0,99 €
Begegnung eines bildenden Künstlers mit einer Jazzmusikerin, die sich in Berlin zu behaupten versucht. Eine klassische Bohème-Geschichte aus dem Jahre 2005. Ein alternder Zeichner und Webmaster trifft, anlässlich des Todes eines gemeinsamen Freundes, eine Sängerin, die er dabei beobachtet, wie sie sich unter prekären sozialen Rahmenbedingungen als Künstlerexistenz durchs Leben schlägt, während er an sich selber feststellt, dass das Spiel für ihn vorbei ist.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2014
Die Erbschaft
Kurzgeschichte 2005/06
Alle Figuren und Begebenheiten sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
*
Er erfuhr erst nach einigen Wochen vom Tod seines Freundes Hans, mit dem er regelmäßig Infos und Software für die Internetprogrammierung ausgetauscht hatte.
Eines Tages rief ihn ein gemeinsamer Freund, Peter Krüger, an, dessen Internetauftritte als Galerist und Musiker Hans in einer Art Nebenbeschäftigung betreut hatte, und bat ihn zu einem Treffen, um die durch den scheinbar so plötzlichen Tod aufgetretenen Probleme mit der Administration seiner Website zu beseitigen. An dem Treffen sollten auch Lisa, die Exfrau und Mutter eines gemeinsamen Kindes von Hans, sowie eine weitere Klientin teilnehmen. Obwohl er ahnte, dass er die Hinterlassenschaft von Hans Internet-Projekten übernehmen sollte, ließ er sich aus alter Freundschaft zu Peter und in einem Gefühl der Verpflichtung zu seinem toten Freund auf einen Besprechungstermin ein.
Beim Betreten von Peters Wohnung stolperte er beinahe über eine dunkelhaarige Frau, die gerade am Boden auf der Suche nach einem verlorenen Gegenstand herumkrabbelte. Sie begrüßte ihn von da unten mit einem freundlichen breiten Grinsen und offenbarte ihm dabei bei geöffnetem Mund eine Zahnlücke genau in der Mitte zwischen den zentralen oberen Schneidezähnen, die aufgrund ihrer Fehlstellung etwas windschief geraten schienen. Und während er die Person, die ihn spontan an eine kleine Zigeunerin erinnerte, beobachtete, fiel ihm ein, dass er vor einiger Zeit ihr Abbild in ihrer von Hans bearbeiteten Homepage gesehen hatte, wo sie sich als bulgarische Gesangskünstlerin ‚Jelena’ mit Musikclips im ‚Balkansound’ präsentierte. Einen ihrer Musikclips hatte er sogar herunter geladen, um ihn sich anzuhören.
Nachdem Jelena ihm ein Glas Wein gereicht und sich selbst aus der schon mehr als halb geleerten Flasche den restlichen Alkohol eingeschenkt hatte, begann sie in slawischem Akzent auf ihn einzureden, wobei sie gelegentlich ihre in deutscher Sprache begonnenen Ausführungen mit englischsprachigen Einschüben versah, was die Nachvollziehbarkeit der Aussage ziemlich anstrengend gestaltete.
Nicht gerade überraschend, versuchte sie ihn zu überreden, doch die von Hans ausgearbeiteten Webseiten zu übernehmen, obwohl er nachdrücklich betonte, dass er Grafiker sei und sich weniger als Webmaster verstehe. Nur schwach widerstrebend ließ er sich trotzdem darauf ein, den anderen bei Bedarf bei der Webprogrammierung zu helfen, falls sie ihre Seiten weiterhin ins Internet stellen wollten und war dann glücklich, als Lisa, die Exfrau von Hans, den Vorschlag machte, dass man ein gemeinsames Treffen verabreden solle, zusammen mit ihrer Tochter das Grab von Hans zu besuchen, statt einfach über Hans Tod hinwegzugehen, was tatsächlich auch niemand so wollte.
Man tauschte die Telefonnummern und er versprach, mit seinem Auto Jelena anderntags für den Friedhofsbesuch abzuholen.
Die Autofahrt zum Friedhof traten er und Jelena verspätet an, weil der verabredete vorherige Telefonanruf erst kurz vor dem vereinbarten Termin zustande kam. Im Auto begann Jelena in der ihr eigenen aufgedrehten Art ihn intensiv über seine persönlichen Verhältnisse auszufragen. Da es ihm unangenehm war, mehr als die üblichen Lügen zu verbreiten, die man aus Selbstschutz indiskreten fremden Fragern gern auftischte, und da er wusste, wie schwierig es war, von derart ausufernden Lügen dann später ohne Gesichtsverlust runterzukommen, versuchte er unauffällig in das Gespräch einfließen zu lassen, dass er nicht leiden könne, wenn man ihm ‚Löcher in den Bauch’ frage. Jelena, auf die diese Redensart eine nachdrückliche Faszination ausübte, assoziierte den Ausdruck ‚Löcher in den Bauch fragen’ mit einer ‚Bauchschmerzen’ auslösenden Gewalttätigkeit.
Sie wechselte nunmehr das Thema und erklärte, wie wichtig sie es für die sechzehnjährige Tochter fände, wenn sie über Hans in Erfahrung bringen könne, dass ihr Vater nicht gänzlich ohne Freunde gelebt habe und diese an seinem Grab an ihn denken würden; und sie schwärmte, dass diese Tochter aussehe wie Hans aus dem Gesicht geschnitten und ihm auch sonst sehr ähnlich sei.
Auf dem Friedhof fand sich kein Grab von Hans, weil er dort zusammen mit unzähligen anderen anonym und unauffindbar in einer Urne auf einer Grünfläche beerdigt worden war. Jelena hielt auf der Wiese eine in persönlichen Worten an Hans gerichtete Ansprache und inszenierte eine kleine Gedenkzeremonie, die damit endete, dass man aus einem Schnapsglas auf den Verstorbenen trank und Alkohol über den Boden verschüttete.
Hans war ein einsamer, arbeitsloser und verarmter Mann, der nicht ohne vorherige Andeutungen über seine nachlassende Gesundheit in den Tod gegangen war und dessen wenige Freunde erst im Nachhinein von seiner Beerdigung erfahren hatten.
In einem letzten Gespräch über das Alter, so erinnerte er sich, hatte er Hans zugestimmt, dass für Ihresgleichen mit fünfzig die Zukunft im Wesentlichen vorbei sei. Man dürfe sich nichts vormachen, sagte er damals auf sich selbst bezogen, Künstler seien in der Regel gleich Ausländern und Arbeitslosen Angehörige der Unterschicht mit der geringsten sozialen Absicherung, den geringsten Verdienstmöglichkeiten und der geringsten statistischen Lebenserwartung.
Im nächsten Monat rief Lisa bei ihm an. Sie hatte sich bei einem Server Speicherplatz gemietet und wollte nun Jelenas Website in Eigenregie managen. Mit Peter Krüger schien keine weitere Zusammenarbeit mehr vereinbart worden zu sein. Damit war die Angelegenheit für ihn erledigt, und er meinte die Administration der Internetseiten mit ein paar Tipps, die er Lisa mitteilen zu können glaubte, abgegeben zu haben. Und in der Tat stellte er irgendwann fest, dass Hans Website, die dieser für Jelena gestaltet hatte, wieder in Funktion getreten war. Ein wenig erleichtert mailte er Lisa eine anerkennende Notiz darüber. Ein halbes Jahr später war die Internetadresse jedoch wieder verschwunden.
Irgendwann erfuhr er bei einem Besuch der Galerie von Peter Krüger, dieser habe Jelena überreden können, in einer Rockband, in der er als Sänger auftrat, am Keyboard mitzuspielen, obwohl die Musikstile der beiden nicht gerade als kompatibel zu bezeichnen waren. Es habe jedoch gewisse Komplikationen mit einem weiteren Freund, der ebenfalls Bandmitglied war, gegeben, weil der etwas von Jelena wollte, sie aber nicht, ergänzte Peter die Situation.
„Von derartigen persönlichen Angelegenheiten sollte man in Projekten, die mit Kunst zutun haben, grundsätzlich immer abstrahieren“, erläuterte er Peter gegenüber sein nicht besonders ernst gemeintes Unverständnis. Peter schmunzelte.