Skord von Skuleskogen - Kerstin Ekman - E-Book

Skord von Skuleskogen E-Book

Kerstin Ekman

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Beschreibung

Schweden im Mittelalter: Der Troll Skord trifft im Skulewald zum ersten Mal auf Menschen. Fasziniert von diesen seltsamen Wesen, eignet er sich deren Sprache und Denkweise an. Unerkannt lebt er unter Bettelkindern und wird schließlich Mitglied einer Räuberbande. Doch ein Troll lebt länger als ein Mensch: Um 1600 ist Skord jugendlicher Famulus eines Alchemisten, im 30-jährigen Krieg Feldscher bei den Kaiserlichen, 200 Jahre später – nun ein alter Mann – Medicus und Hypnotiseur. Vor dem Hintergrund realer historischer Ereignisse entführt Kerstin Ekman in diesem packend erzählten Roman den Leser in die faszinierende, von Mythen, Aberglauben und Okkultismus geprägte Gedankenwelt der "kleinen Leute".

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Veröffentlichungsjahr: 2015

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Übersetzung aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder

ISBN 978-3-492-98257-3

Oktober 2015 © für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2015 © Kerstin Ekman Titel der schwedischen Originalausgabe: »Rövarna i Skuleskogen«, Albert Bonnier Förlag A.B., Stockholm Deutschsprachige Ausgabe: © 1995 Neuer Malik Verlag, Kiel Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: © Conny Sjostrom / shutterstock.com Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Die Kinder von Markom

Droben in Oringen lebte eine alte Frau, die hatte zwei erwachsene Söhne. Sie hießen Granarv und Groning und waren noch nie unter Menschen gewesen. Als sie eines Tages draußen im Wald Bäume schlugen, verlor Groning seinen Bruder aus den Augen. Beim Fällen einer Tanne fiel deren Stamm auf ihn, so daß er liegenblieb und nicht mehr aufstehen konnte. Er rief nach Granarv, doch der hörte ihn nicht, sondern ging nach Hause, als es Zeit zu essen war. Groning hatte Schmerzen, und er verzog wüst sein Gesicht, als er sich zu befreien versuchte. Doch er saß fest.

Es wurde ein langer Tag. Ameisen krabbelten ihm übers Gesicht, und in seine Augenwinkel krochen Kriebelmücken und stachen und sogen. Er war ausgeliefert, wie er so dalag: das Ungeziefer des Bodens und der Luft, alles Getier, das Flügel hatte, schien den Geruch seiner warmen Haut zu wittern. Es summte und sirrte um ihn herum. Groning war nun kein gestandener Riese mehr, der draußen im Wald Bäume schlug und ab und zu Schnaken und Kriebelmücken von seinem verschwitzten Hals verscheuchte. Nein, er war zu einer großen Futterstelle im Wald geworden, zu einem Nahrungsvorrat für diejenigen, die sich von lebendigem Blut ernährten.

Wie er so dalag, konnte er sich sehr leicht vorstellen, daß bald auch andere gekrochen und geflogen und getappt kommen würden, all jene, die von dem lebten, was nicht mehr vor Blut und Säften rauschte. Sie würden in Gärendes ihre Rüssel stecken und in das, was zu riechen begonnen hätte, ihre Zähne schlagen. Eine tiefe Verzweiflung ergriff ihn, wie er so dalag.

Nach einiger Zeit fühlte er, daß er beäugt wurde, und er dachte an die Trolle. Er sah ein Auge aufblitzen und bemerkte, daß sich im Farn etwas bewegte. Ein Weilchen später nahm er auch den Schatten einer Hand wahr. Sie war mager, hatte lange Finger und glich geschälten Birkenwurzeln. Ja, er war nicht ganz sicher, ob es nicht überhaupt nur ein Strang Wurzeln war, dem Wind und Schnee die Rinde abgenagt hatten. Doch da blitzte es erneut auf. Es war ein Auge. Groning, der jetzt schon viele lange Stunden mit dem Bein unter der Tanne lag, sah, daß dort im Dickicht ein Troll war. Allerdings nur einer, und noch dazu ein ziemlich mickriger. Sein Körper war dünn und geschmeidig, und auf dem Kopf hatte er eine struppige Haarzottel voller Grind und Läusenester.

»Pst, Grindkäppchen«, sagte Groning. »Komm mal her.«

Ihm war der Gedanke gekommen, daß ihm ein so kleiner und verhältnismäßig unschuldiger Troll eine Hilfe sein könnte. Doch der reagierte gar nicht.

Die Flechtenhäher waren natürlich neugierig wie immer. Sie flogen mit sanft flatternden Flügeln herab, setzten sich in die Nähe seiner Hände und piepsten und pfiffen vertraulich. Es war jedoch eine falsche Vertraulichkeit. Sie wollten nichts von ihm. Da fiel ihm ein, daß sie gern Bröckchen aus dem Proviantbeutel annahmen, wenn man sie ein Stück weit von sich warf. Vielleicht würde das Grindkäppchen dort im Dickicht ja auch etwas nehmen. Etwas zu geben, wäre womöglich ein Weg, sich mit dem Troll, der sich da versteckte, ein wenig anzufreunden und ihn um Hilfe zu bitten.

Groning hatte sich nicht geirrt. Er wurde aus dem Dickicht heraus beäugt, und was ihn da ansah, war ein Troll, mager, verhältnismäßig unbedarft und ohne Hintergedanken, ja, überhaupt ohne Gedanken. Unter der Haarzottel war nicht viel mehr als ein Flattern, dem Flügelschlag des Flechtenhähers vergleichbar. Sich dieses große Etwas zu begucken, das da stöhnend unter dem Stamm der Tanne lag und geplagt wurde, machte ihm Spaß. Das war etwas Neues in dem öden Wald, und diese grollende Stimme war etwas anderes als den lieben langen Sommer tagaus, tagein das schnarrende Pfeifen des Bergfinken.

Das Grindkäppchen war im Wald umhergelaufen, hatte Schnecken gesammelt und mit den Fingern Mistkäfer zerknackt, die hatte es versonnen in sich hineingemümmelt und dabei knirschen hören. Mehr Spaß kannte es nicht. Dieses große Gebilde aus Haut und Stoff und Haaren, Spangen und verknoteten Riemen, der blanken Axtschneide, die es für einen Schnabel hielt, und den großen Stiefeln, die es für Hufe hielt: all das war das Merkwürdigste, was es je gesehen hatte. Das größte Wunder aber von all dem, was da unter der großen Tanne festgeklemmt saß, waren die Schuhriemen. Es hatte gesehen, daß sich Wacholder eigentümlich verwuchs und sich in sich selbst krümmte. Noch nie aber hatte es etwas gesehen, was so höllisch verwickelt und ausgeklügelt verschlungen war wie diese zwei Riemenenden dort, wo sie aufeinandertrafen.

An seiner Seite hatte das Gebilde etwas, was wie ein Birkenporling aussah, jedoch aus haarloser Haut gemacht war. Daraus holte es ein großes Ohr hervor, riß kleine Stücke davon ab und warf sie in Richtung Dickicht. Schon war ein Flechtenhäher zur Stelle und riß das Bröckchen an sich. So ging das mehrere Male. Schließlich wurde der Troll auf diese Ohrenfitzelchen so neugierig, daß er sich eines schnappte. Nachdem er ein Weilchen daran herumgefingert hatte, kam er zu dem Schluß, daß es sich durchaus gut in den Mund stecken ließ, denn es roch wie Weißklee oder Körnersteinbrech, und das Innere war wie das Eingeweide einer großen Schmetterlingslarve beschaffen. Das Grindkäppchen aß es, und es war gut. Es war das Beste, was es in seinem Leben je gegessen hatte. Es war das Gute selbst.

Es hatte nur einen Gedanken – wenn man das, was da unter der Haarzottel flatterte, so nennen kann –, und der war, noch mehr zu bekommen. Aber wie? Der Große hatte den Birkenporling zugemacht, nachdem er zuvor das große Ohr hineingesteckt hatte. Dann sagte er:

»Du bekommst noch mehr, wenn du mir meinen Bruder holst.«

Er sprach jetzt nicht so wie die Alte, die Mutter der beiden Brüder, in der Sprache der Menschen, sondern probierte die Sprache, welche die Vögel untereinander benutzen. Nicht so, wie ein Buchfink mit einem Buchfinken und ein Zeisig mit einem Zeisig spricht, sondern in der Sprache, die sie benutzen, wenn Rabe und Fink, Leinzeisig und Wanderfalke miteinander sprechen wollen. In der Sprache, die Füchse zur Not verstehen und nachahmen können und die auch dem Wiesel und dem Hasen nicht unbekannt ist.

Das Grindkäppchen, das sich im Unterholz der Erlen und Birken im Farn verkrochen hatte, machte keine Schwierigkeiten. Es holte ihm den Bruder. Es ging jetzt nämlich um noch mehr Happen von dem Guten, Gelben, das der Große in seinem Beutel hatte. Da das Grindkäppchen aber ein Troll war, bequemte es sich nicht dazu, selbst zu gehen. Es warf Blicke umher, und sie blieben an einer Krähe in einem Kiefernwipfel hängen. In diese schwebte sein Gedanke, sein kleines Flattern und Wollen. Die Krähe flog taumelnd zwischen den Bäumen davon, ohne zu wissen, was ihr in den Kopf gefahren war. Sie wußte nur, daß sie weit über die blauen Höhenrücken und über die kleinen Waldseen, die unter ihr schimmerten, fliegen mußte. Dann kam es ihr in den Kopf, sich herunterzulassen, und dann, zwischen den Bäumen zu suchen. Da hörte sie Axthiebe.

Es war Granarv, der gefällte Birken entästete und überhaupt nicht daran dachte, daß sein Bruder in Bedrängnis geraten sein könnte. Da fiel sein Blick auf eine Krähe, die in einem Kiefernwipfel saß und sich ganz wunderlich benahm. Sie spielte sich auf und knappte mit dem Schnabel wie ein Auerhahn. Als er nähertrat, flog sie sonderbar taumelnd davon. Es war, als habe sie auf ihn gewartet. Weit ausschreitend lief er über die Höhenrücken und gelangte so zu seinem Bruder. Da war Groning schon aufgedunsen und halb verrückt vor Durst und Mückenstichen.

Granarv brachte ihm Wasser aus dem Bach, zersägte die Tanne und schleuderte die Teile des Stamms, die auf seinem Bein lagen, fort. Er half ihm zunächst auf alle viere und sprach verständig und langsam mit ihm. Dann half er ihm auf die Beine, und als Groning das bißchen Verstand, das er ursprünglich besessen hatte, allmählich wieder gebrauchen konnte, machten sie sich auf den Heimweg. Den Troll aber vergaßen sie.

Skord – denn er war das, das kann, ob nun früher oder später, jetzt gesagt werden – folgte ihnen und ließ den großen, grauen Porling, der an Gronings Schulter herabhing, nicht aus den Augen. Er rief wie ein Kuckuck, raschelte wie die heiseren Espen und knackte wie Käfer, alles, um Groning an sein Versprechen zu erinnern. Aber keiner der Brüder merkte etwas.

So kamen sie nach Hause zu der kleinen alten Frau, die sich um sie kümmerte. Aus dem Rauchabzug der Hütte qualmte es, und Skord saß hinter einer Tanne und sog den fetten Rauch ein, der genauso wie das köstliche Ohr roch. In der Hütte erinnerte sich indes niemand an ihn.

In diesem Herbst erging es der Alten und ihren Riesensöhnen dort oben in Oringen nicht gut. Wenn sie Feuer machten, schlug der Rauch in die Hütte zurück, weil sich im Abzug eine Krähe verfangen hatte. Kadaver fielen in die Quelle und trieben mit gedunsenem Bauch an die Oberfläche. Zu guter Letzt schlug die Axtschneide auf Stein und ward ruiniert.

Granarv wurde nachdenklich. Groning konnte nicht denken, aber sein Bruder tat es, so gut er eben konnte, und schließlich fragte er:

»Hast du irgend etwas versprochen, als du da unter der Tanne gelegen hast und freikommen wolltest?«

»Ach ja, verflixt noch mal«, antwortete Groning, »jetzt erinnere ich mich.« Und dann erzählte er, was er zu dem Troll gesagt hatte.

Da bat Granarv die Alte, ihre Mutter, einen großen Pfannkuchen zu backen, was sie auch tat. Den nahm er, brachte ihn in den Wald, legte ihn auf einen flachen Stein und sprach:

»Nimm du das Deine

so nehm’ ich das Meine

so ziehen wir unserer Wege.«

Daraufhin war Ruhe um die Hütte herum. Sie hatten wieder gutes Wasser in der Quelle, das Feuer auf dem Herd brannte, und Granarv schliff und schärfte die Axt haltbar und gut.

Skord blieb in dem Wald um die Hütte. Hin und wieder legte einer der Riesen ein Stück Pfannkuchen auf einen Stein oder warf einen Kanten Brot in den Wald. Die Hütte war kaum mehr als eine Erdhöhle, deren eine Wand der Berg bildete. Es war das erste Gebäude, das Skord zu Gesicht bekam, und er sah es mit Staunen. Wenn es in Strömen regnete, war es dichter als eine Tanne. Er bemerkte, daß sie trocken herauskamen, wenn es aufgehört hatte. Drinnen hatten sie den geheimnisvollen Rauch, der mit dem Guten zusammenhing, und außerdem hatten sie noch einen Holzeimer zum Wasserholen und einen Tontopf für die Grütze. Wenn die alte Frau an der Quelle die eingetrockneten Grützreste aus dem Topf kratzte, um ihn abzuspülen, lag Skord zwischen den Espenschossen auf der Lauer. Sobald sie weggegangen war, war er mit langen Fingern zur Stelle.

Dann kam der Winter, und da wurde es mit der Hütte auf einmal wunderlich. Von dem Rauch sah er selten mehr als hin und wieder einen kleinen, kümmerlichen Kringel, und nie roch es gut. Tagelang zeigten sich weder Granarv noch Groning, und wenn sie schließlich herausstolperten und an der Ecke pinkelten, sahen sie verquollen und schlaftrunken aus. Nie warfen sie jetzt etwas in den Wald oder an die Quelle, nicht einmal dann, wenn Skord seinen Schabernack mit ihnen trieb.

Allmählich entfernte er sich von der Hütte. Er streifte immer weiter weg. Schließlich erinnerte er sich kaum noch an das, was er in Oringen gesehen und erlebt hatte. Im Gehirn der Trolle ist nicht viel Gedächtnis. Da sind meist nur schwache Bewegungen und Schauder, so, wie wenn der Wind das blanke Wasser eines kleinen Waldsees kräuselt. Da ist ein Flattern, ein Wispern oder ein leichtes Flügelschwirren, und da sind Wurzeln, die sich umeinanderschlingen, abwärts winden und mit ihren feinen Flimmerhärchen etwas suchen. Sie finden jedoch so wenig. Es gibt so vieles, was vergebens ist, was ausfließt, was gegen eine blanke Oberfläche flattert, hinabgezogen wird und verschwindet. Es wird hinabgezogen, es versinkt im Schlamm und wird weiches, dichtes Dunkel.

Es war ja auch Winter, und das ist für alle, die im Wald leben, eine schwere Zeit. Beständiger Hunger und erfrorene Läufe, Wunden an den Beinen vom Harsch und ein schmerzender, klagender Magen. Man nagt an fast allem, einerlei, was es ist. Ebereschenschößlinge oder Zapfen, die der Kreuzschnabel hat fallen lassen. Man stochert in gefrorenem Aas und verdrückt einen kleinen, süß schmeckenden Bissen. Man saugt an den Nägeln. Doch das war er gewohnt. Das war nichts Besonderes. Wenn da nur nicht eine leise Unruhe gewesen wäre, ein Bedauern, das ihn innerlich manchmal fast krank machte. Es rührte von etwas her, was in seinem Gedächtnis vorbeiflatterte. Da mußte er sich wieder auf die Beine machen. Er arbeitete sich durch tiefe Elchspuren und lief des Nachts manchmal, solange der Harsch ihn trug.

Es war nämlich so, daß man keinen anderen schicken konnte, wenn man zu jenem Guten wollte, das es droben in Oringen in der Erdhöhle am Fuß des Berges gab. Dazu taugten weder Rabe noch Krähe. Da konnte man keinem Fuchs etwas in den Kopf setzen, daß er für einen übers Eis lief. Man mußte schon selbst stolpern und stapfen und sich vorwärts bewegen, mit laufender Nase und wunden Beinen, bis man dort war.

Aber dort war es vollkommen still.

Die Hütte lag unterm Schnee begraben, und es gab keinerlei Spuren. Da zog er in einen verlassenen Fuchsbau, hockte lange darin und lebte von dem, was sich unter seinen Nägeln und in seinen Ohren fand. Dann schlief er wie ein Bär und schließlich sogar noch tiefer. Er schlief, wie eine Tannenwurzel in gefrorener Erde schläft. Und er erwachte erst, als ihm etwas ins Gesicht tropfte. Da hatte die Sonne Löcher in den Schnee gefressen, und überall plätscherte es. Er hatte überhaupt keinen Magen mehr, nur noch eine Haut, die an der Innenseite des Rückens klebte.

Das Leben wurde von da an leichter. Er fand gefrorene Preiselbeeren unterm Schnee und scharrte Ameiseneier aus. Dann kam die Zeit, da in den Nestern Vogeleier lagen, und er hätte sich nun überhaupt keine Sorgen zu machen brauchen. Ein Tag hätte sich in den langen, lichtblauen Vorsommernachtsdämmerungen in den anderen geschoben. Er fand, was er brauchte, und manchmal sog er etwas ein, was süß schmeckte. Gleichwohl zog es ihn zu der Hütte. Er strich am Waldrand umher und spähte zu ihr hinüber. Es kam niemand, es ging niemand, und nie qualmte es aus dem Loch im Dach.

Gegen Sommer, als das Gras und der Bärenklau hoch um den Stein wallten, der am Eingang lag, traute er sich näher hin. Da entdeckte er, daß an der Türöffnung der Hütte ein langer Stengel mit hellroten Blüten hochgeschossen war. Skord verstand, daß der Stengel allmählich dort hineinwuchs. Als er still im Gras lag, merkte er auch, daß die Waldmäuse sich darin zu schaffen machten. Sie liefen hin und her, als ob sie schon zeit ihres Lebens dort gehaust hätten. Wespen waren dabei, irgendwo da drinnen im Dunkeln ein Nest zu bauen. Sie schwirrten mit gekautem Holz, das sie sich von einer alten Schlachtbank bei der Quelle holten, aus und ein.

Da stürzte die Hüttenwand aus moosbedecktem Torf und langen Tannenstangen, die sich an die Bergwand lehnten, ein. Es geschah eines Morgens, nachdem die Sonne gerade über das Tannenfell auf dem Kamm des Höhenrückens gestiegen war. Er konnte nun direkt in die Hütte sehen, und das war etwas sehr Merkwürdiges. Er wußte nicht, wie das, was er sah, hieß: der Tisch, den Granarv aus gespaltenen Stämmen zurechtgehauen, und die Steine, die er zu einem Herd hochgemauert hatte, um darauf Feuer zu machen. Mit einer Mischung aus Sand und Lehm hatte Granarv es fertiggebracht, daß die Steine zusammenhielten. Doch jetzt war an der Feuerstelle alles schwarz und ausgebrannt, und Skord verstand sehr wenig von dem, was er sah.

Er ging näher hin, denn er bemerkte jetzt viele, die unbekümmert oder mit den Gedanken nur bei dem, womit sie gerade beschäftigt waren, aus und ein schlüpften. Schließlich stieg auch er hinein. Das war gefährlich, aber er tat es trotzdem. Er trat näher und sah in die kalte Grube unter dem Herd, wo es aus der Asche noch immer nach Pisse roch. Er erkannte den Grütztopf und den Holzeimer sowie einen großen Löffel wieder, der aus einer Wurzel geschnitzt war. Axt und Säge aber waren fort.

Auf einer Bank lag ein Knochenhaufen, der mit einer braunen Hautkruste überzogen war. Die war geschrumpft und trocken, doch Skord erkannte den Kopf der alten Frau. Um sie herum lagen einige Stoffetzen, und anstelle von Augen hatte sie Höhlen. Er hatte schon früher Aas gesehen und war weiter nicht verwundert. Er verstand, daß diese Alte hier nicht mehr zetern würde, sie würde aber auch keine Grütze mehr kochen oder Pfannkuchen backen.

Rauch und ein Flattern. Dunstschwaden aus dem Moor in einer Sommernacht. Mottenflug über nachtfeuchtem Gras. Mehr ist nicht, wie gesagt, in den Köpfen der Trolle. Nicht viel Gedächtnis, nicht viele Gedanken.

Und dennoch, nachdem Skord von dem Guten gekostet und gesehen hatte, wie Granarv und Groning und ihre Mutter, die kleine alte Frau, sich eingerichtet hatten und wie sie miteinander sprachen und daß sie trocken blieben, wenn der Regen fiel, da begannen sich seine Gedanken um das Gute zu sammeln. Nun, das ist vielleicht zuviel gesagt. Aber sie ballten sich so nach und nach, sie klumpten sich, so wie sich aus der Sahne im Faß die Butter klumpt.

Früher war er stets weiter in den Wald hineingeflüchtet, wenn er Stimmen gehört hatte. Jetzt aber trieb er sich immer öfter in der Nähe der Pfade herum und lauschte auf die, die vorbeigingen. Das waren Wesen, die sehr viel kleiner waren als die beiden Brüder in Oringen. Sie waren ungefähr so groß wie die alte Frau, deren Mutter, als sie noch am Leben gewesen war. Aber es gab auch welche, die von einer noch kleineren Art waren. Skord hielt sich gern in deren Nähe auf, denn sie erschreckten ihn nicht so sehr wie die größeren. Er bemerkte, daß die Kleinen sich zusammengeschart hatten und daß sie Beutel bei sich trugen. In diesen Beuteln war etwas, was sie aßen; er wollte wissen, wo sie das holten, und ging ihnen schließlich nach. Auf diese Weise kam er in bewohnte Gegenden und bekam viele merkwürdige Dinge zu Gesicht. auf die er völlig unvorbereitet gewesen wäre, hätte er nicht die Hütte droben in Oringen gesehen.

Es stieg Rauch aus den Hütten und ähnlichem, was noch größer war und aus Baumstämmen bestand, denen man die Rinde abgezogen hatte. Dorthin gingen die Kleinen und hielten ihre Beutel hin, und oft bekamen sie etwas, worauf man kauen konnte. Er hatte Lust, sich ihnen anzuschließen, um etwas zu essen zu bekommen. Doch er hatte weder einen Beutel noch irgendwelche Lumpen, und er wagte es nicht, sich zu zeigen, aus Angst, sie würden merken, daß er von einer anderen Art war. Da kam ihm der Gedanke, daß er zu der Hütte zurückgehen könnte, wo die Knochen der alten Frau lagen, um deren Kleider zu holen; das tat er dann auch.

Er machte sich einen Beutel aus ihrem Rock und zog den Rest an. Sich den Kleinen anzuschließen, war jedoch gar nicht so leicht, wie er geglaubt hatte. Ihre Sprache verstand er. Er probierte auch zu sprechen, und es ging, obwohl es anfangs wie bei einem Star klang, der die Sprache der Menschen nachahmt, tonlos und pfeifend. Mit der Zeit hörte es sich besser an, und er sprach sogar für sich selbst verständlich.

Er lernte außerordentlich schnell, Geräusche nachzuahmen. Das tat er schon zeit seines Lebens im Wald. Es war aber trotzdem schwierig, in der Nähe der Kleinen zu bleiben. Die größten unter ihnen schlugen mit Stöcken nach ihm und warfen mit Steinen, wenn sie sein Gesicht im Dickicht entdeckten. Die Kleineren spuckten dann und beschimpften ihn. Er verstand bald, daß sie nicht noch mehr in ihrer Schar haben wollten. Außerdem fiel ihm auch auf, daß es immer die Kleinsten waren, die mit ihren Beuteln zu den Höfen geschickt wurden. Die Größeren blieben im Wald liegen und warteten, bis sie zurückkamen. Darm nahmen sie ihnen die Brotbrocken und ausgekochten Knochen weg und aßen sie selbst. Die Kleineren durften an dem nuckeln, was die Größeren hinter sich warfen, wenn sie weiterzogen. Sie aßen Beeren im Wald, und manchmal fand Skord, daß ihm die Kleinsten gar nicht so unähnlich waren. Sie hatten wie er Läuse in den Haaren, sie husteten, wenn es kalt war, und sie sprachen nicht viel.

Gar viele waren auf den Pfaden unterwegs. Manche von ihnen, etwa von der Größe der alten Frau, hatten keine Nase, und sie hatten die äußeren Fingerglieder verloren. Die Leute fürchteten sich vor ihnen. Skord hielt sie jedoch für weniger gefährlich als die Kleinen. Die Nase oder ein paar Fingerglieder zu verlieren, erschien ihm nicht als ein großes Bekümmernis. Er war es gewohnt, daß sich das bald wieder auswuchs. Er wurde sich jedoch klar darüber, daß Menschen – denn das waren sie, auch die Kleinen – ein ganz bestimmtes Aussehen haben wollten. Sie wollten einander sehr ähnlich sein und nicht morschen Baumstümpfen oder verwachsenen Stämmen, Füchsen oder bemoosten Steinen gleichen. Solche Ähnlichkeiten erschreckten sie. Skord versuchte sich zu pflegen, um in ihre Schar aufgenommen zu werden, doch sie spuckten nach ihm, und um seinen Kopf stoben spitze Steine. Er folgte ihnen trotzdem in einigem Abstand, und es kam vor, daß er an dem einen oder anderen nuckeln konnte, was sie hatten fallen lassen.

Eines Morgens erwachte er davon, daß ihm die Sonne ins Gesicht schien, und zur gleichen Zeit, da er seine kalten und vom Schlaf steifen Glieder reckte, hörte er Stimmen. Es waren zwei kleine Menschen, die miteinander sprachen. Zuerst lauschte er, so wie früher, ohne viel Ahnung von der Bedeutung der Worte zu haben. Er hörte nur, daß sie verständig und sanft miteinander sprachen. So etwas hatte er noch nie gehört. Es klang ähnlich wie die feinen Piepser, mit denen sich Zeisige oder Meisen leise und vertraulich miteinander unterhielten.

Er kroch nun aus dem Dickicht und erblickte zwei Kleine, die Brot aus einem Beutel zwischen sich aufteilten. Sie nötigten einander und wollten, daß das andere zuerst nehme und sich so satt wie möglich esse. Zum Schluß schüttelten sie die Krümel aus dem Beutelstoff, und in diesem Moment entdeckten sie Skord. Er versteckte sich schnell, denn er glaubte natürlich, daß ein Stein angerumst käme. Doch es kam keiner.

Eine Weile war es ganz still. Dann setzte, leise und eifrig, erneut das Piepsen und Zwitschern ein. Wieder wurde es still. Als er hinauslugte, hatten sie die Krümel auf einen Stein gelegt. Sie saßen da und sahen zum Dickicht, wo er sich versteckt hielt. Schließlich konnte er nicht mehr an sich halten, streckte die Finger vor und schnappte sich einige Brotkrümel. Nachdem er sie sich in den Mund gestopft hatte, sah er die Kleinen lange an und versuchte dahinterzukommen, was sie von ihm wollten. Sollte er eine Krähe nach einem Bruder von ihnen aussenden?

Doch sie äußerten nichts in dieser Richtung. Sie rafften den Stoff zusammen, der brüchig und voller Löcher war, und verknoteten ihn dann sorgfältig zu einem Beutel. Das Größere hängte ihn an seinen Gürtel aus Birkenrinde, und so trotteten sie schließlich weiter. Skord folgte ihnen und achtete darauf, was sie trieben. Er sah sie auf Höfe gehen und auch, daß sie nichts bekamen. Bissige Hunde schnappten nach ihren Beinen. Abends setzten sie sich an ein Bächlein und versuchten mit Birkenwedeln die Mücken abzuwehren. Sie tranken viel Wasser und suchten nach Farnwurzeln im Moos. Sie fanden jedoch nur bittere. Das Kleinere von ihnen fing an zu weinen. Von dem Sprechen und feinen Piepsen vom Morgen war jetzt nicht mehr viel zu hören. Sie schliefen schließlich, dicht aneinandergeschmiegt, bei einer Tannenwurzel ein, und er konnte sie im Schlaf wie Fuchswelpen winseln hören. Als es Morgen wurde, schliefen sie noch immer. Skord, der bemerkt hatte, daß sie nach süßen Wurzeln gesucht, dabei aber die falschen erwischt hatten, drehte nun einige Runden durch die Felsen und riß Tüpfelfarn aus, bis er eine Handvoll beisammen hatte. Er kratzte die Erdreste ab und legte ihn vorsichtig auf den Beutel neben den Schlafenden.

Als sie aufwachten und die Wurzeln entdeckten, sahen sie sich verwundert um. Vielleicht sahen sie Skords Augen dort im Dunkeln blitzen, denn sie sprachen in den Wald hinein. Er konnte des murmelnden Baches wegen jedoch nicht verstehen; was sie sagten.

Sie begaben sich wieder auf Wanderschaft, und an diesem Tag ging es etwas besser. Als sie von einem alten Weiblein, das in einer Hütte lebte, einen Brocken trockenes Brot bekamen, teilten sie ihn und legten ein Stück davon auf einen Stein. Skord traute sich nicht hinzugehen und es zu nehmen. Erst als die Dämmerung kam und die zwei Würmchen eingeschlafen waren, schlich er sich hin und schnappte sich den Brotkanten.

In dieser Nacht dachte er lange nach. Das war wie ein Versuch, mit den Händen Mücken zu fangen, ohne sie zu erschlagen. Er erwischte nicht viel. Doch schließlich stand er auf, sauste los und machte sich auf die Suche nach dem einen oder anderen von dem, wovon er sich zu ernähren pflegte. Und er fand richtige Leckerbissen. Ein paar schwarze Wegschnecken. Eine gelbe Larve mit harter, gegliederter Schale. Auch Borkenkäferlarven fand er, die er in ein großes, weiches Weidenblatt wickelte. Das legte er alles auf den Stein, und zog sich dann in den Wald zurück, aber nur so weit, daß er noch sehen konnte, was geschehen würde.

Sie schliefen noch. Skord hatte genügend Zeit, zu versuchen, seine schwärmenden und schwirrenden Gedanken einzufangen. Er saß da und überlegte angestrengt, warum er getan hatte, was er getan hatte. Er kam jedoch nicht auf die Antwort.

Als sie aufwachten und die Gaben entdeckten, sahen sie einander an und blickten dann in den Wald. Sie nahmen aber nichts von dem, was er ihnen hingelegt hatte. Das ging an mehreren Morgen so. Allmählich kam er dahinter, daß sie nur Farnwurzeln und Beeren nahmen. Er fand es merkwürdig, daß sie lieber hungerten, als daß sie sich satt aßen.

Sie hatten von weitem mit ihm zu reden angefangen. Sie fragten, wie er heiße, wer seine Eltern seien und wo er zu Hause sei. Wie leicht einzusehen ist, konnte er auf keine dieser Fragen antworten. Durch Zuhören hatte er jedoch gelernt, daß es gefährlich war, auf den Pfaden und Wegen umherzulaufen, wenn man auf solche Fragen keine Antwort wußte. Deshalb sagte er, was ihm gerade einfiel. Er sagte, daß er Skord heiße.

»Das ist aber ein komischer Name«, sagte das größere der Kleinen. Ich heiße Erker, und das ist meine Schwester, Klein Bodel. Wir sind in Markom zu Hause, wo unser lieber Vater und unsere geliebte Mutter nach den Hungerjahren an Schwäche gestorben sind. Unsere Großmutter hat sich unser angenommen. Aber sie ist jetzt auch tot. Sie ist an Altersschwäche gestorben, und wir müssen umherziehen und unseren Unterhalt erbetteln. Ist das bei dir auch so?«

»Ja«, sagte Skord. Er wußte nicht recht, was das alles bedeutete, prägte es sich aber genau ein.

»Dann tun wir uns zusammen«, schlug Erker vor, »denn so, wie du aussiehst, wirst du nichts bekommen, wenn du auf die Höfe gehst. Man würde dort glauben, du seist ein Tr…«

»Schweig jetzt«, sagte Bodel, und dann: »Komm an den Bach, Skord!« Nach einigem Zögern ging er zu ihr hin.

»Du ziehst jetzt deine Kleider aus und legst sie in das ruhige Wasser hier.«

Das tat Skord gern, denn für Kleider hatte er nicht viel übrig.

»Leg einen Stein darauf, damit sie nicht wegschwimmen.«

»Jetzt werden wir uns angucken, wie die Läuse an die Oberfläche treiben«, sagte Erker, und das taten sie auch. Bodel rieb die Kleider an einem Stein und hängte sie dann in einem großen Erlenbusch auf.

»Jetzt tauchst du selbst in den Bach«, sagte sie. Das wollte er nicht, doch so klein sie auch war, sie hatte eine gebieterische Stimme. Bald lag er im Wasser, wobei nur sein Kopf noch herausragte, und sie schrubbte ihn mit einem Wisch, den sie aus dem Seegras gebunden hatte, das in der klaren braunen Strömung wogte. Das Wasser spielte um Skords Schultern und kitzelte ihn am Bauch, und nachdem die erste Kälte vorüber war, fand er es angenehm, in den Bach eingetaucht zu sitzen.

Hinterher mußte er sich auf einen Stein setzen und trocknen lassen, und währenddessen holte Bodel ein kleines Messer hervor, das sie in dem Beutel verwahrte. Sie schnitt ihm die Haare, so daß sie ihm nur bis knapp über die Schultern und ein Stück über die Augen reichten. Er fühlte sich ganz nackt und eigenartig ohne seine Haare. Dann nahm sie das Messer und schnitt ihm die Nägel, so daß sie nicht mehr über seine Fingerspitzen hinausragten. Im stillen fragte er sich, womit er nun Borkenkäferlarven ausscharren sollte. Doch er sagte nichts, denn er fand es sehr angenehm, daß sie sich unablässig mit seinem Körper beschäftigte. Er wünschte, sie würde nie damit aufhören.

Nun wandte sie sich seinen Füßen zu. Er mußte sie eine ganze Weile ins Wasser halten, so daß sich der Schmutz auflöste. Dann schnitt sie ihm die Nägel. Sie machte das mit ihrem Messerchen so sauber, daß nichts blutete oder schmerzte. Als sie damit fertig war, schlug sie seine Füße in ein Stück Stoff ein, und als sie wieder zum Vorschein kamen, waren sie trocken und viel heller als die übrige Haut. Während Bodel das alles tat, hatte in Skords Kopf ein Gedanke zu flirren begonnen. Schließlich bekam er ihn zu fassen und konnte ihn in Worte von der Art umformen, die sie untereinander gebrauchten. Er fragte, warum sie das alles mit ihm mache. Da antwortete Klein Bodel:

»Ich mache das um Jesu Christi Barmherzigkeit willen.«

Daraus wurde Skord nicht schlauer. Er traute sich aber nicht weiterzufragen. Er dachte. daß sie wohl ihre Gründe habe. Hatte er doch schon Kleine gesehen, die von Großen mit einem Messer zugerichtet worden waren, damit beim Betteln mehr in ihre Beutel käme. Er dachte, daß sie ihm gern den Fuß abschneiden könne, wenn sie wollte. Dann könnten sie ihn auf die Höfe vorschicken. Als er das aber vorschlug, sagte sie nur:

»So ein Unsinn. Was würdest du denn ohne den Fuß anfangen?«

»Der würde sich bald wieder auswachsen«, sagte Skord.

Da fingen Bodel und Erker an zu lachen, und sie lachten derart, daß sie Skord mitrissen, der noch nie zuvor gelacht hatte und nicht wußte, was das für ein Kläffen war, das da aus ihnen herauskam und das er unwiderstehlich nachahmen mußte. Sie lachten alle drei, bis ihnen Tränen aus den Augen kullerten. Als Skord merkte, daß aus seinen Augen Wasser trat, bekam er zuerst Angst, doch dann lachte er noch mehr. Schließlich sagte Klein Bodel, daß sie zu lachen aufhören und wieder anständig werden müßten. Nach einer Weile gehorchten sie ihr und wischten sich die Tränen ab.

Sie lachten. Sie bekamen Essen in ihre Beutel und teilten es mit Skord. Sie sprachen miteinander, so daß immer ein freundliches Summen um sie herum war. Sie hatten aber auch etwas Seltsames an sich, etwas Schrumpfiges, aus dem er nicht klug wurde. Wenn sie gewollt hätten, dann hätten sie sich wie die Eichhörnchen bewegen können. Er machte es ihnen vor. Aber sie wollten unbedingt auf dem Boden bleiben und da am liebsten einen Pfad entlangtrotten.

Wenn er des Trottens müde wurde, schlüpfte er in die Gestalt eines Bussards und erhob sich über den Wald. Da sah er noch andere Grüppchen schrumpfiger Figuren mit Beuteln und Stöcken. Er sah aber auch schwarze Waldseen und Regen, der über die Wälder und die windumwehten Schädel der Berge zog. Die Kinder holten ihn mit ihrem Rufen wieder aus der blauen Luft herunter. Sie sagten, daß er faul im Moos auf dem Rücken gelegen habe. Sie glaubten, er sei dort, wo sein Knochenhaufen und seine Fleischfetzen waren.

Lange vor ihnen spürte er, wenn sie sich einer Stelle näherten, wo Leute lebten. Eine solche Lichtung umgab eine starke Witterung. Bodel und Erker fürchteten sich, wenn im Mondschein ein harter Glanz auf den Tannenzweigen lag und wenn das Wasser der Waldseen nachts schwarz schimmerte. Wenn sie die Spuren eines Bären sahen, der nichts von ihnen wollte, fingen sie zu zittern an. Aber auf die Höfe, dorthin gingen sie nahezu furchtlos. Gegen die wütende Hofhündin streckten sie mutig den Stock vor. Was wußten sie denn über die, die dort wohnten? Der Bauer konnte ein Bär sein, eben erst aus dem Winterschlaf erwacht. Die Bäuerin war womöglich eine Kreuzotter auf einer warmen Felsplatte. Sie traten unter die Steinmäuler und Spitzklauen, hinein zu den harten Kinnladen und fleischigen Sprechzungen.

Er versuchte, ihnen den Befehl einzugeben zurückzukommen. Aber sie waren nicht wie Füchse oder Krähen. Sie gingen ihre eigenen Wege. Er lag oben am Waldrand und spähte aus, was die Leute in den Häusern trieben, und da sah er so einiges. Das Schlangenmaul, die Frau des Hauses, hatte ein Holzscheit umwickelt, wiegte es vor dem Feuer und heulte dabei wie eine Wölfin. Das sah grauenhaft aus. Bodel lehrte Skord jedoch, daß alles nicht das war, wonach es aussah. Der Bauer zog nicht mit der Sense aus, um Wühlmäusen den Hals abzuschneiden. Auch stopfte er die Wühlmäuse nicht in Töpfe, nachdem sie zu bluten aufgehört hatten. Noch weniger tat er das mit Kindern.

»Aber mit Schweinen«, bemerkte Skord. Und das bestritt sie nicht.

Er konnte auch nicht verstehen, warum die Leute immer über Stöcke und spitze Eisen gebückt gingen, warum sie den Boden aufwühlten und das Gras abschnitten und die Zweige von den Bäumen schlugen. Da erzählte Bodel, daß die ersten Menschen, die es auf der Welt gegeben habe, in einem Wald ohne Dickicht und Gestrüpp gelebt hätten, einem Wald, in dem nur edle Bäume wuchsen. Dort spielten Linden und Haselbüsche mit goldenem Laub. Dort lagen an Quellen, die Silberbergen entsprangen, Wölfe und leckten junge Häschen. Dort gab es einen Baum mit Früchten, von denen sie um SEINETWILLEN, des Hausherrn, des LIEBEN GOTTES IM HIMMEL willen, nicht essen durften. Da kam aber eine Schlange gekrochen und zischte mit ihrer abscheulichen Zunge der Frau zu, daß sie eine Frucht, Apfel geheißen, pflücken und essen und dem Mann zu kosten geben solle.

Nachdem sie das getan hatten, wurden sie zu den Kriebelmücken und Schnaken und allen anderen Arten von Erbärmlichkeit vertrieben. Seither seien alle Menschen bis zum JÜNGSTEN GERICHT der Knechtschaft unterworfen. Dann sagte Bodel mit lauter Stimme folgende Worte auf, die Skord ebensowenig begriff wie die vorherigen:

»Im Schweiße deines Angesichts sollst du essen dein Brot,

erleiden auf Erden gar manche Not,

und wenn du den Boden bestellst, um zu leben,

soll Disteln und Dornen er dir nur geben.«

Immer und immer wieder bat er sie, diese Worte aufzusagen, wenn sie am Abend still waren, und er lächelte, als lauschte er dem Drosselschlag, wenn er sie hörte.

Bodel und Erker hatten eine Zeitlang einer jener Kinderscharen angehört, die mit ihren Beuteln auf den Wegen dahinzogen. Da war es ihnen jedoch schlimm ergangen. Jetzt schlugen sie sich auf eigene Faust durch, und wenn sie auf andere Gruppen trafen, versteckten sie sich im Wald. Skord trottete mit ihnen, und es stellte sich bald heraus, daß er ihnen nützlich sein konnte. Er verscheuchte die anderen. Eine Weile pfiffen ihm die Steine um den Kopf, doch dann trollten sie sich. Die Dörfer lagen weit voneinander entfernt, und der Wald erschreckte die beiden Kinder. Skord dagegen war dort zu Hause. Er verscheuchte das, was nachts in den Büschen raschelte. Sobald sie zu einem Dorf kamen, sank sein Mut jedoch.

Das einzige Haus, das er je betreten hatte, war die eingefallene Hütte droben in Oringen gewesen, wo die alte Frau tot gelegen hatte. Er konnte nur schwer begreifen, wozu es Häuser gab. Freilich waren sie dichter als Tannen, wenn es regnete. Er sah jedoch Leute, die sich mit großen Stücken von Birkenrinde auf den Schultern schützten, folglich waren Häuser eigentlich unnötig. Aus ihren Öffnungen quoll ein durchdringender Geruch. Er hielt sich abseits, wenn Erker und Bodel dorthin gingen. Seine große Angst war, daß man die beiden Kinder einmal in einem Haus gefangenhalten würde und sie nicht mehr herauskämen, sondern wie die alte Frau auf einer Bank vertrockneten und zu Knochen ohne glänzende Augen, ohne Wärme und ohne Fleisch würden.

Er war jedoch neugierig, und besonders wenn es nach dem Guten roch, ging er näher hin und versuchte, durch die Öffnungen hineinzulugen. Auf diese Weise kam er schließlich dahinter, wozu Häuser gut waren, und mit der Zeit auch darauf, was sie darstellten.

Dort drinnen hielten sie nämlich das Feuer gefangen.

Das wütende und tosende Feuer, das einen ganzen Wald niederbrennen konnte, so daß nur schwarze Erhebungen, rauchende Baumstümpfe und die Wühlmauslöcher im Erdboden übrigblieben, dieses Feuer hatten sie gefangen. Sie hielten es in einem Loch eingeschlossen oder auf Steinen festgezaubert. Es verbrannte sie nicht. Es warf sich nicht mit züngelnden Rachen über die Eingeweide der Häuser, sondern wärmte freundlich wie Sonnenschein über einer Wiese und erhellte schön die Gesichter. Sie hielten es in Ehren und gaben ihm Holz und Reisig. Zum Dank erwärmte es ihre Kessel und Bratpfannen. Sie waren fast übermütig mit dem Feuer, so, wie es ein kleiner Kerl mit einem großen Stier oder einem Hengst sein kann. Er kann den Stier an einem Nasenring führen und das Pferd am Zaum halten, auch wenn ihm grüner Geifer und Zorn ums Maul schäumen. Sie hielten Flämmchen in Käfigen, die sie umhertrugen und sich damit leuchteten.

Aus Neugier ging Skord schließlich in ein Haus hinein, obwohl ihm der Schreck in den Gliedern saß. Drinnen war es dunkel, und auf dem Herd glomm das Feuer. Der Rauch stieg mit Funken zu einem Loch in der Decke auf. Skord guckte in das Loch und verstand plötzlich alles.

Sie hatten das Loch gemacht, damit das Feuer dorthin gelangen konnte, wohin es wollte, und gleichzeitig bei ihnen blieb. Diese Ströme von Funken flogen zwischen ihnen und der Sonne hin und her. Er wußte nicht mehr, in welche Richtung sie flogen. Von der Sonne her? Zur Sonne hin?

Jetzt wußte er, wozu es Häuser gab.

Hier drinnen pinkelte man nicht auf den Boden. Die Tiere, die es nicht besser wußten, taten es natürlich, die Ferkel und die Welpen. Die Hühner schienen die Bedeutung des Ortes ebenfalls nicht zu verstehen. Sie waren hier als Tiere des Waldes. Denn jetzt verstand Skord, daß das Haus als ein Gleichnis des Waldes gebaut war. Die Stämme erhoben sich gen Himmel. Der Boden war mit raschelndem, trockenem Gras und Nadeln bedeckt. Unter dem Himmelsloch. das ihre Sonne war, hatten sie einen Steinhaufen hochgemauert. Die Tiere gingen unwissend ihren Verrichtungen nach. Nur die Menschen wußten, was sie gemacht hatten. Sie liebten Gleichnisse. Sie hatten ein Bild des Waldes gemacht. Hier drinnen war er kein grüner Wirrwarr, kein Dickicht und kein Gestrüpp und keine Unwegsamkeit, sondern Ordnung. Sie hielten die Sonne im Zaum und den Mond am Nasenring. Sie hatten Wasser im Eimer und nicht von Felsplatten herabstürzend. Sie waren vernünftig und schlau und über alles Erdenkliche hinaus geschickt. Sie hatten sich sogar im Wald Höhlen gebaut, und dorthinein verkrochen sie sich, wenn die Dunkelheit kam. Wie die Bären und Füchse vergruben sie Nahrung und holten sie wieder hervor, wenn sie essen wollten.

Im Innersten des Hauses kümmerte sich eine bucklige Alte um das Feuer. Skord verstand, daß sie das mächtigste Wesen hier sein mußte. Sie stocherte mit Zangen und Haken in der Glut. Sie fütterte das Feuer und stillte seinen Hunger, fachte es wieder an und schien damit zu spielen, stets mit finsterer und verschlossener Miene.

Als Entgelt für das Essen, das sie bekamen, mußten Erker und Skord mit einem scharfen Eisen, das an einem Stiel saß, Brennholz hacken und es zu der kleinen alten Frau am Herd hineintragen. Skord war voller Verwunderung, und in seiner Brust wogte und regte es sich heftig, als er in das Haus trat. Gleichzeitig empfand er aber auch Beklemmung und Angst und wollte rasch wieder hinaus. Als die Alte am Feuer sie anschrie, brach ihm vor Schreck der kalte Schweiß aus. Einmal lief er sogar Hals über Kopf davon und blieb im Wald. Er wollte Feuer, Häuser und Menschen vergessen. In dieser Nacht lag er unter einer Tanne, lauschte dem Ruf des Uhus und hörte das Wasser unter den Steinen im Boden murmeln. Es klang für ihn wie menschliche Sprache, wenngleich unverständlich und durcheinander. Das marterte sein Gehirn ärger als die Stimme der Alten am Feuer. Er kam von der Sprache der Menschen nicht los. Am Morgen sehnte er sich nach einem Kanten Brot. Als er sich im Wald etwas zu essen suchte, schmeckte alles bitter und abscheulich. Wieder hörte er Stimmen. Es klang, als hätten Erker und Bodel sich zwischen den Bäumen verlaufen und als sprächen sie miteinander, durcheinander und ängstlich.

Gegen Abend riefen sie tatsächlich nach ihm. Nun war er sich sicher, daß es nicht das Murmeln des Baches war, was er hörte, und er lief ihnen entgegen. Als sie einander trafen, weinte Bodel.

Sie war so klein, und sie war so klug. Auf ihrem Kopf saß eine graue Mütze aus verfilzter Wolle, die mit einem Stück Stoff festgebunden war, unter der Mütze war blondes, geflochtenes Haar und darunter der gewölbte Knochen des Schädels. Und in diesem Kopf hatte sie all ihr Wissen.

Sie wußte alles, was es über die Welt zu wissen gab.

Überhaupt: etwas über die Welt zu wissen. Das fällt einer Schnake nicht ein, oder einem Fuchs. Genausowenig war Skord das eingefallen. Menschen hatten dagegen viele Bilder von der Welt, und die Bilder steckten voller Bedeutung.

An Weihnachten hängten sie in ihren Häusern Stoffbilder an die Holzwände. Auf diesen Wandbehängen war ein Gewimmel von Figuren, die die Ordnung der Welt und der Himmel darstellten. Genauso sah es unter Klein Bodels Schädelknochen aus.

Im Wald flochten Rosmarinheide und Rauschbeergestrüpp ihr Muster ins Moos, die Moosbeerblüte schmückte es aus, und die zitternden Fäden des Riedgrases mit den aneinandergereihten Regenperlen schoben sich in das Bild. Eine Bedeutung konnte man darin jedoch nicht erkennen. An bestimmten Tagen ließ sich nicht einmal das Muster ausmachen. Nein, im Wald lebte man in einem grünen Wirrwarr, in schwarzen Moorlöchern, in raschelnden Laubkronen, in Löchern und Spalten, im Moos und in wippenden Reisighaufen.

In der Welt lebte man auf der Erdscheibe. und die war wie eine Platte aus Holz, auf der man Fleisch vorlegt. Sie reichte bis zum Rand des Meeres. Dort kaute ein Ungeheuer mit borstigem Schädel Schlamm, Behemoth geheißen. Dort schwamm ein Untier mit körnigem Schädel. Menschengebein hing aus seinem Maul, Leviathan geheißen.

Dorthinaus segelten Schiffe wie weiße Schwäne und gingen elend zugrunde. Diejenigen Menschen aber, welche mit den Beinen auf der Erde blieben, wohnten in Häusern, hatten einen Herd und einen Abzug, schliefen in Betten, benutzten Balken hinter den Häusern, melkten Ziegen und Kühe, stellten Käse her. Sie pflügten Furchen in die Erde, so daß sie schwarz wurde, säten Gerste, schwenkten Seile über den Ackerstreifen, um den Frost zu vertreiben, stellten gegen alles Böse, das durch die Luft flog, mit Laub geschmückte Kreuze auf, schnitten das Getreide, wenn es reif wurde, zermalmten es zwischen Steinen, buken Brotlaibe und aßen.

Das war eine umständliche und mühsame Art zu leben, mit Vorbedacht, vernünftig und voller Voraussicht. Im Winter hatten sie an der Decke getrocknete Fladenbrote auf einer Stange, gesalzenes Fleisch in Bottichen und Rüben, die sie in Sandmieten vergraben hatten.

Allein sich daran zu erinnern, wo das alles vergraben und weggepackt war!

Da zischte Bodel und brachte ihn zum Schweigen. Natürlich erinnere man sich daran, wo man das Essen habe.

Skord wußte, daß Marder und Hermeline im Winter auf den Beinen waren und im Schnee umherrannten. Er kannte aber auch viele, die in Reisigbauen und Höhlen schliefen. Er selbst war der Meinung gewesen, daß es das beste sei, zu schlafen, bevor der Magen ernsthaft zu brennen anfing und solange man noch ein bißchen Fett auf dem Leib hatte. Sich auf dem Harsch zu zerschneiden, war ja auch kein Vergnügen.

Da ziehe man Schneeschuhe an, sagte Bodel. Zuerst das Schuhzeug natürlich. Danach Schneeschuhe aus Weidenruten und Riemen. Sie legten ein Gitter auf den Schnee, so daß man nicht zu den Wühlmäusen darunter einsank.

Warum sollte man denn die warme Stube verlassen?

Um nach seinen Fallen zu sehen.

Da wurde Skord übel. Er sah Blutstropfen auf dem Schnee, starre Augen, verhedderte und gebrochene Glieder.

Ich gehe niemals in Häuser, dachte er. Ich setze nie eine Mütze auf.

Er wurde jedoch nicht müde, Klein Bodel von der Welt erzählen zu hören.

Dort strebe alles zum Himmel, sagte sie. Er brauche sich nur anzusehen, wohin die Brunnenstange zeige.

Ganz zuunterst im Humus seien wie Würmer kriechend, rührig und emsig, diejenigen, welche die Erde lockerten und den Kuhmist verbreiteten.

Über ihnen stehe der Aufseher. Der habe kurze Jackenschöße, und er gebrauche die Peitsche, wenn man ihm nicht gehorche.

Über ihm kämen jene prächtigen Reitpferde, die der HERR selbst benutze. Das glaubte Skord, doch Bodel sagte, daß keine Kreatur über dem Menschen stehe, nicht einmal diejenige, die mit Silberbeschlägen am Zaumzeug ausgestattet sei, vor Eifer grünen Geifer kaue und zierliche kleine Hufe habe. Diejenigen, welche Lehmklumpen an den Fersen hatten und mit Pflug und Hacke am Boden entlangkrochen, standen also über den feingliedrigen Pferden mit den bestickten Satteldecken?

Ja, denn sie hatten Seelen.

Was waren Seelen?

Seelen seien wie Motten im Moor in einer Sommernacht. Fänden sie einen Körper, in dem sie sich einnisten könnten, so erleuchteten sie diesen von innen heraus wie eine Tranfunzel aus Horn. Die Seelen der Toten flatterten des Nachts in den Mooren und über den schwarzen Schwenden.

Skord sagte, daß er Seelen gesehen habe, die versucht hätten, durch die Haut von Elchen zu dringen, obwohl die so ein hartes Fell hätten.

Das, meinte Bodel, sei Unsinn. Nichts von dem, was er im Wald gesehen hatte, zählte als Wissen.

Er fragte, wer auf der gen Himmel weisenden Brunnenstange über dem Aufseher stehe.

Das sei die HOHE FRAU mit dem weißen Gesicht und der Haube, die ihr gesamtes Haar verberge, sie, die keine Augenbrauen habe.

Über ihr stehe der HERR. Er reite ein Pferd zuschanden, wenn er es wolle. Er habe Stiefel aus weichem Hirschleder.

Über ihm der BISCHOF, der in einem Haus aus klarstem Glas lebe und seine Eier aus einer goldenen Tasse löffle, über dem BISCHOF der PAPST in Rom, der der Vater aller sei und einen roten Stein in einem Ring am Zeigefinger trage. Küsse man den, werde man von der Pest geheilt.

Über dem PAPST in Rom?

Der LIEBE GOTT im HIMMEL, antwortete Bodel, begann dann aber über etwas anderes zu reden. Dies war ihr Wissen über die WELT über ihr und über den HIMMEL. Mehr wußte sie über die WELT nach den Seiten hin und in den Ecken und darunter und in der Art auch einiges über den HIMMEL.

Zu Seiten im HIMMEL sitze der HEILAND, der SÜSSE, aus dessen Wunden Blut und Honig tropften.

Ein Stück weiter unten zur Seite wohne die GOTTESMUTTER. die JUNGFRAU. die UNBEFLECKTE ROSE. Maria. Wenn sie weine. lege sich Tau aufs Gras. Sie liege auf Bettstroh aus duftenden Blumen. Sie sitze auf dem Zauntritt und zeige ihr kleines, rundes Knie. Werde man von einer Biene gestochen, könne man sie anrufen.

Sie sei eine HOHE FRAU, wenngleich mit noch weißerer Haut. Allen, die zur Tür hereinkämen, gebe sie Brot. Ein Bauer, der Haus und Hof verlassen habe und umhergezogen sei, habe ihr, Bodel, gesagt, daß die JUNGFRAU die Erde aus ihrem runden, weißen Bauch geboren habe. Wenn man das sage und glaube, werde man auf einen Scheiterhaufen aus Reisig gesetzt und verbrannt. Der LIEBE GOTT, der die Himmel und die Erde erschaffen habe, möge das nämlich nicht.

ER dulde aber, daß man die GOTTESMUTTER gegen Hunger und Wespen und Missetäter und Schlangenbisse und Schüttelfrost und fauliges Heu und schlechtes Wasser und verdorbenes Fleisch und Ohrenschmerzen und Sommerdürre und Fehler im Gewebe und wenn der Pachtzins bezahlt werden müsse und gegen Risse in der Daumenfalte und verlaustes Bettzeug und die Pest um Hilfe bitte.

Maria, die Rose des Himmels, sei die Holdseligkeit alles Lebendigen. Sie sei angewärmte Milch und ofenwarmes Brot. Sie sei die Käseklumpen in der Molke der Welt. Sie sei mollig und warm wie die Flanke einer Kuh und trocken und glatt wie Stroh. Sie sei rein wie eine Quelle im Wald, weich wie eine Gänsebrust und klar wie ein Tautropfen auf einem Blatt. Sie sei das Leben alles Lebendigen und das wahre Glück, und Skord fragte, ob sie wie Pfannkuchen sei.

Wenn es regnete, durften die Kinder in Schuppen schlafen, wenn sie artig darum baten. Sie wollten, daß Skord mit ihnen hineinkam, doch er traute sich nicht. Er lag draußen und lauschte durch das Geplätscher hindurch, das vom Dach aus Birkenrinde herabkam, auf ihre leisen Stimmen. Es raschelte in trockenem, feinem Gras, und ein Geruch nach Blumen und starken Kräutern drang, vermischt mit dem Duft nach Wolle, heraus. Es waren Schafe dort drinnen. Er konnte ihre Pansen rumoren hören. Die Stimmen der Kinder verstummten. Das Wiederkäuen der Schafe und das Geraschel von Rattenfüßen auf dem Fußboden waren das einzige, was er hörte. Wäre es hinter diesen Wänden nicht so bedrückend gewesen, dann hätte er gern bei ihnen geschlafen.

Eines Nachts fand er einen Verschlag ohne Wände. Es war lediglich ein Dach auf Pfosten. Er ging hinein und setzte sich gleich neben einem Eckpfosten auf den Erdboden. Unter dem Dach lagen steife, abgebalgte Häute. Er kauerte sich zusammen und horchte auf den Regen, der durch die Kiemen der Tannen tröpfelte. Die Welt war Wasser. Durch Gras und rote Erde sickerte es hinab in den kalten Kies. Unter dem Dach war es trocken, doch fiel das Atmen schwer.

Als er zusammengerollt in dem Geruch von Häuten lag, die bereitet werden sollten, befreite sich seine Seele aus der Dumpfheit seines Brustkorbs. Sie schlich hinaus in das graue Licht und schlüpfte in Pfoten. Sie hielt einen kalten Nasenspiegel in den Wind. Der blies heftig und heulend. Skords Seele schlich wie ein Iltis zwischen den Steinen umher. Da kam sie zu einem Haus im Wald. Das war kaum größer, als daß ein Fuchs darin Platz hatte, und es war auch tatsächlich ein Fuchskörper darin; es roch nach Fuchsangst und Fuchspisse. Skords Seele fragte den Fuchskörper, was er dort zu suchen habe.

»Laß mich heraus, dann wirst du es erfahren«, sagte der Körper.

»Das kann ich nicht«, erwiderte die Seele. »Wenn du es mir aber erzählst, werde ich morgen wiederkommen und meine Hände mitbringen. Dann werde ich den Riegel zurückschieben und dich freilassen.«

Damit gab sich der Körper zufrieden.

»Ich kam her, um mir einen Vogel zu holen«, sagte er. »Aber der Piepmatz ist mir sauer angekommen. Geh niemals in Häuser!«

Skords Seele schlich weiter durch die Nacht. Sie sah die Waldohreule schlagen und hörte die Wühlmaus fiepen. Sie hörte das Wasser des Sees mit sanfter Zunge an den Steinen lecken. Als sie zu dem Verschlag mit den Häuten zurückkam, setzte sie sich neben Skords schlafenden Körper und wußte nicht, ob sie wieder in ihn zurückkehren sollte. Da entdeckte sie, daß die Häute, die auf dem Erdboden gestapelt lagen, Körper gewesen waren. Sie waren nicht mit Schnäbeln, Klauen oder Tatzen geschlagen worden. Sie reagierten nicht auf ihre Fragen, und ihre Augenschlitze waren leer.

Am Morgen erwachte Skord in sich selbst. Er erinnerte sich an das Versprechen, das er dem Fuchs gegeben hatte, und beschloß, sogleich in den Wald zu gehen und ihn freizulassen. Eine Bekanntschaft wie die mit dem Fuchs konnte von großem Nutzen sein. Als er jedoch auf den Vorplatz trat, sah er den Fuchskörper an einer Schuppenwand hängen. Er hatte einen Schlag bekommen, der den Schädel unter der Haut zertrümmert und die Augen aus dem Kopf gedrückt hatte. Er war an den Hinterläufen aufgehängt, aus seiner Schnauze rann Blut, und sein buschiger Schwanz war schlaff.

Skord schläft tagsüber unter einer Tanne. Er betritt keinen Verschlag mehr. Er schläft im Geruch von sonnengetrocknetem Harz, und sein Körper ist warm. In der Ferne hört er Stimmen. Die Espen schütteln alle ihre steifen Blätter, der Brunnenschwengel kreischt. Skord schläft wie die Hofhündin mit glänzenden Augenschlitzen, und er hat seine Ohren, die vom Geräusch von Eisen in Holz und Peitschen in Wunden schmerzen, gespitzt. Die Vögelchen über seinem Kopf sind mit ihren Dingen beschäftigt, und sie kümmern sich um ihn nicht mehr als um einen mit Flechten überzogenen Stein.

Wenn es Nacht wird und die Motten weiß in grauem Licht flattern, geht er los, Hände und Füße nimmt er mit. Der Waldsee dampft. Aus den Moorlöchern wirbelt Dampf empor. Sie kochen ein Gebräu, das niemals gar wird. Er zupft Schnecken aus Schleim, Puppen aus Hüllen, Larven aus gekräuseltem Laub. Die Waldohreule schlägt, und die Wühlmaus fiept. Das Wasser des Sees leckt, sanft und vertraut, an den Steinen. Es ist die gleiche Nacht wie immer. Das Moor braut, und der Dampf quillt aus sumpfigen Senken und kalten Löchern.

Am Morgen ist er wieder unter der Tanne, schläft im tröpfelnden Regen. Er hört Stimmen in der Ferne und riecht den Gestank nach Blut und Mist, Bratendünsten, fettem Speck, rußigem Rauch und verrottetem Stroh. Ein Fuchs geht unter den Tannen vorbei, schützt sorgsam seinen Pelz vor dem Regen, das Maul nach oben verzogen. Seine Augen schimmern gelb. Ohne die Zunge hinter der weißen Zahnreihe zu bewegen, sagt er:

»Geh niemals in Häuser!«

Skord und Klein Bodel sprachen oft miteinander. Sie konnten sich natürlich zurufen, daß es in einer Quelle Wasser gebe oder daß sie Spuren von Wolfspfoten in der Erde gesehen hätten. Das war aber etwas anderes: dazusitzen und miteinander zu sprechen. Bienen stellten, wenn sie in Waben aus- und einflogen, Honig her. Worte stellten Vertraulichkeit her.

Skord war es schon immer leichtgefallen, Sprache nachzuahmen. In der ersten Zeit kam es vor, daß seine Stimme, genau wie bei einem Star, am Ende eines langen Satzes tonlos wurde. Jetzt aber fanden sich in seinem Kopf Worte. Sie lagen bereit und warteten darauf, daß es Abend würde und Bodels Worte angeflogen kämen. Dann schrien und zwitscherten und heulten sie.

Es war richtig Sommer. Noch spät am Abend wärmte die Sonne den Rücken. Die Menschen waren freigebiger als im Frühling, wenn die Scheuern leer waren. Skord und Bodel konnten oft abends dasitzen und miteinander sprechen. Ihre Mägen taten nicht weh.

Bodel saß da und pusselte mit Sachen herum, die sie auf der Erde gefunden hatte. Es waren Hölzchen, Zapfen und Steine, die sie anordnete und betrachtete. Manchmal sah sie ihn mit einem Lächeln an, so als meinte sie, er würde das, was sie da vor sich liegen hatte, auf eine besondere Art verstehen. Es waren Hölzchen über Kreuz und im Viereck und zu Häufchen aufgestapelte Steine. Er fand das wunderlich und kümmerte sich weiter nicht um das, was sie da trieb. Ihre Worte aber verstand er.

Sie hielten sich schon lange in der Nähe eines Dorfes auf, wo die Leute ihnen Brot und Grütze dafür gaben, daß Erker Holz hackte, in den Viehtriften Mist zusammenfegte und ihn auf einen Haufen packte. Es gab fast nichts, womit Menschen so sorgsam umgingen wie mit Mist, dem der Kühe und ihrem eigenen. Sie versuchten sogar, der Ziegenkötel habhaft zu werden. Bodel sagte, daß vom Mist die Erde fett werde und daß sie ihn im Winter auf Schlitten zu den Ackerstreifen brachten und dort ausbreiteten. Wenn er in der kräftigen Frühlingssonne durch den Schnee fließe, sei er besonders wirksam. Niemand hinterließ das, was aus seinem Körper kam, einfach irgendwo. Man setzte es unter einem Balken ab oder in einem der vielen Häuser.

Es war ein Dorf mit vielen Gebäuden. Eine Viehtrift, die Tå genannt wurde, schlängelte sich hindurch, es gab Brunnenstangen, die nach oben wiesen, Vorratshäuser, Scheunen und Steinkeller. Der Hof, auf dem Erker hackte und fegte, lag am Rand. Skord wagte es nicht, mit ihm dorthin zu gehen. Er hatte gesehen, wie der Bauer einem Pferd über den Rücken geschlagen hatte. Die Stimme des Bauern war laut, und die Leute taten, was er sagte. Sie duckten sich, wenn er in ihre Nähe kam.

Bodel und Skord saßen oben am Wald, am Rand eines Ackerstreifens, der Brand genannt wurde. Sie sprach mit ihm, doch sie beschäftigte sich auch mit etwas anderem. Sie hatte Hölzchen in einen Tannenzapfen gesteckt. Manchmal blickte sie auf den Hof hinunter, wo sich Mensch und Tier in dem kurzen, sonnenversengten Gras bewegten. Dann steckte sie noch einmal Hölzchen in einen Zapfen. Skord fühlte sich beklommen, als sie über ihre Anordnung lächelte. Er begriff nicht, was sie belustigte.

Jetzt kam unten zwischen den Häusern ein Mann angetrottet. Er führte einen Stier am Nasenring. Es war ein kleiner, kurznackiger, zottiger Stier mit einem weißen Stern auf der Stirn. An der Hauswand stand der Bauer mit einer Kuh, die er an einem Halfter hielt. Sie hatte einen Senkrücken und sah sich nach hinten um, als der Stier kam. In der brütenden Hitze konnten sie das Geschrei der Männer hören, ihre harten, ungeduldigen Stimmen. Schließlich stieg der Stier mit den Vorderbeinen auf die Kuh, ganz genau so, wie die Elche es immer taten, wenn sie ihre stinkenden Brunftmulden gruben. Da lachte Klein Bodel auf und vollführte etwas mit ihren Zapfen. Als Skord hinguckte, sah er, daß sie den einen halb auf den anderen gestellt hatte.

Da gingen ihm endlich die Augen auf. Sein Blick glitt von dem Tannenzapfen mit den Hölzchen zu dem Stier dort unten. Er sah die Kuh, und er sah den anderen Tannenzapfen mit ebenso vielen Hölzchen. Da fing er an zu lachen. Er kugelte sich sogar auf dem Boden vor lauter Lachen.

Plötzlich nahm Bodel den einen Zapfen von dem anderen herunter. Da geschah etwas dort unten. Der Stier schob sich von der Kuh herunter, und sie wurden voneinander weggeführt.

Sie machte Bilder! Endlich begriff er, was sie mit den Dingen, die sie vor sich auf die Erde gelegt hatte, trieb. Aus Hölzchen errichtete sie Häuser, aus Steinen baute sie Brunneneinfassungen, aus Zweigen legte sie eine umfriedete Koppel und aus Zapfen fertigte sie Kühe und Pferde an. Sie baute den ganzen Hof dort unten nach, wenn auch kleiner. Gerade in dieser Kleinheit lag etwas, was sie mit Freude erfüllte, und Skord erging es genauso, als er jetzt endlich verstand. Langsam ahnte er, weshalb die Menschen so gern Gleichnisse und Bilder machten. Wohl nicht nur deshalb, weil es schlau war. Es verlieh auch Macht.

Sie forderte ihn auf, ihr dabei zu helfen, nun das ganze Dorf vor ihr aufzubauen, doch er besaß von jeher kein großes Geschick, mit kleinen Sächelchen umzugehen. Sie zerbrachen oder blieben ihm unter den Nägeln hängen. Bodel brachte ihm bei, wie vorsichtig man sie anfassen mußte.

Vom Hof her konnten sie die Stimme des Bauern hören und sehen, wie die Leute sich unter der Arbeit, die er ihnen zuwies, krümmten. Hier oben am Brand aber saß, klein wie sie war, Bodel und verstellte ganz nach Belieben seine Ziegen und Kühe, faßte seine Brunnenstange an und stapelte sein Brennholz, so wie sie es sich in den Kopf gesetzt hatte.

Gegen Abend sahen sie den Bauern mit einem Spatenstiel auf Erker losgehen. Sie sahen, wie er schwankte; zum Abschied erhielt er noch einen Tritt und machte sich dann auf den Weg zum Brand, ohne etwas zu essen bekommen zu haben.

Da nahm Skord einen Stein und ließ ihn auf das Haus des Bauern fallen. Bodel befeuchtete sich die Lippen, sagte aber nichts. Skord hob nun eine ganze Handvoll Steine auf und hielt sie über den Hof des Bauern, über sein Vieh und seinen Brunnen. Bodel starrte ihn an. Jetzt schien sie diejenige zu sein, die zuhören würde.

»Der da droben im HIMMEL ist ein großer Zerstörer.« Das konnte Skord Bodel jetzt, da sie das Dorf unter sich hatten, erzählen.

»SEINE Schritte hört man über den Berg dröhnen, und die Wolken sind der Staub, den ER mit seinen gewaltigen Beinen aufrührt. Schau, Bodel! ER gießt das Wasser aus und läßt den Brunnen versiegen. ER