5,99 €
Die stille Landschaft im nordschwedischen Jämtland ist Schauplatz von Kerstin Ekmans großem neuen Roman. Dort lernt die junge Myrten Elis kennen, einen Künstler und Sonderling, der soeben aus dem Krieg heimgekehrt ist. Die beiden verlieben sich, doch Myrten erkennt zu spät, daß Elis eine Vorgeschichte in dem kleinen Ort hat, die auch ihr Leben folgenschwer beeinflussen wird. Ein großer epischer Gesellschaftsroman und die Geschichte einer jungen Frau auf der Suche nach ihrer Bestimmung.
»Der Zauber dieses Landstrichs, die Autorin fängt ihn ein: Es riecht nach Moor, nach Seen und dunklen Wäldern.«
Pfälzischer Merkur
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2012
Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.de Übersetzung aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Taschenbuchausgabe 1. Auflage 2005 ISBN 978-3-492-957595 © Kerstin Ekman 2002 Titel der schwedischen Originalausgabe: »Sista rompan«, Albert Bonniers Förlag, Stockholm 2002 Deutschsprachige Ausgabe: © 2003 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Dorkenwald Design, München Umschlagfoto: Henrik Larsson / Fotolia.com Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Eines Sommers kamen ein paar Värmländer nach Svartvattnet. Sie waren auf der Walz und hatten eine Perlenschöpfkelle dabei. Anton Fransa lieh ihnen nach vielem Hin und Her ein Boot, das sie von Waldsee zu Waldsee schleppten.
Elis spionierte ihnen nach, sobald er sich von der Arbeit daheim in Lubben verdrücken konnte. Fing sich gar ein paarmal eine ordentliche Abreibung ein, nur weil er sehen wollte, was sie trieben. Einer ruderte, und einer lag da und spähte durch ein Blechrohr ins Wasser. Ab und zu tauchte er die Kelle ein und schürfte damit über den Steingrund. Innerhalb weniger Wochen hatten sie aus dunklen Bächen und Waldseen eine ganze Pilsnerflasche voller Perlen zusammengefischt. Sie gaben Anton eine kleine Perle für das Boot. Dann zogen sie ihres Wegs.
Elis erinnerte sich nun daran, wie er ihnen nachspioniert hatte. In jenem Sommer. Wie er hätte losheulen können, als sie in Richtung Norwegen verschwanden. Wenn er sich denn getraut hätte.
Jetzt war er im Land der Perlenträume.
Am neunten April begann die Okkupation. Sein erster Gedanke galt nicht seinem Mutterland und dessen Bewohnern oder irgendwelchen besonders geschätzten Menschen unter ihnen, sein erster Gedanke war vielmehr: Dies ist die Stunde der Wahrheit.
Das glaubte er zumindest mit der Hälfte seiner beklommenen Seele. Grauer und viel stiller war diese Okkupation, als man es sich hatte vorstellen können. Wenn man sich denn überhaupt etwas vorgestellt hatte. Selbst mitten in Oslo war es still. Jedenfalls zeitweise. Menschenleere Straßen. Stein und Verlassenheit. Er hastete an den Hauswänden entlang zum Atelier in der Dronningens Gate. Dort waren seine Gemälde. Bilder. Leinwände. Wie immer man sie nannte. Die Leute liefen zu ihren Kindern oder ihren alten Müttern. Er lief zu diesen mit Sicherheit völlig toten Gegenständen.
Während draußen geschossen wurde, saß er mit einem lauwarmen und sehr dünnen Pilsner in der Hand auf einem Sprossenstuhl und starrte die Bilder an, die ringsum an den Wänden lehnten. Als erstes hatte er sie natürlich zum Raum hin gedreht. Voller Hoffnung. Ja, wirklich. Irgendwie hegte er in diesem Augenblick eine Hoffnung für sie.
Der Raum unter dem Blechdach war von der Frühlingssonne erwärmt und roch nach bekleckerten Terpentinflaschen. Und nach Staub vor allem, altem Schmutz. Es war sehr lange her, daß er hier gewesen war. Er öffnete ein Fenster, um die Aprilluft einzulassen. Als er jedoch die Detonationen und kurz darauf unten auf der Straße Leute laufen hörte, schloß er es wieder.
Hatte er wirklich geglaubt, seine Bilder würden aufleben?
Wahrscheinlich war er nicht ganz bei Trost. Dachte er träg und eingefahren. Die Leute liefen um ihr Leben oder zumindest vor dem Schrecken davon, der ihnen in die Knochen gefahren war. Er aber saß seelenruhig in einer warmen Mansarde und gaffte seine Bilder an. Als auf den Straßen, im Hafen und unten bei der Akerfestung einhellig und allgemein die Geisteskrankheit ausbrach, da sollten ihm seine Bilder ihr wahres Antlitz zeigen.
Und wahrscheinlich taten sie genau das, denn er sah nichts, was er nicht früher schon gesehen hatte: nämlich daß sie »nettens« waren.
Er war ein geschickter Maler. Ja.
Das war es, was dieser Vormittag des Wahnsinns und des Todes, als er da in seiner selbstgeschaffenen Ruhe saß, ihm gesagt hatte: Du malst nettens, Elis.
Er verließ das Atelier, und draußen auf der Straße wurde ihm immerhin halb angst.
Im Theatercafé begann die Hatz. Er saß mit der üblichen Bande am Stammtisch. Sie käuten die Frage der Invasion der Deutschen in England wieder. Daß es niemals dazu kommen würde, darin waren sich alle einig. Elis aber schwieg. Schaut euch doch Europa an, wollte er sagen. Er war in seiner Trägheit jedoch so klug zu schweigen. Der Kontinent befand sich im großen und ganzen in der Gewalt der Nazis. Doch hier erhoben sie ein Geschrei darüber, die Engländer würden sich an den Stränden und Kaien schlagen, sie würden schwitzen und bluten und alles, was zur höheren Kriegsrhetorik gehört und wozu man selbst keine Lust hat.
Da kam die Dame auf ihren Tisch zu. Sie kam an wie eine Blücher, die Oslo anlaufen wollte. Kein Blick versenkte sie.
Ja, sie war eine richtige Dame geworden, und sie sprach ihn mit seinem Vornamen an, dem nicht geheimen. Trotzdem erkannte er sie zunächst nicht.
»Elias!« rief sie mit einer Würde, die ihn irreführte. Obendrein waren da der verwickelte Turban und das über der Hüfte drapierte Kleid. Doch es war Dagmar Ellefsen. Er war gehörig angesäuselt und dachte unscharf. Entsann sich aber: Unter diesen Draperien war ich schon mal. Allerdings erinnerte er sich nicht mehr genau daran, wie es dort gewesen war.
Wenn er es überdachte, so war das vierzehn Jahre her, und er hatte den schwarzen Hund bei sich gehabt. Råtass. Der war jetzt bestimmt schon tot. Dagmar aber lebte und prangte nun also; ihr Busen war größer als früher und ihre Haltung exzellent. Elis versank in sich selbst und in den Kognak-Soda und überlegte, daß es viele Leute gab, die lebten und auftauchen konnten. Wenn auch natürlich nicht hier.
Sie hieß nicht mehr Ellefsen, sondern Dickert. Bevor sie an ihren Tisch zurückkehrte, erzählte sie, ihr Mann sei Schulrektor und Hauptmann der Reserve.
Er saß dort drüben. Prostete ihm von ferne zu. Mit viehischem Gehorsam prostete Elis zurück. Seine Trunkenheit verlief stets so, daß sich zuerst Trägheit einstellte. Gesprächig und geistreich wurde er nie. Spätabends kam dann für gewöhnlich das Übel. Doch da hatte er sich längst davongemacht, denn er wußte sich in acht zu nehmen.
Dann sagte einer seiner Stammtischbrüder, und zwar Stein: »Dickert, der kollaboriert. Das ist ein NS-Bonze. Wußtest du das nicht?«
»Nein, verdammt, woher denn«, erwiderte Elis. »Es ist zwanzig Jahre her, daß ich dieser Dame begegnet bin. Nun, fünfzehn ganz bestimmt.«
Menschenjäger, wem gilt die Jagd? dachte er. Es ist zum Kotzen, wie gerecht alle geworden sind.
Mit einem Mal mußte er an Erling Christiansen denken. Das kam nicht oft vor. Aber so war das wohl, wenn die Vergangenheit mit einem Turban drapiert angedampft kam. Er fragte sich, welches Schicksal Erling wohl zuteil geworden war. Hatten sie ihn an die Front geschickt, oder arbeitete er noch immer als Architekt für Generalbauinspektor Speer?
Es gab andere, die würden nie im Leben auftauchen, weil sie nie irgendwohin fuhren. So wie der alte Teufel. Oder Vater.
Er dachte, er vermisse niemanden. Außer diesen Hund da. Diesen Råtass.
Serine.
Nein, das war kein Vermissen. Das war etwas anderes, das war schlimmer. Beim Anblick seiner Bilder dort oben in der stickigen Luft der Mansarde hatte er sich gefragt, was ihn in seinem Überdruß eigentlich vorantreibe und -drehe. Was immer es sein mochte, gedanklich ließ sich kaum daran rühren. Wollte man nicht den Wahnsinn oder den Tod heraufbeschwören.
Ich glaube, ich sollte mir einen Hund anschaffen, dachte er. Die anderen kauten noch immer diesen Dickert durch. Was in Norwegen gerade vor sich ging, erinnerte Elis an ein Spiel, das sie in seiner Kindheit in der Schule gespielt hatten. Allerdings hatte er nie mitgemacht. Von den Jungen aus Lubben spielte keiner. Sie sahen zu, wenn die anderen sangen und sich in zwei Mannschaften aufstellten. Jetzt wollte ihm die Melodie einfach nicht in den Sinn kommen, da das Trio des Theatercafés auf Wunsch eines Tisches deutscher Offiziere samt Damen mit künstlichen Blumen in den Dutten Donauwellen intonierte. Er kam jedoch auf den Rhythmus und trommelte ihn. Als die Musiker vom Balkon herabstiegen, um Pause zu machen, fiel ihm die Melodie ein, und in seinem Kopf begann es zu singen:
Machet auf das Tor, machet auf das Tor …
Er will die Schönste haben.
»Elias! Aufwachen! Du bekommst Besuch!«
Und stand nicht dieser Dickert gleich im Gang zwischen den Tischen und winkte? Nein, das war zu steif für ein Winken. Ein ausgestreckter Arm. Ein deutscher Gruß? Ja, verflucht! Und Dagmar, auf dem Weg in Dickerts Kielwasser, beugte sich zu Elis vor, roch dramatisch nach Parfüm und sagte:
»Wir wissen genau, daß du zu uns gehörst.«
Stein sagte, das sei zum Kotzen, und die anderen schwiegen. Elis begann wieder zu singen, aber nicht sehr laut.
»Der ist voll«, sagte Knut Knapper, und Elis dachte: Ist auch am besten. Und dann tat er sein Bestes, um es wahr zu machen.
Er fuhr nach Garvåg. Es wurde schließlich Sommer, und er wollte sich am Licht an der Küste versuchen. Doch Garvåg war nicht Holmsbu. Er hatte keine Gesellschaft, so wie Henrik Sørensen und Thorvald Erichsen sie am Drammensfjord gehabt hatten. Garvåg war auch nicht Skagen, wo man sonnige Interieurs mit Blumen auf dem Fensterbrett oder Strandmotive mit blauem Fjord und leuchtenden Laubbäumen im Vordergrund malte. Hier war er allein. Es war eine Flucht.
Es wurde Herbst, der Pippau um die Vortreppe welkte, und Elis saß noch immer in dem Haus, das er für den Sommer gemietet hatte. Was sollte er auch in Oslo? Bei seiner Abreise war die Kunstakademie nazistisch und ohne Schüler gewesen. Ein mittelprächtiger Künstler und Mitläufer namens Søren Onsager war dort Chef geworden und veranstaltete Ausstellungen mit entarteter Kunst. Per Krohg war in Grini interniert.
Er selbst war zu suspekt, um sich in anständiger Gesellschaft zu zeigen. Also las er nun Hamsun, rein aus Provokation. Abends nach der letzten Nachrichtensendung dachte er daran, daß er London noch nie gesehen hatte. Es hörte sich auch nicht so an, als würde noch etwas zu sehen übrigbleiben. Wie himmlische Schaben wimmelten die Bomber der deutschen Luftwaffe von Calais aus das Themsetal hinauf. Kirchen, Schiffsdocks, Wohnhäuser, Kraftwerke, Fabrikgebäude, Eisenbahnen – alles, was Menschen gebaut hatten, ging da drüben zum Teufel. Am dreizehnten September hörte er, im Buckingham-Palast seien Hunderte von Fensterscheiben zu Bruch gegangen und im Schloßgarten große Krater geschlagen worden. Der Krieg, der sich hier am Fjord als Überdruß, Zwang und graue Zeit dartat, war in England eine brennende Gehenna und die Hochzeit des Teufels mit dem Menschen.
Radiohören war nicht verboten, doch hatte er das Gerät sicherheitshalber in einen Kleiderschrank gestellt. Wozu auch immer das gut sein sollte. Wenn sie den Befehl erhielten, ins Haus zu trampeln und eine Beschlagnahme durchzuführen, würden sie es sowieso finden. Daran dachte er mit trägem Interesse. Er holte das Gerät hervor und suchte auf dem Wellenband nach den deutschen Stationen. Ihm fielen die Gesichter unter den Helmen ein, die er beim Laden gesehen hatte. Heinrich. Konrad. Heinz. Walter. Oder vielleicht Gottfried. Die eine Ehefrau hatten. Kinder. Eine Mutter. Oder eine Verlobte.
Leben. Gefühle in der Brust. Ein heimliches Schluchzen? Was keinen von ihnen daran hindern würde, um vier Uhr morgens die Tür mit einem Gewehrkolben einzuschlagen. Auf Befehl und ohne Schluchzen.
Mittlerweile war ihm mehr oder weniger alles egal. Das Drehen am Radioknopf war lediglich ein Juckreiz. Er malte nichts. Er saß in Garvåg und sehnte sich fort, doch das hatte er eigentlich schon immer getan. Ursprünglich fort ins Blau jenseits des Brannbergs. Auch wenn er damals keine Worte dafür gehabt hatte. Die waren erst viel später gekommen, im Sanatorium.
Fort, fort, hinaus in die Welt
Über die hohen Berge …
Nettens.
Irgendwann ist man dann so richtig geschickt, und dann wird alles, was man macht – nettens. Zum Kuckuck auch, daß man in einem Land lebt, wo man dieses Wort nicht einmal anwenden kann! Auf gar nichts. Niemand würde es verstehen, und wenn doch, wäre man entlarvt.
Weißt nichten, welchig ich bin. Und du sollst es auch nicht erfahren.
Er blieb lange, lange dort draußen in der Herbstnässe und sah den Pippau erst welken, dann faulen. Der Fjord war grau und aufgewühlt. Die deutschen Soldaten, die die Brücke und die umliegenden Gebäude im Hafengelände bewachten, wirkten strubblig, und wenn man in der Post oder im Café dichter an sie herankam, rochen sie wie nasse Hunde. Das lag wohl am Stoff ihrer Uniformen. Sie konnten sich schließlich nicht allesamt in hechelnde Hunde verwandelt haben, in Tiere mit nassem, rauhem Fell und hängendem Pimmel. Dieser Gedanke versetzte seiner Zeichnerhand einen Ruck, und eines Vormittags saß er da und skizzierte den deutschen Konrad und den Siegmund als zottige Tiere. Das war er aber bald leid.
Der Fischer und Bauer, bei dem sich Elis eingemietet hatte, war knausrig, oder aber er brauchte das Geld wirklich. Er wohnte mit seiner Familie weiterhin in dieser Bruchbude von Sommerhaus, während Elis seinen Aufenthalt Woche um Woche verlängerte. Knut Knapper schrieb ihm, er habe wohl eine Depression. Umständlich erklärte er, was das sei. Elis hielt seinen Zustand jedoch nicht für erklärungsbedürftig. Eher wäre es eine Untersuchung wert gewesen, weshalb die meisten so hartnäckig an dem festhielten, was menschliches Leben war: sinnlose und lästige Arbeit, Schmerz, ein kleiner Juckreiz, seltene Ekstasen.
Die Hauswirtin hatte in seiner Kammer einen Spiegel aufgehängt. Den drehte er zur Wand. Als seine Bartstoppeln gar zu infernalisch juckten, kam er nicht mehr umhin, sich sein Gesicht anzuschauen. Es war grau und mager.
Ja, er glich wohl vor allem einem alten Wolf, wenn er am Strand entlangstrich. Er grinste bei dem Gedanken daran, wie die Nachbarn ihn durch einen Spalt zwischen schlaffen gelbweißen Spitzengardinen sahen.
Bei Ebbe ging er weit hinaus, trat in die Tangdünen und machte den kleinen Krabben Beine. Er zertrampelte Türme von Sandkringeln, niedlichen Konditorbauten, die durch das Gedärm von Würmern gegangen waren, nach denen er nie zu graben vermochte, um zu gucken, wie sie aussahen. Der Uferrand war dicht mit Melde bewachsen, die salzig schmeckte und immer starrer und dunkelgrüner wurde, bevor sie verfaulte.
Ja, es war die Zeit, in der ihm alles so faulig und herb vorkam wie der Herbst. Radiohören hatte er praktisch an jenem Julitag aufgegeben, an dem Frankreich kapitulierte.
Wohin er gehörte, wußte er nicht mehr.
Machet auf das Tor, machet auf das Tor …
Er will die Schönste haben.
Alle sollten durch dieses Tor kriechen, alle außer ihm. Oder gab es noch mehr, die nur in schwerem Überdruß überlebten? Vielleicht die Soldaten draußen auf der Brücke? Konrad und Siegmund. Die Sieger.
Er fragte sich, ob sie Heimweh hatten nach einem Bier, das weniger pißgelb und dünn als das norwegische war. Veränderten sie sich dadurch, daß sie Sieger waren? Was ging mit ihnen vor, wenn sie nachts an eine Tür schlugen? Sie hatten den Befehl, dazu die Gewehrkolben zu benutzen. Diejenigen, die in dem Haus zurückblieben, wenn das Auto mit den verhängten Scheiben und dem Gefangenen abgefahren war, sollten mit denselben Kolben noch die Möbel zertrümmern. Zutreten und schlagen. Stahlen sie? Wahrscheinlich.
Ende September erhielt er den Brief. Es war am selben Tag, an dem er in seinem Innern erstmals eine Art Regung verspürt hatte. Nach außen hin war er unbewegt und grau. Doch daß der Polizeipräsident von Oslo, der Welhaven hieß, verhaftet worden war, das traf ihn. Das Polizeikorps hatte sich großenteils der Nazipartei angeschlossen. Aber Welhaven – was war mit ihm?
Wildente stille schwimmet
an hohem Inselrand
auf reiner Brust erglimmet
der Wellen Spiel gebannt …
Er verstand zuerst gar nicht, was das war. Es wühlte sich hervor, aus der Sanatoriumszeit und von der Schulbank her. Es hatte einen Dichter dieses Namens gegeben. Vor langer Zeit in der Romantik. Elis spekulierte nicht darüber, ob der Polizeipräsident wohl ein Nachfahre dieses Dichters war. Doch die Worte des Gedichts über die verwundete Wildente, die sich auf dem Grund festbeißt, bewirkten, daß er sich Welhaven als einen verwundbaren Körper vorstellte. Einen menschlichen Körper, dem irgend etwas innewohnte, etwas, was gegen Rechtswidrigkeit und gegen rohe Gewalt Widerstand leistete.
Ihm wurde klar, daß er es selbst nie für lohnenswert erachtet hatte, gegen Gewalt Widerstand zu leisten. Und das war es ja auch nicht. Die Leute im Polizeikorps, die sich noch immer weigerten, sich der Nasjonal Samling anzuschließen, würden wohl durch zuverlässige Beamte und Schutzmänner ersetzt werden. Und Welhaven – würden sie ihn erschlagen?
Er war der erste Widerstandskämpfer, bei dem Elis nicht an einen Deklamator und kecken Demonstranten dachte, der eine rote Zipfelmütze mit weißen und blauen Streifen trug. Welhaven war durch jenes aufgemachte Tor gekrochen, und Elis hatte keine Ahnung, was mit ihm dahinter passierte.
Mit demselben Schiff wie diese Neuigkeit kam der Brief. Es war ein hellblaues Kuvert mit dem schnörkeligen und erhaben gedruckten Monogramm DD. Und darin: Lieber Elias.
Da beschloß er, nach Trondheim umzusiedeln. Warum auch nicht? Er wollte gern dem Nordtrøndischen näherkommen, seiner einzigen Herkunft, über die er mit den Leuten reden konnte. Dagmars Brief ließ keinen Zweifel daran, daß sie sich sicher waren, mit ihm rechnen zu können. Sie erwähnte seine Mitgliedschaft in der deutschen Nazipartei. Beiläufig. Danke schön, danke! Er kam nicht umhin, diese buchhalterischen Hohlköpfe zu bewundern.
Er beantwortete den Brief nicht. Was hätte er denn sagen sollen?
Hab’s machen müssen, wohl oder übel.
Das wäre im übrigen auch nicht ganz wahr. Damals, vor noch gar nicht so vielen Jahren, war es ihm bedeutungslos erschienen. Es war lediglich ein Schildchen gewesen. NSDAP. Ein Abzeichen am Revers, wenn es darum ging, über einen Auftrag zu verhandeln. Das einzige, was er im Kopf gehabt hatte, war, Wandmalereien machen zu können.
In Trondheim bei Frau Mortensen, die, obschon elf Jahre älter als er, seine weiche, mollige Doris wurde, lief alles gut, bis auf die Malerei. Doch dann ging das Geld zu Ende, und er war gezwungen, auf die Schnelle ein paar Bilder hinzuschmieren und bei einem entgegenkommenden Kunsthändler auszustellen. Er fühlte sich schlapp und falsch und träge, als er sie an den Atelierwänden entlang aufstellte. Er wußte, was der alte Teufel, sein Großvater, dazu gesagt hätte: Heißet eins, das Volk bescheißen. Allerdings waren es wohl nur die norwegischen Kriegsgewinnler, die er bescheißen wollte, die Baumeister, die dadurch, daß sie für die Deutschen bauten, reich wurden. Sie kauften wie wild, herrschte doch Unsicherheit darüber, ob das Geld auf Dauer einen Wert haben würde.
Schließlich holte er seine Bilder aus Berlin und Paris hervor. Es waren nicht viele, doch gab es auch Zeichnungen. Er sah, wie der Kunsthändler munter wurde. Ein träger Hecht im Sonnenschein, der jählings bereit war, zuzuschlagen.
Es gab eine Vernissage, und er glaubte sich in einen Alptraum versetzt, als er Dagmar und ihren Dickert durch die Glastüren kommen und ihm zuwinken sah. Der Galerist erzählte Elis, daß das ihr neuer Fylkebonze sei. Der oberste Chef der Schulen und des Unterrichts in Sørtrøndelag. Alle Herrlichkeit der Erde schwebe über diesem bald kahlen Schädel.
Sie drückten einander die Hand, sie tranken Ersatzkaffee. Elis hatte begriffen, daß er sie nie würde abschütteln können. Sie wollten an alles heran, was Kultur hieß: Schriftstellerei, Malerei, Musik. Die Schriftsteller und Künstler liefen jedoch wie die Lemminge über das Fjäll nach Schweden hinüber.
Nach zwei Tagen erhielt er einen enthusiastischen Brief von Dickert. Er schrieb auf dem Briefpapier der Nasjonal Samling. Dagmar rief am selben Tag an und gratulierte ihm zu den Rezensionen. »Jetzt werden wir richtig zusammensein«, sagte sie. Nie hatte eine Frau einen alten Betrug mit herzlicherem Wohlwollen vergolten. Wußte sie, daß sie ihn unter Druck setzte? Wahrscheinlich nicht.
Er hatte gute Kritiken bekommen. Erstaunlich gute, konnte man sagen. Die Kritiker wußten jedoch nicht, daß sie über einen Maler schrieben, den es nicht mehr gab. Das einzige, was er tun konnte, war, sich sein Geld abzuholen und zu verschwinden.
*
Wir sind jetzt alt, der Norweger und ich. Nicht die Ältesten im Dorf, aber fast. Er hört mittlerweile viel schlechter, will es aber nicht zugeben. Ansonsten gibt es wohl keine großen Gebrechen.
Aber der Winter.
»Wenn nur der Winter schon vorbei wäre«, sagen wir zueinander. Im Innern aber wird man deutlicher: Gütiger Gott, hab Mitleid mit uns Elenden, die wir hier herumtapsen, und gib uns in Deiner Barmherzigkeit Namen das Licht zurück! Und die Buschwindröschen.
Man wünscht sich in diesem Alter ja eigentlich nicht mehr viel, und Gott schweigt. Der Gemeinderat aber sagt, daß der Fahrdienst besser werden soll, keine so langen Wartezeiten mehr. Das belebt uns alte Leute.
Im vergangenen Herbst stand der Norweger in meiner Küche und sah auf die Straße hinaus, wo Georg Mårtensson die Grabenränder absteckte.
»Was treibet er dorten, der Mårsa?« fragte er.
Ich bin mir nicht ganz sicher, wie er es gesagt hat. Er kann sowohl Riksmål als auch Nordtrøndisch sprechen, doch das hier hörte sich anders an. Er war tief in Gedanken versunken.
»Ja, mußt auf der Hute sein«, sagte ich, »weil er kömmet jetzt. Der Winter.«
»Ach ja«, sagte er. »Ist dabei und stecket die Straße ab.«
Du Schlawiner, dachte ich. Doch ich sagte nichts.
Denn das sagte er mitnichten auf norwegisch.
*
Gegen Mittag des zweiten Tages entdeckte Elis drei graue Gestalten. Er hatte kein Fernglas, versuchte aber seinen Blick zu schärfen, indem er blinzelte. Er konnte trotzdem nicht erkennen, ob sie Waffen hatten. Sie gingen auf dem Hang auf der anderen Seite des Sees. Er sagte sich, daß dort drüben das gleiche Geröll sein mußte und sie deswegen so langsam vorankamen.
Er hatte heftiges Herzklopfen bekommen.
Das Fjäll war nun ein anderes. Er erinnerte sich an den ersten Rausch aus kaltem Himmel und unendlicher Einsamkeit, als er heraufgekommen war.
Unendlich! Jetzt liefen die drei wie Wanzen über ein Laken, das grau war vor Schmutz.
Er saß reglos, selber steingrau. War versucht, die Augen zu schließen, nur um erleben zu können, daß die Gestalten fort wären, wenn er sie wieder öffnete. Doch er traute sich nicht. Er mußte schließlich wissen, wohin sie gingen.
Drei arme Läuse. Auswanderer aus dem Reich der Lüge.
Oder drei Grenzwächter?
Er mußte diesen dreien gegenüber, die sich da drüben mühsam voranarbeiteten, sehr wachsam sein. Sie gingen wie auf dem Mars. Womöglich herrschte hier so hoch oben eine andere Zeit. Eine Planetenzeit. Er drehte wieder an der Krone seiner Armbanduhr, denn ihm durfte das, was Zeit war, nicht abhanden kommen. Drei Männer oder auf jeden Fall Menschen gingen über das Fjäll in Richtung Schweden, und es war wichtig, daß er sich merkte, wann er sie erstmals gesehen hatte. Um drei Minuten nach zwölf.
Schließlich verschwanden sie.
Wurden zu Stein.
Ihm tat der Rücken weh. Eine scharfe Steinkante hatte ihn gedrückt, ohne daß er weiter darauf geachtet hatte. Er stand auf und machte ein paar vorsichtige Bewegungen, um den Körper zu lockern.
Er mußte sie über die Grenze verschwinden lassen. Oder ihnen, falls sie zu der anderen Sorte gehörten, die Zeit einräumen, zurückzukommen, ohne ihm zu begegnen. Hier oben konnte er allerdings nicht übernachten, da würde er so steif vor Kälte, daß er nicht mehr laufen könnte. In der Hütte war es schon kalt genug gewesen. Wenn er zum Schlafen dorthin zurückkehrte, würde er einen ganzen Tag verlieren, mal abgesehen vom Proviant.
Es war eine Fischerhütte mit halb eingestürztem Feuerwall. Er hatte jedoch ein Feuer zustande gebracht. In dieser Hütte war er als Vierzehnjähriger gewesen: Mager und mit Lungen, in denen die Tuberkeln an ihrem Wohlergehen und Wachstum arbeiteten, hockte er im Halbdunkel. Seine Jungenfinger steckten in einem zerrissenen Netz aus brüchigem grauem Garn.
Bestimmt aber war es ein anderer gewesen, der von diesem Netz fortgegangen war, lange nach ihm. Er vergaß doch hoffentlich nichts von damals. Etwas zu vergessen, das war der Tod.
Gespenstisch.
Es war das arme Bürschchen, das ihm jetzt den Weg wies.
Er ging weiter. Verließ den Steinsee, aus dem er vor einem Vierteljahrhundert seinen Lebensunterhalt gefischt hatte.
Damals hatte er sich damit begnügen müssen, nach einer größeren Zeit zu leben: dem Gang der Sonne. Der Dunkelheit, die sie verschlang. Dem Wind, in dem das kärgliche braungelbe Laubgehölz, das sich hier oben hielt, zu rascheln begann. Dem unheilverkündenden Abendwind im September. Ängstlich? Das nicht gerade. Aber allem gegenüber wachsam, auch dem Säuseln des Windes, es könnte ja Winter mit sich bringen.
Noch größere Zeit: Im September 1941 wimmeln die Deutschen nach Rußland hinein. Panzer und Kolonnen. Alleinig krabble ich aus Norwegen heraus.
Das vorige Mal hatte er das Land mit dem Schiff verlassen. Er war auf einer Strohmatratze eingeschlafen und aus dem Oslofjord gestampft, nachdem er eine große Schale fetter Fleischsuppe zu sich genommen hatte. Nicht so etwas wie das, was er dann als Steward servieren sollte. Mißtrauisch und vielleicht auch ängstlich hatte er seine Jacke neben das Kopfkissen gelegt, so daß er den rauhen Stoff an der Wange spüren konnte. Er hatte eine Jacke und eine Sportmütze getragen, eine sogenannte Sixpence. Worum aber war er so besorgt gewesen? Um das Seemannsbuch? Das Mitgliedsbuch der Gewerkschaft, die Brieftasche mit dem Geld? Er konnte sich auch nicht erinnern, ob er einen Koffer oder einen Segeltuchsack dabeigehabt hatte. Bestimmt aber einen Malkasten. Er war doch nicht nur mit seinem Leib schnurstracks in die Welt hinausgefahren. Mit dieser Hülle um ein Paar kaum verheilte Lungen.
Man vergißt.
Er stapfte weiter. Die Skistiefel waren gut. Er hatte aus Trondheim drei Paar Strümpfe zum Wechseln mitgenommen. Doris Mortensen hatte sie gewaschen und gestopft. Er hatte das Zimmer bei ihr in Bakklandet gekündigt, und nach Begleichung der Miete hatte er noch gut elfhundert norwegische Kronen übrig. Die steckten in der Brieftasche ganz unten im Rucksack. Anders als die meisten Flüchtlinge hatte er warten können, bis seine Forderungen eingegangen waren. Er floh nicht vor einer Todesgefahr, sondern vor einer innigen und hurerischen Umarmung.
Das Atelier, in dem er im vergangenen Jahr zu arbeiten versucht hatte, war eigentlich eine Art Gewächshaus oder Wintergarten, den Herr Mortensen zu seinen Lebzeiten gebaut hatte. Er hatte dort Blumen gezogen, nicht ganz klar, welche. Ebensowenig wie Elis seine Bilder lebendig zu halten vermochte, war es Frau Mortensen gelungen, die Blumen ihres Gemahls am Leben zu erhalten. Sie ließen die Köpfe hängen, wurden schlapp und gingen im trøndischen Winterdunkel ein.
Er war jetzt hoch oben. Bei jeder gerölligen Höhe, die er erklomm, meinte er, sie würde, wenn er oben angelangt wäre, in die andere Richtung abfallen. Jedesmal aber erhob sich in seinem Blickfeld ein neuer Gipfel. Ein Unendlichkeitsfjäll. Steinwoge auf Steinwoge. Zwergbirken und Krähenbeerengestrüpp. Hie und da ein Baumknorz, in dem das Klagen des Windes erstarrt war. Jede Fjällbirke war gekrümmt wie ein ausgemergeltes altes Weib.
Welch ein höllisches Leben! Welch eine windgeplagte, lichtknausrige, krüppelige Hölle! Bis die Sonne gestürzt kam. Und das Wasser. Der Frühsommerrausch mit fließender Sonne und sickerndem, rinnendem, rieselndem, hinabstürzendem Wasser. Und an den Steilhängen Brautschleier, sowohl weit, weit in der Ferne die luftigen Schwaden des jäh fallenden Wassers als auch die kleinen zierlichen Frauennabel, die, beschwert von ihrem weißen Blütenflor, ihre haarigen rosa Stengel zum Moos hin neigten. Und wie das aus der Nähe duftete! Der Sommerrausch, dieser Juliwirbel aus Wohlgeruch und Vergessen.
Hier gab es Fetthenne und Traubensteinbrech, Frauennabel und Butterrosen. Was müßigen Leuten nicht alles einfallen konnte, um feine Dinge zu benennen! Wir dagegen sagten Trollblume zur Butterrose, dachte er. Fett und Trauben, Frauen und frische Butter waren in unserem Denken nicht vorhanden. Eher Heringe und Wanzen.
Das Bürschchen da unten am Steinsee war ein kleines, rohes Biest. Ein Stromer und Ausreißer, der sich aus dem Staub machte, wenn es gefährlich wurde. Der Kerl steckt in mir. Wir trotten weiter.
Es war vielleicht keine gute Idee, sich allein auf den Weg zu machen. Aber es ging nicht anders. Er hätte schwerlich jemanden davon überzeugen können, daß er eines Bergführers würdig sei. Auch kannte er niemanden aus der Widerstandsbewegung, der Hjemmefront.
Ihm war klar, daß er sich aufmachen mußte, bevor es Winter wurde, wenn er übers Fjäll wollte. Er kannte den Weg jedoch nur bis zu dem steinigen See hinauf. Weiter war er als Junge nie gegangen. Als er von Svartvattnet ausgerissen und von der anderen Seite herübergekommen war, hatte er mit einem Prediger übers Hochgebirge fahren können. Vor diesem Weg mußte er sich nun in acht nehmen. Ganz oben gab es ein kleines Anwesen. Der Kätner hatte Schneeräumpflicht, solange sich der Weg im Winter freihalten ließ. Elis vermutete, daß sich die Deutschen jetzt dort einquartiert hatten und in dem steinigen Gelände auf Patrouille gingen. Er mußte sich also viel weiter südlich halten. Angeblich gab es dort, wo die Fjällheide nach Osten abzufallen begann, eine Renhüterhütte. Davon hatte er aber nur gehört. Und noch fiel das Gelände nicht ab. Ihm war jedoch, als ginge es jetzt weniger steil bergauf. Womöglich befand er sich auf dem Hochplateau.
Es war jetzt später Nachmittag. Der Wind biß schärfer zu. Wolkenfetzen rissen sich aus einer großen Spitztüte voll Unwetter los, die sich öffnete und ausbreitete. Der Himmel dahinter war indes kaltblau. Seit Elis die drei Gestalten gesehen hatte, war er angespannt, und das machte ihn müder. Er ging jedoch stetig dahin, wenn auch etwas steif. Der Kompaß kreiselte. Vermutlich war im Berg Eisenerz. Oder aber er befand sich in der Nähe irgendeiner verflixten Funkanlage oder von anderem deutschen Teufelszeug.
Dann entdeckte er die Kiefern. Sie waren alle nach Osten gedreht und auf der Westseite nahezu kahl. In ihren Kronen saßen längst vergangene Fjällstürme. Wasser stand zwischen ihnen, und es gab helle graugrüne Flecken irgendeines Mooses sowie Riedgras in allen Frostschattierungen: braun wie Tabak und gelb wie Schwefel. Ja, es war Leben. Wasserglitzern. Weiches Moos. Wildnis. Schluß mit Geröll und steilen, glatten Felsplatten. Es ging auch bergab, ging freundlich zu dem alten Land hinab, diesem Land, von dem er geglaubt hatte, er werde es freiwillig nie wiedersehen. Nun ja, freiwillig – das weiß der Henker!
Er setzte sich einen Moment und nahm lediglich einen kleinen Happen zu sich. Doris hatte ihm viel gepökeltes Dörrfleisch mitgegeben. Er verließ sich auf sie. Warum eigentlich? Weil sie einen so weichen Bauch hatte?
Dickert würde nach seiner Adresse forschen und ihm mit dem Auto einen Besuch abstatten, garantiert, mit einem schwarzen Auto, Hakenkreuzfähnchen an den Kotflügeln, so stellte er sich das vor. Obwohl es vielleicht übertrieben war. Sie übertrieben jedoch gern. Sie waren in ein Siegesrauschen gehüllt. Zuviel Sauerstoff. Davon wird einem schwindlig. Berauschte Generäle. Berauschte Feldwebel, Hauptgefreite und Gauleiter. Berauschte Sadisten und berauschte Bürokraten. Sogar berauschte Schullehrer. Die Autofähnchen flatterten selbst unten in Afrika.
Vor nur wenigen Jahren hatte auch er recht sauerstoffreich gelebt.
Lieber Herrgott, mach mich blind,
daß ich alles herrlich find’!
Ironie ist nicht die beste Waffe gegen Überzeugung. Überhaupt: Überzeugung. Wenn der Kompaß zu kreiseln anfängt, dreht man sich mit. Man wird so leicht erhört; blind oder halbblind, man findet alles herrlich, was einem nützt.
Ich empfinde Selbstverachtung, dachte er kalt. Das ist kein gutes Gefühl. Es ist ein Gefühl wie auf nacktem Fels oberhalb der Baumgrenze. Ich habe Scheiße in mir. Deshalb kann ich auch nicht malen.
Das stimmt natürlich nicht, denn es haben schon ganz andere Scheißkerle als ich gut gemalt. Gut zu malen hat nichts damit zu tun, daß man ein guter Mensch ist.
Oder doch?
Auch nicht damit, daß es einem gutgeht. Mit gar nichts hat es zu tun, und jetzt ist Schluß.
Als er sich wieder aufmachte, scheuerten seine Schuhe. Er hütete sich, lange so zu gehen, und setzte sich an den ersten Bach. Als er die Strümpfe auszog, hatte er an der Ferse des linken Fußes nur eine rote Stelle, rechts aber bereits eine mit Flüssigkeit gefüllte Blase. Er hielt die Füße so lange in das eisenkalte Wasser, bis das quälende Gefühl in Taubheit überging. Dann trocknete er sie sorgfältig mit den getragenen Strümpfen ab und zog ein paar saubere an. Erst jetzt merkte er, daß der Nachmittag allmählich in Dämmerung überging. Die Schatten waren von eigenartiger Dichte.
Er war jedenfalls so weit nach Süden gewandert, daß er den Bergkamm im Norden nicht mehr sah. Hunderte von Metern darunter strömte, grün wie Glas, der Fluß, und Elis wußte, daß er von so hoch oben unbewegt wirkte. Diesmal hatte er jedoch nicht zu ihm hinunterschauen können. Wahrscheinlich standen dort Fritz und Gottfried mit ihren Gewehren und sagten: »Wunderschön.« An den steilen Waldhängen auf der anderen Seite hatten die Lappen Luchse gejagt.
In der Leere wuchs die Erinnerung an seine Zeit als Vierzehn-, Fünfzehnjähriger. Das Bürschchen mit dem halb zerrissenen und brüchigen Netz, der Lungenschwindsüchtige mit den vor Schmutz starren Kleidern kam ihm zu Hilfe. Er reichte ihm seine Verständigkeit, und es war erstaunlich, wieviel er gewußt hatte. Zu wissen gezwungen war.
Die sanften Stimmen der Lappen vor langer, langer Zeit sagten, sie kämen von der Hütte am See, und der See werde vom Wasser eines großen Baches gespeist, der viele Fälle habe. Er saß da, starrte geradewegs ins Krähenbeerengestrüpp und erinnerte sich, daß sie ihm Renkäse angeboten hatten und eine Art Kaffeegetränk, das aus Birkenporlingen gekocht war.
Ist alles noch da? Gleich unter einer harten Schale des Jetzt?
Das Bürschchen ging vor ihm her auf einem schmalen Pfad, auf dem er bestimmt nie gegangen war. Einem Tierpfad. Oder wurde er gelegentlich von Menschen benutzt? Es war fast dunkel, und seine rechte Ferse schmerzte, als er an den Bach mit den vielen Fällen kam. Er begann abzusteigen. Es war dunkel, als er den See sah, doch der hob noch Licht in sein Becken.
Kleine Landzungen mit Kiefern. Eine gespreizte Rottanne. Ansonsten Birken, Birken und nochmals Birken mit Blättern, die in dem wunderlichen Abenddämmerlicht wie Goldmünzen leuchteten. Um eine Landzunge herum. Da stand die Hütte. Fast wäre er schnurstracks hineingegangen, und ihm wurde angst.
Langsam zog er sich zwischen die Bäume zurück. Er roch keinen Rauch.
Es kostete Überwindung, zur Hüttentür zu gehen und zu probieren, ob sie offen war. Das lag nicht nur an der Fluchtangst, da war noch etwas anderes, Älteres. Die Zuflucht der Wiedergänger in diesen leeren Bleiben und Almhütten. Böse Leute, die gestorben waren und des Nachts darin wüteten. Das war natürlich zum Lachen. Doch Gefühl war Gefühl, und es gehörte zu dem Geruch in so einer ausgekühlten Hütte. Nach Asche und Wühlmauskot. In der Ecke der noch strengere Geruch nach dem Urin und der Losung des Hermelins.
Nachdem er seinen Pullover ausgebreitet, sich hingelegt und ein Weilchen seinen eigenen Geruch eingeatmet hatte, fühlte er sich als Mensch in diesem Tier- und Geisterloch sicherer. Das einzige, was sich auf der Pritsche fand, waren ein wenig krümeliges Riedheu und eine steife alte Wolldecke.
Er wußte nicht, ob er es wagen sollte, Feuer zu machen, aber was blieb ihm übrig. In der Hütte war es viel dunkler als draußen, und so tastete er sich vorwärts. Da war Kiefernholz. Aus dürren Ästen. Die Hütte war in Gebrauch. Das machte ihm angst. Doch er hatte jetzt schwerlich eine andere Wahl.
Den Herd bildete eine Grube aus Stein. Elis ging hinaus und brach sich Feuerholz aus einer dürren Tanne, stand lange da und horchte. Der Wind hatte aufgefrischt. In den Baumkronen war kein Gesang mehr. Es hatte zu tosen begonnen. Ein schreckliches Wetter zog auf.
Nachdem er Pfannkuchen und mit Schafswurst belegte Brote gegessen und den Rest der noch lauwarmen Milch aus seiner zweiten Thermosflasche getrunken hatte, wurde er mit einem Mal schläfrig und dämmerte in einen Zustand hinüber, der nahezu einer Ohnmacht gleichkam.
Er erwachte davon, daß die Waldfrau in der Hütte atmete. Sie lag unmittelbar neben ihm. Er streckte die Hand aus, um ihren zarten Bauch zu berühren. Da bekam er astiges Holz zu fassen. Er tauchte aus den Tiefen der Zeit auf und wurde richtig wach, mit trockenem Gaumen und steifen Gliedern.
Draußen war es Tag geworden, und der Regen schlug gegen die Scheiben. Das Feuer war selbstverständlich ausgegangen, und Elis war durchgefroren. Er verstand nicht, wie sein Körper im Schlaf eine genußvolle Erinnerung hatte unterbringen können. Als er auf die Uhr sah, war es halb neun, und er war zunächst überzeugt davon, daß sie stehengeblieben war. Doch der Sekundenzeiger eilte im Kreis herum. Elis hatte mehr als zwölf Stunden geschlafen. Draußen war keine Morgendämmerung, sondern ein dunkler, windiger Regentag. Noch immer saß Elis die Erschöpfung als Steifheit und Schmerz im Leib. Er hatte vergessen, seine Fersen zu verarzten. Als er den Strumpf löste, sah er, daß die Blase aufgegangen war. Wie nicht anders zu erwarten. Er mußte weiter, egal, wie sehr die Wunde an der Stiefelkante rieb, denn in der Hütte konnte er nicht bleiben. Er hatte keine Ahnung, bis wohin die Patrouillen gingen.
Eigentlich war alles ganz fürchterlich idiotisch. Er hätte jetzt in Bakklandet, im Obergeschoß von Doris Mortensens Haus, in seiner Küche sitzen, Kornelius Kaffee-Ersatz trinken und sich immerhin wohl fühlen können. Und wären da nicht Dickert und seine Frau gewesen, hätte er in Oslo bleiben können. Sowohl im Grand als auch im Theatercafé lief vermutlich alles so ungefähr wie immer.
Er saß in der Hocke vor dem Herd und war dabei, Feuer zu machen, als er die Stimmen hörte. Das Gepolter von Stiefeln. Sie waren bereits auf der Treppe. Die Tür kreischte. Und dann wurde es still. Er konnte ein spitzes Atmen hören, wollte sich aber nicht umdrehen. Wartete auf Worte. Doch die kamen lange nicht. Allmählich wich sein Schreck, als ihm klarwurde, daß die Worte nicht »Hände hoch!« lauten würden oder was zum Teufel ihnen in solchen Situationen einfallen mochte. Das wäre schneller gekommen.
Er war ganz erledigt und drehte sich vorsichtig um. Der andere sagte noch immer keinen Ton. Elis kramte einen alten, frommen Gruß aus seiner Jugenderinnerung hervor und sagte auf norwegisch:
»Gott zum Gruße!«
Der andere erwiderte murmelnd: »Friede mit dir!« Es war ein kleiner alter Tatterich. Er trug eine dicke warme Weste über seinem blauen Arbeitshemd und eine Sportmütze, deren Schirm so fadenscheinig war, daß die Pappe durchschimmerte. Er klang nicht verlegen, als er fragte, wer Elis sei. Er selbst wolle nach seinen Schlingen sehen, sagte er.
Da hätte Elis beinahe losgelacht. Denn so gut kannte er die Leute auch nach all den Jahren noch. Er befand sich immerhin in der Gegend seiner Tanten. Wer in Jolet unten hätte einem Fremden erzählt, was er vorhatte? Nein, der Kerl hier war nervös.
»Willst du deine Vögel nicht hereinholen?« fragte Elis spöttisch.
Es waren Stimmen draußen gewesen, und eine davon, natürlich diese hier, hatte sie zum Schweigen gebracht.
Dann mußte Elis schnell hinaus. Und zwar ganz dringend. Er stürmte in den Birkenwald und hockte sich hin. Mit knapper Not bekam er die Hose herunter.
Danach machte er sich in einem kleinen schwarzen Moorloch sauber. Er wollte nicht zum See hinuntergehen, wo sie ihn von der Hütte aus hätten sehen können. Das hatte er noch nie erlebt: daß der Schreck den Darminhalt zersetzte. Wohl hatte er davon erzählen hören, doch daß es erst eintrat, wenn alles schon eine Weile vorbei war, das hatte er nicht gewußt. Jetzt war er erschöpft, und seine Schenkel und der ganze Unterleib waren matt. Beim Gehen zitterten ihm die Beine.
Er schämte sich und war nicht sicher, was als nächstes geschehen würde. Es war wie während der ersten Zeit im Sanatorium, als auf seinen Körper niemals auch nur eine Sekunde lang Verlaß gewesen war. Jeden Augenblick mußte er damit rechnen, etwas von sich zu geben. Einen Blutsturz, damals.
Wäre es möglich gewesen, hätte er sich jetzt wortlos auf den Weg gemacht. Doch er brauchte seinen Rucksack.
Der Alte hatte sein Gepäck abgesetzt, als Elis in die Hütte trat. Auf der Pritsche saßen zwei Männer. Schmutz und Bart und Lumpen. Er hatte schon lange nicht mehr so viel Angst gesehen. Er grüßte, erhielt aber keine Antwort.
Der Alte übernahm das Kommando.
»Du mußt das Feuer im Herd wieder anfachen«, sagte er.
Er kniete vor der Pritsche und versuchte, der einen Lumpengestalt dabei zu helfen, die Stiefel auszuziehen. Der Mann jammerte. Der andere versuchte es gar nicht erst. Er war auf die Seite gefallen und in einen Dämmer oder Schlaf gesunken. Er atmete pfeifend, und Elis verspürte zum erstenmal seit Jahren die alte Angst davor, angesteckt zu werden.
Der Alte wurde ein bißchen gesprächig und sagte, sie seien zunächst nur mit Lumpen an den Füßen gegangen. Die Stiefel hätten sie unterwegs bekommen, und sie seien nicht im besten Zustand. Die Leute hätten nicht mehr viel, was sie entbehren könnten.
Schmutz und eitrige Wunden. Blutkuchen in den Lumpen. Elis wollte sich von diesen Füßen abwenden, doch der Alte befahl ihm, Wasser zu holen und es in einem Kessel zu erwärmen, der umgedreht am Sockel der Hütte stehen müsse. Er war mit dieser Örtlichkeit offensichtlich bestens vertraut.
Elis fragte, wer diese Lumpenbündel denn seien, und er erfuhr, daß es Balten waren. Aus dem Bergwerk. Die Deutschen setzten sie dort so lange ein, wie sie sich am Leben hielten.
Was hast du mit zwei Balten zu schaffen? fragte sich Elis. Aber er hatte »Friede mit euch« zu ihnen gesagt. Sollte es doch etwas sein, worin normale menschliche Herzlichkeit und Zuversicht lagen.
Er konnte ihnen noch mehr geben: belegte Brote aus seinem Mundvorrat.
Hungergruben in diesen Leibern. Was waren das für Menschen? Alles, was Miene, Gesten und Kleidung eines Schullehrers oder Landarbeiters oder Busfahrers gewesen sein konnten, war längst von ihnen abgefallen. Sogar ihre Nationalität. Der Alte wußte lediglich, daß sie von der anderen Seite der Ostsee stammten. Als das Wasser soweit fertig war, prüfte er es und sagte, Elis könne sie nun waschen.
Die Lumpen direkt auf der Haut ließen sich ohne Aufweichen nicht entfernen. Er mußte die zwei Hemden, die er zum Wechseln hatte, zerreißen, sie als Waschlappen benutzen und trockene Streifen als Verband verwenden. Der Alte reichte ihm eine kleine Blechdose, auf der Tiedemanns stand. Sie enthielt jedoch keinen Tabak, sondern Salbe.
Der Geruch nach Tannenharz und Schafstalg versetzte ihn in seine Kindheit zurück.
Harzpflaster war’s. Gekochet aus Schafsschmalz und Tannenharz. Mit Eiern darinnen. War weit weg jetzt, tief drunten in uriger Zeit. Mamas Hände waren’s und Harzpflaster und gute Worte.
Der eine Balte wimmerte, als Elis ihn einschmierte. Er wollte etwas zu ihm sagen und rechnete auch damit, daß die beiden Deutsch verstünden. Doch er wagte nicht, es auszuprobieren. Der Alte würde ihn für einen Provokateur halten. Der war sich kein bißchen sicher, was Elis für einer war, mußte seine Geschichte aber bis auf weiteres gelten lassen. Daß er allein losgezogen war, erklärte Elis mit seinen guten Ortskenntnissen. Er log, er habe in dieser Fjällgegend schon oft Touren unternommen.
»Ich habe einen gefunden, der mich mit seiner Holzfuhre von Grong mitgenommen hat«, fügte er ganz wahrheitsgemäß hinzu.
»Jolet«, sagte er dann, um zu zeigen, wie zu Hause er hier oben war. Er wies nach Südosten.
»Skuruvatn.« Er wies in die entsprechende Richtung.
Der Alte korrigierte ihn. Sein Finger wies in die Richtung, die Elis’ Kompaß genau als Osten anzeigte. Er begriff, daß er weiter südlich gelandet war, als er beabsichtigt hatte. Dies war gar nicht die Renhüterhütte. Es war wohl ein Unterschlupf, den die Bauern aus Skuruvatn nutzten, wenn sie zum Fischen hier oben waren. Er wäre in Teufels Küche gekommen, wenn er so weitergegangen wäre. Er wollte doch eigentlich bei Markeslia hinüber. Dahinter lag eine ganze Bergkette, die ihm schon als Junge unbekannt gewesen war, und dort hätte er landen können. Eine gesegnete Begegnung, wahrhaftig! Und er war wohl auch eine Art Segen für sie. Denn nun bekamen sie seinen Proviant. Der Alte erklärte, er habe die beiden in der Nacht nicht bis zur Hütte bringen können. Sie seien so abgekämpft gewesen. Sie hätten in einem Windschutz übernachten müssen, den er an einer Tanne errichtet habe. Im Morgengrauen habe er sie kaum auf die Beine gebracht.
Er wolle sie noch etwa eine Stunde schlafen lassen. Höchstens. Dann müßten sie alle weiter. Elis und er könnten jeweils einen Balten übernehmen, wie er sich ausdrückte.
Und so war Elis damit betraut, Gefangene aus einer Grube durch den Bergwald zu schleppen. Der Alte verriet jedoch nie, wie er selbst hieß oder woher er kam. Vermutlich war es auch das beste, nichts zu wissen.
An diesem Tag war ihm, als ginge er mehr mit den Füßen der Balten als mit den eigenen. Er hatte schließlich vor ihnen gekauert, sie gewaschen und ihnen Pflaster angelegt. Er wußte, wie das bloße Fleisch aussah und wie es sich anfühlen mußte, darauf zu gehen.
In den ersten Stunden regnete es in Strömen. Das Wasser quoll ihnen aus dem schwarzen Bart und den Haarzotteln, und vielleicht rann ein wenig Schmutz ab. Manchmal zeigten sie ein schiefes Lächeln. Ein Schmerzlächeln. Eine Art Einvernehmen, denn sie wußten beide, wie die Füße aussahen.
Am späten Nachmittag schlug in einer Laune des Fjälls das Wetter um. Die Sonne ergoß sich gnädig über sie. Sie saßen an einem Abhang, als es warm wurde. Weit unten sah man lediglich den ersten der drei großen Seen. Daß der dritte Svartvattnet war, wußte Elis nur allzu gut.
Der Regen hatte die Düfte gelöst, die nun mit der Wärme und dem Dampf dem Moor und dem Birkenwald entstiegen. Es war wie mit dem Harzpflaster: Es roch nach eitel trautem Heim und Güte.
Das stimmt nicht, wollte er denken.
Doch der Geruch des herbstlichen Moores sagte etwas anderes. Er trug die Süße des Sommers in sich, verrührt und verdichtet wie ein Topf voll Molkenkäse in dem Augenblick, da er braun und sämig wird.
Elis hatte sich hingelegt und die Augen geschlossen. Es säuselte und duftete. Das Rauhe an seiner Wange war keineswegs Krähenbeerengestrüpp.
Heißet doch Skreken. Dorten, das sind Nebelbeeren. Hat sich gepflücket von den Beeren, eins von den baltischen Kerlen. Gegessen davon. Ob er satt ward?
Mit einer Duftwoge kamen die Wörter zurück: Hühnerbeere und Hasenpfote. Besenbaum. Waldklee und Schmalzkraut. Und Sauerlumpen.
Doch das stimmt nicht! Es ist eine Flunkersprache und falsches Geplapper. Da unten gibt es nur Übles für mich. Gräßliche Erinnerungen und ein hartes Leben. Alles andere ist Lüge.
Die Multbeeren aber? Und die Prasselbeeren? Der Hosenschiß … Möchten allesamten was für dich sein, die Blumen, Elis, wo du doch in die Hosen gescheißert, fast. Entsinnest dich auf das Pferd? Den Hengst, hast ihn gekoset, daß sie zürnend ward, die Mähre? War ja am höchsten, sie. Und das Mädel, die Hand in deiniger. So goldigens …
Ernst ist’s, tut es wispern dorten im Besenbaum.
Gehet rücklings, die Zeit.
Bist wieder zurück jetzt. Ist kindsköpfig Geplapper, alles andere. Unsinn bloß. Bist kömmen heim, Elis.
Er setzte sich auf. Ihm war, als habe er geträumt. Er hatte Angst. Er besann sich jedoch, als er den einen Balten ruhig neben sich schlafen sah. Seine Hand lag ausgestreckt im Krähenbeerengestrüpp, und in den dunklen Haaren auf dem Handrücken kroch eine Laus. Elis bemerkte, daß der Alte ebenfalls diese Hand betrachtete. Beinahe hätte er gesagt: Stehet lausig ums meiste, heutigentags. Außer um die Laus.
Er erhob sich jedoch und sagte in reinstem Riksmål, sie müßten jetzt wohl weitergehen. In diesem Moment wäre er am liebsten umgekehrt, denn er fand, daß nichts, nicht einmal Dickerts Begeisterung und tödliche Freundschaft, schlimmer sein konnte, als sich zu erinnern.
Eines Abends war seine Uhr stehengeblieben. Da begriff er, daß er sich aufgegeben hatte. Während er den vor Kälte steifen Balten auf die Beine half, sah er den Alten an, der sich sein Leben ausgeliehen hatte und es nun benutzte.
Abermals fragte er sich, warum der Alte tat, was er tat. Gefährlich war die Sache die ganze Zeit über schon gewesen, doch jetzt drohte sie völlig zu scheitern. Elis glaubte nicht mehr, daß es glattlaufen werde. Die Männer aus dem Bergwerkslager waren derart erschöpft, daß sie nur mit Müh und Not vorankamen. Sie taumelten zwischen dem Bootshaus, in dem sie geschlafen hatten, und dem Boot dahin. Am gefährlichsten war es zwischen den Seen. Da mußten sie schmale, gut bewachte Landengen passieren. Sie schlichen an der Wand eines großen Sägewerks entlang. So nahe am Dorf, daß sie Stimmen hören konnten.
Sie mußten sich fast durchweg rudernd vorwärts bewegen. Etwas anderes war nicht mehr möglich. Sie ruderten das Boot in der Dunkelheit auf der Südseite der großen Seen nahe am Ufer entlang. Draußen fuhren Patrouillenboote. Ablegen konnten sie erst, wenn der Herbstabend schwarz geworden war. Ein Motorboot zu leihen, davon war gar nicht die Rede gewesen. Elis empfand puren Schreck, wenn das Boot geräuschvoll auf einen Stein stieß.
Sie hätten ein gutes Stück oberhalb der Seen wandern müssen. Ein neuer Bergführer erwartete sie unmittelbar vor der schwedischen Grenze. Der vereinbarte Treffpunkt lag oberhalb von Lunäset, das war ihm klar, obwohl dieser Name nie gefallen war. Er sagte nicht, daß er sich hier auskannte. Mit jedem Ruderschlag in der Dunkelheit war er mehr und mehr zu Hause.
Allein wäre er dort oben im Wald und in den steilen Fjällhängen einigermaßen sicher gewesen. Der namenlose Alte hatte jedoch Verwendung für ihn. Elis mußte ihn an den Riemen ablösen. Und als sie zu dem See gekommen waren, der da Svartvattnet hieß, war es beschlossene Sache, daß er zu dem Treffpunkt hinaufgehen und den anderen Bergführer herunterbringen sollte. Wenn der überhaupt noch da war. Sie hatten sich mittlerweile erheblich verspätet.
Der Wind kam von Westen, wie fast immer hier. Sie ruderten so nahe am Land, daß sie die Wellen an die Ufersteine platschen hörten. Es ging auf den dunklen Herbst zu, die Zeit, in der der Saibling im See zu laichen beginnt. Da würde sein Vater die Netze auslegen.
Im Oktobersturm Netze einziehen.
Bist furchtig?
Lebte er noch? Saß er in Lubben und besserte vor der Herbstfischerei seine Netze aus?
Ich werde es nie erfahren, dachte Elis. Denn wozu immer sie mich bringen können, weil sie mich für einen anständigen Menschen halten, dazu, mit ins Dorf zu kommen, werden sie mich nie bringen.
Davon war auch gar nicht die Rede. Der Alte hatte erklärt, das Kommando über die Kompanie in Svartvattnet habe ein vom Nazibazillus angesteckter Offizier, der Verbindungen zu deutschen Offizieren jenseits der Grenze unterhalte. Und deswegen, sagte er, gehe der andere Bergführer mit seinen Vögeln nach Röbäck.
Er war bei dem Ausdruck geblieben, den Elis benutzt hatte, als er ihn fragte, ob er seine Vögel nicht hereinholen wolle. Fand ihn lustig. Es herrschte jetzt zwar nicht gerade Vertrauen zwischen ihnen, aber ganz so brüsk wie am Anfang war es nicht mehr. Seinen Namen hatte der Alte nach wie vor nicht genannt.
In der letzten Nacht vor dem Treffen hörten sie einen Bootsmotor. Elis wollte es nicht glauben, doch er schien sich zu nähern. Sie hörten einen Steven gegen die Wellen schlagen. Dann war es, als entferne er sich für ein Weilchen ostwärts.
Wie fanden sie ihren Weg da draußen? Der See schluckte das Abendlicht und hielt es fest. Sie sahen die Konturen des Ufers, wo das Boot jetzt still lag. Konnten sie noch mehr sehen? Der Alte fluchte leise. Dann begann er auf eine Landzunge zuzurudern. Für Elis sah das so aus, als liefe ein Fuchs pfeilgerade über eine verschneite Lehde.
Da wurde das Motorengeräusch dumpfer, und sie schalteten da draußen einen Scheinwerfer ein. Das Licht spielte über Steine und Tannen. Einer der Balten machte eine heftige Bewegung. Er hatte Angst und wollte aus dem Boot. Doch Elis hielt ihn fest. Sie mußten sich hinlegen.
Hinterher sagte der Alte, das verstehe er ums Verrecken nicht. Dann änderte er ihre Pläne, folglich glaubte er wahrscheinlich, man habe sie in dem letzten Dorf, wo sie das Boot geliehen und einen Packen belegter Brote bekommen hatten, verpfiffen. Elis dachte: Bloß gut, daß ich nicht alleinig gewesen bin. So kann er nicht meinen, ich sei es gewesen.
Sie mußten schon jetzt an Land gehen und sich oben an dem steilen Waldhang verstecken. Sobald der Morgen graute, würde er versuchen, eine Hütte aus Tannenreisern oder zumindest einen Windschutz zu errichten. Es war das beste, schon von hier aus zum Treffpunkt hinaufzugehen, und das sicherste, das Boot nicht Tag und Nacht zu benutzen.
Aber danach, dachte Elis. Ohne Boot kommen wir mit diesen menschlichen Wracks nirgendwohin. Dann werden der Schwede und ich rudern. Schlimmstenfalls den anderen direkt in den Rachen. Der Alte sagte, es gebe an der Grenze zwei Zöllner mit einem Boot. Der eine sei zuverlässig. Dann sagte er, er werde selbst zu dem Treffen hinaufgehen. Er befürchtete, Elis werde sich auf dieser weiten Strecke verlaufen. Womöglich glaubte er immer noch, es mit einem Provokateur zu tun zu haben? Seit das Patrouillenboot sein Licht hatte spielen lassen, waren sie noch wortkarger zueinander geworden. Der Alte beobachtete ihn manchmal, wenn er meinte, Elis merke es nicht. Schwer zu sagen, ob sein Blick giftig oder nur nachdenklich war. Ein gewiefter alter Teufel war er allemal.
Als Elis mit den Balten allein war, versuchte er, die Hütte abzudichten. Feuer zu machen kam nicht in Frage. Man würde vom See aus den Rauch sehen.
Einer der Männer atmete mühsam. In seiner Brust pfiff und gluckerte es. Elis wollte nicht prüfen, ob er Fieber hatte, denn das würde ihn nur erschrecken. Sie konnten ohnehin nichts dagegen tun.
Lange Stunden. Er flickte und flocht mit Tannenreisern, doch es half nicht viel. Die Balten bibberten alle beide. Elis fror ebenfalls. Gleichwohl konnte er sich rühren und ein bißchen Körperwärme produzieren, indem er Reiser brach.
Er betrachtete die fremden Gesichter, das wenige, das unter den Bärten und dem Schmutz zu sehen war. Nahe waren sie. Wie nach einem Liebesakt. Fremd und nahe.
Unten brandete das Wasser gegen die grauschwarzen Schieferplatten und brach sich daran. Er sah fünf Singschwäne dahinstreichen. Hatte es in der Nacht in den Buchten gefroren? Es gibt eine Grausamkeit, dachte er. Eine Grausamkeit, die nichts mit den Menschen zu tun hat. Nichts mit unseren Taten, unseren Worten und unseren Überzeugungen.
Vogelfüße, im Eis festgefroren. Flügel, die flattern. Seegras unterm Eis, wenn es bricht. Splitter, wie Messer so scharf. Auf reiner Brust erglimmet der Wellen Spiel gebannt.
Ihm kamen diese Bilder wieder, wie in dem Halbtraum. Diese markanten Bilder, die ihn schon immer mehr gelockt hatten als die Wirklichkeit. Er fragte sich, was für Bilder die beiden dunklen Kerle in ihrem bibbernden Halbschlaf wohl sahen.
Gegen Abend kam der Alte mit dem Schweden herunter. Es war ein O-beiniger Kerl mit braungelben Augen. Elis fragte sich, ob er ihn von früher kannte. Da war etwas Vertrautes. Sie waren ungefähr gleich alt.
Der Alte schüttelte ihnen die Hand zum Abschied. Nachdem er im Wald verschwunden war, überkam Elis ein seltsames Gefühl der Verlassenheit. Ihr neuer Begleiter ruderte gleichmäßig und gut. Er hatte Kraft. Und er summte, während er ruderte.
In den Wolken waren Spalte, und ab und zu schien der Mond. Nachdem sie an Lunäset vorbeigerudert waren, sagte der Schwede, der vermutlich ein Lappe war:
»Das ward das.«
Elis wollte sich nicht anmerken lassen, daß er wußte, daß sie die Grenze passiert hatten. Er verspürte keine größere Erleichterung. Noch konnte viel geschehen, wenn es einen unzuverlässigen Zöllner und einen Kompaniechef mit Sympathien für die Deutschen gab. Doch sie ruderten nicht nach Svartvattnet. Es sollte nach Tullströmmen gehen, und dann nach Röbäck.
Elis sah die Lichter der Häuschen in Svartvattnet. Tangen konnte er nicht unterscheiden. Es war alles eine einzige schwarze Masse, in der kleine Lichter flackerten.
Als er noch in Trondheim gewesen war, hatte er gedacht, er werde über Markeslia gehen und in Röbäck unten ankommen. Nichts stimmte jedoch mit seinen Plänen überein. Der Alte hatte ihn gebraucht und benutzt. Sein Argwohn hatte nicht nachgelassen. Ging er jetzt stramm heimwärts, oder lag er schlaflos in einer Hütte und grübelte darüber nach, ob Elis ihn verpfeifen werde?
Wenn der alte Teufel nun allein aufgrund eines Argwohns flieht? überlegte Elis. Wir sind aneinandergekleistert. Ich dachte, ich würde allein übers Fjäll gehen. Das alte Gefühl empfinden. Doch ich hatte die ganze Zeit über Angst. Und war abhängig.
Erst als das Boot tief in der östlichsten Bucht des Svartvattnet über die Steine kratzte, glaubte er allmählich, daß sie durchkommen würden. Jetzt galt es, die Männer auf die Beine zu bekommen. Denn er dachte, sie müßten die Stromschnelle passieren, nach Oppgårdsnostre hinaufgehen und von dort aus weiterrudern. Doch so schlimm kam es nicht. Der Schwede sagte, er wisse, wo er eine Patrouille zu fassen kriege. Er machte ihnen ein Stück weiter oben am Hang ein Feuer, und dann verließ er sie, als sie davor hockten und mit den Handflächen die Wärme einfingen. Sie hatten kein Feuer mehr gehabt, seit sie in der Hütte aufeinandergetroffen waren. Am Steilhang türmten sich schwarz die Tannen. Elis sah, wie die Balten sie betrachteten. In den Baumkronen sang es, und an die Ufersteine schlugen unablässig die Wellen.
Nach einer Stunde war der Schwede zurück und sagte, der Soldat werde mit einem Auto kommen. Da wurde Elis klar, daß sie zwischen Röbäck und Svartvattnet eine Straße bekommen hatten. Vielleicht schon vor langem. Dann haben sie Arbeit beim Straßenbau gekriegt, dachte er. Gudmund und Jon und womöglich auch die Kleinen. Die sind jetzt groß. Vielleicht sind die Zeiten besser. Überall Militär. Sie verkaufen natürlich Milch und Pferdefutter. Alles ist jetzt vielleicht besser für sie.
Während sie warteten, holte der Kerl, der nie gesagt hatte, woher er kam, seine Thermosflasche mit Milch hervor. Sie war immer noch lauwarm. Er verteilte belegte Brote. Die ganze Zeit über summte er leise, und Elis erkannte die Melodie und wußte sehr wohl, weshalb er gerade jetzt darauf kam. Dort oben lag eine alte Bruchbude. Die Lundinskate. Er konnte sie in der Dunkelheit nicht sehen, wußte aber davon. Von dort aus war sie zum Wasser hinuntergegangen. Vielleicht in einer Nacht wie dieser. Allem, was Glück ist, dem mußt ich entsagen … Imbor, so hat sie geheißen, erinnerte er sich. Hat sich ein Leid angetan. Und ward ein Lied da, über sie.
Allem, was Glück ist, dem mußt ich entsagen
nichten sind worden mein Los Freud’ und Lieb’.
Hörte die Wellen ans Ufer hier schlagen,
kömmt nichten zurück mehr mein Freund, fort er blieb.
Auch als das Auto schon nach Röbäck zockelte und er so nahe neben dem einen Balten saß, daß die Läuse keinerlei Schwierigkeiten hatten, überzuspringen, hörte er in seinem Kopf noch das Lied von Ingeborg aus der Lundinskate.
*
Der Junge saß auf meinem Schoß und schaute zum Fenster hinaus.
»Der Himmel ist komisch«, sagte er.
Der See war weiß, der Himmel schwarz mit Sternen. In diesem Zimmer hatte ich als Kind gelegen und geglaubt, der Nachthimmel sei ein Tuch, das vorgezogen würde. Ich glaubte, in den Falten des schwarzen Stoffs versteckten sich gräßliche Tiere.
»Im Himmel ist es nicht komischer als in der Traubenkirsche«, sagte ich. »Die, in der elektrisches Licht hängt.«
»Aber da oben klettern Hunde und Wölfe«, erwiderte der Junge. »Im Weltenbaum.«
»Habe ich das gesagt?«
»Jaa. Man kann sie singen hören.«
Wir horchten ein Weilchen, während die Hunde und Wölfe ein bißchen sangen. Dann sagte der Junge:
»Erzähl was von Ulva.«
Ich wußte nicht, ob ich das tun sollte. Der Großvater des Jungen, mein Sohn Mats, meint, ich solle richtige Sachen erzählen.
»Erzähl schon! Los!«
Da erzählte ich, daß eine Wölfin hierhergewandert sei. »Sie war über die Kahlschläge des Brannbergs gekommen. Es war in einer Nacht im Mai. Sie lief über das Eis auf dem Svartvattnet. Sie hatte Glück, denn es regnete, und nach Mitternacht schüttete es ordentlich. Und so löschte das Wasser ihre Spur aus.«
»War denn da niemand, der sie gesehen hat?«
»Niemand. Aber die Kinder wußten von ihr.«
»Wie denn?«
»Sie spürten, daß sie da draußen war. Ihre Gedanken suchten in der Dunkelheit. Aber sie ist vorbeigelaufen.«
»Wo ist sie hingelaufen?«
»Sie ist zum Kroken rauf, und da hat sie unter einem Tannenbaum gestanden und gehorcht.«
»Und dann?«
»Dann ist sie in den Bergwald rauf.«
»Ist das da drüben?«
»Nein, nein. Das ist unterhalb von Giela. Jetzt heißt das freilich Björnfjäll. Das hier ist der Brannberg. Das ist kein Fjäll. Der ist bloß kahlgeschlagen.«
»Und wann hat sie ihre Jungen gekriegt?« fragte er, denn er hatte die Geschichte ja schon mal gehört.
»Nachdem sie eine Höhle gefunden hat.«
»Sind sie dann rausgekommen, die Welpen?«
»Ja, als es warm wurde. Sie haben miteinander gespielt und nach den Trollblumen geschnappt.«
»Sind sie dann fort?«
»Ja, als Leute kamen, wurden sie scheu.«
»Aber die anderen sind geblieben.«
»Ja.«
»Was sind das für welche?«
»Das weißt du doch. Es gibt Menschen, und dann gibt es Tiere. Füchse und Bären, Birkhühner und Schneehühner und Haselhühner.«
»Den Pomeranzenvogel!«
»Und den Auerhahn. Den hast du schon gesehen. Und den Raben. Den Vielfraß und den Biber. Und Renkühe und Renhirsche und Kälber.«
»Die weißen Rene sind blind.«
»Manchmal, ja.«
»Oder auf einem Ohr taub.«
»Und natürlich gibt es Elche. Und Hermeline und Marder und Mauswiesel.«
»Und Schlangen!«
»Nein, die gibt es nicht. Aber allerlei Nager: Wühlmäuse und Mäuse und Lemminge. Und all die kleinen Vögel und all das Geziefer. Vor allem Gnitzen und schwarze Kriebelmücken. Auch Stechmücken und Bremsen und Blinsen.«
»Und dann die anderen.«
»Ja, die anderen. Keine Menschen, keine Tiere.«
»Wie heißen die?«
»Das sage ich nicht.«
Da hörten wir die Scooter auf dem See, und als wir hinausschauten, sahen wir die Lichtkegel über den Schnee irren.
»Schlaf jetzt«, sagte ich. »Falls du noch wach bist, wenn sie kommen, dann mußt du mit nach Hause fahren.«
»Ich werde hier schlafen«, sagte er.
Mats hat eine elektrische Lichterkette in die Traubenkirsche gehängt. Es ist Advent, und die Sterne sind gestochen scharf. Er mag es nicht, wenn ich sage, daß im Himmel Hunde und Wölfe klettern. Er ist verärgert, weil ich ihm etwas Verkehrtes erzählt habe, als er klein war. Über den richtigen samischen Himmel haben seine Kinder etwas im Kurs gelernt. »Wie konntest du nur?« fragt er.
Ach, liebe Kinder, es war unmöglich, es nicht zu tun. Wir waren so allein. Es war kohlschwarz in all den Nächten, und dann kamen die Sternennächte. Die Kälte war tödlich. Wie droben im All. Ich hatte Heimweh.
Wenn ich das Märchen also seinen Enkelkindern erzähle, dann heimlich. Aber er erfährt es ja doch. Kinder reden.
»Wie kannst du nur?« fragt er. »Das sind doch nur Märchen. Du bringst ihnen nichts Richtiges bei.«
Ich denke, ich pfeif auf eure Kurse. Klemens war klein, es war Krieg, und wir waren allein. Du warst ein Winzling und hast noch an meiner Brust genuckelt. Ich konnte mir ja nicht vorstellen, daß ihr einmal grobe Mannsbilder werden und alles besser wissen würdet als eure Mutter.
Es steckt aber auch eine richtige Trauer in ihm. An der tragen viele. Die Frau meines Enkelsohns heißt Liv. Sie durfte als Kind nie ihre Sprache lernen, und sie hat zu ihrem Vater gesagt:
»Wie konntest du nur?«
Die Kinder sind unsere Richter. Ihr Vater, Pe Larsa nämlich, der kommt besser zurecht als ich. Wenn Liv sich beklagt, daß er ihnen ihre Sprache nicht beigebracht habe, erwidert er:
»Glaubst du, ich wollte meinen Kindern so übel?«
Mein Onkel hatte auch eine Ahnung davon. Er wollte mir wohl, und darum sagte er klipp und klar, ich solle ihn Onkelchen Anund nennen, nicht Jyöne Anund oder Laula Anut, wenn andere es hörten. Insgeheim aber brachte er mir ein wenig von unserer Sprache bei. Er erweckte sie wieder zum Leben in mir. Denn sie war ja dagewesen, bevor ich drei Jahre alt wurde und Hillevi mich ins Dorf mit hinunternahm.
In der Schule war ich neugierig auf meine Cousine zweiten Grades Astrid Larsson. Ich versuchte mit ihr so zu sprechen, wie mein Onkel es mir beigebracht hatte, doch sie lachte mich aus, wenn ich etwas falsch sagte. Zuhören lernte ich immerhin, und verstehen.
Wir waren auf dem Schulabort. Da gab es zwei Klositze, so daß man einander meistens Gesellschaft leistete. Damals unterhielten wir uns über Lesezeichen. Sie hatte keine und wollte von mir welche haben. Sie glaubte, ich brauchte bloß in den Laden zu gehen und dort welche zu holen. Ich gab ihr den Prinzen, der auf einem weißen Pferd ritt. Und sie redete drauflos über seine gelben Gamaschenhosen, seinen blauen Umhang, sein goldblondes Haar und die Baskenmütze, die sie Tjohpe nannte.
»Barett«, sagte ich.
Hillevi hatte mich dieses Wort gelehrt. Das war mein Unglück.
Als wir die Tür öffneten, stand unsere Lehrerin draußen.
»Das ist für das Barett!«
Sie zwickte mich fest in den Oberarm. Mehr traute sie sich nicht, weil ich doch das Ziehkind des Händlers war. Astrid dagegen ohrfeigte sie übers ganze Gesicht. Es schwoll an, und das sah man in der Klasse. Das schien der Lehrerin ein bißchen angst zu machen. Sie sagte zu mir, ich solle hinterher noch bleiben, und da war ihre Stimme anders. Äußerst freundlich klang sie jetzt, denn unser Fräulein befürchtete, ich würde nach Hause gehen und alles erzählen.
»Laß mich deinen Arm sehen«, sagte sie.
Als ich meinen Pulli hochschob, waren da rote Flecken von ihren Fingern. Aber noch keine blauen. Sie strich über die Rötung, massierte sie und sagte:
»Du verstehst, daß ich euch hernehmen mußte. Das verstehst du doch?«
Ich nickte zum Zeichen, daß ich verstünde.
»Wenn ordentliche Leute aus euch werden sollen. Ihr müßt Schwedisch sprechen.«
Als ich nach Hause ging, war ich böse. Astrid hatte ständig auf die verbotene Art gesprochen. Ich aber habe für das Barett heimgezahlt bekommen.
Daheim traute ich mich nicht, davon zu erzählen. Wir sagten nie etwas von den Schlägen, die die Kinder bekamen. Es war eine Schmach, über die man nicht sprach.
Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, daß die Lehrerin angenommen hatte, Barett sei ebenfalls ein lappisches Wort.
Jetzt ist alles umgekehrt. Jetzt soll es die richtige Sprache sein. Richtige Sternbilder. Ich habe meinen Urenkeln nichts beizubringen. Nicht das geringste.
»Märchenwald«, sagt Klemens. »Bring ihnen was Richtiges bei.«
Doch diesen Wald gibt es.
Als Trond Halvorsen in Lakahögen oben Hillevi Klarin heiratete, mitten im vorigen Krieg, im Jahr 1916 war das, da machte Tronds Großvater mütterlicherseits ihnen den Wald zum Hochzeitsgeschenk.
Es war ein großes Geschenk. Aber er besaß ja auch Jagen über das ganze Kirchspiel Röbäck verteilt und noch weiter entfernt. Er wurde Lakakönig genannt.
Das Geschenk bestand aus einem Waldgebiet und einem See sowie langen, trägen Windungen und Biegungen eines Flusses. Zwei Waldseen waren da und ein steiles Gelände mit großen Rottannen, die einer allein nicht umfassen konnte. Deren Rinde war eine gesprungene und schuppige Haut, und ganz unten hatten sie kahle Äste, die wie graue Harfensaiten aussahen.
Solch eine Tanne ist ein Tier und eine Kirche. Der Wind heult darin, und sie spielt auch. Sie lebt in einer langsamen Zeit. Still ist sie, hat den anderen Tannentieren nichts zu sagen. Sie atmen nur gemeinsam.
Da gab es Birken, die vor Alter knorzig geworden waren. Ihr Holz hatte sich in den Stürmen verdreht, und sie haben Krebs bekommen, wie das bei Alten eben so ist. Bei den Birken wird die Krebskrankheit zu Holzbrüsten mit schwarzer, knotiger Rinde. Unter dieser Rinde befindet sich eine zarte Haut, die nur eine ganz behutsame Hand hervorholen kann. Wenn die Birken sterben, bekommen sie Porlinge. Tjaanja heißen sie, und sie sehen wie graue Hufe aus.