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Ein kleines Dorf, Svartvattnet, inmitten dunkler Seen und endloser Tannenwälder war die Heimat ihrer Mutter Myrten. Einst von ihr zu Pflegeeltern gegeben, kehrt Ingefrid als erwachsene Frau nach Svartvattnet zurück, um ihr Erbe anzutreten. Schnell spürt sie, daß sie länger an diesem abgelegenen Ort im nordschwedischen Jämtland bleiben wird, und sie bewirbt sich um die vakante Stelle als Pfarrerin. Anfänglich ist ihr Bleiben vor allem der zaghafte Versuch, der unbekannten Mutter näherzukommen. Mit Hilfe ihrer Pflegeschwester Risten, die vergilbte Photos hervorzieht und sich für Ingefrid noch einmal mit der wechselhaften Geschichte ihrer Familie beschäftigt, erweckt sie die Vergangenheit zu neuem Leben. Viele Geheimnisse und schmerzliche Verluste offenbaren sich dabei. Und am Ende ist es Risten, die Ingefrid die drängendste Frage ihres Lebens beantwortet.
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Veröffentlichungsjahr: 2012
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Übersetzung aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2005
ISBN 978-3-492-95756-4
© Kerstin Ekman 2003 Deutschsprachige Ausgabe: © 2005 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Dorkenwald Design, München Umschlagfoto: David Thyberg / Fotolia.com Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Das Dorf hielt Winterschlaf im Schnee. In der Reglosigkeit stieg aus dem Schornstein eines weißen Hauses Rauch auf. In diesem Haus war ein altes Paar zu sehen, zwei Schatten, durch die das Licht bald hindurchscheinen würde. Das Fenster hinter ihnen ging auf einen großen, zugefrorenen See hinaus.
Unterhalb der Vortreppe lagen Fichtenreiser zum Füßeabtreten. An eine Birke war eine Speckschwarte für die Kohlmeisen genagelt. Im Fenster zur Straße hing ein gehäkelter Querbehang.
Alles war so kärglich. Konnten das ganze Menschenleben sein?
Kein Mensch war zu dem Haus hinuntergegangen. Man sah lediglich Pfotenspuren im Neuschnee. An einer Schuppenwand stand etwas von einem Harmonikafestival. Doch das war wohl lange her. Das Plakat war safrangelb und leuchtete weithin.
Alles war so, als sei es schon lange her. Doch es war jetzt.
Sie stieg aus dem Auto und ging in diesem Weiß, durch das bisher nur die Katze gelaufen war, fast auf Zehenspitzen.
*
Es war am Abend vor Allerheiligen, als sie kam. Merkwürdigerweise.
Ab Allerheiligen ist es richtig Winter. Dann bleibt der Schnee liegen. Im Moor lassen sich keine Moosbeerenranken mehr freikratzen. An frostklaren Tagen setzen sich die Auerhühner in die Baumwipfel, und die Hasen haben ihr Fell gewechselt und das weiße angelegt. Das klare Eis auf den Waldseen und Wasserlachen ist überschneit, ja, alles Schwarze und alles, was im Herbst moderte, ist verschwunden. Die Toten haben ihren Frieden, und er bietet sich auch den Lebenden dar.
An Allerheiligen wollte ich mit dem kirchlichen Fahrdienst nach Röbäck fahren und einen Torfmooskranz auf Myrtens Grab legen. Ich würde wohl oder übel in den Gottesdienst gehen müssen, um auf Reine zu warten, der die alten Leute mit dem Taxi chauffiert. Ich konnte die Pfarrerin nicht leiden. Sie rauche und babble bloß, sagte Elias, und er hatte recht.
An diesem Abend saßen Elias und ich in der Dämmerung bei einer Tasse Kaffee in meiner Küche. Es war sehr still. Den ganzen Nachmittag über hatte es geschneit, und Elias’ Spur war längst verschwunden. Jetzt fielen nur noch einzelne Schneeflocken. Da hörten wir ein Auto. Als wir merkten, daß es nicht vorbeifuhr, sondern an der Landstraße oberhalb des Hauses anhielt, guckten wir natürlich. Elias fragte, wer das sei, aber ich wußte es nicht. Es war ein kleines, rotes Auto.
Eine Frau. Sie stieg aus, und bevor sie ihren Mantel zumachte, konnte ich den Kragen sehen.
»Eine Pfarrerin ist’s«, sagte ich.
»Ach herrje«, versetzte Elias. »Marianne wollte doch erst zu Neujahr aufhören.«
Das war es, was wir glaubten. Daß die neue Pfarrerin unterwegs sei und die Senioren, wie wir genannt werden, besuche. Da hörten wir sie anklopfen. Nicht eben zurückhaltend.
»Sind als wie die Staubsaugervertreter«, meinte Elias. »Haben sie malens einen Fuß in der Tür, kriegest sie nimmer los. Tust sie nichten zum Kaffee bitten!«
Ich sagte, ich müsse wenigstens aufmachen. Und da stand sie, ohne Kopfbedeckung in der Kälte. Aber gute Stiefel hatte sie.
Eine kleine Gestalt mit kräftigen Beinen in dicken schwarzen Strümpfen. Das Gesicht ungeschminkt. In gewisser Weise wirkte sie wie ein Mädchen, obwohl sie gut in den Fünfzigern sein mußte. Füße und Hände waren kindlich klein. Ganz ernst war sie. Man konnte meinen, sie habe Angst. Ihre Augen waren von hellem Blau und ziemlich eng stehend. Sie preßte die Lippen zusammen, und ihr Blick war starr. Nun sag schon was, dachte ich. Woran man sich bei ihrem Gesicht hinterher am besten erinnerte, war die Nase. Diese war breit und gebogen und viel zu groß für dieses alt gewordene Mädchengesicht.
»Guten Tag«, sagte sie.
Nun, das war ungewöhnlich. Elias beklagt sich gern darüber, daß es heutzutage immer nur »hallo« und »tschüs« heißt.
»Wenn sie denn wirklich eine Geistliche war«, sagte er hinterher. »Es kann doch alle Welt hergehen und sich ein Hemd mit Kollar kaufen.« Er wollte es so hindrehen, daß sie gekommen sei, um uns zu betrügen, daß sie eine sei, die durch die Lande reise und alte Leute bestehle.
Sie streckte die Hand aus und nannte einen Namen, den keiner von uns verstand. Wir hatten ihn noch nie gehört.
»Ich bin gekommen, weil meine Mutter in diesem Haus geboren worden sein soll«, sagte sie.
»Nun, sind nichten richtig hier dann«, erwiderte ich.
»Myrten Fjellström, hat sie nicht hier gewohnt?«
Was danach kam, weiß ich nicht mehr recht. Wahrscheinlich wurde es still. Ich glaube, ich ging rückwärts zur Küchenbank und setzte mich. Ich sagte wahrscheinlich, daß da etwas nicht stimmen könne. Daß es ein Mißverständnis sei. Myrten Fjellström habe keine Kinder gehabt. Oder vielleicht sagte ich ja gar nichts. Ich weiß es nicht.
Daß sie ein Kuvert aus der Manteltasche zog, daran erinnere ich mich. Ich hatte kalte Fingerspitzen, als ich es nehmen wollte, und ich stellte mich dermaßen ungeschickt an, daß Elias es an meiner Stelle nahm.
»Ingefrid«, las er. »Ingefrid Mingus. Sollet dies der Name sein?«
»Ich werde Inga genannt, bin aber auf den Namen Ingefrid getauft. Den Brief habe ich von einem Anwalt in Östersund erhalten«, erklärte sie. »Ich habe meine Mutter beerbt.«
Wir saßen lediglich da und sahen sie an, waren lange nicht imstande, etwas zu sagen. Schließlich brachte Elias auf norwegisch heraus:
»Wo das Aas ist, da sammeln sich die Geier.«
Man konnte nur hoffen, daß sie kein Norwegisch verstand.
Mir kam das alles allmählich aberwitzig vor. Myrten und ich haben einander nahegestanden, wollte ich sagen. Wir wußten alles voneinander. Das ist völlig verrückt hier. Aber ich bekam kein Wort heraus. Es war Elias, der ständig den Mund aufmachte, er, der mit der Sache gar nichts zu tun hatte.
»Wo wollen Sie denn geboren worden sein?« fragte er.
»In Stockholm. Meine Mutter war in der Gustaf-Vasa-Gemeinde gemeldet, und ich wurde im Entbindungsheim Södra BB geboren.«
Das weckte Erinnerungen, die abwechselnd schmerzlich und zart waren. Ich erinnerte mich, wie grenzenlos traurig Hillevi gewesen war, als Myrten nach Stockholm zog und sich dort anmeldete. Und Södra BB war doch das Entbindungsheim, in dem Hillevi ausgebildet worden war und über das sie immer nur respektvoll gesprochen hatte. Es war, als ob die Worte dieser Person in unser Leben sickerten und sich in wohlbekannten Höhlen einnisteten. Das erfüllte die Vergangenheit jedoch mit einem fremden Geruch.
»Wann sollet das denn gewesen sein?« fragte Elias.
»Ich wurde am einundzwanzigsten April neunzehnhundertsechsundvierzig geboren. Am Ostersonntag.«
Hätte sie das nicht dazugesagt, dann hätte ich einfach nichts verstanden. So aber begriff ich, wie verrückt das alles war. Sollte nicht gerade ich mich entsinnen, wie traurig Hillevi gewesen war, daß Myrten am ersten Osterfest nach dem Krieg nicht hier war? Ich konnte damals endlich nach Svartvattnet heimfahren. An Weihnachten war es auch schon so gewesen. Myrten war auch da nicht gekommen. Und Hillevi hatte geweint.
»Myrten Fjellström war Ostern sechsundvierzig gar nicht in Stockholm«, sagte ich. »Sie war in Frankreich. Es handelt sich also um ein Mißverständnis. Den Brief sollten Sie diesem Anwalt zurückschicken.«
»Ich war bei ihm«, erklärte sie. »Es ist kein Mißverständnis. Myrten Fjellström hat ein Testament gemacht. Wo das Aas ist, da sammeln sich auch die Geier, steht, glaube ich, in unserer Bibel«, sagte sie und lächelte Elias kurz an. Und dieser alte Dummkopf guckte belustigt.
Ich kümmerte mich nicht um die beiden, sondern ging in die Stube und kramte in den Sekretärschubladen. Meine Finger wurden noch kälter, denn der Raum war nicht geheizt, und ich fand auch nicht, wonach ich suchte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als in die Küche zurückzugehen.
»Hab’ Briefe«, sagte ich. »Hat sie aus Frankreich geschrieben, die Myrten, an ihrige Mutter und ihrigen Vater. Im Winter und Frühjahr neunzehnhundertsechsundvierzig ist das gewesen. Auch an Ostern. Werd sie suchen und dann mit dem Anwalt reden.«
»Es ist bald fünfzehn Jahre her, daß Myrten Fjellström verschieden ist«, sagte Elias. »Eigenartig, daß Sie bisher nichts von sich haben hören lassen. Wirklich eigenartig. Nachdem Sie sich schon in den Kopf gesetzt haben, daß sie Ihre Mutter war.«
»Ich habe den Brief erst vor einer Woche bekommen«, erwiderte sie. »Die konnten mich nicht eher finden. Meine Eltern haben ihren Namen geändert. Wir hießen ursprünglich Fredriksson. Und damals gab es noch keine Personennummern.«
»Pernelius, der Anwalt, ist der nicht kürzlich gestorben?« fragte mich Elias, und mir fiel auf, daß er mit einemmal nicht mehr jämtisch sprach. Er saß da und las den Brief.
»Es ist wohl der Nachfolger«, sagte er. »Die Kanzlei ist dieselbe, wie man am Briefkopf sieht.«
Worauf wollte er hinaus? Pernelius war hochbetagt gestorben. Er war ein guter Freund von Hillevi gewesen. Mich flog der Gedanke an, daß es vielleicht gar nicht so unmöglich war, eine Person mit geändertem Namen ausfindig zu machen, daß es beim alten Pernelius aber am Wollen gehapert hatte. Auch ich hätte nicht gewollt, daß das Gerücht aufkäme, Myrten habe ein Kind gehabt. Elias dachte aber an etwas anderes.
»Das hat sich für das Anwaltsbüro ja gelohnt«, sagte er. »Die haben in all diesen Jahren doch bestimmt den Nachlaß und das Vermögen verwaltet?«
»Freilich«, antwortete ich. »Tu bloß den Nießbrauch haben aufs Haus. Den Anteil von der Myrten an der Pension, den hab ich geerbet. Der Rest, der sollet dann geteilet werden. Unter den Kindern von dem Dag Fjellström vielleicht. Oder krieget’s bloß der Roland. Weiß nichten.«
Diese Person sah uns aufmerksam an, sagte aber nichts. Sie stand mitten in der Küche, aber ich wollte ihr keinen Platz anbieten. Ich sah, wie sie in die Stube schielte. Ich hatte vergessen, die Tür zuzumachen, und es zog kalt von dort herein. Auf dem Büfett stand Myrtens Porträt, doch das konnte sie von der Küche aus bestimmt nicht sehen. Ich merkte, wie sie sich in unser Leben drängen wollte.
»Ich kann heute abend nicht mehr zurückfahren«, sagte sie. »Gibt es hier ein Hotel?«
Großer Gott! Wohin glaubte sie denn gekommen zu sein? Ich mußte ihr helfen, und so rief ich Mats an. Mir blieb also nichts anderes übrig, als ihr einen Platz anzubieten, denn es würde einige Zeit dauern, bis er in der Pension ein Zimmer eingeheizt hätte. Ich schloß die Stubentür und fragte schließlich, ob sie Kaffee haben wolle. Man muß sich doch immerhin anständig benehmen.
Wir hatten Mühe, ein Gesprächsthema zu finden. Schließlich begann sie, sich über das Dorf zu erkundigen, wie viele hier lebten. Ich sagte hundert, obwohl wir nur vierundachtzig sind. Sie wollte wissen, wovon die Leute lebten, und Elias sagte blitzschnell: »Stütze«.
»Nun, vor allem vom Wald«, sagte ich.
Aber so ganz stimmte das auch nicht.
Die Unterhaltung verlief zäh. Ich wurde so müde. Ab und zu wurde mir schwindlig, und ich fror die ganze Zeit. Endlich kam Mats. Mir wäre es am liebsten gewesen, er hätte Elias auch gleich nach Hause gefahren. Ich wollte nur noch allein sein. Aber er sagte, er werde ihn nachher abholen.
Die fremde Frau, diese Pfarrerin, fragte nach dem Brief, den sie bei sich gehabt hatte. Wir konnten ihn aber nirgends finden.
»Haben ihn bestimmt eingestecket«, sagte ich.
Sie führte jedoch ihre Manteltaschen vor, und die waren leer. Es war unbegreiflich.
»Du hast ihn sicherlich aus Versehen in den Herd getan«, sagte Elias zu mir.
Ich hatte aber die ganze Zeit über nichts in den Herd getan. Darum war es ja so kalt. Wir mußten aufgeben. Sie ging ohne ihren Brief.
Nachdem sie gegangen war, blieben wir sitzen, ohne irgend etwas zu sagen. Es wurde kälter und kälter in der Küche. Schließlich erhob sich Elias mit knackenden Gelenken und schlurfte zum Herd. Die Glut ließ sich nicht mehr anfachen, weswegen er ganz von vorn anfangen mußte, und das sah in meinen Augen so jämmerlich aus, daß ich mich doch auch erhob. Er ist einundneunzig. Manchmal behauptet er freilich, dreiundneunzig zu sein. Es fällt ihm schwer, die Knie zu beugen.
Ich wärmte auch Kaffee auf. Dann saßen wir einander so wie am Anfang gegenüber, aber jetzt war alles anders.
»Fragt sich, ob sie wirklich Pfarrerin ist«, sagte Elias.
Er zog ein Kuvert aus seiner Innentasche. Es war ihr Brief von dem Anwalt. Ich sagte, es sei nicht recht von ihm gewesen, ihn zu unterschlagen.
»Ach was«, erwiderte er. »Muß eins doch untersuchen, die Sache.«
Jetzt war er wieder der Jämte. Der Alte kann sich von einer Gestalt zur andern schwingen. Wie der Neck ist der, man weiß nie so recht, wie man mit ihm dran ist.
Der Brief war an Ingefrid Mingus adressiert, und es stand eine Personennummer und eine Stockholmer Adresse darauf. Elias las laut:
Da ich davon ausgehe, daß die Mitteilung über den Tod Ihrer Mutter Sie nicht auf anderem Wege erreicht hat, bitte ich, als erster mein Beileid über den Verlust bekunden zu dürfen.
»Den Verlust?« sagte ich, aber Elias fuhr fort, ohne mich zu beachten.
Myrten Fjellström ist am 28.November 1980 in der Jubiläumsklinik in Umeå verstorben. Die Todesursache war Knochenkrebs.
Das war wenigstens richtig.
1980 hat Myrten Fjellström mit dem Beistand meines Vorgängers ihr Testament aufgesetzt, demzufolge ihr gesamtes Vermögen Ihnen zufällt. Auf Grund Ihrer Namensänderung und gewisser Unzulänglichkeiten im Meldewesen haben wir Sie bisher nicht ausfindig machen können. Es ist dringend geboten, daß Sie sich mit mir in Verbindung setzen. Die Hinterlassenschaft besteht, von Aktien- und anderem Wertpapierbesitz samt eines geringeren Teils liquider Mittel abgesehen, aus der Liegenschaft Svartvattnet 1:3 mit Jagen sowie den folgenden Jagen in der Gemeinde Röbäck: Svartvattnet 1:2, 1:17, 1:24 und 25, Boteln 2:13, 2:22 und Skinnarviken 1:11. Zum Stammgrundstück gehört das Wohnhaus samt Baulichkeiten im Ortskern von Svartvattnet. Gemäß dem Wunsch der Testatrix wurde der Ziehschwester Ihrer Mutter, Frau Kristin Klementsen, lebenslanger Nießbrauch an diesen Gebäuden samt Inventar zugesprochen.
Dann holte Elias Papier und Stift aus der Küchentischschublade und begann zu rechnen.
»Was machst du denn?«
»Tu ausrechnen, wann sie zustand kömmen«, erklärte er. »Ward sie geboren am einundzwanzigsten April sechsundvierzig, so ist’s am einundzwanzigsten Juli fünfundvierzig gewesen. Oder drum herum.«
Ich war so verwirrt, daß ich nicht begriff, was er meinte.
»Tut einen Vater haben müssen«, sagte er.
Das auch noch, dachte ich.
*
Die alte Frau, diese Ziehschwester ihrer Mutter, hatte gesagt, es gebe kein Hotel, das in den Wintermonaten geöffnet habe. Das nächste liege in Byvången, und dorthin seien es siebzig Kilometer.
»Roland vielleicht«, meinte der alte Mann.
»Ja, freilich.«
Sie saßen schweigend da. Der Alte sah sie mit stierem Blick an. Da sagte Kristin Klementsen:
»Könnet vielleicht ein Zimmer in der Pension wärmen, der Mats. Ich mein, mit einem Heizstrahler. Tut sonsten nichten aufsein winters.«
Aufsein, sagte sie.
»Sommers auch nicht gerade«, sagte der Alte, und er klang leicht boshaft.
Wer war Mats? Und Roland, was das anbelangte? Diese Menschen sprachen über Leute und Häuser in ihrer Umgebung, als müßten alle sie kennen. Sie schienen am Nabel der Welt zu leben.
Es wurde nicht warm in dem Pensionszimmer, lediglich in der Nähe des Elektroöfchens war es heiß. Die Kälte kroch wie ein Tier heran und tappte ihr über den Rücken.
Das Haus war groß, und sie war ganz allein darin. Es war ein alter Holzbau hoch oben an einem Hang. In dem Zimmer gab es einen Schreibtisch und eine Lampe mit gelbem Schirm, der den Lichtkreis eng begrenzte. Ansonsten bestand alles aus Dunkelheit und knackendem Holz. Das Haus regte sich. Das mußte von einstigen Schritten und Bewegungen herrühren. Nichts war hier entschwunden. Es hatte sich nur von der Stelle bewegt.
Sie hatte Angst davor, und sie betete wortlos.
Um drei Uhr war es noch immer so dunkel, und da stand sie auf und zog sich an. Sie packte die paar Sachen ein, die sie aus der Tasche genommen hatte. Lange stand sie mit den Fingern um den Zimmerschlüssel da, bevor sie sich entschließen konnte, ihn herumzudrehen und die Tür zu öffnen. Sie zwang sich weiter, ständig auf etwas gefaßt, was sie sich nicht vorstellen konnte. In der Diele fand sie nach langem Tasten einen großen, altmodischen Drehschalter an der Wand. Da wurde es immerhin im Korridor hell. Das Treppenlicht fand sie ebenfalls. Sie rannte mit ihrer Tasche die Treppe hinunter und legte den Fünfhundertkronenschein, den sie sich vorher in die Manteltasche gesteckt hatte, auf die Theke. Dann rannte sie in den Schnee hinaus und stieß auf ihr Auto.
Die Erleichterung stellte sich ein, sobald sie die Türen geschlossen und den Motor angelassen hatte. Sie fuhr den Hang hinunter und auf die Landstraße hinaus, fort von den geduckten Häuschen und den gespenstigen Haufen aufragender Zaunpfähle auf den verschneiten Ebenen.
Sie kutschierte in einem kleinen, blanken Gehäuse, hatte das Nachtprogramm eingeschaltet und fuhr viel zu schnell auf der kurvenreichen Straße. Sie schien im Universum oder in Jämtland jedoch glücklicherweise allein zu sein. Nachdem der Motor eine Weile gelaufen war, wurde es warm, und das Radio berieselte sie mit freundlicher und zuweilen pathetischer leichter Musik. Sie war nun ganz bei sich, die Angst war verflogen, hatte ihren Körper aber müde und schlapp gemacht. Ihr schmerzte der Rücken, wo die Spannung und die Kälte am heftigsten zugepackt hatten.
Der Wald war schwarz und hatte weiße Streifen. Er fuhr rückwärts in die Dunkelheit, doch das ging sie nichts an.
*
Als sowohl Elias als auch diese Person fort waren, ging ich ins Bett und versuchte zu schlafen. Das war jedoch völlig unmöglich. Die Stunden vergingen. Wenn es Nacht ist und man keine Kraft mehr hat, wenn man sich allein damit abplagt, zu sein und zu fühlen, dann muß man versuchen, wieder in seinen wachen Menschen zu steigen wie in ein Paar Schuhe. Das ist notwendig, wenn man bei Verstand bleiben möchte. Aber man schafft es nicht.
Myrtens Zimmer steht leer. Sie ist tot. Das geht nie vorbei.
Es war drei Uhr morgens, doch herrschte schwarze Nacht. Ich wollte schlafen, um zu vergessen, aber die Wachheit hörte nicht auf, mich zu quälen. Da tat ich, was ich schon in vielen Nächten getan hatte, seit Myrten tot war. Ich ging hinaus in den Schafstall.
Als ich die Lampe anmachte, die über der Futterkiste angebracht ist, hörte ich die Katze schnurren. Sie lag zusammengerollt im Heu. Ursprünglich war sie wild, und sie geht nie ins Haus, sondern bleibt auf der Vortreppe und schaut nach, ob da etwas für sie steht. Ich gebe ihr in einer Untertasse Milch. Sie mag auch Pfannkuchenstückchen und eingeweichtes Weißbrot. Wir sind gute Freundinnen, auch wenn ich sie nicht anfassen darf.
Es sind drei Zibben. Sie lagen mit großen, gleichsam gequollenen Wänsten auf dem warmen Streulager. Womöglich schliefen sie, als ich eintrat. Jetzt erhoben sie sich auf ihre dürren Staken von Beinen und kamen an die Balken, die in fünf Lagen ihren Raum zur Viehstalltür hin abgrenzen. Dort lagere ich Heu und Gerstenbruch, und dort liegt die Katze und blinzelt. Sie wartet darauf, daß die Mäuse hervorkommen. Die Zibben schubsten einander ein bißchen und legten das Kinn auf den obersten Balken, der von unserem Umgang blankgewetzt ist. Alle drei ließen zum Gruß leise Töne vernehmen. Ein Brummeln, ein leises Schnurren, rauher als das der Katze, aber zu schwach, um Blöken genannt zu werden.
Ich kraulte ihnen die Stirn. In der Nacht, als ich aus Umeå von der Jubiläumsklinik nach Hause gekommen war und Myrten tot war, hatte ich hier drinnen bei den Schafen gestanden und ihnen in die Wolle gefaßt. Wie eh und je stieg dieser gute Geruch nach Wollfett auf. Ich war in ihm eingeschlossen. Er erinnerte mich daran, wie Hillevis Hände gerochen hatten.
Sie hatte kleine, aber kräftige Hände gehabt, die sie mit einer Hautcreme einschmierte, die Lanolin hieß. Diese war nur aus Wollfett und Wasser bereitet, sonst nichts. Im Winter rieb sie uns mit der Salbe die rauhen Hände ein, und sie rochen lange wie die ihren.
*
Das Auto blieb stehen. Es hielt von selbst an, als Inga vielleicht zwanzig Minuten gefahren war. Natürlich versuchte sie es wieder zu starten. Alles leuchtete und blinkte, folglich war die Elektrik in Ordnung. Da fiel ihr ein, daß sie bei dem Laden in Svartvattnet hatte tanken wollen. Doch der war bei ihrer Ankunft geschlossen gewesen.
Sie blieb sitzen und versuchte einen Ausweg zu finden. Ob sie es wagen sollte, irgendwo nach Benzin zu fragen? Sie konnte sich jedoch nicht erinnern, ein Haus gesehen zu haben.
Es wurde kalt im Auto. Sie mußte aussteigen und sich Bewegung verschaffen. Das hatte jedoch keinen Sinn, denn wohin sollte sie schon gehen? Sie öffnete ihren Koffer auf dem Rücksitz und wand sich in einen zusätzlichen Pullover unter dem Blazer. Danach nahm sie die Brieftasche, die Schlüssel und den Führerschein aus ihrer Handtasche und steckte die Sachen in die Manteltaschen. In der linken Tasche spürte sie einen schweren Klumpen. Es war der Zimmerschlüssel aus der Pension. Sie hatte vergessen, ihn zusammen mit dem Fünfhunderter auf die Theke zu legen. Der Klumpen war aus Messing, und um ihn herum saß wie ein Ring um einen Planeten ein Gummiring. In den Boden war Nr.3 gestanzt. Er sah aus wie eine Antiquität, und der Wirt würde sicherlich annehmen, sie habe den Schlüssel als Souvenir mitgenommen. Sie wollte sich jedoch an nichts aus dieser Pension erinnern. Da sie nicht vorhatte, jemals wieder herzukommen, würde sie ihn wohl zurückschicken müssen.
Sie lief ziemlich flott los, denn ihr war kalt. Nach einer Weile drehte sie sich um, um nach dem Golf zu sehen, der wie ein kleiner, dunkler Buckel viel zu weit in der weißen Straße stand. Dann mußte sie weitergehen, und es kam eine Kurve. Als sie sich das nächste Mal umdrehte, war er verschwunden.
Diesmal kam die Angst langsam. Als sich im Wald eine Lichtung auftat, sah sie einen See, der zugefroren und weiß oder vielleicht weißlich grau war. Dann schlossen sich die Wände des Waldes wieder, und sie mußte lange zwischen Dunkel und Dunkel dahingehen. Der Straßenstreifen aus eisigem, kompaktem Schnee war bucklig, er stieg und senkte sich. Ihr Körper wurde allmählich starr.
Anfangs flatterten die Gedanken: Wenn ich ankomme, wenn ich ein Haus sehe. Sie phantasierte von Essen, von einem warmen Bett. Aber wo? Die Oberschenkelmuskeln schmerzten. Die Gedankenketten brachen ab, wurden zu kleinen Stummeln, aus denen die Erinnerung und die Zeit sickerte. Ihr Bewußtsein war ganz dünn geworden.
Alles Blut in den Beinen, dachte sie. Gehen, gehen, gehen. Nur gehen. Die Beine bewegen. Sie ging und war sich kaum mehr als der Schwere und des Schmerzes in den Beinen bewußt. Und der Angst.
Bis das Schild kam. Mit Steinschlägen auf dem S, dem N und dem E, so vielen, daß da VARTVATT t stand. Und Licht, gerade genug, um weiße Buchstaben auf blauem Grund lesen zu können. Der Wald erklomm einen Berg, ragte gegen einen grauen Himmel auf. Bald würde wohl der Morgen dämmern. Sie hatte schmerzende Beine und mürbe Fußsohlen.
Dann war es, als hebe sich der Himmel. Es war noch heller geworden. Als sie auf die Uhr schaute, konnte sie die Zeiger erkennen. Eine schwere Müdigkeit überkam sie; sie hatte mehr als drei Stunden gebraucht.
Als sie bei den Häusern anlangte, graute der Morgen. Aus dem einen oder anderen Schornstein rauchte es tatsächlich. Allerdings nicht bei Kristin Klementsen. Auch nicht in der Pension. Sie hatte große Mühe, den Hang und die Treppen hinaufzugelangen. Ihre schmerzenden Oberschenkelmuskeln blockierten allmählich. Bevor sie die Treppe in den ersten Stock zu dem von ihr gemieteten Zimmer hinaufstieg, setzte sie sich auf eine der unteren Stufen. Sie war ganz hohl vor Hunger und sehr durstig.
Da kam Mats.
Es war ein großes Frühstück, das er ihr servierte. Er hatte gekochte Kartoffeln geschält, wahrscheinlich Reste vom Abendessen tags zuvor, und sie in Margarine gebraten. Sie waren kräftig gesalzen und gepfeffert. Zu den Kartoffeln hatte er Würstchen gebraten, die vor Fett glänzten. Angerichtet hatte er das alles auf einem angeschlagenen großen Teller, der mit fliegenden Möwen gemustert war. Sie kannte solche Teller aus dem Antiquitätenladen ihrer Mutter. Er hatte eine Tomate aufgeschnitten und zwei Stückchen davon neben die Würstchen gelegt. Irgendwie war er auch an einen Petersilienzweig gekommen. Neben dem Teller stand ein Schüsselchen mit einem Salat aus gewürfelten roten Beten in einer Mayonnaisencreme, die sich rosa verfärbt hatte. Zu trinken bekam sie eine ganze Kanne Kaffee, dazu zwei Pfefferkuchen und ein Mandeltörtchen. Das Mandeltörtchen war noch in Zellophan verpackt und lag auf einem kleinen Gebäckteller aus Preßglas und mit Fuß, wofür ihre Mutter hundertfünfzig Kronen verlangt hätte. Außerdem gab es Dünnbrot und Margarine und einen Kunststoffbecher mit einer braunen Masse, die Mats Molkenkäse nannte. Sie aß alles auf.
Danach überkam sie eine Trägheit, die wie ein Rausch war. Ich bin ein Körper, dachte sie, ein Leib, und dieses Wort war genauso sinnfällig wie ein Brotlaib. Ich bin ein Leib, und ich habe keine Angst mehr.
Sie schlief zwei Stunden und wachte auf, als Mats zurückkam und an ihre Zimmertür klopfte. Sie hatten vereinbart, daß er sie zu ihrem Auto bringen und einen Reservekanister mitnehmen würde.
Sie fuhren die Strecke, die sie in der Nacht gegangen war. Der Wald sah jetzt schäbig und verwachsen aus. Der Isuzu-Kastenwagen rumpelte dahin, und sie sah Mats von der Seite an. Er war vermutlich über fünfzig und hatte einen gedrungenen, muskulösen Körper. Von seinem Haar war unter der filzigen Mütze nicht viel zu sehen, doch sie nahm an, daß es einmal dunkel gewesen war. Sein Gesicht, fand sie, wirkte finnisch.
Ihr Auto schien dazustehen und zu schlafen, als sie dorthin kamen. Es hatte noch niemals zuvor wie ein Tier ausgesehen, doch jetzt wirkte es so. Als Mats durch einen Trichter das Benzin einfüllte, gluckerte es.
Sie setzte sich auf den kalten Sitz und drehte den Zündschlüssel herum. Es tat sich nichts.
»Was, zum Kuckuck, ist jetzt los?« sagte Mats.
Sie versuchte es noch einmal, doch das Tier war tot.
Er öffnete die Motorhaube, und sie hörte ihn fluchen.
»Haben die Batterie ausgebauet, diese Wichte«, sagte er.
Als er diese Wichte sagte, dachte sie nicht an Menschen, sondern an irgendwelche Wesen.
»Teufel eins aber auch«, sagte er, zog eine runde Tabakdose aus der Gesäßtasche seiner Jeans, fingerte einen kleinen, schwarzen Strang heraus und stopfte ihn sich unter die Oberlippe. Das war wohl zum Trost; sie sah, daß er es aufrichtig leid war.
Diese Wichte hatten auch ihren Koffer mitgenommen. Und das Radio und das Reserverad.
»Haben aber nichten aufgebrechet das Schloß«, stellte er fest.
»Ich habe wohl nicht abgeschlossen.«
Da schlug er die Tür zu und sagte, sie solle abschließen. Dann ging er zu seinem Isuzu und holte einen Werkzeugkasten aus dem Wagen. Wortlos brach er mit Hilfe eines Schraubenziehers und eines groben Eisendrahts sorgfältig das Schloß auf. Er erklärte, der Schraubenzieher sei eigentlich nicht nötig, doch lange er extra noch ein bißchen hin, damit es ordentlich zu sehen sei.
»Krieget nimmer was von der Versicherung, wenn sie nichten aufgebrechet die Tür«, sagte er.
Er brach auch den Kofferraum auf.
Diese Wichte, dachte sie. Er sagte das so, als sei er an sie gewöhnt. Als hausten sie hier ringsum im Wald und kämen ausgehungert angehopst, wenn sie ein verlassenes Auto entdeckten.
Auf dem Rückweg schleppte er den Golf ab. Im Dorf angekommen, fuhr er nicht zur Pension hinauf, sondern bog beim Laden ab.
»Tun zu der Mutter runterfahren«, erklärte er.
Auf diese Weise erfuhr sie, daß er Kristin Klementsens Sohn war.
Ich weiß nicht, ob man sagen kann, daß der Dieb, der die Sommerhäuser an der Grenze heimgesucht hatte, direkt geschnappt wurde. Jedenfalls sah Kalle Mårsa, daß Ivar Brådalens Boot ganz hinten beim letzten Häuschen lag, und dort gehörte es wahrlich nicht hin. Es war mit Müh und Not an Land gezogen.
Das war Anfang November. Das Wasser war schwarz und kalt, und das Aluminiumboot schwappte und scharrte zwischen den Steinen und dem Neueis. In dem Boot lagen eine Mikrowelle und eine Rodungssäge, eine Bohrmaschine und noch ein paar Sachen, die man wohl antik nennen darf.
Kalle war gleich klar, daß da was nicht stimmte. Als er vor dem Haus stand, bemerkte er, daß jemand am Schloß herumgebastelt hatte. Er ging um das Haus herum und schaute zu den Fenstern hinein, entdeckte aber nichts Besonderes. Da nahm er ein massives Bohlenstück und trat ein.
Der Dieb schlief. Er lag in Maj-Britt Perssons Bett und war mit einem Schaffell und ein paar Vorhängen, die er heruntergerissen hatte, zugedeckt.
Das Haus war natürlich ausgekühlt.
Kalle stand mit erhobenem Bohlenstück da und brüllte, er solle aufstehen und mitkommen. Mensch, was tu ich bloß mit dem Kerl, hatte er gedacht, kann ihn doch nichten fesseln! Er wollte ihm auch nicht glattweg auf den Kopf hauen. Das brauchte es auch gar nicht, denn der Kerl war völlig weggetreten. Sein Atem hörte sich schlimm an. Kalle bekam so viel Leben in ihn, daß er aufsah. Er schien aber direkt durch Kalle hindurch auf was anderes zu schauen.
Ja, er war krank. Doktor Torbjörnsson sagte später, daß er eine Lungenentzündung in viel zu weit fortgeschrittenem Stadium gehabt habe. Im Gesundheitszentrum in Byvången bekam er Penicillin, starb aber zwei Tage später im Krankenhaus in Östersund.
Die Polizei kam und stellte das Diebesgut sicher. Sie mußten noch oft herfahren, denn immer wieder fanden die Leute an verschiedenen Stellen versteckte Sachen. Vielleicht hatte er die aber auch bloß vergessen. Er war am Ende schon ziemlich umnachtet gewesen, und in einem der Häuschen hatte er einen Plastikkanister aufgetrieben, der halb voll norwegischem Selbstgebranntem war.
Das Auto, das selbstverständlich gestohlen war, fand Per Ola Brandberg auf der anderen Seite des Sees, ganz am Ende des Abfuhrwegs und nicht weit von Lunäset. Per Ola hatte dort an der Grenze eine Abholzung. Das mit dem Auto war so schlau ausgedacht, daß es niemand vom Dorf aus sehen konnte. In jenen Novembertagen, als sich das Eis bildete und dann von einem Sturm wieder aufgebrochen wurde, mit einem Boot über den Svartvattnet zu fahren kann allerdings nicht sonderlich angenehm gewesen sein.
In dem Himbeergestrüpp unterhalb des Wendeplatzes, wo das Auto stand, war noch weiteres Diebesgut versteckt. Dort fanden sich die Batterie und der Koffer von dieser Ingefrid Mingus.
Zuerst behauptete die Polizei, sie wüßten, um wen es sich bei diesem Dieb handelte, er sei sechsundvierzig Jahre alt gewesen und habe mindestens die Hälfte seines Leben im Gefängnis gesessen. Sie erklärten, wenn es Winter werde, legten sich etliche solcher kleinen Diebe irgendwohin, in der Hoffnung, gefaßt zu werden und in die Wärme einer Anstalt zu kommen. Aber dann kam Wennerskog hierher, er, den sie den letzten Polizisten nennen, weil man selten einen anderen hier sieht. Die Elchjagdgesellschaft hatte einen Bären geschossen, obwohl die Provinzquote bereits ausgeschöpft war. Er sollte herausfinden, ob es, wie behauptet wurde, aus Selbstverteidigung geschehen war. Und wie zu erwarten, wurde Arnold Jonssa daraufhin angeklagt. Jedenfalls erzählte Wennerskog, daß sie sich bei dem Kerl geirrt hätten. Sie wüßten durchaus nicht, wer er sei. Er habe den Führerschein eines anderen bei sich gehabt. Daß er zwischen vierzig und fünfzig gewesen sei, könne aber stimmen. In der Daumenbeuge habe er eine Tätowierung dieses Landstreicherzeichens gehabt, also sei er auf jeden Fall ein alter Dieb gewesen, meinte Wennerskog.
Man fragt sich schon, was für ein armer Teufel das gewesen ist und was für ein Leben er geführt hat. In ausgekühlten Sommerhäusern herumzuhängen und eine Menge Ramsch zu sammeln, den die Leute nicht daheim in der Stadt haben wollen. Krank in einem ungeheizten Raum zu liegen. Alleinig.
»Er kann sich nicht besser als ein Fuchs gefühlt haben«, sagte ich zu Elias, als wir uns darüber unterhielten.
»Ein Fuchs kann sich durchaus gut fühlen«, erwiderte Elias. »Das Fuchsgefühl, das ist gar nicht so verkehrt.«
Füchse!
Alle wilden Tiere leben an der Hungergrenze und immer in höchster Alarmbereitschaft.
Hier ist die Treppe, die zur Wohnung in der Parmmätargatan hinaufführt. Eine alte Frau hatscht Stufe um Stufe vor Inga nach oben. In ihrer Erinnerung ist diese Frau gesichtslos. Sie dreht sich um und sagt:
»Ach, du bist es. Ja, du hast es gut getroffen!«
Die Erinnerung wird deutlicher: Es riecht nach geschmortem Kohl im Treppenhaus. Inga verträgt keinen Kohl. Er rumort ihr im Gedärm, und es bilden sich Gase, die sehr schwer zurückzuhalten sind. Das schlimmste ist, daß sie sich erst am nächsten Tag in der Schule bemerkbar machen. Inga hat auch schlechte Zähne. Sie sind ständig wurmstichig. Mutter nennt das so. Aber da sind natürlich keine Würmer. Die hat sie im Po. Sie heißen Springwürmer und jucken infernalisch. Wenn es unerträglich wird, muß sie sich über die Sofalehne beugen, während ihr die Mutter kleine, weiße Würmer aus dem After zupft. Das lindert.
Was da aufsteigt, kommt aus einem Dämmerland, in dem man keine Macht besitzt.
Die Frau trägt ein Einkaufsnetz in der linken Hand. Darin liegt ein Fisch in weißem Einwickelpapier. Durch das Papier ist Feuchtigkeit gedrungen und hat es aufgeweicht. Es reißt. Die Frau bekommt ein Gesicht. Sie hat Fischaugen, und ihr Schädel ist platt wie der eines Schellfischs. Jetzt sagt sie:
»Nicht alle Pflegekinder treffen es so gut.«
Sie dreht sich um und wird wieder gesichtslos wie ein Gespenst.
»Ich bin doch ein Pflegekind. Nicht wahr?«
Sie erinnert sich nicht, wann sie sich das auszusprechen traut, und auch nicht, wie Mutter dabei dreinschaut. Doch daß es wahr ist, daran erinnert sie sich. Irgendwie. Nicht hundertprozentig. Denn Mutter verteidigt sich:
»Du bist kein Pflegekind, denn du bist adoptiert. Du bist genau wie unser eigenes Kind.«
Wie.
Es dauert lange, bis sie sich direkt zu fragen traut. Da ist sie fünfzehn oder sechzehn Jahre alt.
»Wer war sie eigentlich?«
Sie traut sich nicht, »meine Mutter« zu sagen. Als sie nicht umhinkommt, zu erklären, wen sie meint, sagt sie vorsichtig:
»Na ja, die, die mich zur Welt gebracht hat.«
»Ich weiß nicht genau.«
Mutter steht an der Spüle oder am Herd. Wendet ihr auf jeden Fall den Rücken zu.
»Sie war aus Jämtland«, sagt sie. »Das ist alles, was ich weiß.«
Arm. Ja, sie muß arm gewesen sein. Großmutter spricht noch immer von der Not in Norrland. Wohl zu dieser Zeit kommt Inga der Gedanke, daß sie auch einen Vater gehabt haben muß. Er war nicht aus Jämtland, dessen ist sie sich sicher. Er ist bestimmt nur zum Skifahren dort gewesen.
Diese Person kam wieder. Im Januar stand sie eines Nachmittags erneut vor der Tür, als ich aufmachte. Und zwar in der Dämmerung. Du bist wohl ein Troll, dachte ich, weil du dich nicht bei Tageslicht zu zeigen traust. Sie sagte, sie sei heraufgefahren, um ihre Autobatterie und das Radio zu holen. Ich fragte mich aber schon: Mehr als achthundert Kilometer, nur um eine Batterie abzuholen, die fast leer war? Zumindest hatte Mats das gesagt. Und das Radio hätten sie ihr auch schicken können.
Nein, mir war schon klar, wie der Hase lief. Sie war neugierig und wollte sich in unser Leben drängen. Begnügte sich nicht mit dem Geld. Ich dachte: Du bist schön dumm, denn wenn du einfach den Mund hieltest, bekämst du dein Geld. Fängst du aber an, hier herumzubohren, dann wirst du sehen, daß du keinen Stich machst.
Ich glaubte nämlich nicht eine Sekunde lang, daß Myrten eine Tochter gehabt hatte. Als Ingefrid Mingus mit ihrem Brief und ihrem Pfarrkragen dastand, hatte ich zwar geschwankt. Aber das war natürlich der Schock. Man hätte mir damals alles mögliche aufbinden können. Über Weihnachten und Neujahr und all die Feiertage, an denen es ruhig ist, durchdachte ich dann alles. Ich bat Elias, nicht mehr darüber zu reden. Er ist so neugierig, der Alte. Ansonsten hatte kein Mensch im Dorf etwas davon mitgekriegt, denn ich hatte zu Mats gesagt, er solle nichts erzählen. Das heißt, der Händler wußte, daß an Allerheiligen eine Pfarrerin in der Pension übernachtet hatte und daß sie bei mir gewesen war. Er stellte natürlich Fragen. Aber ich sagte, sie habe sich nach dem Weg erkundigt und sei nicht die ganze Nacht über geblieben. Es sei ja auch zu kalt in der Pension.
»Hat sie sich um die Stelle beworben?« fragte er.
Ich sagte, ich wisse es nicht.
Jetzt stand sie wieder da und wirkte wie ein kleines Mädchen, wenn auch mit einem alten Gesicht. Sie fragte, ob sie mal hereinkommen dürfe. Sie würde gerne Fotos sehen. Und vielleicht hätte ich ja auch Briefe.
Mir wurde ganz kalt vor Wut.
»Ja, bitte«, sagte ich. »Kommen Sie nur herein. Ich werde Ihnen alles vorlegen.«
Myrtens Leben ausbreiten, dachte ich. Es einer fremden Person auftischen. Wo sie doch so verschwiegen gewesen war, was sie selbst betraf. Diese kurzen, kindlichen Finger würden in Myrtens Papieren wühlen. Aber bitte! Schließlich gab es ja ein anwaltliches Schreiben darüber. Was hatte ich da schon zu bestellen?
Ich ging schnurstracks in die Stube, schaltete das Deckenlicht ein und machte mich daran, Fotoalben und Briefbündel auf den Tisch zu legen. Der Raum war ausgekühlt, und ich dachte, das geschehe ihr recht. Da merkte ich, daß sie mir gar nicht gefolgt war.
Ich ging hinaus, um ihr zu sagen, daß sie kommen solle. Sie stand nach wie vor im Flur und hatte den Kopf gesenkt. Ich möchte nicht behaupten, daß sie weinte, aber weit davon entfernt war sie nicht. Da stieg eine Erinnerung in mir auf.
Ich bin frisch verheiratet und mit Nila ins Skårefjell hinaufgegangen. Sein Bruder Aslak hat unsere Gåetie aufgebaut, und voller Erwartung trete ich in sie ein. Im Aernie brennt kein Feuer, trotzdem nehme ich ganz hinten undeutlich eine Gestalt wahr. Nachdem sich meine Augen an die Lichtveränderung gewöhnt haben, sehe ich, daß es meine Schwiegermutter ist. Ich begrüße sie und habe das Gefühl, mit der Hand in ein Dunkel zu stechen. Meine Vuanove sitzt inmitten aller Gefäße und Gerätschaften, und ich bitte sie, mir den Kaffeekessel zu reichen, damit ich draußen Wasser holen könne, während Nila Feuer mache.
»Nimm ihn«, sagt sie, und schon kommt der Kaffeekessel angefahren. »Nimm alles! Hier! Nimm nur!«
Sie schmeißt mir Kupfergefäße und Kellen vor die Füße, gegargelte Holzbottiche und am allerschlimmsten: ein Messer. Man soll doch niemals jemandem ein Schneidwerkzeug, eine Schere oder eine Nadel geben, nichts, was sticht und schneidet. Sie aber stach mir damals ins Herz und schnitt darin herum. Ich weiß noch, wie unglücklich Nila war. Auch er vermochte nichts zu sagen. Meine Vuanove ging und lebte dann bei Aslak. Das war ja auch recht und billig. Daß es allerdings so vor sich gehen würde, hatte ich mir nie träumen lassen.
Ich hielt gerade ein Fotoalbum in Händen und hatte es eigentlich dieser Ingefrid Mingus hinschmeißen wollen. Aber ich ging wieder in die Küche und legte es auf den Küchentisch. Ich hatte leicht zittrige Hände. Erinnerungen sind manchmal so stark.
»Kommen Sie herein«, sagte ich.
»Ich möchte nicht aufdringlich sein«, erwiderte sie.
»Kommen Sie herein, dann gucken wir zusammen«, sagte ich.
»Nein, ich meinte nicht jetzt. Irgendwann, wenn es Ihnen paßt. Jetzt kann ich auf keinen Fall bleiben. Ich habe meinen Jungen oben beim Laden.«
Es ist so seltsam, zu glauben und zugleich nicht zu glauben. Als sie jedoch sagte, sie habe ein Kind, glaubte ich es. Denn mein erster Gedanke war: Er ist Myrtens Enkel.
»Kann er nicht herkommen?« fragte ich. »Wir könnten uns ein bißchen Kaffee machen.«
Ein Enkelkind ist etwas anderes. Völlig Unschuldiges.
Als sie ihn beim Laden abholen ging, mußte ich mich unbedingt setzen. Mir schlotterten die Knie. Ich war froh, ein Weilchen allein zu sein. Und ich muß sagen, es war gut, daß ich saß, als sie mit dem Jungen zurückkam.
Von wegen Troll.
Er war schwarz. Nicht gerade wie ein Neger, aber mächtig dunkel. Er hatte langes schwarzes Haar, das ihm bis über den Kragen seiner Steppjacke reichte. Seine Augen waren braunschwarz und glänzten. Klein war er. An die neun, zehn Jährchen, schätzte ich.
»Wo kommt er her?« fragte ich.
Er antwortete selbst:
»Ich weiß nicht. Aber aufgewachsen bin ich unter …«
Da ging seine Mutter dazwischen:
»Ja ja ja …«
Er hatte völlig korrektes Schwedisch gesprochen. Stockholmerisch im übrigen. Aber nun kommt das Seltsame: Seine Mutter klang wie Myrten. Aber haargenau. Es war, als hörte man Myrtens Stimme. Wenn diese etwas nicht hören wollte, Hundegebell oder schrille Kinderstimmen, dann sagte sie auf genau diese Art: Ja ja ja …
Jetzt sagte Ingefrid Mingus: »Indien«. Sie mußte gesehen haben, daß ich verwirrt war, denn sie wiederholte:
»Er kommt ursprünglich aus Indien. Er ist adoptiert und kam mit drei Jahren zu mir.«
Ja, was soll man da sagen? Ich ging zum Herd und machte mich mit dem Kaffeekessel zu schaffen.
»Wie heißt du?« fragte ich das Bürschchen.
»Anand.«
»Bitte?«
»Sprich etwas lauter«, sagte die Mutter.
»Ich heiße Anand!«
»Anand … Anand …«
Ich glaubte das schier nicht.
»Jetzt erzähle ich dir was ganz Merkwürdiges«, sagte ich zu dem Jungen. »Ich hatte einen Onkel. Weißt du, wie der hieß?«
»Nee.«
»Er hieß Anund.«
»Jetzt setz dich an den Tisch, Anand. Ich werde Kaffee machen und Plätzchen holen. Möchtest du Saft haben?«
»Kaffee«, erwiderte er.
»Darf er denn Kaffee trinken?«
»Anand ist vierzehn«, sagte Ingefrid Mingus, und ich mochte das schier nicht glauben.
*
Es gibt einen Geruch nach trockenem, kaltem Schnee. Elis kannte ihn, konnte ihn aber nicht mehr wahrnehmen. Er trug Joggingschuhe, als er mit seinen frisch gepflegten Füßen das Vereinshaus verließ. Zuerst hatte diese dämliche Person trocken gefeilt und gesagt, das Hornmehl staube. Sie glaubte wohl, er könne etwas dafür, daß die Fersen verhornten.
Wenn er, die Füße im warmen Seifenwasser, allein war, dachte er immer an seinen Vater. Oder an den Alten, was das anbelangte. Was hätten die zur Fußpflege gesagt? Er empfand eine späte Gemeinschaft mit ihnen bei dem Gedanken, wie sie sich darüber lustig gemacht hätten: die Füße von einem eigens dafür abgestellten Frauenzimmer gepflegt zu bekommen! Die Klauen, hätte der Alte gesagt. Packst deinige Klauen hier drauf, könnet sie’s dir abschneiden.
Die Klauen schneiden. So hieß das. Er sah die Kühe vor sich. Sie hatten verwachsene Winterklauen, konnten kaum aus dem Viehstall wanken damit. Gekrümmte Kuhklauen, mit eingetretenem Mist farciert. Mutter sammelte Splitter auf, wenn der Klauenpfleger da war. Das war ein spezieller Kerl. Wie, zum Kuckuck, hieß der bloß noch? Er war auf jeden Fall aus Skinnarviken. Mutter tat die Kuhklauensplitter in die Blumentöpfe, denn bestimmt düngten sie.
In den letzten drei Jahrzehnten wuchs bei ihm alles, was tot war. Die Zehennägel wurden dick und gelb und im Nu so lang, wie sie es seiner Erinnerung nach früher nie gewesen waren. Sie krümmten sich nach innen und schmerzten. Er bekam Hornbuckel an den Fußsohlen. Auf seinen Handrücken vermehrten sich die braunen Flecken. Haarbüschel wuchsen ihm aus den Nasenlöchern und den Ohren. An den Augenbrauen hatte er mittlerweile lange Spitzen, wie Luchsohren. Sein Körper wollte nicht aufgeben. Er brachte Rostfraß auf den Händen hervor, Warzen, borstige Haare, krumme Nägel und Hornwülste. Es war eine obszöne Nachahmung von Lebenskraft, ein totes und gefühlloses Wuchern, das noch eine Zeitlang weitergehen würde, nachdem sein Herz stehengeblieben wäre.
Nachdem die Verhärtungen und eingewachsenen Nägel schmerzhaft geworden waren, hatte er die Fußpflege akzeptieren müssen, wenn er auch noch nie etwas Lächerlicheres gehört hatte. Jedenfalls bei Männern. Mit Hornwülsten an den Sohlen kam er jedoch den Hang nicht hinunter, das tat zu weh. Er wollte aber hinunter. Die Zeitung holen, ein Weilchen bei Kristin Klementsen sitzen. Nun, heutzutage dauerten diese Weilchen etwas länger, denn er mußte ja mit Reine zurückfahren. Der Anstieg war zu mühevoll. Und Reine holte die Post erst spät, er hatte so viele Fahrten zu machen.
Diese Person, diese Mingus, fuhr ihres Wegs. Sie meinte wohl, ihnen keine Erklärung schuldig zu sein. Oder aber sie hatte keine. Eilig hatte sie es jedenfalls. Sie war Pfarrerin. Ordiniert und alles.
Woran sie wohl glaubt? Nicht an eine Gestalt im Himmel jedenfalls, das ist unmodern. An eine Kraft wahrscheinlich. Sie läuft in einer Uniform umher und glaubt an eine Kraft. Nicht unähnlich einem Funker in der Armee, der Funksprüche an die Basis durchgibt. Verdammt hochmütig eigentlich. Wir liegen alle im Staub. Manche behaupten, es nicht zu tun.
Doch wir suchen nach Smaragden und Perlen. Stochern mit dem Stock in gefrorenem Staub.
1981 war er nach Svartvattnet zurückgekehrt, im Vorsommer. Glaubte damals, es ginge schnurstracks in die Hölle, was ihm aber egal war, Hauptsache, er bekam diese Skizze. Und dann war es das reine Idyll. Grinsen muß eins. 1945 genauso. Obwohl es damals Hochsommer war, und Idyll kann man es wohl nicht gerade nennen.
Nicht so wie jetzt. Zimtschnecken und Bingo. Und sieh an – es paßt. Wenn Frauen alt werden, beginnen sie sich nach dem Strickstrumpf zu sehnen, und waren sie auch einst noch so forsch. Alte Knacker sehnen sich nach einer Ecke auf der Küchenbank. Und danach, stochernd umhergehen zu dürfen. Endlich.
Es war Gott sei Dank nicht glatt. Rauh und gut auf dem harten, kompakten Weiß. Ordentlich geräumt bei Risten. Mats erledigte das für seine Mutter. Sie ist auch nicht mehr die Jüngste, dachte er.
Er stieg gerade die Vortreppe hinauf, als die Tür aufging und diese Frau, an die er so oft gedacht hatte, herauskam. Sie war zurückgekommen, und sie hatte jetzt einen Jungen dabei, einen schwarzen, seltsamen Jungen. Elis mußte seinen Stock in die andere Hand nehmen, um die rechte frei zu bekommen und seinen Hut lüften zu können. Dann reichten sie einander die Hand. Er begrüßte auch den Jungen, doch die Frau gab keine Erklärung ab.
Nein, warum sollte sie ihm eine Erklärung liefern? Einem Mann, der zufällig vorbeikam? Ein alter Mann nur.
Drinnen roch es nach Kaffee, das merkte er. Allerdings war er sich nicht sicher. Er wußte nicht, ob er den Kaffeegeruch wahrgenommen hätte, wenn sein Blick nicht auf die Tassen und den Kessel gefallen wäre.
»Wer war das Bürschchen?«
»Der ihrige ist’s.«
»Ist aber doch ganz dunkel. Beinah schwarz.«
»Ja, sehet aus als wie ein Troll«, sagte Risten. »Ist aber schon der ihrige.«
»Ist er ein Ziehkind?«
»Nein, nein. Hat ihn adoptieret. Lustig ist der, weißt. Glaubet, daß er groß geworden unter Wölfen. Kömmet aber daher, daß er das Dschungelbuch gelesen, wie er klein gewesen. Tut’s schier bereuen, sie, daß sie es ihm gegeben, das Buch, saget sie. Ist aus Indien, der Junge.«
»Mensch, was sie rumfahren tun heutigentags, die Leute. Und die kleinen Kinder nichten minder.«
»Ja, ja, bist selbig rumgefahren, nichten minder.«
*
Manchmal ist mein Onkel Anund auch so still geworden. Dann war er vielleicht für ein Weilchen im Eismeer. Was immer er da gesehen haben mag. Groben Eisschorf an den Tauen. Die Fische im Netz, die sich winden und wimmeln wie dem Bauch des Meeres entnommene Eingeweide. Oder wie das war. Das wußte nur er. Elias sagt, er sei manchmal in Venedig. Diese Stadt sei ein Labyrinth, behauptet er. Aber er erzählt nie was von dort.
»Bitte?«
»Hab gefraget, ob Kaffee haben magst?«
Ich hielt den Kaffeekessel mit festem Griff. Glaubte ihn zu brauchen. Manche schweben im Eismeer, andere rennen durch dieses Steinlabyrinth namens Venedig.
»Ich tu ihn hier hinstellen jetzt, den Stock. Mußt ihn nichten an den Stuhl lehnen. Fallet alsfort um.«
Elias hatte die Augen zugemacht. Er saß aufrecht und schlief nicht. Ich dachte wieder an meinen Onkel. Der konnte auch so dasitzen, und man wußte nicht, ob er schlief oder wach war. Er war nicht älter als Elias, hätte also noch leben können. Aber er war jetzt bald zwanzig Jahre tot.
»Möcht gern mal was fragen«, sagte Elias. »Über diese Person da, diese Mingus.«
»Ingefrid heißet sie.«
»Ja, tut schon so ein Name sein! Wo möcht sie den bloß herhaben?«
»Glaube, hat ihn aus einem Roman genommen, die Myrten.«
»Wie kannst wissen, ob sie die Tochter von der Myrten sein tut? Hast Beweise gekrieget?«
»Kann eins getrostig sagen.«
Ich ging das Foto holen, das ich in der Stube unter das Deckchen auf dem Büfett geschoben hatte.
»Hier, bitte.«
Auf dem Bild war ein kurzbeiniger Mann in Uniform. Weiße Schirmmütze mit Kordel, blanke Knöpfe. Die Hose war ungebügelt, hatte deutliche Knie.
»Schaust das Gesicht an. Die Nase. Schaust, was der für kleine Füße hat. Tut der Ingefrid ihrige Nase sein. Siehst das nichten?«
Doch, das sah er. Ich hatte das Bild aus den kleinen Fotoecken eines Albums gepfriemelt. Jetzt lehnte ich es an den Topf mit dem Weihnachtsstern mitten auf dem Tisch.
»Hast’s ihr gezeiget, das Foto?«
»Nein, nein, nichten.«
»Nä, tut vielleicht auch gut sein so. Ein Mordszinken ist das ja! Ist ein bißchen kleiner, der ihrige. Aber gleichens. Wer tut denn das da eigentlich sein?«
Ich antwortete:
»Ist der Urgroßvater von der Ingefrid Mingus. Ist Kapitän gewesen und hat Claes Hegger geheißet.«
Am nächsten Tag legte ich Ingefrid noch mehr Fotos vor. Sie starrte sie an, als glaubte sie, die Menschen auf den Bildern würden von ihrem Blick lebendig. Als in ihnen das Leben noch pulsiert hatte, waren ihre Gesichter jedoch unbeobachtet gewesen. Ihre Hände hatten nicht die Silberkrücke eines Stocks gehalten, den jemand zum Sechzigsten bekommen hatte, oder die geschnitzte Lehne eines Stuhls im Atelier des Fotografen, sondern sich über gewohnte Dinge und Körper bewegt. Ich hätte ihr lieber den Deckel der Brennholzkiste zeigen sollen, den Hillevi in all den Jahren so oft am Tag angehoben hatte. Die Kiste ist immer wieder neu gestrichen worden. Kein Anstrich kann jedoch die Mulde zum Verschwinden bringen, die durch den Gebrauch entstanden ist, dadurch, daß die Hände letzten Endes auf das Holz eingewirkt haben, daß fürsorgliche Gewohnheit die Kante abgegriffen und sie so gefällig wie einen Körper gemacht hat.
Hier an der Spüle hat sie die Trauringe abgenommen, sie legte sie immer in den Mörser, wenn sie sich die Hände waschen wollte. Du solltest Hillevi beim Händewaschen sehen, wollte ich zu Ingefrid sagen. Das war eine Kunst für sich, mit Nagelbürste, lauwarmem Wasser und Glyzerinseife. Hier drinnen in der Steinmulde des Mörsers lagen die breiten Trauringe, wenn sie einen aufgegangenen Teig aus dem Trog nahm, um ihn zu kneten. Zwei Mal im Laufe ihres Lebens hatte sie die Ringe umarbeiten lassen müssen, weil das weiche Gold abgenutzt war. Für Trond war etwas anderes als dreiundzwanzig Karat für sie undenkbar gewesen. Sie wurden dünn von diesem Leben, nach dem du in dem Gesicht auf einem Stück Pappe starrst.
»Myrten ist ein merkwürdiger Name«, sagte Ingefrid Mingus. »Kann das ein englischer Mädchenname in entstellter Form sein?«
Dann schien mir, sie habe Mörtel gesagt, und ich erwiderte, daß dem nicht so sei. Ich wollte aber nicht sagen, wie es war. Sie war zu fremd. Statt dessen sagte ich:
»Hier steht Ihr Großvater Trond Halvarsson mit Sotsvarten vor dem Haus.«
Sotsvarten war ein großer und schwerer Gaul. Auf dem Foto trägt er ein Halfter, und Trond ist mit der Halfterkette in der Hand so weit wie möglich zur Seite getreten. Von diesem großen, schwarzen Leib sollte alles auf dem Foto zu sehen sein. Diesem Leib, der in unseren Diensten so viele Fuhren zog, sich aber auch eines anderen Lebens bewußt war. Denn Sotsvarten hatte den Sommer, den Sommer im Wald, wo sein Hufschlag über einen Boden dröhnen durfte, der von Pferdegetrampel und Menschenerinnerung durchzogen war.
Elias Elv hat ein Gemälde mit Pferden. Pferden im Wald. Das würde ich ihr gern zeigen. Er hat es gekauft, als Aagot Fagerli starb. Hier ist sie. Eine fesche Frau bis ins hohe Alter. Sie war die Schwester von Ingefrids Großvater. Ursprünglich schwarzhaarig. In ihrer Jugend war sie mal in Amerika. 1981 ist sie gestorben. Myrten war im Herbst davor gestorben, gerade mal neunundfünfzigjährig. Ihren Bruder Trond hat Aagot um mehr als dreißig Jahre überlebt.
Kannst du darin einen Sinn erkennen? Freilich frage ich sie das nicht. Eine Pfarrerin muß schließlich nicht wegen allem Rede und Antwort stehen. Jedenfalls nicht hier in meinem Haus.
»Setzen Sie sich«, sagte ich zu ihr und wies auf das Paneelsofa. Auf dem Stubentisch hatte ich Fotos und Briefe von Myrten ausgebreitet. Schon am Morgen hatte ich die elektrischen Heizkörper eingeschaltet, damit ihr nicht kalt würde. Als sie über die Stapel tastete, sah ich, daß sie verlegen und womöglich ängstlich war. Ihre Hand zitterte leicht.
*
Die alte Frau hatte viel zu große Füße für ihren kleinen Körper. Durch die Joggingschuhe wirkten sie freilich noch größer. Sie war auch leicht O-beinig. In den engen Crimplenehosen, die sie trug, war das recht gut zu sehen. Jetzt zog sie sich gerade einen Steppmantel über die weiße Strickjacke. Sie sagte, sie müsse etwas besorgen. Sie hatte auffallend wenig gefragt, und Inga begriff, daß sie sie in Ruhe lassen wollte.
Das Haus um sie herum war anders, nachdem Kristin Klementsen gegangen war. Es drängte sich auf. Eine unangenehme, leicht kitzelnde Lust, den Rest zu sehen, überkam sie. Obenrauf, wie die alte Frau es nannte. Myrtens Zimmer. So hatte sie gesagt. War es ein Sanktuarium?
Es war ein maßvolles Haus. Merkwürdig eigentlich, daß eine so reiche Frau wie Myrten Fjellström sich damit begnügt hatte, in einem so kleinen Haus zu wohnen. Die Küche hatte sowohl zu dem großen See als auch zur Straße hin Fenster, und sie nahm mehr als die Hälfte des Erdgeschosses ein. Hier befand sich auch dieser ziemlich kühle Raum, in dem Inga gerade stand. Kristin Klementsen nannte ihn Stube. Sie sprach es natürlich jämtisch aus. Hatte Myrten Fjellström auch so gesprochen? Zwischen den Kristallvasen und Neusilbersachen auf dem Büfett stand eine Atelieraufnahme von ihr, sie sah flott aus.
Kristin Klementsen hatte viele Fotos aus unterschiedlichen Lebensabschnitten hingelegt. Viele Ausstaffierungen: Twinset und Perlenhalsband, ein Kleid mit drapierter Schulterpartie, eine weiße Bluse und eine norwegische Strickjacke, ein Kostüm mit einem Veilchenbukett im Knopfloch.
Sie zog eine Ansichtskarte aus dem Briefstapel und las einige Zeilen:
da ich ohnehin hier bin, kann ich zu Harald Löfberg gehen und gucken, was sie haben. Am liebsten hätte ich etwas Geblümtes, aber diskret.
Sie hatte eine gleichmäßige, angenehm flüssige Handschrift. Der Text schien aufs Papier geflossen zu sein, ohne ahnen zu lassen, in welcher Stimmung sie die Zeilen schrieb. Harald Löfberg war früher in der Kungsgatan gewesen. Die Ansicht zeigte das Stadthaus, und die Karte war am 20.März 1954 datiert. Myrten Fjellström hatte es also nichts ausgemacht, nach 1946 nach Stockholm zu fahren.
Auf dem Foto lächelte sie.
Es war nur schwer auszuhalten. Das Neusilber und das Kristall glänzten. Schnitzereien aus dunklem Holz umrahmten den ovalen Büfettspiegel. An der Wand stand ein Sofa mit eigenartig gerader Rückenlehne, ein sogenanntes Paneelsofa, das nicht einmal Linnea hätte verkaufen können.
Warum hatten sie nicht alles hinausgeschafft und zu einem Auktionator gebracht? Statt dessen hatten sie ein Fernsehgerät neben einen Sekretär gezwängt, der als Schreibtisch dienen konnte, und den kleinen Rest freier Fläche zwischen dem Säulentisch und dem Fenster mit zwei modernen Sesseln zugestellt.
Die Fotografien waren auf der Spitzendecke auf dem Tisch ausgebreitet. Ein Gesicht in verschiedenen Lebensabschnitten. Dieses Gesicht. Hier war eine Bluse mit Schulterklappen zu sehen. Ein Vierzigerjahreaufzug? Womöglich war das Bild vorher aufgenommen worden.
Die Briefbündel lagen auf der aufgeklappten Schreibplatte des Sekretärs. Sie pfriemelte ein Kuvert auf, schielte hinein und las:
Hab keine Angst. Mein Leben ist so licht, so erleuchtet von der Liebe zu Dir. Da gibt es keine finsteren Geheimnisse in irgendwelchen Ecken. All das ist ausgelöscht. Ich möchte, daß Du geradewegs durch mich hindurchsehen kannst.
Mein Vater, dachte sie. In ihrem Magen regte sich etwas. Nicht unähnlich einem Fisch, der sich dreht. Doch es tat weh.
War ich dieses finstere Geheimnis? Weggegeben und ausgelöscht.
Deine Stimme war so klein und zart am Telefon. Pfirsichwange! Ich möchte nicht, daß Du allein sein mußt.
Denke oft an den alten
Dag
Sie empfand einen leichten Ekel dabei, deren gemeinsame Albernheiten auszuspähen. Diese Zeilen mußte Dag Bonde Karlsson geschrieben haben, der eigentlich Fjellström hieß und den Myrten 1953 geheiratet hatte. Die Urszene. Kein brutaler und unbegreiflicher Akt, den das erschrockene Kind anstarrt, sondern ein albernes Paar, das miteinander zwitschert. Allerdings fand sie bei Myrten kein Gezwitscher, sondern lediglich Anweisungen, was in Östersund einzukaufen sei. Hatte dieses Paar ein Kind bekommen, das sie weggaben, weil er mit einer anderen verheiratet war? Laut Kristin Klementsen wurde er Witwer, aber erst später. Nach der Urszene, von der niemand etwas ahnen durfte.
Warum sollte sie mich sonst nach einer seiner Romanfiguren getauft haben?
Wenn man barmherzig und verzeihend sein möchte, so ist es vielleicht zu spät gewesen, mich nach Hause zu holen, als er Witwer wurde. Linnea war meine Mutter geworden und Kalle Mingus mein Vater.
Wenn man barmherzig sein möchte.
Sie ging zum Tisch zurück und betrachtete die Fotografien. Eine Frau, die so viele Bilder von sich besaß, worauf sie unveränderlich vorteilhaft aussah, konnte die durch ein Zimmer gehen, ohne sich gleichzeitig dort gehen zu sehen? Muß sie nicht eine Frau gewesen sein, die ihr wahres Leben im Spiegel lebte und Körperliches von einem schnellen Schatten absondern ließ: die Tränen, von denen die Augenlider verquollen und die Furchen in die Pfirsichwange gruben, der Schweiß in den Achselhöhlen und unter den Brüsten und das unvermeidliche morgendliche Resultat davon, daß der Magen seine Funktion erfüllte.
Alles schien seine Funktion erfüllt zu haben. Etwas Gepflegteres konnte man sich nicht vorstellen.
Sie dachte: Ich bin besessen. Ich bin nicht ich selbst. Was da in mir wühlt, ist etwas von außen, etwas, was nicht ich bin. Ich muß mich auf dieses idiotische Paneelsofa setzen, den Kopf neigen und beten. Um Befreiung beten.
Sie tat es aber nicht. Sie zog Schubladen auf und wühlte in Papieren, die Kristin Klementsen nicht auf den Tisch gelegt hatte. Sie hatte das Gefühl, Kristin habe geschummelt und gelogen und nur das Vorzeigbare hingelegt. Sie fand jedoch nichts mehr, was mit Myrten Fjellström zu tun hatte.
Sie stöberte in den Sachen auf dem Büfett und fand unter dem Deckchen eine steife Fotografie. Es war lediglich das Bild eines uniformierten Mannes aus dem neunzehnten Jahrhundert. Sie hatte jedoch den Eindruck, als habe Kristin es versteckt.
Die Nase.
Das ist meine Nase. Allerdings noch schlimmer. Kristin ist nett. War natürlich der Meinung, diesen entsetzlichen Auswuchs verstecken zu müssen.
Als sie das Gesicht mit dem Bartkranz und der flatschigen Uniformmütze, den Körper mit den zu langen Armen und krumm wirkenden Beinen betrachtete, begriff sie, daß sie gefangen war.
Sie hatte sich von Linnea und deren wohlmeinendem Drill befreien müssen. Dieser hatte sie jedoch nie im tiefsten Innern berührt. Dort war sie ein freier Mensch gewesen. Ein Individuum, das Linneas Schätze als Gerümpel ansehen konnte. Frei, Gott zu suchen. Für Linnea war es mehr wert, einen Jugendstilkronleuchter aufzuspüren. Ebenso frei war ich von meinem geliebten, reizenden Kalle Mingus. Ich brauchte nicht zu versuchen, wie er zu sein – musikalisch. Und ich brauchte das Leben nicht leicht zu nehmen.
All das war normal und verlief schmerzfrei, wenn auch nicht ohne Reibungen.
Hier aber ist Schluß mit der Freiheit. In einem Zimmer mit Sekretär und Paneelsofa in einem entlegenen Nest im nordwestlichen Jämtland starren mich Gesichter an. Ich erkenne ein Augenpaar wieder, wenn ich den Blick zum Spiegel auf dem Büfettaufsatz hebe. Eine Hand auf der Bahn eines Rocks konnte meine Hand sein. Eine Nase, die schon immer mein Kummer war, war es offensichtlich nicht für einen uniformierten Kerl mit langen Armen und krummen Beinen.
Hier steht und sitzt eine ganze Geisterarmee, eine Besatzungstruppe, gegen die ich nicht den geringsten Widerstand leisten kann, weil ich ihr angehöre. Hat sie immer für mich entschieden? Erzählt sie sich in meinem Leben selbst?
Sie schob das Foto unter das Deckchen zurück und sah sich die Briefe an, die auf der Schreibplatte des Sekretärs lagen. Da war ein Bündel mit ausländischen Briefmarken. Französischen. Sie waren an den Kaufmann und Frau Trond Halvarsson adressiert. Die Großeltern. Auf einigen Kuverts war der Stempel ganz deutlich zu erkennen. Sie sah, daß sie aus dem Frühjahr 1946 stammten. Als es schon passiert war. Ich war in Frankreich, dachte sie, und ihr war leicht kicherig zumute. Was Kristin Klementsen behauptet hatte, stimmte also. Myrten Halvarsson, wie sie damals geheißen hatte, war dort, und ich mußte dabeigewesen sein. Das war immerhin wahr. Konnte man es sich leisten, so fuhr man ins Ausland, wenn man, ohne verheiratet zu sein, schwanger geworden war. Die Eltern mußten davon gewußt haben, was immer Kristin Klementsen sagte.
Sie beschlich das Gefühl, etwas in Händen zu halten, was sie wahrhaftig erlebt hatte. Wir sind in Kerlagouëso gewesen, und ich bin am Strand entlanggestreift. Das war Ende März geschrieben worden. Nicht eben von einem glücklichen Menschen, so viel konnte man herauslesen. Doch von einem gefaßten. Monsieur Canterels Freund wohnt das ganze Jahr über in Kurmelen. Das ist schwer zu verstehen, denn es ist ziemlich einsam dort. Im März 1946 streifte sie mit einem schweren Fötus im Bauch an einem einsamen Strand entlang.
Dann tat Inga das, was sie die ganze Zeit über schon hatte tun wollen. Lief rasch die Treppe hinauf, um zu gucken, wie es im oberen Geschoß aussah. Sie hätte Kristin Klementsen darum bitten können, doch sie hatte keine Lust, zuzugeben, daß sie das Zimmer sehen wollte. Außerdem wollte sie dort allein sein.
Es war, als hätte sie gewußt, welches Zimmer das von Myrten Fjellström war. Von der Treppe aus gerade vor. Das Bett hatte einen Chintzbezug. Rosa und hellblauer Flieder auf beingelbem Grund. Gefältelte Einfassung. Zwei schmucke Kissen mit Volants.
Ein Sanktuarium war es allerdings nicht. Es roch verraucht. Auf dem Nachttisch lagen eine Brille mit groben Bügeln, ein halb ausgefüllter Totoschein und ein Kugelschreiber. Eine Pfeife in einem Aschenbecher und ein Medizinfläschchen. Irgend jemand wohnt hier gelegentlich, dachte sie. Der alte Mann vielleicht? Doch weder die Lederhose auf dem Stuhl noch die abgetragenen Motorradstiefel konnten ihm gehören.
Es gab ein Fenster zur Straße und zum Laden hin, aber keins nach der anderen Seite. Dort schien sich ein langer, begehbarer Kleiderschrank hinzuziehen. An der Wand stand ein kleiner Schreibtisch aus Birkenholz, den Myrten Fjellström offenbar als Toilettentisch benutzt hatte. Der Kristallaufsatz wirkte allerdings älter. Da waren eine Kammablage, Puderdosen und ein Flakon. Über dem Mädchenschreibtisch befand sich ein dreiteiliger Spiegel. Man konnte seine beiden Flügel schwenken und sich selbst von hinten und von der Seite sehen. So wie andere einen sahen.
In einem kleinen Bücherregal beim Bett standen mehrere Bilderbücher von Elsa Beskow und ein Mädchenbuch mit dem Titel Noch ein kleiner Wildfang. Eine schwungvolle und glückliche Mutti schob einen Kinderwagen mit einem pummeligen, rosigen Baby. Hut und Kostüm nach zu urteilen, handelte es sich um die vierziger Jahre. Womöglich hatte Myrten so ausgesehen. Aber sie hat sicherlich nie meinen Kinderwagen geschoben.
Dann fiel ihr Blick auf ihren Taufnamen. Ingefrid auf Högåsa stand auf einem Buchrücken. Es gab noch mehr Romane aus Dag Bonde Karlssons Produktion in dem Regal. Das Buch, auf dem der Name Ingefrid stand, war Myrten Halvarsson 1952 von ihrem ergebenen Freund, dem Verfasser gewidmet worden. Schrieb man so, wenn man ein Kind zusammen hatte? Möglicherweise. Wenn man das Verhältnis kaschieren wollte.
Sie setzte sich auf das Bett und las in dem Roman.
»Morgenrot Schlechtwetterbot«, sagte er, und sein schwarzer Bart bebte. Er trat marklos in den Hofraum hinaus.
Marklos?
Damit habe ich nichts zu tun, dachte sie und stellte das Buch ins Regal zurück. Mit ihren Körpern vielleicht. Aber nicht damit.
Sie wollte nun wieder nach unten gehen. Es wäre ein bißchen peinlich, wenn Kristin Klementsen nach Hause käme, während sie hier oben war. Zuvor aber öffnete sie noch die Tür des Kleiderschranks. Darin war eine lange mit Kleidern behangene Stange angebracht, die sich über die gesamte Länge des Raums erstreckte. Gleich bei der Tür hingen eine Fleecejacke und eine Schutzhose. Dann folgten Frauenkleider. Dicht bei dicht. Wie verblichen sie aussahen. Schlabbrig und unfrisch. Man konnte aber nicht behaupten, daß sie schmutzig waren. Sie hatten lediglich zu lange und körperlos gehangen. Als Inga sie anfaßte, wirkten sie allerdings viel zu körperlich. Eklig und fremd.
Wie im Traum ging sie hinein, drückte sich an den Stoffschichten vorbei. Ganz am Ende war ein kleines Fenster in Form eines Rhomboids. Hier drinnen war es kälter. Sie strich mit der Hand über die Kleider, bekam einen dünnen Stoff zu fassen. Organdy? Nein, der wäre steif. Sie erinnerte sich an ein Wort für dieses schlabberig Feine: Voile. Eine Bluse aus gelbem Voile mit einem Muster aus braunen und orangefarbenen Blumen. Am Hals undurchschaubar geschnitten. Man mußte sie wahrscheinlich anziehen, um zu begreifen, wie sie sitzen sollte. Die Weichheit des Stoffs lenkte ihre Gedanken auf Pfirsichwange. Sie hatte dieses Wort albern gefunden. Aber wenn ihre Wange nun tatsächlich weich gewesen war? Glatt, voll, flaumig?
Im Spiegel war ihr Bild gewesen. Jetzt waren darin das Licht und die Leere eines Wintertages.
Als sie aus dem oberen Geschoß nach unten kam, saß der alte Mann auf der Küchenbank. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Jetzt saß er reglos da und hatte beide Hände auf die Stockkrücke gestützt. Sie kam nicht umhin, in die Küche zu gehen. Es führte kein Weg daran vorbei. Der Widerstand gegen den Übergriff, den sein Blick darstellte, war groß. Und dennoch ging sie schnurstracks hinein. Berufsmäßig lächelnd, sie konnte nicht anders. In ihrem Innern lagen die Wortpakete bereit. Sie war schon drauf und dran, eines von sich zu geben, als er sagte:
»Wonach suchen Sie?«