens zu einer lautstarken Auseinandersetzung kam, die wiederum ihrer Stimme nicht guttat.

An diesem Abend nach dem Konzert in München blieb sie nur eine knappe Stunde auf der Party. Martin ließ sie wohlwollend gehen. Einer der Bodyguards brachte sie ins Hotel.

Martin hatte darauf bestanden, die beiden muskelbepackten Männer zu engagieren.

„Diese Burschen sind ihr Geld wert, mein Schatz. Sie halten jeden von dir fern, der sich mit der Absicht trägt, dir zu nahe zu kommen, dich vielleicht sogar zu entführen. Passiert schließlich täglich überall auf der Welt. Schlaf gut. Morgen ist Ruhetag. Wenn du möchtest, werde ich dafür sorgen, dass dir die Wellness-Einrichtungen des Hotels für ein paar Stunden ganz allein zur Verfügung stehen. Damit du keinen neugierigen Blicken ausgesetzt bist.“

Sie selbst hätte nie daran geglaubt, eines Tages eine so bekannte und prominente Persönlichkeit zu sein, aber inzwischen war sie das. Anfangs hatte sie die bewundernden Blicke fremder Menschen auf den Straßen noch genossen, doch inzwischen lief sie meistens mit einer großen Sonnenbrille und einer überdimensionalen Kopfbedeckung durch die Gegend, um nicht erkannt zu werden.

Was würde wohl ihre Mutter sagen, wenn sie den Ruhm ihrer Tochter noch erlebt hätte? Immer wieder tauchten in der letzten Zeit solche Gedanken auf – Gedanken, die sie traurig machten. Manchmal sogar so wütend, dass sie ihr den Schlaf raubten.

„Wir sind da“, sagte der Fahrer. Der Mann neben ihm stieg mit ihr aus und brachte sie bis zur Zimmertür.

„Danke, Will“, sagte sie und steckte die Karte in den Schlitz.

„Ich bin Tim“, sagte der hochgewachsene Mann und verneigte sich leicht.

„Entschuldigung, ich habe Sie verwechselt. Tut mir leid.“

„Macht überhaupt nichts, Madame. Ich arbeite gern für Sie. Gute Nacht.“

„Ihnen auch eine gute Nacht“, erwiderte sie und schlüpfte in die Suite.

Martin mietete sie nur in den besten Hotels ein. Und immer wurde das Personal zum Schweigen verpflichtet. Eine Horde lauernder Fotografen erschien ihm als die schlimmste denkbare Katastrophe.

„Vergiss nicht, wie es Lady Di ergangen ist!“, hielt er Elena dann vor, wenn sie sich über ihn lustig machte. „Sie wurde von den Papparazzi in den Tod gejagt.“

Es war nicht immer leicht, den goldenen Mittelweg zwischen Öffentlichkeit und Abschirmung zu finden. Jetzt war sie erst einmal froh, die Tür hinter sich schließen zu können. Die Welt musste draußen bleiben.

Erschöpft kuschelte sie sich nach Mitternacht unter die Bettdecke und hoffte, in dieser Nacht von den üblichen Albträumen verschont zu bleiben.

***

Dr. Stefan Holl hatte sich den Luxus geleistet, mit seiner Frau Julia zehn Tage auf die Kapverdische Insel Santiago zu fliegen. Es war eine wundervolle, sorglose Zeit gewesen, ohne Kinder, nur sie beide.

Juju und Chris wurden während ihrer Abwesenheit von den Großeltern versorgt. Die Zwillinge kamen mit ihren zwanzig Jahren bestens allein zurecht, aber auch sie wehrten sich nicht dagegen, von Omi und Opi verwöhnt zu werden. Auffallend oft verbrachten sie die Abende zu Hause. Da auch Cäcilie, der sonst die Küche bei den Holls gehörte, Urlaub machte, konnte Omi Nessy mal wieder ihre Kochkünste zeigen.

Vor zwei Tagen waren Stefan und Julia zurückgekommen. Alle vier Kinder hatten am Flughafen gewartet.

Dr. Holl musste immer noch schmunzeln, wenn er an den Empfang dachte. Juju hielt einen großen Blumenstrauß in den Händen, Daniela schwenkte eine Tüte mit Brezen. Da die Temperaturen hierzulande nur noch knapp über null schwebten, legte der fünfzehnjährige Chris seiner Mutter einen Wollschal um den Hals.

Als sie dann endlich mit ihrem Gepäck in der S-Bahn saßen, stellte Danielas Zwillingsbruder Marc eine Weißwurst-Brotzeit daheim in Aussicht. „Wir haben schon alles vorbereitet.“

Vom Hauptbahnhof aus ging es mit einem Großraumtaxi nach Hause.

Heute, am ersten Arbeitstag, fand gleich eine Besprechung mit den engsten Mitarbeitern statt, auch um den Klinikchef über die Ereignisse der vergangenen Tage zu informieren.

Bevor er sich in den Besprechungsraum begab, der sich am Ende des Ganges befand, nahm Dr. Holl noch einen Schluck von Moni Wolframs gutem Kaffee. Seine Sekretärin hatte ihm auch noch auf einem Teller eine Käsesemmel serviert, die er jedoch vorerst liegen ließ. Er hatte zu Hause gut gefrühstückt.

Die Mitarbeiter saßen schon am ovalen Tisch und unterhielten sich. Beim Eintreten des Klinikchefs wurde es ruhiger.

„Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie sehr herzlich. Und ich hoffe, Sie haben mich nicht zu sehr vermisst.“

Einige grinsten, Dr. Falk und Dr. Wolfram schüttelten den Kopf.

„Es hat alles bestens geklappt“, ergriff Daniel Falk das Wort. Er war nicht nur Stefans Kollege, sondern auch sein Freund. „Auf jeden Fall siehst du super erholt aus.“

„So fühle ich mich auch. Und ich hoffe, dass dieser Zustand noch eine Weile anhält. Also, was haben wir?“

Dr. Michael Wolfram, Monis Mann, klappte seinen Laptop auf und klickte die Seite mit den OP-Terminen an.

„Sie sind gleich morgen dran, dann übermorgen und am Donnerstag.“

Dr. Holl überprüfte die Termine in seinem Kalender. Er war gewohnt, seine Operationen dort immer noch von Hand einzutragen.

Jörg Leipold, ein junger Chirurg und noch recht neu an der Berling-Klinik, berichtete als Erstes über die beiden Verunglückten von gestern, die während seines Dienstes eingeliefert worden waren.

Eine Frau von fünfunddreißig Jahren war von einem Wagen angefahren worden. Die Folgen: Schock, Beckenbruch, Milzruptur.

„Eine erste Sonografie hat unseren Verdacht bestätigt“, erläuterte Jörg, ein ernst wirkender Mann mit feinen Gesichtszügen. „Durch die starken inneren Blutungen hatte sich schnell ein Volumenmangelschock manifestiert. Nach den ersten Untersuchungen haben wir eine Milz-Verletzung dritten Grades diagnostiziert. Wir mussten sofort operieren. Mittels Elektrokoagulation konnten wir das Gewebe verschließen und die Blutungen unterbinden. Wir haben Transfusionen verabreicht.“

Jörg Leipold nahm sich ein weiteres Blatt seiner ausgedruckten Unterlagen vor.

„Zusätzlich haben wir Fibrinkleber benutzt. Der Zustand der Patientin ist noch nicht so stabil, wie er sein sollte. Darum wird sie auf der Intensivstation überwacht. Ob wir eine zweite OP vornehmen müssen, werden die nächsten Tage zeigen. Außerdem liegt eine Beckenringfraktur vor, wahrscheinlich hervorgerufen durch einen Sturz auf die Hüfte. Die Behandlung des Bruchs erfolgt konservativ. Eine Beckenzwinge ist nicht nötig.“

Dr. Holl hörte dem jüngeren Kollegen aufmerksam zu. Der knappe, aber aussagekräftige Bericht gefiel ihm.

„Die Angehörigen sind informiert?“

„Ihr Mann ist hierher unterwegs.“

„Sehr gut.“

Nach einer knappen Stunde löste der Chefarzt die Besprechung auf. Dr. Falk begleitete den Freund in dessen Büro, wo die beiden Ärzte noch über diverse Patienten sprachen, vor allem über einen, der lange in der Klinik behandelt worden, aber dann während Stefans Urlaub an einer Lungenembolie gestorben war.

Obwohl er noch gelegentlich die Strahlen der südlichen Sonne und das salzige Wasser des Atlantiks auf seiner Haut zu spüren glaubte, ließ sich Dr. Holl mit frischer Energie wieder auf den Klinikalltag ein. Jede Minute das Urlaubs hatte er genossen, doch nun gehörte er wieder voll und ganz seinen Patienten.

„Und was hältst du von unserem Kollegen Leipold? Oder ist es für eine Beurteilung noch zu früh?“

„Trotz seiner Jugend ist er bereits ein hervorragender Chirurg, und ich behaupte sogar, er ist ein Glücksfall für uns. Ohne pathetisch zu werden – er ist ein Arzt mit begnadeten Händen.“

„Freut mich zu hören, Daniel. Was ist, trinken wir noch einen Kaffee?“

„Ich habe keine Einwände.“

Als hätte Moni es geahnt, hielt sie schon wieder eine frische Kanne bereit. Dafür erntete sie von Dr. Holl ein dankbares Lächeln.

***

Zum ersten Mal nach langer Zeit fühlte sich Elena wirklich ausgeschlafen, als sie an diesem Morgen erwachte. Sie reckte die Arme und bewegte den Rücken. Nirgends ein Anflug von Muskelkater, obwohl sie gestern wieder mal eine Show abgeliefert hatte, die ziemlich an die Substanz gegangen war.

Aber die Show muss sein, sagte Martin immer wieder. Sich einfach nur hinzustellen und ins Mikrofon zu singen, reichte heute nicht mehr. Und so stand sie natürlich nicht allein im Rampenlicht, sondern mit den Jungs von der Band und den Background-Sängern befanden sich immer mindestens ein Dutzend Leute auf der Bühne. Auch wenn jeder ihrer Auftritte spontan und überraschend wirkte, so wurde er doch bis ins letzte Detail von einem britischen Choreografen durchkomponiert.

Elena griff nach dem Zimmertelefon und bestellte ein Frühstück mit Rührei, Schinken, Semmeln, Marmelade, Saft und Tee. Das brauchte sie jetzt zur Stärkung, da sie während jedem Auftritt mindestens ein Kilo abnahm, manchmal sogar noch mehr.

Elena schlüpfte in ihren Morgenmantel, öffnete das Fenster und schaute hinaus in einen bleigrauen Tag. An den Bäumen hingen immer noch vereinzelt ein paar runzelige Blätter. Schon beim nächsten heftigen Windstoß würde ihr Schicksal besiegelt sein, und sie würden kraftlos zu Boden sinken. Warum bewegte dieser Anblick sie so sehr?

Handyklingeln. Das konnte nur Martin sein, der sich erkundigte, ob sie gut geschlafen habe. Sie nahm das Gespräch an. Erst nach ein paar Sekunden realisierte sie, dass es nicht Martin war, der zu ihr sprach.

„Hallo, Elena, hier ist Clemens Bergmann.“

„Clemens?“, wiederholte sie. Du lieber Himmel, seit Jahren hatte sie nicht mehr mit ihrem Schwager gesprochen. „Wie geht es euch? Was ist …“

„Hör zu, Elena, es ist etwas Schlimmes passiert. Katrin hatte einen Unfall. Sie liegt in der Berling-Klinik und ist dort auch operiert worden.“

Elena musste erst einmal durchatmen. „Aber warum hat mich niemand informiert?“

„Das tu ich doch gerade. Es ist erst gestern passiert.“

Wie ein Vulkan brach plötzlich die Vergangenheit vor ihr auf. Eine Vergangenheit, die sie zu verdrängen gelernt hatte.

„Ist es schlimm?“, fragte sie mit belegter Stimme.

„Schlimm genug“, erwiderte Clemens. „Aber viel schlimmer ist, dass sich jetzt niemand um Sophie kümmert. Ich habe sie vorübergehend zu Freunden gegeben, aber dort kann sie nicht bleiben.“

„Aber du bist doch …“

„Hör mal gut zu, ich fühle mich für Sophie nicht verantwortlich. Ich war immer nur der Stiefvater, darauf hat Katrin stets hingewiesen. Und oft genug hat sie mir verboten, mich einzumischen.“ Er holte tief Luft. „Ach ja, und im Übrigen sind wir geschieden.“

Elena stieß einen überraschten Laut aus.

„Was? Das glaub ich jetzt nicht …“

„Und doch ist es so. Seit einem Monat sind wir getrennt von Tisch und Bett“, sagte er mit nur schlecht unterdrückter Nervosität. „Na ja, vom Bett sogar noch länger. Hat dir Katrin denn nichts gesagt?“

„Ich bin schockiert! Wieso weiß ich davon nichts?“

„Vielleicht, weil ihr ja ohnehin höchstens einmal im Jahr Kontakt habt?“, lautete seine ironische Gegenfrage. „Hör zu, du musst dich jetzt um Sophie kümmern, daran führt kein Weg vorbei.“

„Kannst du nicht …“

„Nein“, fiel er ihr ins Wort. „Ich habe ein neues Leben. Und eine neue Frau. Katrin hat mich weggeschickt. Sie war es, die nicht mehr mit mir leben wollte. Für das Kind hatte ich nicht mal das Sorgerecht.“

„Was soll ich denn jetzt tun? Ich bin auf Tournee, habe noch etliche Konzerte zu absolvieren und …“

„Wie du die Angelegenheit regelst, ist mir ziemlich egal“, erklärte er hastig. So schnell wie möglich wollte er das Gespräch hinter sich bringen. „Sophie ist nicht mein Problem, wirklich nicht. Es liegt jetzt an dir, dich um deine Nichte zu kümmern.“ Die letzten Worte kamen übertrieben betont über seine Lippen. „Auf mich kannst du dabei nicht zählen.“

Elena fühlte sich komplett überfordert. Noch während sie überlegte, wie sie ihm das klarmachen sollte, sprach er schon weiter.

„Stell doch einfach eine Erzieherin ein, die sich um Sophie kümmert. Das kannst du dir doch leisten. Sprich mit deiner Schwester darüber. Sie wird bestimmt einverstanden sein. Euch wird schon eine Lösung einfallen.“

„In welchem Krankenhaus noch mal?“

„In der Berling-Klinik. Ich habe ihr schon gesagt, dass ich dich informieren werde. Was ich hiermit getan habe. Und damit ist mein Hilfsprogramm beendet. Wiedersehen, Elena. Wenn du noch Informationen brauchst, kannst du mich zurückrufen. Meine Nummer hast du ja.“

„Und wo ist Sophie jetzt?“

Er gab ihr noch die Nummer von Gisela und Peter Bauer sowie ihre Anschrift in Unterhaching.

„Weil die beiden mit Katrin befreundet sind, tun sie ihr den Gefallen. Aber nächste Woche fahren sie in Urlaub. Die Reise ist fest gebucht. Sie können nicht mehr zurücktreten. Du musst also schnelle Entscheidungen treffen.“

„Danke, Clemens“, brachte sie immerhin noch über die Lippen, bevor sie das Gespräch wegdrückte. Fast wäre ihr das Telefon aus der Hand gefallen, aber das hätte auf dem dicken Teppichboden wohl kaum Schaden genommen.

Inzwischen hatte ein Zimmerkellner geklopft und das beladene Tablett auf dem runden Tisch am Fenster abgestellt. Mit einem abwesenden Lächeln bedankte sich Elena. Als sie sich den Tee eingießen wollte, merkte sie erst, dass ihre Hand unkontrolliert zitterte. Doch nicht nur ihre Hand, alles in ihr war in Aufruhr.

Wie sollte sie diese neue Situation meistern? Sie ließ sich aufs Bett fallen und starrte blicklos an die weiße Decke. Dann schloss sie die Augen und wartete auf eine Eingebung. Martin anrufen! Ihm mein Leid klagen! Er weiß, was zu tun ist!

Auf keinen Fall, widersprach sie sich selbst. Martin würde bohrende Fragen stellen und sich nicht eher zufrieden geben, bis er alles aus ihr herausgepresst hatte. So ging es also auf keinen Fall. Ja, es sah tatsächlich so aus, als müsste sie diese Angelegenheit selbst in die Hand nehmen.

Das schaffst du, Elena! Meine Güte, hab keine Angst! Clemens’ Vorschlag ist gut. Du musst nur jemanden finden, der sich so lange um Sophie kümmert, bis Katrin wieder gesund ist.

Aber zunächst musste sie von ihrer Schwester erfahren, was geschehen war. Elena trank eine Tasse Tee, bestrich sich eine Scheibe Toast mit Butter und biss eine Ecke davon ab.

Das Handy klingelte erneut. Diesmal war es wirklich Martin. Gut gelaunt erkundigte er sich nach ihrem Wohlergehen.

„Danke der Nachfrage, alles in Ordnung“, sagte sie schnell. „Ich werde am Vormittag eine alte Freundin treffen …“

„Dann schicke ich dir Will vorbei. Er wird dich unauffällig begleiten.“

„Nein!“, rief sie aus. Als ihr bewusst wurde, wie aufgelöst sie klingen musste, drosselte sie die Lautstärke. „Ich meine nur, es ist wirklich nicht nötig. Im Übrigen würde es nur Aufsehen erregen, wenn mich jemand begleitet, der ständig nach allen Seiten schaut.“

„Aber wenn du erkannt wirst, kann es sein, dass die Fans dich belästigen. Das willst du doch auch nicht.“

„Niemand wird mich erkennen“, widersprach Elena. Sie wusste, dass sie sich jetzt gegen Martins Regeln durchsetzen musste. „Draußen ist es kühl. Ich setze mir eine Mütze auf und eine große Brille, also mach dir keine Sorgen!“

„Wie du meinst.“ Er klang nicht so, als sei er wirklich mit ihrem Alleingang einverstanden. „Wann wirst du im Hotel zurück sein?“

„Ich weiß noch nicht. Gegen Abend. Ich melde mich.“

Anschließend empfand sie fast so was wie Stolz, weil sie sich endlich mal gegen ihn durchgesetzt hatte. Und das fühlte sich sogar richtig gut an. Sollte ich öfter machen, dachte sie, und ihn nicht alle meine Angelegenheiten regeln lassen. Aber irgendwie hatte sich dieses Zusammenspiel zwischen ihnen ergeben.

Sie musste endlich mal wieder etwas für ihr Selbstbewusstsein tun. Auf der Bühne war sie der große Star. Niemand würde glauben, dass ihr Manager auch ihr Privatleben ordnete. Er sagte, wie viele Stunden sie zu schlafen hatte, was sie essen und trinken durfte und mit wem sie Kontakt pflegen sollte.

Schlagartig wurde ihr klar, dass sie ihre eigenen Interessen nicht länger hinter seinen zurückstellen durfte. Sie war achtundzwanzig Jahre alt und ließ sich bevormunden wie ein kleines Mädchen. Natürlich alles nur zu ihrem Besten, wie Martin nicht müde wurde hervorzuheben. Sie musste sich von ihm abnabeln. Und wenn er begriff, dass sie sich ihre eigene Entscheidungsfreiheit zurückerobert hatte, würde er sich bestimmt auch besser fühlen.

Geradezu verrückt, dass all diese Gedanken durch einen einzigen Anruf von Katrins Exmann in Gang gesetzt worden waren.

Sie biss noch einmal in den Toast und trank ihre Tasse leer. Der Rest des Frühstücks blieb unberührt. Sie war jetzt zu aufgeregt, um in Ruhe zu essen.

Elena zog eine Jeans an, darüber ein langärmeliges T-Shirt. Das lange blonde Haar zwirbelte sie zusammen und verbarg es unter einer Wollmütze. Nach einem weiteren Blick in den trüben Tag verzichtete sie auf eine Sonnenbrille, sondern nahm die Brille mit dem Fensterglas und schlüpfte in eine Wolljacke mit einem Bindegürtel, den sie in der Taille fest zusammenzog.

Bevor sie die Suite verließ, warf sie noch einen prüfenden Blick in den Spiegel. Kein Make-up. Nur die großen blauen Augen beherrschten das blasse Gesicht. Kaum jemand würde in ihr den glamourösen Bühnenstar erkennen. Mit den Fotos auf den Titelseiten der einschlägigen Zeitschriften hatte sie nichts mehr gemein.

Erst als sie unten auf der Straße stand, fiel ihr auf, dass sie kein Geld dabeihatte. Aber dafür diverse Kreditkarten. Im Foyer befand sich ein Geldautomat. Sie ließ sich fünfhundert Euro auszahlen und bat dann am Empfang, ihr ein Taxi zu bestellen. Drei Minuten später war es schon da.

***

Dr. Leipold überlegte noch, ob er in der Cafeteria eine Kleinigkeit essen sollte, als ihm seine junge Kollegin Dr. Bettina Kramer entgegenkam und ihm zuzwinkerte.

„Wenn ich nicht bald etwas in den Magen bekomme, sterbe ich“, behauptete sie. „Lass uns zum Italiener gehen.“

„Na, dann mal los!“ Jörg freute sich, dass sie ihm die Entscheidung abnahm.

Vor dem Aufzug standen sie wie zwei Leute, die ungeduldig darauf warteten, die Kabine betreten zu können. Als sich die Türen hinter ihnen zusammenschoben, stellten sie fest, dass sie allein waren. In der nächsten Sekunde fielen sie sich in die Arme und küssten sich so ungestüm, dass Bettina die Kappe vom Kopf rutschte und auf den Boden fiel.

Der Aufzug hielt. Jörg bückte sich, doch Bettina war schneller – und schon saß die Kappe wieder da, wo sie hingehörte.

Das Lokal, das oft von Angestellten der nahen Berling-Klinik besucht wurde, lag nur ein paar Schritte entfernt. Noch nicht viele von der chirurgischen Station wussten, dass Jörg und Bettina ein Paar waren. Aber es konnte nicht mehr lange dauern, bis es herauskam und die Gerüchteküche zu köcheln begann. Ihm war es egal. Sie waren beide erwachsene Menschen und konnten in ihrer Freizeit tun und lassen, was sie wollten.

Dr. Bettina Kramer war vor einem Jahr von Hamburg nach München gekommen. Zunächst hatte sie an der Uni-Klinik gearbeitet, bevor man ihr eine Stelle an der Berling-Klinik anbot, wo sie nun gemeinsam mit Dr. Renate Sanders als Kinderärztin tätig war.

Über die notwendigen Eingriffe an Kindern und Jugendlichen war ein intensiver Kontakt zu Jörg entstanden. Und irgendwann hatte es gefunkt. Bettina, die wegen einer großen Enttäuschung aus Hamburg weggegangen war, glaubte zwar noch nicht so ganz an ihr neues Glück, aber jeden Tag wurden ihre Zweifel ein wenig kleiner. Im vergangenen Spätsommer waren sie zum ersten Mal gemeinsam in den Urlaub nach Mallorca geflogen.

Auch Jörg erinnerte sich gern an diese unbeschwerten Tage, die sie meist unter einem weit gespannten Himmelsblau am klaren Meerwasser verbrachten. Oder sie saßen bei einem erfrischenden Drink am Hotelpool. Und an die Nächte mit ihr erinnerte er sich besonders gern. In Liebesdingen war Bettina voller Hingabe.

Sie tat ihm einfach nur gut. Ob er in ihr die Frau gefunden hatte, die er sich für sein Leben ersehnte, wusste er noch nicht. Mit der Zeit würde er es schon noch herausfinden.

Doch da er von Zukunftsplanungen nichts hielt, ließ er die Dinge auf sich zukommen. So, wie es jetzt war, fühlte es sich jedenfalls leicht und unkompliziert an. Genau so, wie er es mochte – und wie es seiner Meinung nach auch bleien konnte. Bettina schien ihm eine gute Ärztin zu sein. Die Diagnosen, die sie stellte, stimmten immer. Das Zusammensein mit ihr war nie langweilig. Manchmal, wenn es zeitlich hinkam, kochten sie sogar zusammen. Allerdings war dabei noch nichts Besonderes herausgekommen.

Manchmal gingen sie ins Kino, besuchten eine Ausstellung oder unternahmen lange Spaziergänge im Englischen Garten, selbst bei schlechtem Wetter.

Vor einiger Zeit hatte sie ihm vorgeschlagen, ein Konzert von Elena Bernardi zu besuchen. Sie war über eine Bekannte an Karten für das bereits ausverkaufte Konzert gekommen und hatte sie, ohne zu überlegen, gekauft. Doch das hatte er ziemlich barsch abgelehnt und gesagt, er mache sich nichts aus Schlagern.

Bettina verteidigte die Sängerin, deren Songs mehr waren als Schlager. Elena Bernardi sang Balladen, in denen sie von Liebenden und Abenteurern erzählte, aber auch von denen, die vom Schicksal vergessen worden waren.

Selbstverständlich akzeptierte Bettina Jörgs Ablehnung und versuchte nicht, ihn umzustimmen. Sie ging mit ihrer Freundin zum Konzert, das ihr sehr gefiel. Doch um das leidige Thema nicht wieder aufzuwärmen, erzählte sie Jörg nichts davon.

Sie fanden einen freien Tisch für zwei. Kaum, dass sie saßen, brachte ihnen der Kellner schon die Karten. Jörg nahm wie immer Spaghetti, Bettina eine kleine Pizza mit Thunfisch.

Während sie aßen, schaute er immer wieder auf die Uhr. Für das Essen hatte er exakt fünfunddreißig Minuten eingeplant. Länger durfte die Pause nicht dauern. Kaum hatte er seine Pasta verschlungen, winkte er auch schon dem Kellner.

„Die Rechnung bitte.“

„Getrennt oder zusammen?“, lautete die Frage des schwarz gelockten Mannes.

„Zusammen“, erwiderte Jörg.

„Aber das möchte ich nicht“, sagte Bettina. „Wir hatten doch ausgemacht …“

„Ich möchte dich heute einladen? Hast du was dagegen?“

„Nein, aber …“

„Dann nimm’s doch einfach an! Wir müssen doch nicht über jede Kleinigkeit diskutieren, oder?“ Er griff nach ihrer Hand und drückte einen Kuss darauf. Bettina ließ sich den Rest ihrer Pizza in Alufolie einpacken. Jörg zahlte, dann verließen sie das kleine Restaurant.

Da diesmal mehr Leute im Aufzug mitfuhren, fanden sie keine Gelegenheit, einen heimlichen Kuss zu tauschen, was Bettina sehr bedauerte. Gern hätte sie Jörg ein paar zärtliche Worte ins Ohr geflüstert.

Nachdem sie ausgestiegen waren, trennten sich ihre Wege.

„Ich habe den restlichen Tag Dienst auf der Intensivstation.“

Für ein paar Atemzüge hielt sie seine Hand fest. „Sehen wir uns heute Abend?“

„Keine Ahnung, ob ich pünktlich Schluss machen kann“, erwiderte Jörg. „Kann sein, dass es heute bei mir länger dauert. Ich schick dir eine SMS.“

***

Dr. Holl blieb stehen und schaute zu der jungen Frau hinüber, die durch eine große Brille den Stationswegweiser studierte und dabei ziemlich ratlos wirkte. Schließlich ging er auf sie zu. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“

Fast erschrocken fuhr sie herum. Als sie den großen Mann im weißen Kittel vor sich sah, beruhigte sie sich augenblicklich. „Ich möchte zu Frau Bergmann. Sie soll auf der Chirurgie liegen. Wissen Sie die Zimmernummer?“

„Leider nein, aber dort kommt Schwester Marion. Sie wird uns Auskunft geben können.“ Dr. Holl winkte die dunkelhaarige Pflegerin heran und stellte seine Frage.

„Frau Bergmann liegt noch auf der Intensivstation“, erwiderte Marion.

„Mein Gott, ist es so schlimm?“ Die Besucherin wurde noch eine Spur blasser.

Hatte er dieses Gesicht nicht schon mal gesehen? Aber wo? Stefan Holl erinnerte sich nicht.

„Sind Sie eine Angehörige?“, erkundigte er sich.

„Nein, ich …“

„Tut mir leid, aber dann kann ich Sie nicht zu Frau Bergmann lassen. Auf die Intensivstation dürfen nur die engsten Angehörigen. Sie müssen warten, bis die Patientin wieder auf der normalen Station liegt.“

Die Frau schaute sich misstrauisch um, als rechnete sie mit ungebetenen Beobachtern.

„Also, ich bin die Schwester.“

Nun war Stefan Holls Wachsamkeit geweckt. Erst behauptete sie, keine Angehörige zu sein, dann gab sie sich plötzlich als Schwester aus? Mehr als merkwürdig!

„Sie kommen mir bekannt vor“, lenkte er vom ursprünglichen Thema ab. „Aber ich weiß nicht, wo ich Sie schon mal gesehen habe.“

„Ich bin wirklich Katrins Schwester, bitte glauben Sie mir! Sie will mich unbedingt sehen. Es ist wichtig. Sagen Sie ihr, dass ich da bin. Mein Name ist Lena.“

„Können Sie sich ausweisen?“

Dr. Holl betrachtete die feinen Gesichtszüge der Besucherin. Sie war schlank und duftete dezent nach einem teuren Parfüm. Die Sachen, die sie trug, sahen nicht aus, als kämen sie von einer Kaufhaus-Stange. Und er glaubte auch nicht, dass sie die kunstvoll lackierten Fingernägel mit den Miniatur-Kunstwerken darauf selbst zustande gebracht hatte.

„Nein, ich …“ Sie hob hilflos die Schultern hoch. „Ich habe nicht daran gedacht, einen Ausweis einzustecken, als ich das Hotel verließ. Bitte begleiten Sie mich zu ihr, dann sehen Sie doch an ihrer Reaktion, dass wir uns kennen.“

Darauf ließ sich Dr. Holl ein. Er konnte zwar nicht sagen, warum, aber diese Frau machte ihn neugierig.

„Gut, gehen wir!“

Die stets verschlossene Tür der Intensivstation wurde von Dr. Bettina Kramer geöffnet. Als sie Dr. Holl erblickte, errötete sie leicht.

„Guten Tag, Herr Chefarzt“, sagte sie. Sie schaute auf seine Begleiterin. Ihre Augen drückten große Überraschung aus. „Aber das ist ja …“

„Diese junge Dame hier möchte zu einer Patientin.“ Dr. Holl wunderte sich über die plötzliche Sprachlosigkeit der Kollegin.

Elena presste für einen kurzen Moment die Lippen zusammen.

„Frau Bernardi, welche Ehre!“ Nachdem Bettina sich wieder gefangen hatte, strahlte sie die Besucherin an. „Ich war in Ihrem Konzert. Sie waren ganz großartig. Dürfte ich Sie um ein Autogramm …“

Elena Bernardi? Dr. Holl ließ seinen Gehirnzellen ein wenig Zeit, die Archive zu durchforsten, doch es kam keine Rückmeldung. Nein, er hatte diesen Namen noch nie gehört. Nun ja, sie könnte seine Tochter sein. Allein vom Alter her bediente sie wohl hauptsächlich den Musikgeschmack der Jugend.

„Elena Bernardi ist mein Künstlername“, sagte sie leise. „Wir sind wirklich Schwestern. Ich bin eine geborene Moser, und meine Schwester ist eine verheiratete Bergmann.“

Elena hoffte, jetzt nicht die etwas verzwickten Familienverhältnisse darlegen zu müssen. Gleichzeitig ärgerte sie sich, kein Ausweispapier dabei zu haben.

Die Geschwister hatten verschiedene Väter, aber eine gemeinsame Mutter. Elenas Vater hatte die damals knapp siebenjährige Katrin adoptiert, die seine Frau mit in die Ehe gebracht hatte, doch er zog sie seiner eigenen, die kurz darauf geboren wurde, stets vor.

So kam es Elena jedenfalls vor. Bis heute war sie fest davon überzeugt, ihren Eltern wenig Freude gemacht zu haben. Aber die Vergangenheit ließ sich nicht mehr ändern. Der Vater nahm sich nach dem Alkoholtod von Elenas Mutter eine Jüngere. Der Kontakt zwischen ihm und den Schwestern war spärlich, aber sie wussten, dass er mit der neuen Frau noch mal Zwillinge bekommen hatte.

Dr. Holl betrachtete das offene Gesicht der jungen Frau – und glaubte ihr.

„Dann kommen Sie mal.“ Er ging voraus zu der Patientin, die ihm erwartungsvoll entgegenschaute. Da er gerade aus dem Urlaub kam, stellte er sich vor, denn sie kannte ihn noch nicht.

„Oh, Herr Dr. Holl!“, sagte sie mit einem dünnen Stimmchen. „Ich habe schon von Ihnen gehört.“

„Ich bringe Ihnen jemanden …“

Bevor er seinen Satz beenden konnte, schob sich Elena an ihm vorbei. „Katrin!“, rief sie aus. Kaum glitzerten die ersten Tränen in ihren Augen auf, liefen sie auch schon über die Wangen.

„Lenchen!“ Katrin sprach leise. Ihr fehlte der Atem. Sie wollte die Arme ausbreiten, verzog aber das Gesicht und brach den Versuch schnell wieder ab. Die geprellten Rippen schmerzten. „Ich habe dich so sehr erwartet! Gut, dass du gekommen bist!“

„Vorsicht, die OP-Narbe. Sie dürfen sie nicht umarmen“, sagte Bettina zu Elena.

„Hab schon verstanden.“ Elena beugte sich über Katrins Kopf und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

Dr. Holl zog die Ärztin mit sich in den Vorraum. „Lassen wir die beiden erst mal allein. Frau Bernardi soll jedoch nicht zu lange bleiben.“

Bettina nickte. Selbstverständlich würde sie die Anweisungen des Chefarztes befolgen. Nach einem Autogramm konnte sie die Sängerin später immer noch fragen.

***

Elena betrachte ihre Schwester mitfühlend. Zwar hatten sie sich eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, aber sobald sie einander wieder gegenübersaßen, kehrte auch die Vertrautheit zurück.

„Mein Gott, wie konnte das passieren?“ Elena streichelte Katrins Hand. „Du warst doch immer eine gute Autofahrerin.“

„Ich saß ja gar nicht am Steuer“, erwiderte Katrin weinerlich. „Ich wollte eine Abkürzung zum Parkplatz nehmen, habe dann dummerweise die Straße überquert, ohne zu schauen … Es hätte also auch noch schlimmer kommen können.“

„Meine Güte!“ Elena presste Katrins Hand gegen ihre Wange. „Clemens rief mich an. Von ihm erfuhr ich erst …“

„Ach, Lenchen, unsere Ehe war schon lang brüchig. Erst wollte ich mir das nicht eingestehen, aber dann merkte ich, dass es so nicht weiterging.“

„Mir hast du nie was davon gesagt.“ Elena zog die Mundwinkel nach unten.

„Dir ist wohl nicht ganz klar, dass du für andere nicht mehr gut zu erreichen bist. Wenn ich dich sprechen wollte, bin ich meistens bei deinem Wachhund gelandet. Der hatte immer Ausreden, warum du ausgerechnet jetzt nicht in der Lage warst, einen Anruf anzunehmen. Studioaufnahme, Bühnenproben, Fitness-Übungen und so weiter … ich kam an meine eigene Schwester nicht mehr ran. Weil sie jetzt eine gefeierte Sängerin ist.“

„Aber du hast doch die Nummer von meinem Privathandy.“

„Die ist geändert worden.“

„Ja, das stimmt …“ Elena biss sich auf die Unterlippe. Ihr Manager litt manchmal unter Anflügen von Paranoia und behauptete, man müsse die Nummern immer wieder wechseln. „Aber wie hat Clemens mich dann erreicht?“

„Er hat wohl direkt mit deinem Martin gesprochen und ihm einen handfesten Skandal angedroht, wenn er deine neueste Nummer nicht herausrückt.“

„Ich werde mich um diese Dinge jetzt selber kümmern“, entschied Elena mit gefurchter Stirn. Was sie jetzt zu hören bekam, erfreute sie nun wirklich nicht. Sie wunderte sich, warum Katrin sich so selten bei ihr meldete. Und nun erfuhr sie, dass es Martin Runge war, der hier die Hände im Spiel hatte.

„Ich gebe dir jetzt meine Nummer. Wo ist dein Handy?“

Katrin wies auf den Nachttisch. Elena nahm das Telefon und gab ihre eigene Nummer ein, bevor sie es wieder an seinen Platz zurücklegte.

„Steht unter Lena“, sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns. „Diese Nummer wird nicht mehr ohne mein Wissen geändert. Das verspreche ich dir.“

Katrin umfasste das Handgelenk ihrer Schwester so fest, das Elena zusammenzuckte.

„Es ist dir doch klar, dass du dich jetzt um Sophie kümmern musst.“

Elena schluckte. Das Aber, mit dem sie ihren Satz beginnen wollte, blieb ihr im Hals stecken und verhinderte die nachfolgenden Worte.

„Wie soll ich das denn machen?“

„Dir wird schon etwas einfallen, Lenchen. Du bist berühmt und hast Geld genug, um etwas zu arrangieren.“

„Martin soll davon nichts wissen.“

„Schreibt er dir vor, wie du zu leben hast?“ Zum ersten Mal seit Elenas Ankunft klang in Katrins Stimme eine Spur Verachtung mit.

„Er ist ein guter Manager. Einen besseren könnte ich gar nicht haben. Vielleicht kann ich für Sophie ein gutes Internat finden, wo sie auch wohnen kann.“

„Mitten im Schuljahr? Das wird schwierig sein. Ich glaube nicht, dass Sophie damit einverstanden ist. Freiwillig wird sie ihre jetzige Klasse nicht verlassen.“

„Wie ist sie denn so? Ich meine, hat sie gute Noten?“

„In manchen Fächern sogar sehr gute, zum Beispiel in Mathematik.“

„Wow!“, entfuhr es Elena, die sich nur ungern an ihre eigene Schulzeit erinnerte. Mathematik war ihr ausgesprochenes Gruselfach gewesen. Aber sie hatte nicht nur Klassenkameraden gehabt, die ihre Hausaufgaben gleich mit erledigten, sondern auch solche, die bei Klausuren ideenreich Hilfestellung leisteten. So stand immerhin auf ihrem Abschlusszeugnis eine Vier. Verdient hatte sie die allerdings nicht.

„Weiß Sophie … ich meine, hast du schon mit ihr gesprochen?“

„Du meinst, deinetwegen? Nein. Du solltest selbst mit ihr reden.“

Sollte sie nun erleichtert sein? Elena versuchte, nicht an das bevorstehende Zusammentreffen mit Sophie zu denken. Sie hatte das Mädchen als ziemlich aggressiv in Erinnerung. Aber irgendwie mussten sie sich jetzt zusammenraufen.

„Ich werde eine Erzieherin einstellen“, sagte die Sängerin nach einer längeren Pause. „Jedenfalls, solange du ausfällst. Clemens hat mich auf diese Idee gebracht.“

„Dann könnte Sophie weiterhin im Haus bleiben“, meinte Katrin nachdenklich. „Aber mehr als acht Stunden täglich kann sie sich nicht um Sophie kümmern. Eine Angestellte muss ja auch ihre Freizeit haben. Es wäre besser, du würdest ins Haus ziehen …“

„Unmöglich, das würde Martin nicht erlauben.“

„Ich dachte, er ist dein Angestellter. Wenn man dich aber so reden hört, könnte man das Gegenteil annehmen.“

Schon wieder saßen bei Elena die Tränen locker. Ihre Schwester hatte ja so recht! Warum ließ sie sich so viel von Martin vorschreiben? Gewiss, es war bequem, seinen Anweisungen zu folgen. Er verlangte ja nichts Unmenschliches von ihr. Nur ein paar Regeln sollte sie befolgen. Andererseits stellte sie immer öfter fest, dass ihr sein Gehabe auf die Nerven ging.

„Wann ist dein nächstes Konzert?“ Katrin betrachtete ihre Schwester mit einer Mischung aus Neugier und Anteilnahme.

„In zwei Wochen. Bis dahin habe ich nur einige Termine, auch ein Fernseh-Interview.“

„Bitte, zieh zu ihr! Sophie braucht jetzt einen Menschen um sich herum.“

„Und das soll ausgerechnet ich sein?“ Unter Katrins eindringlichem Blick wurde Elena ganz heiß.

„Ja, gerade du“, murmelte sie kaum hörbar.

Erst jetzt bemerkte Elena, wie sehr Katrin dieses Gespräch erschöpfte. Sie ließ sich die Anschrift der Familie geben, bei der Sophie jetzt untergebracht war.

„Ich wünsche dir gute Besserung, Katrin. Ich bin sicher, du wirst es schaffen. Sophie braucht dich.“

Katrin brachte nur noch ein dünnes Lächeln zustande. Sprechen konnte sie nicht mehr.

***

Nach dem Verlassen der Intensivstation ging Elena zu den Besucherstühlen, die am Ende des Ganges standen. Sie musste sich jetzt erst einmal setzen, um ihre weichen Knie zu entlasten. Erleichtert ließ sie sich nieder, starrte minutenlang blicklos aus dem Fenster und versuchte, die seltsamen Gefühle zu analysieren, die in ihr aufkeimten.

Ohne dass sie die richtigen Worte dafür fand, erspürte sie eine Veränderung, die ihr ganzes Leben betreffen würde – und zwar umfassend. Es war, als würde sie von einer leichten Brise erfasst, die sie langsam, aber beharrlich weiterschob – auf einem Weg aus weißem Sand. Auf einem Weg, von dem sie noch nicht wusste, wohin er sie führte.

Elena schüttelte sich kurz. Für Träumereien war jetzt keine Zeit.

Was also waren die Fakten?

Erstens, ihre Schwester Katrin musste noch etliche Zeit in der Klinik verbringen, selbst dann, wenn keine weiteren Komplikationen auftraten.

Zweitens, ganz klar, Sophie brauchte eine ständige Betreuung. Mit ihren elf Jahren kam sie noch nicht allein zurecht.

Und drittens musste sie für sich selbst herausfinden, welche Lebensbereiche Martin für sie regeln sollte und welche sie lieber selbst in die Hand nahm. Darüber würde es Auseinandersetzungen geben, die sie bisher gescheut hatte. Es läuft doch alles gut, sagte sie sich immer wieder. Bloß kein Streit, keine Anschuldigungen, keine Tränen.

Sie erkannte mit schmerzhafter Klarheit, dass sie sich selbst kaum noch wahrgenommen hatte. Nur auf der Bühne wuchs sie über sich selbst hinaus. Zum Glück ahnten ihre Fans nicht, dass sie trotz ihrer achtundzwanzig Jahre immer noch ein hilfloses, kleines Mädchen war, das sich ihr Privatleben von ihrem Manager ordnen und bis ins kleinste Detail festlegen ließ.

So konnte es nicht weitergehen. Sie musste einiges in ihrem Leben verändern. Nein, nicht einiges. Alles.

Fassungslos schüttelte sie den Kopf. An diesem Morgen war sie noch ganz arglos gewesen und wäre niemals auf die Idee gekommen, dass ihr ausgerechnet heute die womöglich bedeutendste Umwälzung ihres Lebens bevorstand.

Was sollte sie tun? Martin einweihen und um Hilfe bitten? Womöglich konnten sie dennoch ein richtiges Team werden. Oder wäre es doch besser, ihn außen vorzulassen und die Dinge selbst in die Hand zu nehmen?

Das größte Problem war Sophie. Beim letzten Besuch war ihr so viel Ablehnung vonseiten des Kindes entgegengeschlagen, dass sie nicht vorgehabt hatte, bald wiederzukommen. Wie sollten sie miteinander umgehen, wenn sie sich jetzt öfter sahen? Elena hatte immer gehofft, dass sich ihr Verhältnis zu dem Kind mit den Jahren bessern würde, aber inzwischen glaubte sie nicht mehr daran.

Nach einer Weile zog sie ihr Handy aus der Tasche und rief Gaby Scholze an. Sie saß in einem kleinen Büro außerhalb von München und erledigte den gesamten Schriftverkehr für Elena. Martin hatte die Frau als Sekretärin angestellt, vorerst nur halbtags, aber es hatte sich nach und nach herausgestellt, dass sie nun doch mehr Zeit brauchte, um die anfallende Arbeit zu erledigen.

„Hallo, Frau Scholze, hier ist Elena. Ich möchte Sie um etwas bitten.“

Sie holte tief Luft und berichtete dann von ihrem Problem. „Können Sie das für mich erledigen? Ich möchte aber nicht, dass Herr Runge etwas davon erfährt.“

„Am besten wende ich mich an eine Arbeitsagentur“, schlug Gaby vor. „Die können uns bestimmt weiterhelfen. Welche Qualifikationen soll die Frau denn haben?“

„Meine Nichte ist elf, also kein Kita-Kind mehr. Es würde vielleicht schon genügen, wenn die Frau ein mütterlicher Typ wäre und gut kochen könnte.“

„Das ginge dann aber eher in die hauswirtschaftliche Richtung“, wandte Gaby ein.

„Meinetwegen. Hauptsache ist, dass Sophie sie akzeptiert. Sie ist ein …“ Elena räusperte sich. „… ein schwieriges Kind“, vollendete sie dann ihren Satz.

„Ich werde sehen, was ich tun kann, und melde mich dann wieder bei Ihnen.“

„Danke, Frau Scholze. Und bitte, das bleibt unter uns.“

„Sie können sich ganz auf mich verlassen“, lautete Gabys Antwort.

Elena war sich noch nicht ganz sicher, ob sie der Frau vertrauen konnte. Aber vorerst blieb ihr keine andere Wahl. Im Augenblick hatte sie selbst nicht den Hauch einer Ahnung, wie sie die notwendigen Veränderungen in Gang setzen konnte. Nur eins wusste sie ganz sicher: So wie bisher ging es nicht weiter.

***

Jörg hatte heute eigentlich einen freien Tag, aber er kam kurz in die Klinik, um Bettina die Brieftasche vorbeizubringen, die sie gestern bei ihm liegen gelassen hatte. Bei der Gelegenheit wollte er die Wogen wieder glätten, die am vergangenen Abend so plötzlich aufgekommen waren. Heute konnte er sich nicht mehr erklären, wie es zu dem heftigen Streit gekommen war.

Der Abend hatte ganz friedlich begonnen. Bei einem Drink überlegten sie, ob sie gemeinsam etwas kochen oder doch lieber zu ihrem Lieblings-Italiener gehen sollten. Dann machte Bettina eine Bemerkung, dass er sich nie so richtig entscheiden könne. Seltsamerweise nahm er ihr das übel, weil er spürte, dass sie damit gar nicht so falsch lag.

Und plötzlich ging es dann nicht mehr um die Frage „ausgehen oder bei ihm bleiben“, sondern Bettina beschuldigte ihn, in ihrer Beziehung nicht klar Stellung zu beziehen. Woraufhin er sich genötigt fühlte, ihr ausführlich zu erklären, dass es besser sei, die Dinge wachsen zu lassen, bevor man sich endgültig festlegte.

Über diese Worte regte sie sich fürchterlich auf. Und schon waren sie mittendrin in einer Auseinandersetzung, in der an Kränkungen nicht gespart wurde. Irgendwann verließ Bettina wütend die Wohnung. Danach fühlte er sich befreit, doch schon bald tat es ihm leid.

Jetzt drängte es ihn, sich wieder mit ihr zu versöhnen. Und da sie ihre Brieftasche sicher schon vermisst hatte, war es für ihn ein guter Grund, die Sache jetzt zu bereinigen.

Als er um die Ecke bog, prallte er mit einer Frau zusammen und schlug ihr bei dieser Gelegenheit den gefüllten Pappbecher aus der Hand. Sie starrte ihn fassungslos an.

„Wie ungeschickt von mir! Tut mir wahnsinnig leid …“ Er schaute in die blauen Augen hinter der Brille. „Jetzt haben Sie einen Fleck auf Ihrer Jacke. Kommen Sie, wir gehen zu Schwester Marion! Sie hat bestimmt eine Idee, wie man den am besten behandelt.“

Sie ließ ihn nicht aus den Augen. Warum sagte sie nichts?

„Selbstverständlich zahle ich Ihnen auch die Reinigungskosten. Schicken Sie mir die Rechnung! Warten Sie … „ Er fingerte in der Brusttasche seiner Lederjacke nach einer Visitenkarte. Tatsächlich, da war noch eine. Mit einem treuherzigen Lächeln sah er sein Gegenüber an. „Tut mir wirklich leid. Das war keine böse Absicht.“

Sie nahm die Karte entgegen und warf einen kurzen Blick darauf. Eine feine Röte überzog ihr Gesicht. „Dr. Jörg Leipold.“

„Ich bin Arzt in der Berling-Klinik“, erklärte er eilfertig. „Und was tun Sie hier?“ Ihm war gar nicht bewusst, wie eindringlich er sie musterte. Wo hatte er diese Frau schon mal gesehen? Er wusste es noch nicht, spürte aber, dass die Lösung ganz nah war.

„Ich habe meine Schwester besucht. Katrin Bergmann.“

Seine Miene hellte sich auf. „Ich habe die OP durchgeführt. Machen Sie sich keine Sorgen, sie kommt wieder auf die Beine! Es wird zwar etwas dauern …“

„Jörg Leipold“, sagte Elena und wischte sich über die Stirn. Das, was ihr heute widerfuhr, konnte sie kaum noch ertragen. Das Wiedersehen mit Katrin erschreckte sie nachhaltig. Und jetzt stand auch noch ihre Jugendliebe höchstpersönlich vor ihr. Wieso erkannte er sie nicht?

Er umfasste ihren Arm. „Kann ich Ihnen helfen? Sie sind plötzlich ganz blass. Wollen wir uns einen Moment setzen?“

„Jörg Leipold!“, wiederholte sie, diesmal dringlicher. „Weiß du nicht, wer ich bin?“

„Ich …“ Hektisch begann er, in seinen Erinnerungen zu kramen, doch was dabei herauskam, blieb ohne jegliche Konturen.

Elena musterte die dominante Gestalt. Schon damals hatte er sie mit seinem kraftvollen Körper beeindruckt. „Ich bin Elena. Weißt du nicht mehr? München-Haidhausen. Ist mehr als zehn Jahre her. Es war ein heißer Sommer.“

„Ich fürchte, Sie müssen mir ein wenig Zeit lassen …“

In diesem Moment kam Dr. Bettina Kramer auf sie zu. Sie hatte ein Heft in der Hand und bat noch einmal um ein Autogramm.

„Was soll ich schreiben?“

„Für Bettina.“

Elena kam dem Wunsch der jungen Ärztin nach und setzte schwungvoll ihre Unterschrift in das Heft.

„Frau Bernardi ist die Schwester von Frau Bergmann“, klärte Bettina ihren Freund auf, nicht ahnend, dass er schon informiert war.

Elena ergriff die Gelegenheit zum Rückzug. In Wirklichkeit war es wie eine Flucht, aber sie musste jetzt zu dem Mann auf Distanz gehen, sonst würde sie mit Ihren Gefühlsausbrüchen nicht mehr klarkommen.

„Vielen Dank, Frau Bernardi.“

„Keine Ursache. Wiedersehen!“

Elena wandte sich ab. Nach ein paar Schritten mäßigte sie ihr Tempo. Es sollte doch nicht so aussehen, als liefe sie vor irgendwas davon. War das jetzt eine Falle, die ihr das Schicksal stellte? Oder nur ein netter Wink mit dem Zaunpfahl?

Als sie hinaustrat in den unfreundlichen Novembertag, atmete sie die feuchte Luft tief ein. Dann war sie sich sicher, nicht zu träumen.

Auf dem Platz vor dem Eingang blieb sie unschlüssig stehen. Sollte sie zu Fuß gehen oder ein Taxi rufen? Eigentlich würde sie gern in der Innenstadt einen Bummel machen. Vielleicht fand sie in den Geschäften dort etwas Ablenkung, vorausgesetzt natürlich, dass sie niemand erkannte. Sie setzte die Mütze wieder auf und zog sie tief in die Stirn.

Ihr Handy klingelte. Martin. Nein, mit ihm wollte sie jetzt nicht reden. Sie drückte ihn weg und schaltete das Telefon ganz aus.

***

„Elena Bernardi? Wer ist das?“ Jörg bemühte sich, die Erregung, die aus seinem Inneren heraufstieg, unter Kontrolle zu halten.

„Eine berühmte Sängerin“, sagte Bettina, die vor lauter Begeisterung über das Autogramm der Künstlerin den Streit mit Jörg vergessen hatte – jedenfalls vorübergehend. Erst als er ihr mit bittendem Blick das schwarze Ledermäppchen reichte, kniff sie kurz die Brauen und die Lippen zusammen.

Gefahr im Verzug, jetzt musste schnell seine Entschuldigung her.

„Was gestern Abend passiert ist, tut mir leid“, sagte Jörg. Eigentlich hatte er aufrichtig leid sagen wollen, doch irgendwie war das Wort verschwunden, als wäre es durch ein Eisengitter gefallen. „Wir haben uns benommen wie die Kinder.“

„Wir?“, fragte sie spitz. „Du warst doch derjenige, der von seinen Argumenten nicht loskommen konnte.“

Er versuchte, sie zu besänftigen. „Lass uns nicht schon wieder streiten! Ich sagte doch, dass es mir leidtut.“

Zu seiner Erleichterung sah er, wie sich Bettinas Gesicht wieder entspannte. Die Brieftasche ließ sie in ihrer rechten Kitteltasche verschwinden.

„Danke, dass du extra hergekommen bist, um sie mir zurückzubringen.“

„Aber das ist doch selbstverständlich, du brauchst sie doch.“ Er verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß. „Was singt Elena Bernardi denn so?“, erkundigte er sich betont beiläufig.

„Wunderschöne Songs, aber keine Schnulzen. Hast du sie denn noch nie singen gehört?“

Er zog die Schultern hoch. „Vielleicht mal im Autoradio, aber nicht wirklich bewusst.“

„Ich weiß, für dich gibt es nur Jazz.“ Das klang schon wieder etwas vorwurfsvoll. „Ich hatte einmal Karten für ein Bernardi-Konzert, doch du wolltest mich nicht begleiten. Weißt du denn nicht mehr? Na ja, ich habe einige ihrer Lieder auf meinem Handy. Die kann ich dir auf deins überspielen, wenn du willst.“

Jörg fand nicht, dass man sich für seinen Musikgeschmack rechtfertigen musste, zog es jedoch vor, auf ihre Bemerkung nicht weiter einzugehen. „Ich möchte dich heute Abend zum Essen einladen“, sagte er.

Auch wenn sie jetzt bedauernd lächelte, schien sie nun endlich zur Versöhnung bereit zu sein. „Ich habe leider Dienst bis zweiundzwanzig Uhr“, sagte sie. „Aber morgen ginge es.“

„Morgen geht’s bei mir wieder nicht. Das ist ein ständig widerkehrendes Problem, unsere Dienstpläne in Einklang zu bringen. Leider klappt es nicht immer. Trotzdem hoffe ich, dass wir bald einen Termin finden. Ich bin jedenfalls froh, dass du mir nicht mehr böse bist.“

Bettinas Pager gab Laut. Sie wurde sofort nervös. „Mein Gott, man sucht nach mir. Ich muss wieder an die Arbeit. Wir sehen uns.“ Bevor sie sich abwandte und davoneilte, drückte sie ihm schnell einen Kuss auf den Mund.

Jörg verließ die Klinik. Elena Bernardi, die Frau ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Haidhausen, in diesem Stadtteil hatte er einige seiner Studienjahre verbracht. Schon zu dieser Zeit war aus dem ursprünglichen Arme-Leute-Viertel eine begehrte Wohngegend geworden, in der es sich gut leben ließ. Es gab viele Cafés, Wirtshäuser, Biergärten sowie auch kulturelle Angebote.

Was war damals gewesen? Auf dem Weg nach draußen zermarterte er sich das Hirn, fand aber keinen Hinweis. Oder doch?

Verschwommene Bilder tauchten auf und zogen an ihm vorbei. Ein Mädchen mit Zahnspange und roten Haaren lachte ihn an. Sie behauptete, eine Studentin zu sein, woran er jedoch immer gezweifelt hatte. Das Bild wurde schärfer und zeigte ein apartes Gesicht, umrahmt von rot lodernden Haaren, die schon lange nicht mehr mit einer Friseurschere in Kontakt gekommen waren.

Und dann diese Zahnspange, die jedes Lächeln in dem schmalen Gesicht zu einer Grimasse machte. Sie konnte charmant und lustig sein – und schon bald darauf wieder in ihrem Schneckenhaus verschwinden.

Jörg überlegte, wie oft sie sich getroffen hatten, doch seine Erinnerung gab keine Zahlen her. Als er nichts mehr von ihr hörte, hatte er eine gewisse Erleichterung empfunden und keinen Versuch unternommen, wieder mit ihr Kontakt aufzunehmen. So wie es war, war es gut.

Er wollte nicht, dass sie sich in ihn verliebte, aber ein wenig hatte sie ihm dann doch gefehlt. Schon damals ging er Bindungen aus dem Weg, vor allem dann, wenn sie enger zu werden drohten. Das war bis heute so. Vielleicht hatte er Angst vor zu viel Nähe?

Von anderen hörte er dann, dass sie mit ihren Eltern weggezogen war. Wohin? Niemand wusste es. Er hatte keine Nachforschungen angestellt.

War Elena Bernardi dieses Mädchen? Er müsste sie noch einmal genauer betrachten, um sich ganz sicher zu sein.

Und als hätten ihm seine Gedanken den Weg zurück in die Vergangenheit frei gemacht, sah er sie. Sie stand nicht mehr unmittelbar vor dem Klinikeingang, sondern in einigen Metern Entfernung an der nächsten Ecke. Und sie sah so aus, als wüsste sie nicht so recht, welche Richtung sie einschlagen sollte.

Jörg beschleunigte seine Schritte. Wenige Sekunden später war er bei ihr.

„Hallo“, sagte er, als er sie fast erreicht hatte.

Sie fuhr herum. „Du bist es!“, stellte sie fest. „Ist die Erinnerung zurückgekehrt?“

„Nein, das nicht. Aber wenn Sie … also wenn du mir auf die Sprünge helfen könntest, wäre das schon gut.“

„Ich brauche jetzt einen Kaffee. Und vielleicht eine Kleinigkeit zu essen“, erwiderte sie. „Hast du eine Idee, wo wir hingehen können? Ich bin schon zu lange aus München weg, um …“

„Ganz in der Nähe gibt’s ein Bistro. Es hat erst vor Kurzem eröffnet und ist noch nicht so bekannt. Da finden wir bestimmt ein ruhiges Plätzchen.“

Sie betrachtete ihn ein paar Sekunden schweigend, dann versenkte sie die Hände in den Manteltaschen. „Gut. Gehen wir!“, sagte sie.

***

An diesem Tag fuhr Dr. Holl zum Mittagessen nach Hause. Es gab Bohneneintopf mit Hackfleischbällchen, liebevoll von Cäcilie zubereitet.

Juju war auch schon da. Chris kam erst am Nachmittag aus der Schule. Und die Zwillinge kamen mittags nur noch selten heim. Meistens aßen sie irgendwo in Uni-Nähe oder in der Mensa.

„Na, wie war dein Tag, mein Schatz?“, erkundigte sich Stefan bei seinem Töchterchen, das viel zu erzählen hatte. Dass Leo Hartl in der Klasse mal wieder mit der Wasserpistole herumgefuchtelt hatte, was Juju echt doof fand. Einer Mitschülerin war schlecht geworden, sodass sie in den Sanitätsraum gebracht werden musste.

„Und der Herr Obermüller hat die Sonja sehr ungerecht benotet. Da hab ich mich beschwert.“

„Obwohl du gar nicht betroffen warst?“ Stefan schmunzelte. „Du wirst mal eine grandiose Strafverteidigerin, Liebes. Kannst ja jetzt schon mal bei deinem Onkel Axel in die Lehre gehen.“

Stefans Schwager war ein gefragter Münchener Anwalt.

„Sind wir nicht diese Woche bei Axel und Beatrix eingeladen?“, erkundigte sich Stefan wenig später bei seiner Frau Julia.

„Es ist genau umgekehrt. Sie kommen zu uns. Am Samstag. Und die Kinder bringen sie auch mit. Vielleicht sind sogar Paps und Nessy mit von der Partie. Sie wussten noch nicht, ob es zeitlich hinkommt. Unsere Senioren haben schließlich einen ziemlich gefüllten Terminkalender. Aber sie wünschen uns allen schon mal vorab viel Spaß.“

Stefan wandte sich an seine Jüngste. „Sag mal, mein Schatz, kennst du Elena Bernardi?“

Juju ließ sich gerade noch einen Löffel Bohneneintopf geben. „Klar, die kennt doch jeder“, sagte sie. „Du etwa nicht?“

„Nun ja, ich muss gestehen, dass ich noch nichts von ihr gehört habe, jedenfalls nicht bewusst.“ Er blickte fragend zu seiner Frau hinüber. „Und du?“

„Ich hab sie schon mal singen gehört“, erwiderte Julia.

„Bei Chris hängt sie doch an der Wand“, klärte Juju ihren nichtsahnenden Papa auf. „Da kannst du sie dir anschauen.“

Gleich nach dem Essen sah er sich das Riesenposter an. Eine schöne Frau hielt ein Mikrofon in der rechten Hand, die Schultern waren von einer langen blonden Mähne bedeckt. Stefan hatte zunächst Mühe, in dieser durchgestylten Frau die blasse Person vom Vormittag zu erkennen, aber sie war es. Und sie war bekannter, als er dachte. Die moderne Fotografie mit ihren vielfältigen Bearbeitungsmethoden machte auch aus einem unscheinbaren Gesicht mit ein paar Klicks ein attraktives.

„Gefällt sie dir?“ Jujus Frage riss ihn aus seinen Überlegungen. Mit schief gelegtem Kopf schaute sie zu ihm auf.

„Sie ist eine hübsche Frau“, sagte Stefan.

Doch Juju ließ nicht locker. Wie immer wollte sie alles ganz genau wissen. „Warum interessierst du dich für sie?“

„Nur so. Eine Pflegerin sprach von ihr und war ganz erstaunt, dass ich den Namen noch nicht gehört hatte. Ich hab wohl hinterm Mond gelebt, oder? Nun weiß ich dank dir Bescheid, dass Elena eine berühmte Sängerin ist.“

Ihren Besuch in der Klinik verschwieg er, da er nicht wollte, dass irgendwelche Informationen darüber bekannt wurden.

Als er sich zwanzig Minuten später wieder auf den Weg zur Klinik machte, begleitete ihn Julia bis zur Haustür. Draußen wehte so ein kalter Wind, dass sie zur Garderobe griff und Stefan noch einen Schal um den Hals legte.

„Aber das ist doch nicht nötig“, wehrte er ab.

„So sind sie, die Ärzte“, amüsierte sich seine Frau. „Den Patienten immer Vorschriften machen, sich selbst aber für unsterblich halten. Ich bestehe darauf, er wird deinen Hals warm halten. Außerdem ist der Schal ein Geschenk von Juju.“

Julia legte ihm den Wollschal geschickt um, sodass er nicht verrutschen konnte. „Übrigens, auch ich möchte gern wissen, warum du nach Elena Bernardi gefragt hast.“

Stefan klärte seine Frau kurz auf. „Sie ist die Schwester einer Patientin. Die ganze Geschichte erzähle ich dir heute Abend, wenn ich nach dem Seminar nach Hause komme.“

„Sei vorsichtig unterwegs! Es soll schon Nachtfrost geben.“ Julia schaute ihm zu, wie er in den Wagen stieg, winkte ihm noch mal und schloss dann fröstelnd die Tür. Keine Frage, der Winter stand schon ziemlich dicht davor.

***

Er musste die Erinnerung ziemlich tief in sich vergraben haben. Nachdem ihm Elena auf dem Weg zum Bistro ein paar Stichworte gegeben hatte, war ein breites Tor aufgegangen, das den Blick in die Vergangenheit frei gab. Die klare Sicht auf das, was damals geschehen war, ließ sein Herz schneller schlagen. Warum hatte er diesen Lebensabschnitt so erfolgreich verdrängt? Der Arzt fand keine Antwort. Eigentlich gehörte er auf die Couch eines Psychologen, aber diesen Gedanken behielt er lieber für sich.