Die Totenglocke - Kerstin Ekman - E-Book

Die Totenglocke E-Book

Kerstin Ekman

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Beschreibung

Blutrot stehen die Espen und Ahornbäume gegen den kaltblauen Himmel. Morgen würde die alljährliche Jagd beginnen. Das üppige Abendessen gehörte genauso dazu wie die alten Geschichten und der Whisky-Soda. Diesmal müssen sie noch Klas Bodin vom Zug abholen. Die angeheiterte Jagdgesellschaft nimmt den Weg durch den Wald – und überfährt versehentlich eine Frau. Die Männer versuchen, das Geschehen zu vertuschen, doch es gibt einen Mitwisser: Klas Bodin. Die Jagd bietet Gelegenheit, sich Bodins zu entledigen. Aber der ist clever und skrupellos ...

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Übersetzung aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2001

ISBN 978-3-492-95767-0

© 1963 Kerstin Ekman

Titel der schwedischen Originalausgabe:

»Dödsklockan«, Albert Bonniers Förlag, Stockholm

Deutschsprachige Ausgabe:

© 2001 Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: Dorkenwald Design, München

Umschlagfoto: Henrik Larsson / Fotolia.com

Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

1

Montag, 14. Oktober

Es herrschte noch nicht einmal Schußlicht draußen. Gleichwohl nahm er die Büchse vom Haken an der Wand und hängte sie sich über die Schulter. Die Achttageuhr in der Stube schlug vier, und im Küchenflur hörte er die Hunde erwartungsvoll winseln. Sie hatten ihn auf der Treppe gehört, obwohl er ganz vorsichtig auf Strumpfsocken hinuntergetappt war. Er mußte in dem Flur seine Stiefel holen, und sowohl Sjunga als auch Skott meinten, es sei soweit, als sie ihn mit dem Gewehr sahen. Die Gråhündin legte den Kopf zwischen die Pfoten und wandte ihren gelben Blick nicht von ihm, während er in die Stiefel schlüpfte. Der Dackel begann wild herumzutollen und warf im Eifer seinen Wassernapf um. Måns hätte ihn beinahe eingeklemmt, als er die Tür schloß. Er hörte, wie Sjunga mit einem langen, winselnden Seufzer die Hoffnung aufgab, wohingegen Skott zu bellen anfing.

Måns rannte schier über den Hof, um außer Hörweite der Hunde zu kommen. Wenn sie das Haus aufweckten, wüßte er nicht, wie er erklären sollte, warum er um diese Zeit wegging. Wenn Eva aufwachte, wollte er sagen, daß er vor der Elchjagd, die an diesem Morgen beginnen sollte, zu aufgeregt sei, um noch länger schlafen zu können. Sie würde ihm wahrscheinlich nicht glauben.

Er war hinter dem Viehstall abgebogen und ging nun über das sumpfige Weideland. In der Senke zum Wald knirschte froststarr das Gras unter den Stiefeln. Es war nahezu windstill, und er durchquerte ein paar kalte, reglose Nebelstreifen, bevor er zum Gatter am Waldrand gelangte. Der Wald schwieg in dem fahlen Vormorgenlicht. Måns sah nicht viel, doch kannte er den Pfad so gut, daß er trotzdem relativ schnell und geräuschlos vorankam. Gut einen halben Kilometer wand sich der Weg am Rand des Moores entlang, ehe man zu einem Kahlschlag kam, der zu Vinterrönningen gehörte. Von dort schwenkte er wieder direkt in urzeitdunklen Wald ab. Die Stämme der Rottannen erhoben sich aufrecht wie Schiffsmasten, und hoch über seinem Kopf strich in einer langen, säuselnden Dünung, die hier unten gar nicht zu merken war, ein sanfter Wind durch die Wipfel. Der Boden war nadelglatt, dabei leise zu begehen und weich. Nach ein paar hundert Metern lichtete sich der Wald, und zwischen den Bäumen schimmerte gelb abgefallenes Birkenlaub. Der Pfad gabelte sich. Links führte er weiter zum Flymyran, dem großen Moor, das allmählich in den See Spjuten überging. Rechts führte er direkt nach Gökkällan hinunter, der Kate, die Vinterrönningen zum Wald hin am nächsten lag.

Diesem folgte er bis zum Gatter der Weide von Gökkällan und blieb dort instinktiv stehen, ohne sagen zu können, ob er ein Geräusch gehört oder ob seine Augen am Waldrand auf der anderen Seite eine Bewegung wahrgenommen hatten. Von hier aus konnte er eine Ecke von Gustaf Åkermans Häuschen und die große Espe sehen, die blutrot in einem leichten Lüftchen schwelgte. Er lehnte sich an das Gatter und ließ den Blick an den Laubschößlingen am Waldrand entlangschweifen. Es war schummrig und neblig und schwer zu sagen, was es sein mochte, gleichwohl war er überzeugt, daß sich dort etwas regte. Nach ein paar Minuten erschauderte er vor Kälte und wollte schon weitergehen. Da entdeckte er sie. Es waren keine Elche. Es war ein Sprung Rehe, der im Laubgehölz auf der anderen Seite geäst hatte und jetzt mit lautloser Würde auf seine Seite der Wiese zog. Noch lag die Weide zwischen den Tieren und ihm, und mehr als Konturen und fließende Bewegungen, die in den Nebel und die Dämmerung glitten, waren kaum zu erkennen, doch glaubte er, fünf Stück zählen zu können.

Geschepper von Blech auf Stein und ein kräftiges Wasserplatschen zerrissen die Stille. Die Tiere setzten sich augenblicklich in Bewegung und entschwanden in Richtung Wald. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er ihre Hinterteile im Dunkel der Bäume aufblitzen, dann waren sie fort. Von Gökkällan her hörte er den Bleicheimer gegen die Brunneneinfassung scheppern.

Gustaf war am ersten Tag der Elchjagd offensichtlich frühzeitig auf den Beinen. An jedem anderen Morgen wäre Måns quer über die Weide zu dem Haus gegangen und hätte Gustaf besucht. Er hätte Kaffee bekommen, und sie hätten die Taktik und die Aussichten durchdiskutiert, bevor sie sich auf den Weg gemacht hätten, um sich mit den anderen zu treffen. Heute überraschte Måns sich selbst damit, daß er das tat, was die Tiere soeben getan hatten. Er bog in den Wald ein.

Er fror, als er mit langen und nicht sonderlich leisen Schritten den Pfad entlangging. Dies war schon seine dritte schlaflose Nacht. Bereits am Samstag morgen hatte er Kopfschmerzen bekommen, und sie ließen noch immer nicht nach. Er hatte keine Ahnung, wie er sechs lange Tage im Wald durchstehen sollte, wenn er nicht schlafen konnte. Am liebsten hätte er geheult, aber in der Einsamkeit brachte er das nicht fertig. Statt dessen lief er dahin und versuchte, die Angst und Reue zu unterdrücken, indem er sich damit befaßte, wie sehr er fror, wie hungrig er war und wie beharrlich die Kopfschmerzen pochten. Måns Westling waren im Alter von zweiunddreißig Jahren Gefühle wie Angst und Schrecken eigentlich unbekannt. Von Nerven hatte er bisher nicht viel gemerkt. Möglicherweise hatte er sie ein bißchen kribbeln fühlen, wenn er auf Hasen angesessen und eine Stunde lang denselben Fleck im Harsch fixiert hatte. Nun aber war er dieser Angst, die seinen Schlaf fraß und ihm jegliche Freude an der Jagd verleidete, wie ein Kind ausgeliefert. Er war im Augenblick zu müde, um seine Gedanken zu entwirren. Zwar war er sich nach wie vor im klaren darüber, daß er an der Lage, in die er geraten war, selbst schuld hatte, aber es war trostlos, mit Eva nicht darüber sprechen zu können. Etwas Derartiges hatte er sich noch nie eingebrockt.

Måns sah auf die Uhr. Er war jetzt schon mehr als eine Stunde unterwegs und, ohne es zu merken, auf dem Pfad, der zwischen den frostbraunen Farnstauden zunehmend schwieriger zu erkennen war, weit in Richtung Flymyran gegangen. Er verlangsamte sein Tempo und hatte sich schon fast entschlossen, umzukehren und nach Hause zu gehen, als er über eine Elchlosung stolperte. Er erstarrte, als er merkte, daß sie noch warm war. Mit einem Mal hatte er seine Kopfschmerzen und die beharrlich nagenden Gedanken vergessen. In seiner Nähe war ein Elch, und er hatte seine Büchse geschultert. In einer Stunde wäre es wahrscheinlich hell genug zum Schießen. Er bereute jetzt, Sjunga nicht mitgenommen zu haben. Auf dem trockenen Boden nach Elchfährten zu suchen, war ein hoffnungsloses Unterfangen. Er war in einen lichten Kiefernwald gelangt, wo bei der geringsten Bewegung unter seinen Füßen Zweige knackten. Er beschloß, noch etwa hundert Meter dem Pfad zu folgen, bis dieser oberhalb des Moores um einen kleinen Felsen bog. Flymyran war ein beliebter Elcheinstand, und auf der Südseite der Felskuppe hatte er einen Ansitz, wo er in früheren Jahren leicht fröstelnd viele Stunden zugebracht hatte.

Der Boden war sumpfiger geworden, und es war schwierig, mit den Gummistiefeln lautlos zu gehen. Es roch kräftig nach Gagelsträuchern und Sumpfporst, und aus den Moorlöchern stieg direkt in die windlose Luft Modergestank auf. Als Måns um den Fuß des Felsens zum Flymyran hinuntergegangen war, sah er praktisch nichts mehr. Das frühe Morgenlicht schwand, es war unzuverlässig, und der Nebel umgab ihn in großen, schmutziggrauen Fetzen. Inmitten der Trostlosigkeit und Müdigkeit aber verfolgte ihn das Glück. Vorsichtig sank er in der Nässe auf die Knie und besah sich die Fährte, die seinen Weg kreuzte.

Es war die größte Elchfährte, die er je gesehen hatte. Er maß sie mit der Hand und traute seinen Augen zunächst nicht. Schon oft hatte er in dem weichen Boden hier regelrechte Elchtrampelpfade gesehen. Niemals aber eine Fährte, die dieser gleichgekommen wäre. Vor lauter Aufregung hatte er vergessen, daß er fror, vergessen, warum er am Morgen planlos das Haus verlassen hatte. Das mußte dieser unvergleichliche Hirsch sein, von dem Gustaf aus Gökkällan schon früh im Herbst geschwafelt hatte. Måns hatte bei Gustafs Ausführungen über einen gigantischen Urzeithirsch gelacht, der zur Brunftzeit hier unten im Flymyran herumgeistere und von dem Gustaf erstmals an einem schummrigen Septemberabend auf dem Heimweg vom Preiselbeerensammeln einen flüchtigen Blick erhascht habe.

Måns kniete noch immer und sah sich um. Vorsichtig zog er die Gummistiefel aus, um auf dem heillos saugenden Moorboden leise voranzukommen. Er beschloß, ein Stück in Richtung des Felsens zu gehen und im Schutz eines jungen Rottannenbestands auf die Helligkeit zu warten. Es war gut möglich, daß er da unten im Moor etwas zu sehen bekäme, wenn er sich ruhig verhielte. Behutsam setzte er die Füße auf und wechselte auf trockeneren Boden über. Bis zu den Tannenschossen kam er jedoch nicht. Wie von einer Gewehrsalve krachte es durch die nebelweiche Stille, er zuckte zusammen und blieb stehen. Zwischen den Stämmen nahm er einen flatternden schwarzen Schatten wahr, und erst als sich seine Aufregung gelegt hatte, begriff er, daß ein Stück Auerwild aufgestrichen war.

Er beschloß, sich gar nicht die Mühe zu machen, noch weiterzugehen, auch wenn er nicht glaubte, daß das Auerhuhn von ihm aufgescheucht worden war. In unmittelbarer Nähe war ein übermannshoher Stein, an dem sank er nieder und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Sogar ein entwurzelter Baum befand sich in Reichweite, auf den er seine Füße in den durchnäßten Socken hochlegen konnte.

Leicht fröstelnd begann er nun auf die Helligkeit zu warten. Gustaf erzählte gern, daß er einen Elch in der Nähe »spüren« könne. Man durfte all sein Gerede und seine Ausführungen über die Jagd natürlich nicht zu wörtlich nehmen, Tatsache aber war, daß auch Måns etwas zu spüren glaubte, wie er da saß und die Moordünste wie Dampf aus lautlos kochenden Zaubertöpfen aufsteigen sah. Die Herbststürme hatten von einer Birke hinter ihm das Laub heruntergefegt und wie schwefelgelben Schneefall ausgebreitet. Måns hätte sich gern eine Pfeife angezündet, um herauszufinden, ob sich überhaupt ein Lüftchen regte und wenn ja, aus welcher Richtung es käme. Aber er wollte es nicht auf den Versuch ankommen lassen. Zündholzgerappel würde sich in einem Paar empfindlicher Elchlauscher in der Stille des Morgengrauens wie ein kleinerer Erdrutsch anhören.

Er mußte, den Kopf an den Stein gelehnt, kurz eingenickt sein, doch mit einem Mal waren alle seine Sinne wieder aufs äußerste gespannt. Er hatte das unverkennbare Geräusch einer Schale, die aus schlammigem Moorboden gezogen wurde, vernommen. Es war ganz in der Nähe, viel näher, als er je zu hoffen gewagt hatte. Er kauerte sich neben den Stein, jeden Nerv und jeden Muskel auf das eine ausgerichtet, nämlich dort unten im Moor etwas zu erkennen, bevor es zu spät wäre. Hinter ihm raschelte eine Espe in einem Windhauch, und aus dem Moor waberte jetzt der Nachtnebel. Naßkalt und klamm strich er ihm ums Gesicht und brachte ihm Augen und Nase zum Laufen. Måns saß da und wartete darauf, daß sich das Geräusch wiederholen würde, aber es tat sich nichts. Immerhin lichtete sich zusehends der Dunst. Schwarz glänzende Pfützen schimmerten dort unten auf, und über seinem Kopf trieben die Wolkenfetzen auseinander und legten Ausschnitte eines kaltblauen Herbsthimmels frei. Es war jetzt richtig hell, und als der erste Sonnenstreifen im Wasser glitzerte, begann Måns derart zu frieren, daß er schauderte und Mühe hatte, stillzuhalten.

Dann sah er plötzlich, was er die ganze Zeit schon hätte sehen können, wenn der Nebel nicht gewesen wäre. Knappe fünfzig Meter von ihm entfernt waren in einem Erlendickicht neben einem abgrundtiefen schwarzbraunen Tümpel vier helle, hohe Beine zu erkennen. Der unförmige Schatten darüber war kein Felsblock, wie Måns angenommen hatte, sondern der Rumpf eines Elchs. Er glaubte sogar ein Paar wippender Lauscher ausmachen zu können. Still saß er da und hörte sein Herz so laut schlagen, daß es bis zu dem Dickicht zu hören sein mußte. Er umklammerte seine Büchse, die eiskalt und nebelfeucht war. Noch sah er zu wenig und sorgte sich derart wegen des Windes, daß er einen trockenen Mund bekam und kaum zu atmen wagte. Nur ein Hauch in Richtung des Dickichts würde alles zerstören – der Elch würde vor der menschlichen Wittrung wie vom Wind getragen flüchten, ohne sich ihm überhaupt ordentlich gezeigt zu haben. Der Nebel, mit jeder Minute dünner und diesiger, trieb jedoch noch direkt auf ihn zu. Jetzt vernahm er erneut das Geräusch von Schalen, drei, vier Tritte und einen knackenden Ast. Im nächsten Augenblick hatte der schwarze Dunstschatten dort unten Leben und Form angenommen. Aus dem Dickicht kam in gemächlich gleitendem Troll der größte Elchhirsch, den Måns je gesehen hatte. Wuchtig wie ein Felsblock wirkte er und war dennoch zu diesem unglaublich weichen Gang fähig. Über den grauweißen Läufen war der Körper dunkel, fast schwarz. Als er unvermittelt stehenblieb und sich zwischen zwei vom Wind zerzausten Nebelfetzen zur Schau stellte, sah Måns einen langen, grausigen Kopf mit stark geschwollenen Wülsten über den Augen. Der Elch war vorderlastig und um Hals und Widerrist gedunsen. Die Rosenstöcke, die weit vorn am Stirnbein saßen, waren fast ebenso stark wie Månsens Unterarme. Genau wie Gustaf gesagt hatte, war das Geweih gegabelt. Mit vielen Verästelungen und groben Enden ragte es, für Rivalen in der Brunft lebensgefährlich, gerade nach vorn. Das mußte der Hirsch sein, von dem Gustaf schwadroniert hatte; es konnte kein anderer als der Schwarze mit dem Mördergeweih sein. Großer Hirsch, alter Mörder – weiß der Himmel, was Gustaf ihn alles hieß.

Das Merkwürdige war, daß er in dieser Gegend Schüssen so lange hatte entkommen können. Hier wurde selten ein Elchhirsch erlegt, der älter als fünf oder sechs Jahre alt war. Måns wagte ihn auf weit über zehn, vielleicht fünfzehn Jahre zu schätzen. Doch jetzt sah es so aus, als hätte seine Stunde geschlagen. Nur der Nebel mußte sich noch ein bißchen mehr verziehen. Måns atmete tief ein, brachte das Gewehr in Anschlag und zielte grob auf den Riesen, der ihm seine ganze schwarze Breitseite zuwandte. Mit den Schalen wühlte dieser in irgend etwas am Boden, wobei sein Haupt mit den nach vorn gerichteten Geweihenden mit nach unten ging. Måns konnte nicht mehr sehen, was er trieb, hörte ihn aber wühlen und schnauben. Das waren Lungen, damit konnte er wahrlich schnauben!

Wirbelnden Rauchschwaden gleich trieben jetzt die Nebelstreifen zu ihm herauf, und als er zielen wollte, war das Korn verschwunden. Der Lauf der Büchse begann ihm in den Händen zu zittern, und er versuchte sie nach unten zu drücken, um sich mit der linken Hand aufstützen zu können. Die Espe hinter ihm wisperte mächtig, und plötzlich hatte er alles auf einmal: freie Sicht und den Elch mit ständig ihm zugewandter Flanke in gemächlichem Troll auf die Südseite des Moores zuhaltend. Måns legte den Finger auf den Abzug und folgte ihm mit dem Visier, bis die Kornspitze genau an der richtigen Stelle der Elchflanke war.

Jetzt hätte er abdrücken müssen. Hinterher konnte er nicht mehr mit Sicherheit sagen, was ihn dazu veranlaßt hatte, im entscheidenden Moment den Finger nicht zu krümmen. Womöglich hatte er dasselbe Geräusch wie der Elch gehört und war zusammengezuckt. Womöglich hatte er gemerkt, daß der Elch die Luser spitzte und seine empfindsame Muffel herumschwenkte und witterte. Der Schuß ging automatisch los, allerdings um Sekunden zu spät – der Elch war schon weg. Seine hellen Läufe blitzten in der Flucht auf, und Måns hörte es in der Dickung krachen, wo der schwere Körper die Bäume knickte, als er dort einbrach. Nur wenige Sekunden später war es wieder still, und Måns gönnte es sich, zu fluchen.

»Huhu!« ertönte es plötzlich laut und singend wie von einem verirrten Kuckuck im Oktoberwald. Måns fluchte von neuem und antwortete nicht. Die Stimme erklang vom Pfad herab, und Måns wurde nun klar, daß der Elch vor dem Geräusch der Trampelschritte dort oben geflüchtet war. Jetzt stand dieser Trampler da und huhte wie ein Idiot demjenigen zu, der den Schuß abgegeben hatte. Er fragte sich, was für ein verdammter Blödmann das sein mochte, der vor sieben Uhr morgens so unbeschwert, als ginge er auf der Straße einer Stadt, den Elchwald durchschritt. Bibbernd vor Kälte und mit eingeschlafenen Beinen stolperte Måns, nachdem er auf einem Abstecher seine Stiefel geholt hatte, zum Pfad hinauf.

Die ganze Zeit über wußte er irgendwo im Hinterkopf, wer dort oben stand, wer ganz einfach hier vorbeikommen mußte. Die Jagdgesellschaft würde sich um sieben Uhr auf der Straße vor Gökkällan sammeln. Für zwei Leute bedeutete der Pfad vom Spjuten herauf und am Flymyran entlang eine Abkürzung. Aber es gab nur einen, von dem man sich vorstellen konnte, daß er nach einem gerade erst abgefeuerten Schuß im Elchgelände huhte.

Als Måns den Pfad erreichte und den Trampler etwa hundert Meter entfernt in Richtung des Felsens entdeckte, blieb er stehen. Er merkte gar nicht, daß ihm die Gummistiefel aus der Hand fielen. Die Anspannung soeben dort im Moor und der Schock der Enttäuschung nach dem Schuß, der ins Leere gegangen war, ließen ihn die Kälte und die Kopfschmerzen noch intensiver als zuvor empfinden. Er war nicht mehr Herr seiner Gedanken – wußte nur, daß vor kurzem noch alles so gewesen war, wie es sein sollte. Er war angespannt und auf eine einzige Sache konzentriert gewesen: im ersten Morgenlicht des ersten Jagdtages den größten Elchhirsch seines Lebens zu schießen.

Nun überkam ihn erneut die Angst, die ihm schon zwei Tage lang im Nacken gesessen hatte. Auf zwei Beinen kam sie angestelzt, in Form der untersetzten Gestalt, die sich auf dem Pfad näherte. Ein Mann in einer gelben Wildlederjacke, die hier zwischen den Bäumen merkwürdig leuchtete. Grüne Diagonalhosen, die an den kurzen, drallen Schenkeln spannten, Wickelgamaschen wie ein richtiger Jägermeister und zu allem Überfluß die Doppelbüchse 30–06 over and under mit Ejektor und allen erdenklichen Finessen, schweineteuer und linienrein, im Futteral geschultert. Der Lauf wippte im Takt der gemächlichen Schritte, die sich Måns stetig näherten.

Måns wußte nicht, was er tat, als er seine Büchse hob. Er hatte keine Ahnung, daß er anlegte und mit der gleichen atemlosen Präzision zielte wie kurz zuvor auf den Elchhirsch. Methodisch und automatisch führten seine Hände die gewohnten Griffe für ihn aus. Alles, was er fürchtete, alles, was er haßte und zu vergessen wünschte, kam auf dem Pfad ruhig auf ihn zugegangen und blieb jetzt unvermittelt stehen. Die Kornspitze zeigte ohne Zittern auf die linke Brusttasche der Wildlederjacke. Der Mann rief ihm etwas zu, doch Måns hörte nichts. Ihm war das Blut in den Kopf geschossen, und in seinen Ohren pochte und dröhnte es.

Er hatte während seines langen Umgangs mit Jagdwaffen noch nie, auch nicht aus Versehen, auf einen Menschen gezielt. Es war ein seltsames Erlebnis, den anderen auf dem Korn zu haben. Absolut still stand der, breitbeinig und unschlüssig. Ängstlich? Wahrscheinlich.

Ich werde hinterher sagen, er sei, als ich den zweiten Schuß auf den Elch abgegeben habe, in der Schußlinie aufgetaucht. Das war der erste Gedanke, der Gestalt annahm und ihm durch den Kopf ging. Fahrlässig erschossen, dröhnte es in ihm. Plötzlich wurde ihm schneidend bewußt, was er im Begriff war zu tun, und da zitterten seine Hände, so daß der Gewehrlauf vor seinem zielenden Auge schwankte. Er mußte ihn für einen Augenblick gesenkt haben, denn jetzt kam Leben in den anderen. Mit ein paar schwerfälligen Sätzen war er vom Pfad geradewegs in den Wald verschwunden. Måns setzte ihm nach, ohne einen Gedanken im Kopf, der bloß dröhnte und ihm die Tränen aus den Augen trieb. In seinen nassen dicken Socken lief er schneller und leiser als der andere, doch nahmen ihm die Stämme die Sicht, und einige Augenblicke lang schien er ihn verloren zu haben. Da leuchtete zwischen ein paar Ästen gelb die Wildlederjacke. Zweige knackten, und er konnte ihn angestrengt keuchen hören. Er wandte den Kopf und sah, daß Måns aufholte. Offenbar versuchte er größere Schritte zu machen, doch für das buschige und dicht bewachsene Gelände waren seine Beine zu kurz. Er stolperte über einen Baumstumpf und schrie auf, während er Hals über Kopf vornüberstürzte. Die Doppelbüchse klang auf, als er gegen einen Stein fiel, und dann war es still.

Måns stand über der Mulde, in die der andere gefallen war, und hob erneut die Büchse. Er war nie zuvor elchfiebrig oder schußhitzig gewesen, jetzt aber hatte es ihn erwischt. Seit dem Moment, da der Fehlschuß auf den aufgescheuchten Elchhirsch abgegangen war, beherrschte ihn dieses Fieber. Es hatte ihm Kälteschauer und Übelkeit durch den Körper gejagt und seinen Verstand außer Funktion gesetzt. Mit seiner Schießerfahrung würde er für den Mann, der da knapp zwanzig Meter vor ihm gestürzt war, nur einen einzigen Schuß benötigen.

Er glaubte ebenso methodisch zu zielen wie kurz zuvor im Moor. Doch er spürte nicht einmal den Rückstoß, als die Büchse mit der Mündungskraft einer halben Tonne abging. Er wußte nicht, daß er das gesamte Magazin leerte, bevor er die Waffe wegwarf und davonrannte.

2

Freitag, 11. Oktober

Am Freitag abend um kurz vor sieben hatte Rickard Turesson angerufen. Damit hatte alles angefangen, auch wenn Måns, der in dem Moment, als Eva den Hörer abhob, die Treppe herunterkam, das noch nicht hatte ahnen können. Als er mitbekam, daß es Rickard war, trat er so nahe ans Telefon, daß er dessen Stimme hören konnte.

»Wie geht’s?«

Er klang aufgeräumt.

»Måns geht’s bestens«, antwortete Eva lächelnd. »Er war im Wald und hat Beerensammler verjagt, und Gustaf Åkerman kommt mehrmals am Tag angerannt und quatscht von einem riesigen Ungeheuer von Elch, den er beim Flymyran gesehen hat.«

»Richte Måns aus, daß ich einen Hund gekauft habe.«

Da riß Måns den Hörer an sich.

»Was für einen Hund?«

»Das wirst du schon sehen«, erwiderte Rickard geheimnisvoll. »Aber ich wette, daß du einen solchen Elchhund noch nie gesehen hast.«

»Hast du ihn da?«

»Nein, Klas Bodin bringt ihn aus der Stadt mit. Er kommt allerdings erst mit dem Zug um fünf vor elf.«

»Er wollte doch zum Essen bei Georg Mård dasein.«

»Er hat vorhin angerufen und gesagt, daß das nicht gehe. Er habe eine Sitzung. Wir sollen ihn aber heute abend vom Zug abholen.«

Nachdem Måns den Hörer aufgelegt hatte, schnitt er eine Grimasse, die Klas Bodin und der Stadt und allen Sitzungen und Launen der Welt galt, welche drohen konnten, den Auftakt zur Elchjagd zu zerstören.

»Kommt er nicht?« fragte Eva.

»Schön wär’s! Er hat natürlich eine Sitzung, so daß wir mitten in Mårds Essen zum Bahnhof fahren und ihn abholen dürfen.«

Als er in der windigen Dämmerung des Herbstabends die Landstraße zu Mårds Anwesen entlangtrabte, regte er sich immer noch über Klas Bodin und dessen Sitzung auf. In seinem Innersten wußte er, daß er ein bißchen kindisch reagierte. Eva sagte immer, wenn alle Jahre wieder in den Tagen vor dieser Herbstwoche das Elchfieber sie packe, würden sie wie die Kinder und brausten wegen allem, was nicht genau nach Plan gehe, auf. Hinterher wäre es ein leichtes gewesen, zu sagen, daß Bodins Sitzung, die ihn an diesem Freitagabend aufgehalten hatte, letztendlich die Ursache all dessen gewesen sei, was später geschah. Das wußte Måns natürlich noch nicht. Keiner von ihnen wußte das zu diesem Zeitpunkt. Måns war nicht philosophisch veranlagt und würde auch später nicht darüber spekulieren, daß ein Menschenleben von launischen Zufällen abhängen kann.

Es war nicht weiter als einen halben Kilometer von Vinterrönningen nach Stora Nybygget, wo Mård wohnte. Das Haus hatte eine von herbstlich blutendem Ahorn gesäumte Auffahrt, und das ursprüngliche Häuschen, in dem Mårds Eltern gewohnt hatten, lag im Schatten einer überdimensionierten und strahlend gelben Villa aus Holz. Bevor Nybygget errichtet worden war, hatte das Anwesen Halvöreby geheißen, doch Mård hatte dafür gesorgt, daß sich das änderte. Die Veranda hatte weiße Holzsäulen, ‘und in prächtigen Betontöpfen blühten bis in die späten Frostnächte die Rosen. Georg war Witwer, und das Haus stellte für ihn und seinen erwachsenen Sohn weniger ein Zuhause dar als eine Manifestation von Georgs Energie, Unverfrorenheit und seiner Fähigkeit, Geld Junge kriegen zu lassen. Er hatte anfänglich so viel Wald geerbt, daß er die mühselige und wenig einträgliche Landwirtschaft hatte aufgeben können. Jetzt saß er mit einem Sägewerk, einem Holzhof und einer eigenen Buslinie da. Er war Vorsitzender des Gerichtssprengels, Kirchenältester und ganz allgemein eine Stütze in ökonomischen und moralischen Fragen. Leute, die älter waren als Mård, konnten über seine Geschäfte von vor dreißig Jahren Geschichten erzählen. Es waren keine schönen Geschichten, aber griesgrämige Greise, die sich zeit ihres Lebens mit steinigen Böden abgerackert haben, verdienen es vielleicht nicht immer, daß man ihnen glaubt.

Jetzt stand dieser Midas der Waldgemeinde auf seiner Säulenveranda und unterhielt sich mit den beiden Gästen, die bereits eingetroffen waren. Der eine war Erik Emilsson, der Förster; er war groß und schwarzhaarig wie einer vom fahrenden Volk, und er verzog den Mund nur in äußerst dringenden Fällen zu einem Lächeln. Der andere war der kleine, knochendürre Anders Flod aus Gillermossen, der seine Hofstelle von der Grube von Rasby gepachtet hatte. Er hatte eine finnische Frau, die genauso unglaublich arbeitsfreudig und sparsam war wie er. Ihre Angewohnheit, ihm jährlich Nachkommen zu schenken, machte die wirtschaftliche Situation auf dem Fünfzehn-Hektar-Hof jedoch ein wenig unberechenbar. In der Schule wurden die zehn Flodsprößlinge Gillermäuse genannt, teils, weil es vom Dialekt her nahelag, teils, weil sie so lebhafte Augen wie Mäuse hatten, emsig waren und ständig an etwas herumknabberten, was sie gerade hatten ergattern können.

Seit Måns Westlings Vater gestorben war, setzte sich die Elchjagdgesellschaft aus denselben sieben Personen zusammen. Anders Flod war der eigentliche Fleischjäger unter ihnen. Er konnte es sich nicht leisten, eine Arbeitswoche mit Jagen zu vergeuden, wenn keine ordentliche Ausbeute dabei heraussprang. Måns konnte es sich im Grunde ebensowenig leisten, hätte aber gleichwohl nie auf die Jagd verzichten können. Georg Mård war seit dem Herbst 1946, als er eine kapitale Schaufel erlegt und 304,5 Punkte sowie eine Geweihmedaille in Gold errungen hatte, Trophäenjäger. Seit ein paar Jahren lernte er seinen Sohn Pelle im Wald an. Die wahren Elchspezialisten unter ihnen aber waren der Förster, Erik Emilsson, und Gustaf Åkerman aus Gökkällan. Ihnen stand kein Grundbesitzeranteil an der Beute zu, doch sie waren aufgrund ihrer persönlichen Bekanntschaft mit so gut wie dem gesamten Elchbestand des Bezirks unersetzlich, und beide hatten sie Nasen wie Stöberhunde.

Rickard Turesson, der zusammen mit den Schwestern Bodin auf Rasby bei der stillgelegten Grube wohnte, war ebenfalls dabei, soweit Måns zurückdenken konnte, wenn er auch noch nie einen nennenswerten Einsatz an den Tag gelegt hatte. Rickard war ein ruhiger und freundlicher Mann, der ohne zu protestieren Stunden auf ungünstig gelegenen Ansitzen zubrachte, wo die Schußchancen nicht sehr groß waren.

Das Essen bei Mård vor Beginn der Elchjagd besaß den Charakter einer Strategie- und Planungssitzung und war eine ebenso feste Tradition wie das Elchlebersouper auf Vinterrönningen am Ende der Jagd, wo jede Phase des Pirschens, Postierens und Schießens der vergangenen Woche mit einer Sorgfalt durchgegangen wurde, die für denjenigen, der in einem entscheidenden Augenblick fehlgeschossen oder dessen Hund ein Fiasko erlitten hatte, peinlich werden konnte. Gustaf Åkerman war bei Mårds Essen nie dabei. Er ließ sich nicht dazu bewegen, Hemd und Kragen anzulegen und auf Stora Nybyggets glattem Parkettboden aufzutreten, nachdem seine Stöberhundkreuzung Båj einmal Mårds ungespielten Flügel angepinkelt hatte. Weder er noch Mårds Haushälterin hatten in diesen fünf Jahren die Feindschaft überwinden können, die diesem Vorfall entsprossen war.

Daß Klas Bodin zu dem Präludium auf Nybygget eingeladen war, beruhte allein darauf, daß er ein paar freie Tage bei seinen Schwestern auf Rasby verbringen wollte. Niemand sagte etwas, als Rickard Turesson eintraf, aber alle fanden, daß Bodin, da er doch unmöglich rechtzeitig hier sein konnte, hätte absagen können. Sein Ansinnen, am Bahnhof abgeholt zu werden, zumal er gar nicht an der Jagd teilnehmen würde, ließ sich allenfalls damit entschuldigen, daß er Rickards neuerworbenen Elchhundfund mitbrachte. Schon auf der Veranda legte Rickard dessen Abstammung und Eigenschaften klar. Es handelte sich um einen karelischen Bärenbeißer, er hieß Karim und war mit dem Schiff von Helsingfors nach Stockholm gekommen. Knapp zwei Jahre alt und kürzlich erst zur Jagd abgerichtet, hatte er einen Preis gekostet, der Mård sich ans Kinn fassen ließ. Die Mutter sollte jedoch einhundertachtzig Elche zum Schuß gestellt haben.

Georg Mård führte sie ins Herrenzimmer, wo der mit einer Medaille ausgezeichnete 304-Punkter, mit Kopf und allem konserviert, böse von der Wand glotzte. Die Stimmung war feierlich und erwartungsvoll gedrückt, genau so, wie es sein mußte. Der jüngste Landregen und die Wetteraussichten für die kommende Woche wurden mit lakonischen Kommentaren bedacht. Man verwies des öfteren auf Gustaf Åkerman, der auf der Grundlage des Vogelflugs und der Nachwirkungen einer alten Knieverletzung Langzeitprognosen aufzustellen pflegte, die für zuverlässiger als die der Amerikaner und auch des Fernsehmeteorologen erachtet wurden. Auch konnte man noch eine Diskussion über eine neuerworbene Doppelbüchse beginnen, die in Mårds Gewehrständer hing. Es handelte sich um eine Frans Sodia, die so perfekt ausbalanciert und so elegant geschnitten war, daß alle Gäste der Reihe nach ausprobieren mußten, wie sie an der Wange schmeichelte. Dann rief plötzlich eine rauhe Stimme, daß das Essen auf dem Tisch stehe. Ernst, aber mit leuchtenden Augen und über engen weißen Hemdkragen braunrot glühenden Nacken zogen sie ins Speisezimmer ein.

Georg Mårds Haushälterin hieß Valborg und war eine respekteinflößende, große und ernste Frau. Sie war eine Erweckte, kochte aber gut. In alter Manier hatte sie das Büfett in der Küche angerichtet, und von dort begab man sich mit seinem gefüllten Teller ins Speisezimmer mit dem Kristallüster und den Tapeten mit klarblauen pastoralen Landschaften. Valborg wachte in der Küche über drei Sorten Hering, über Fleischbällchen, Zwiebelröllchen, Omeletts, Aufläufe, Frikassees, Aufschnitt, über Geräuchertes, Kaltes, Warmes und Eingelegtes. Auf der Anrichte im Speisezimmer hatte Georg die Getränke bereitgestellt und schenkte ihnen aus einer beschlagenen Karaffe mit dem Monogramm Gustafs des Dritten Schnaps ein. Der kleine, magere Anders Flod hatte zu sprechen aufgehört und zu essen begonnen, und das würde er, wie es schien, bis zum Schluß tun. Er hatte aber auch von zu Hause den Auftrag, für alle zehn Gillermäuse zu essen und dann zu erzählen, was es gegeben habe. »Laßt uns anstoßen, Männer«, schlug Mård beim ersten Schnaps vor, und als es Zeit für den zweiten war, hatte sich die Stimmung so weit gehoben, daß Måns leise ein Trinklied anstimmte. Noch ehe der Chor einfallen konnte, wurde er aus der Küche von Valborgs Gitarre und rauh klingendem Sopran übertönt. Sie sang »Himmel und Erde mögen brennen«, doch das tat sie immer, wenn in Georgs Speisezimmer Schnaps getrunken wurde. Seine Gäste waren so an diese Form konfessionellen Protests gewöhnt, daß sie das Lied im Lauf der Zeit gelernt hatten und einzustimmen pflegten, denn Valborgs Stimmgewalt war ebenso beachtlich wie ihre moralische Energie.

Nach dem Büfett gab es Kalbsbraten mit Sahnesauce und Gurken, nach dem Kalbsbraten Quarkpudding und danach in Mårds wunderbarem Salon Kaffee und Sahnetorte. Måns war so satt, daß er mit Müh und Not die Augen bewegen konnte, als er mit seiner Kaffeetasse endlich auf einem hellgelben Seidensofa saß. Erik Emilsson und Rickard schienen von schläfrigem Wohlbehagen erfüllt zu sein und nahmen sich auffallend kleine Stücke von der Torte. Lediglich Flod wirkte von dem Überfluß unberührt. Er aß fleißig weiter, bis Valborg kam und mit sehr bestimmten Bewegungen die Kaffeetassen abräumte. Das, was von der Torte noch übrig war, packte sie in eine Schachtel und nahm es mit, als sie nach dem Abspülen zu einer Versammlung mit Kaffee und Gesang bei Bruder Walfridsson im Lilla-Bethel-Saal verschwand.

Die Stimmung hob sich merklich, nachdem Valborg die Haustür hinter sich zugemacht hatte. Georg trug die Zutaten für den Whisky-Soda selbst herein, und man begann ernstlich über die Jagd zu sprechen. Zumeist waren es die alten Geschichten, die die Runde machten. Alle kannten sie bis ins kleinste Detail, so als wären es Bibeltexte, was aber keine neuen Deutungen und Auslegungen verhinderte. Die richtig guten Geschichten handelten von Gustaf Åkerman und stammten aus einer anderen Zeit. Gustaf war siebzig, und aufgewachsen war er mit einer früh verwitweten Mutter, sechs Geschwistern und einem Vorderlader auf Gökkällan. Früher wurde gemunkelt, er habe in seiner Jugend während der Schonzeit auf dem zur Grube von Rasby gehörenden Grund und Boden mehr als zweihundert Elche geschossen. Vor Gericht hatte er nur ein Mal gestanden, und bevor das Urteil gefällt wurde, hatte ihm der Amtsrichter einen Vortrag über die Jagdzeiten gehalten.

»Wenn ich das Gewehr an der Wange angelegt und den Elch aufs Korn genommen habe, dann ist die richtige Zeit, dann ist er zum Abschuß frei«, hatte Gustaf geantwortet.

Einen Monat Gefängnis ohne Bewährung hatte er bekommen, doch er betrachtete diese Zeit als eine der größten Pläsanterien seines Lebens und konnte auch nach vierzig Jahren noch davon erzählen. Die Zeit und die Legenden hatten Gustaf nahezu respektabel werden lassen. Nun führte er in seiner Einsamkeit auf Gökkällan ein so gut wie volksheimgemäß geordnetes Dasein, bezog eine Volkspension und jagte jeden Herbst in Gesellschaft sowohl des Försters als auch der benachbarten Grundbesitzer.

Die Pendüle mit den vergoldeten Rosen und pausbäckigen Engeln schlug bereits halb elf, als ihnen Klas und sein Zug wieder einfiel. Sie leerten hastig ihre Gläser und erhoben sich. Als sie auf die Treppe hinaustraten, kam auf der Landstraße vor Stora Nybygget der letzte Bus mit Pelle Mård am Steuer angedonnert. Der Wende- und Stellplatz für Mårds vier Busse befand sich hinter Nybygget, dort, wo früher der Viehstall von Halvöreby gestanden hatte. Als Pelle den Bus zum Parken dorthin fahren wollte, hielten sie ihn an.

»Du mußt den Wagen nehmen und uns, so schnell du kannst, zum Bahnhof bringen«, ordnete Georg an. »Klas Bodin kommt mit dem Zug um fünf vor elf, und wir hätten ihn beinahe vergessen.« Pelle lebte ganz im Schlagschatten zweier starker Persönlichkeiten – der Raum beanspruchenden und lebensbejahenden des Vaters und Valborgs streng religiöser. Georg betrachtete ihn als einen relativ nutzlosen Auswuchs seines eigenen Lebens, dennoch bewachte er ihn manchmal, wenn er argwöhnte, daß Valborg ihn mit Religion vollzupumpen versuchte, mit eifersüchtiger Intensität.

»Das wird zu eng im Auto, wenn ihr alle mitwollt.«

Pelle war müde, nachdem er den ganzen Tag über auf der herbstlich glitschigen Landstraße gefahren war, und wollte am liebsten ins Haus, etwas essen und sich schlafen legen. Die Gesellschaft war jedoch angeheitert und wollte dem denkwürdigen Hund am Bahnhof einen gebührenden Empfang bereiten.

»Dann nimm doch den Bus«, schlug Erik Emilsson vor. »Darin müßten wir doch Platz haben.«

Pelle mußte wenden, und sie stiegen ein. Mit Innenbeleuchtung schaukelte der Bus wieder auf die Landstraße. Anders Flod und Måns Westling saßen ganz hinten und sangen.

»Du mußt einen Zahn zulegen, wenn wir zum Zug um fünf vor elf rechtzeitig dasein wollen«, rief Georg nach vorn zum Fahrersitz.

»Das schaffen wir sowieso nicht.«

Die Fahrt zum Bahnhof dauerte mindestens eine halbe Stunde, denn die Landstraße schlängelte sich sowohl an der Kirche als auch an der Schule sowie einer ganzen Reihe von Höfen vorbei, bevor sie an der Gabelung bei Nygårda von einer etwas größeren Landstraße aufgenommen wurde, die irgendwann zum Bahnhof führte. Es war bereits zwanzig vor elf, und an und für sich war es nicht zu machen, so rechtzeitig dazusein, daß Klas Bodin nicht auf sie warten mußte. Aber für eine Schar Jagdfreunde, die eines von Valborgs berühmten Gastmählern verschmaust und Mårds besten Whisky genossen hatten, gab es nichts, was nicht zu machen war.

»Fahr über den Kroktorpsvägen«, rief Måns lautstark nach vorn.

»Das geht nicht.«

»Das geht ja auf keine Kuhhaut, was für dich heute alles nicht geht!«

Doch strenggenommen hatte er recht. An Kroktorp vorbei, das nunmehr eine Unterkunft für Waldarbeiter war, führte ein schmaler, kurvenreicher Fahrweg durch den Wald. Dieser konnte im Herbst und Frühjahr, wenn es viel geregnet hatte, unbefahrbar sein, doch er ging ein Stück hinter Stora Nybygget direkt durch den Wald und ersparte zum Bahnhof so manchen Kilometer.

»Natürlich geht das.«

Georg hatte sich erhoben und wollte, daß Pelle anhielt, bevor sie an der Abzweigung vorbei waren.

»Macht, was ihr wollt«, sagte Pelle. »Ich fahre da jedenfalls nicht. Da ist es zu schmal für den Bus. Man kann von der Straße abkommen, wenn die Banketten derart locker sind.«

Als er endlich anhielt und sich vom Fahrersitz erhob, waren sie an der Gabelung vorbei.

»Ich fahre«, sagte Måns plötzlich. »Es war immerhin mein Vorschlag.«

Er startete den schweren Bus und setzte zurück. Die anderen feuerten ihn an, als er in die Seitenstraße hineindonnerte und der Wald sich um den erleuchteten Wagen schloß. Pechschwarze Herbstfinsternis herrschte hier drinnen, und die Scheinwerfer spielten über das Dunkel, als wäre es eine Masse mit Gewicht und Konsistenz, worin die Tannenstämme und Felsblöcke lose umherzuwirbeln schienen, wenn das Licht auf sie fiel. Die Straße war schmal und kurvig, aber gleichzeitig vergnüglich zu fahren. Måns glaubte sie recht gut zu kennen, so viele Male, wie er mit dem Fahrrad hier schon entlanggekommen war!

»Du mußt ordentlich Gas geben, wenn du rechtzeitig dasein willst«, sagte Georg. »Es ist zehn vor.«

Er sagte das vornehmlich im Scherz, denn sie würden es sowieso nicht schaffen. Klas Bodin würde schon warten, gab es doch weder einen Bus noch ein Taxi, womit er von dort wegkäme.

Anders Flod, der mit Liedern vollgestopft war, hatte vom Bauern und vom Husaren zu singen angehoben, und in Anders’ Fassung war der alte Text so witzig, daß selbst Erik Emilsson eines seiner seltenen Lächeln zeigte und mit einfiel. Es klang seltsam, als sein kratziger Baß im schmetternden Tempo der Polka Flods schrille Stimme untermalte. Nach einer Weile sangen sie alle zusammen. Sogar Pelle kam durch den Bus heran und sang den Refrain:

Ich glaub gar, du bist närrisch,

Du hast ja wohl ’nen Stich!

Es sind bloß alte Pötte,

die Mutter schickt an mich!

Irgendwann nach der siebten Strophe, als Måns mehr als die Hälfte des Weges gefahren war, ohne je über fünfzig gekommen zu sein, unterbrach Georg sie.

»Jetzt fährt der Zug ein!« rief er und schwenkte seine Taschenuhr.

»Der ist schon vor einer Viertelstunde eingefahren«, erwiderte Erik gelassen. »Diese Uhr ist ja schön anzuschauen, geht aber nicht sonderlich gut.«

Ende der Leseprobe



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