Die Rückkehr der Bestie - Clive Cussler - E-Book

Die Rückkehr der Bestie E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

»Perfekt für die Leser, die Krimis mit einer einzigartigen Kulisse mögen.« Kirkus Reviews

New York, 1911: Isaac Bell von der Van-Dorn-Detektei hat bereits viele Fälle gehabt, doch noch keiner hat ihn so mitgenommen. Immer mehr junge Frauen werden brutal ermordet. Die Opfer sehen sich ähnlich, und der Tathergang weist ein ähnliches Muster auf wie das eines Mörders, der 22 Jahre zuvor sein Unwesen in London getrieben hat. Wenn Bell mit seiner Befürchtung Recht hat, jagt er ein Monster, dass selbst einem hartgesottenen Mann wie ihm kalte Schauer über den Rücken laufen lässt – Jack the Ripper!

Die besten historischen Actionromane! Verpassen Sie keinen Fall des brillanten Ermittlers Isaac Bell. Jeder Roman ist einzeln lesbar.

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Seitenzahl: 512

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New York, 1911: Isaac Bell von der Van-Dorn-Detektei hat bereits viele Fälle gehabt, doch noch keiner hat ihn so mitgenommen. Immer mehr junge Frauen werden brutal ermordet. Die Opfer sehen sich ähnlich, und der Tathergang weist ein ähnliches Muster auf wie das eines Mörders, der zweiundzwanzig Jahre zuvor sein Unwesen in London getrieben hat. Wenn Bell mit seiner Befürchtung recht hat, jagt er ein Monster, dass selbst einem hartgesottenen Mann wie ihm kalte Schauer über den Rücken laufen lässt – Jack the Ripper!

Autoren

Seit Clive Cussler 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, ist er auch auf der deutschen Spiegel-Bestsellerliste ein Dauergast. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebt in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.

Justin Scott ist ein Bestseller-Autor von Thrillern, Krimis und historischen Romanen. Er wurde für seine Krimis bereits mehrmals für den renommierten Edgar-Allan-Poe-Preis nominiert. Er lebt mit seiner Frau Amber in Connecticut, USA.

Liste der lieferbaren Isaac-Bell-Romane:

1. Höllenjagd

2. Sabotage

3. Blutnetz

4. Todesrennen

5. Meeresdonner

6. Die Gnadenlosen

7. Unbestechlich

8. Der Attentäter

9. Teufelsjagd

10. Die Rückkehr der Bestie

Clive Cussler& Justin Scott

Die Rückkehr der Bestie

Ein Isaac-Bell-Roman

Deutsch von Michael Kubiak

Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Cutthroat (Isaac Bell 10)« bei G.P. Putnam’s Sons, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich.

Copyright der Originalausgabe © 2017 by Sandecker, RLLLP

By arrangement with Peter Lampack Agency, Inc.

350 Fifth Avenue, Suite 5300

New York, NY 10118 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -abbildung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Ysbrand Cosijn; Aphelleon; BERNATSKAYA OXANA; Mr.Edward; DJ Cockburn; Yulia Reznikov)

Redaktion: Jörn Rauser

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-22685-5V001

www.blanvalet.de

HANDELNDE PERSONEN

VAN DORN DETECTIVE AGENCY

Isaac Bell – Chefermittler.

Joseph Van Dorn – Der »Boss«.

Harry Warren – Experte im Kampf gegen die Bandenkriminalität und Chef der Van Dorn Gang Squad, geboren als Salvatore Guaragna alias Kulissenschieber Quinn in einem Broadway-Theater, enger Vertrauter Isaac Bells.

Grady Forrer – Chef der Recherche-Abteilung.

Archibald Angell Abbott IV – Angehöriger der New­ ­Yorker High Society, ehemaliger Schauspieler, Isaac Bells bester Freund, seit sie sich als Studenten beim Kampf um die College-Meisterschaft im Boxring gegenüberstanden.

Helen Mills – Von Isaac Bell besonders gefördert, Tochter von U.S. Army Brigadier G. Tannenbaum Mills, die erste Frau im Rang eines Detektivs in der Agentur.

James Dashwood – Präzisionsschütze, von Isaac Bell besonders gefördert.

»Kansas City« Eddie Edwards – Spezialist für Eisenbahnschutz.

Texas Walt Hatfield – Nach längerer erfolgreicher Tätigkeit als Texas Ranger und Van-Dorn-Privatdetektiv mittlerweile gefeierter Star von Kino-Western.

Scudder Smith – Ehemaliger Privatdetektiv und Zeitungsverleger, der vorübergehend in die Rolle eines trinkfreudigen Reporters der New York Evening Sun schlüpft.

Eddie Tobin – Mitglied der Gang Squad und Spezialist für das Bandenunwesen im New Yorker Hafen.

VAN-DORN-REGIONALBÜRO-CHEFS

Horace Bronson – San Francisco.

Tim Holian – Los Angeles.

Charlie Post – Denver.

Jerry Sedgwick – Cincinnati

NEW YORKER

Captain »Honest Mike« Coligney – Leitet das 19. Revier des New York Police Department, zu dessen Einsatzbereich der Tenderloin und der Theater District gehören.

Nick Sayers – Gut aussehender und stets auf eine ­untadelige äußere Erscheinung achtender Inhaber des Grove Mansion, einem Bordell, das als »Ritz des Tenderloin« bekannt ist.

Skinner – Zweihundertfünfzig Pfund schwerer Tür­steher des »Ritz des Tenderloin«.

Neil Nyren – Zuhälter und Anwerber von Nachwuchs für die Bordelle des Tenderloin District, in dieser Funktion stets ausgesucht freundlich auftretender Inhaber eines Parfümladens im Grand Central Terminal.

Gophers – Gangster auf der West Side.

Adolph Klauber – Theaterkritiker der New York Times.

Mrs. Shine – Inhaberin der Schauspielerpension Mrs. Shine’s Boarding House for Actors, Anna Waterburys Zimmerwirtin.

Heather und Lou – Show-Tanzpaar, wohnt in Mrs. ­Shines Pension.

DR. JEKYLL AND MR. HYDE COMPANY

Jackson Barrett – Schauspieler und Impresario, Publikumsliebling und Autor, der abwechselnd die Hauptrollen von Dr. Jekyll und Mr. Hyde in seiner modernisierten Fassung des Melodrams spielt, das auf der Novelle von Robert Louis Stevenson basiert.

John Buchanan – Schauspieler und Impresario, Publikumsliebling und das geschäftliche und organisatorische Gehirn der Barrett & Buchanan Theatre ­Company, tauscht die Rollen Jekylls und Hydes mit Jackson Barrett, der sein Zwillingsbruder sein könnte.

Isabella Cook – »Begnadete und geliebte« Broadway-Schauspielerin. Verkörpert die bildschöne Universalerbin Gabriella Utterson.

Henry Booker Young – Barrett & Buchanans altgedienter und leidgeprüfter Inspizient.

Der Presseagent

Jeff und Joe Deaver – Ein reiches Brüderpaar, sogenannte »Engel«, das ihr Geld mit Vorliebe in Erfolg versprechende Broadway-Produktionen investiert.

Miss Gold – Schauspielerin und mit verschiedenen Aufgaben betraute Produktionsassistentin, tritt gelegentlich als Zuschauerin auf, um den Verkauf von Eintrittskarten anzuheizen.

Rick L. Cox – Bühnenautor, verbitterter und verkannter Ghostwriter.

ALIAS JIMMY VALENTINE COMPANY

M. Vietor – Star der Theater-Truppe.

Douglas Lockwood – Spielt die Rolle des Detective Doyle.

Lucy Balant – Schauspielerin und vielseitiges Mitglied der Theater-Truppe, Anna Waterburys Mitbewohnerin in Mrs. Shine’s Boarding House for Actors.

Nate Stewart – Chefbühnenschreiner.

Inspizient

ENGLAND

Joel Wallace – Chef des Londoner Regionalbüros der Van Dorn Detective Agency.

Scotland Yard Inspektor

Detectives und Konstabler von Scotland Yard

Nigel Roberts – Pensionierter Scotland-Yard-Detectiv, Kurator des British Lock Museum.

Davy Collins – Haarschneider mit Friseur- und Barbierladen in Whitechapel.

Wayne Barlowe – Londoner Zeitungsillustrator und Künstler.

London Emily – Laudanum-Konsumentin in Manchester, wichtige Zeugin.

Lord Strone – British Military Intelligence, Secret ­Service Bureau.

Abbington-Westlake – British Admirality, Naval Intelligence, Foreign Division.

Reginald – Spion und Beschattungsexperte.

James Mapes – Schauspieler, Mitglied des Garrick Club.

Granger – Gnadenloser Kritiker.

Dolly – Revuetänzerin im West End, Detektiv Joel ­Wallaces neue Freundin.

Dollys Mutter – Ehemalige Tänzerin in Tra-la-la Tosca.

FILMEMACHER

Marion Morgan Bell – Seit einem Jahr Isaac Bells ­Ehefrau, seine geliebte Vertraute und wohlbekannte Filme­macherin.

Mrs. Rennegal – Raubeinige Cooper-Hewitt-Lichtgestalterin und Beleuchterin.

Mr. Davidson – Kameramann.

Kellan – Davidsons Assistent.

Mr. Blitzer – Kameramann.

NEBENROLLEN

Medick – Schauspieler und Impresario, vormaliger ­Besitzer der Tournee-Produktion von Dr. Jekyll und Mr. Hyde.

Rufus S. Oppenheim – Chef des Theatrical Syndicate, Isabella Cooks Ehemann.

Preston Whiteway – San Francisco. Zeitungsverleger und Marion Morgan Bells Chef bei Picture World News Reels.

Kux – Isaac Bells wortkarger Privatzugbegleiter.

Uncle Andy Rubenoff – Wall-Street-Bankier, der seine Finanzgeschäfte nach Hollywood verlegt hat.

Hazel Bradford – Für die Luftwerbung zuständige ­Bannerschlepp-Pilotin.

Jimmy Richards, Marvyn Gordon und Molly – »Hafenratten« in Staten Island.

Gerichtsärzte, Assistenzgerichtsärzte, Bühnentürsteher, Theaterassistenten, Bühnenarbeiter, Zeitungsreporter und -reporterinnen, Firmenpolizisten, Lokomotivführer und -heizer, Lehrlinge der Van Dorn Detective Agency

DIE UNSCHULDIGEN

Anna Genevieve Pape – Theaterbegeisterte Achtzehnjährige, die von zu Hause durchbrannte, um Schauspielerin zu werden. Künstlername: Anna Waterbury.

William Lathrop Pape – Annas Vater, ein in Waterbury ansässiger Industrieller.

Lillian Lent – Bostoner Prostituierte.

Mary Beth Winthrop – Sopranistin im Chor der Christuskirche in Springfield, Massachusetts.

Beatrice Edmond – Varietétänzerin in Cincinnati.

Zahllose Frauen – Schauspielerinnen, Straßenmädchen, Fabrikarbeiterinnen, Western-Tanzhallen-Girls, die Ehefrau eines Arztes, die Ehefrau eines Bankiers, eine Bibliothekarin und andere.

PROLOG

NEW YORK, HERBST 1910

»Medick ist tot!«

Jackson Barrett stürmte Türen knallend in John Buchanans Garderobe. Dabei schwenkte er eine Cognacflasche, die sie stets bereithielten, um auf gelungene Premieren und Profit verheißende Theaterkritiken anzustoßen.

Buchanan saß vor dem Spiegel und schwärzte sein Gesicht für die abendliche Othello-Vorstellung – er spielte den Mohren neben Barretts Jago. In diesem Augenblick warf er den Schminkstift in die Luft, fing ihn wieder auf und jubelte: »Das ist die beste Nachricht seit Jahren!«

Das richtete sich nicht persönlich gegen Medick. Der routinierte Schauspieler hatte sich mit der doppelten Titel­rolle der von Mansfield-Sullivan besorgten Bühnenadaption der Novelle von Robert Louis Stevenson – Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde – eine ansehnliche Einnahmequelle geschaffen. Aber durch seinen plötzlichen Tod lag die Goldader plötzlich brach, doch sie hatten schon einen Plan, um sie sich mit einer vollkommen neuen Version von Dr. Jekyll und Mr. Hyde zu sichern. Wenn ihre Rechnung aufging, würde das Stück den Broadway im Sturm erobern und ihnen zur erfolgreichsten landesweiten Theatertournee seit Ben Hur verhelfen.

Sie stießen miteinander an und intonierten im Chor einen begeisterten Trinkspruch.

»Barrett und Buchanan …«

»Präsentieren …«

»Dr. Jekyll und Mr. Hyde!«

Der Brandy in ihren Gläsern reichte kaum aus, um ihre Lippen zu befeuchten. Die Arbeit für ihre Barrett&Buchanan-Theater-Company und deren Aktivitäten ließ ihnen keine Zeit für alkoholische Exzesse, und ihre daher sehr mäßigen Trinkgewohnheiten halfen ihnen, ihr jugendliches Aussehen und ihre sportliche Fitness zu erhalten. Groß und breitschultrig – »Hochgewachsen und imposant«, wie in der Kritik der New York Sun zu lesen war, die Buchanan auf seinen Spiegel geklebt hatte – tobten sie mit ihren vierzig Jahren über die Bühne, als seien sie Athleten, die mindestens zehn Jahre jünger waren. Jackson Barrett war blond. John Buchanan, der sein Zwilling hätte sein können, war ein wenig dunkler, sein Haar wirkte im Kontrast zu Barretts goldenen Locken eher sandfarben. Beide sonnten sich im Glanz ihres Ruhms als Bühnenstars, und ein Blick ihrer strahlend blauen Augen ließ die Herzen der Frauen bis in die hintersten Ränge höherschlagen. Die Ehemänner der Ladys betrachteten Jackson Barrett und John Buchanan als männliche Prachtexemplare mit tadellosen Manieren und als vollständig korrekt und vertrauenswürdig im Umgang mit der Damenwelt.

»Ich habe nachgedacht …«, sagte Barrett.

»Das ist nie ein gutes Zeichen«, erwiderte Buchanan mit leisem Spott.

»Was hältst du davon, wenn wir unsere Rollen hin- und hertauschen – sodass ständig geraten werden muss, wer wen darstellt. An dem einen Abend bin ich Jekyll, am nächsten …«

»Am nächsten Abend bist du Hyde. Das kurbelt den Verkauf der Eintrittskarten an und verhindert vielleicht sogar, dass dein Elan nachlässt.«

»Wir werden sicher noch mehr Karten los, wenn wir Isabella Cook überreden können, auf die Bühne zurückzukehren.«

»Das wird Rufus Oppenheim niemals zulassen.«

Isabella Cooks Ehemann hielt eine Mehrheitsbeteiligung am Theatrical Syndicate – das war ein Vorverkaufs- und Reservierungsdienst, der siebenhundert wichtige Theater im ganzen Land an sich gebunden hatte und mit eisernem Griff unter Kontrolle hielt. Ohne Rufus Oppen­heims Syndikat im Hintergrund gab es keine erfolgreichen Tourneen mit zahlungskräftigem Publikum, und um in den Genuss dieses Privilegs zu gelangen, musste man enorme Lizenzgebühren bezahlen.

»Was mochte wohl der Grund dafür gewesen sein, dass die schönste Schauspielerin auf dem Broadway das Ebenbild eines glatzköpfigen, Zigarre rauchenden Bären gehei­ratet hat?«

»Geld.«

»Sie würde niemals bei uns auftreten, selbst wenn ihr Oppenheim die Erlaubnis dazu gäbe«, sagte Buchanan. »Ich sehe in Jekyll und Hyde keine Rolle, die für die ›grandiose und von allen geliebte Isabella‹ groß genug wäre.«

»Dann solltest du wissen«, erwiderte Barrett, »dass ich an dem Manuskript ein wenig herumgeändert habe.«

»Wie?«, fragte Buchanan alarmiert. Er klang überhaupt nicht erfreut.

»Ich habe eine neue Rolle für unsere große und einzigartige Mimin hineingeschrieben – ich meine die schöne Heldin Gabriella Utterson –, die sie ins Zentrum der Handlung rückt. Gabriella hat es auf unseren gut aussehenden jungen Jekyll abgesehen. Das Publikum wird den bösen Hyde nun mit ihren Augen sehen müssen und hat Angst um sie.«

Buchanan verstand sofort, was gemeint war. Sein Partner hatte mal wieder einen spontanen Einfall gehabt und ihn wie üblich, ohne lange nachzudenken, umgesetzt, aber … Robert Louis Stevensons spießigen Erzähler in eine bildschöne weibliche Hauptrolle zu verwandeln, das konnte schon ein raffinierter Schachzug sein.

»Gibt es noch andere Änderungen, über die ich Bescheid wissen sollte?«, fragte Barrett.

»Ich hab einen zusätzlichen Knaller hinzugefügt«, antwortete Barrett.

»Und?«

»Ein Flugzeug.«

»Ein Flugzeug? Hast du auch nur für einen kurzen Moment daran gedacht, was ein Flugzeug kostet?« Sie lagen sich wegen der Produktionskosten in den Haaren, seit sie ihr erstes Theater in der 29th Street eröffnet hatten.

Lässig winkte Barrett ab. »Der Inspizient im Casino hat mir verraten, dass die Tage von Er kam aus Milwaukee gezählt sind und demnächst der letzte Vorhang fällt. Sie überlassen uns ihren Doppeldecker, wenn wir die Kosten übernehmen, um ihn aus dem Theater zu holen. Bis dahin solltest du deine Fechtkünste auffrischen. Wir präsentieren den Zuschauern ein Duell, das sie nie vergessen werden.«

»Ein Flugzeug ist viel zu modern, wenn auf der Bühne gefochten werden soll.«

»Das Verwandlungselixier erzeugt bei Dr. Jekyll Halluzinationen. Er träumt, dass er sich mit Hyde einen wilden Kampf liefert.«

»Jekyll und Hyde gemeinsam auf der Bühne?«

»Brillant, nicht wahr?«, sagte Barrett begeistert. »Gut und Böse kämpfen jeweils um die Seele des anderen.«

»Hast du noch mehr Knaller auf Lager?«

»Mr. Hyde flüchtet in der U-Bahn, und zwar vor einem lynchwütigen Mob, der ihn über den Times Square hetzt.«

»Jekyll und Hyde spielt in London.«

»Ach, London ist doch ein alter Hut. Ich habe die Handlung nach New York verlegt. Jekyll wohnt in einem Wolkenkratzer.«

Buchanan machte sich Sorgen, dass der Aufbau, Abbau und Transport von Bühnenkulissen für einen U-Bahn-Zug ein Vermögen kostete. Andererseits war eine New Yorker U-Bahn als Schauplatz keine schlechte Idee, wenn man der Weber-&-Fields-Theorie folgte, dass Theaterbesucher dazu neigten, das Bühnengeschehen viel aufmerksamer zu verfolgen, wenn es in einer vertrauten, »realistischen« Kulisse stattfand. Für zusätzliche Lacher hatte es sich bisher stets als förderlich erwiesen. Aber würde dies auch bei einem Melodram funktionieren?

»Für die Tournee streichen wir die U-Bahn aber.«

»Geh mir bloß nicht wieder mit deinen ständigen Streichungen auf die Nerven!«, schoss Barrett entrüstet zurück.

»Wir werden mit insgesamt sechzig Personen auf Achse sein«, erwiderte Buchanan eisig, und es entspann sich ein wütendes lautstarkes Rededuell, das jeden ­Moment drohte, in Handgreiflichkeiten auszuarten.

»Rührstücke sind der absolute Renner! Warum sonst proben wir zurzeit das alte Schlachtross Othello?«

»Streichungen sparen Kosten, sodass wir am Ende echtes Geld verdienen.«

»Kinofilme vertreiben uns aus den Theatern, und das Theaterpublikum ist scharf auf jede Art von Varieté.«

»Deine Art, mit Geld um dich zu schmeißen, bringt uns noch an den Bettelstab!«

»Vergiss die Kosten! Ohne aufsehenerregende Showeffekte sind wir tot!«

In diesem Augenblick schob ihr Inspizient den Kopf durch den Türspalt und legte warnend einen Finger auf die Lippen.

»Die Sponsoren«, flüsterte er.

»Danke, Mr. Young. Schicken Sie die Herren herein.«

Die beiden Partner zauberten für ihre Investoren ein freundliches, gewinnendes Lächeln auf die Mienen.

Joe und Jeff Deaver, fast ebenso groß wie Barrett und Buchanan und beträchtlich schwerer und beleibter als noch während ihrer Footballaktivitäten am College, hatten die Lokomotiv-Fabriken ihrer Mutter und die Liebe ihres Vaters zum weiblichen Bühnenpersonal geerbt. Ausstaffiert mit Pelerinen und Zylindern, unternehmungslustig Spazierstöcke herumwirbelnd und von den Duftwolken parfümierter Blondinen umweht, die sie draußen im Garderobenflur stehen gelassen hatten, hätten sie Jekyll und Hyde allein mit einem Federstrich finanzieren können.

»Sie müssen einen siebten Sinn haben, dass Sie uns ­genau im richtigen Moment besuchen!«, rief Barrett ­theatralisch.

»Sie sagen es. Uns wurde eben gerade angeboten, uns an Alias Jimmy Valentine zu beteiligen. An der Broadway-Produktion und an einer Tournee. Sie haben Vietor aus England für die Rolle des Valentine engagiert. Und Lockwood soll den Doyle spielen. Wir werden ganz schön abräumen.«

»Nicht so eilig«, bremste Barrett.

»Weshalb?«

»Vor wenigen Minuten erst hat sich eine wesentlich bessere Gelegenheit ergeben – direkt vor unserer Nase«, erklärte Buchanan. »Es hat nämlich den armen Medick erwischt. Er ist tot.«

Jeff, das Gehirn des Brüderpaars, fragte: »Ist Ihr ­Jekyll bereit?«

Barrett nickte und weckte bei Buchanan den Verdacht, dass zu den »Änderungen« seines Partners auch geheime Verhandlungen mit den Geldgebern gehört hatten. »Wir können jederzeit starten.«

»Haben Sie Isabella Cook?«

»Wir werden einen Weg finden, sie zu engagieren.«

»Wenn Sie Miss Cook an Bord holen, können wir Jimmy Valentine getrost vergessen«, sagte Joe. »Was meinst du, Jeff? Vietor verlangt viel zu viel, nur weil er Engländer ist. Und Lockwood steigt ständig den Revuegirls hinterher.«

»Einen Moment mal«, sagte Jeff. »Medick war noch jung. Woran ist er gestorben?«

»Es heißt, er sei von einer Feuerleiter gestürzt. Aus dem vierten Stock.«

»Das ist ja völlig verrückt. Der Mann hatte doch Höhen­angst. Wir hatten ihn in unserer Produktion Der Schurke in Schwarz. Erinnerst du dich, Joe? Er hat sich nicht mal in die Nähe des Orchestergrabens gewagt.«

»Irgendetwas an der Sache ist faul. Was hatte er auf einer Feuerleiter zu suchen?«

»Er hatte eine Lady besucht«, sagte Jackson Barrett, »und war auf der Flucht vor ihrem Ehemann.«

ERSTER AKT

FRÜHJAHR 1911 (SECHS MONATE SPÄTER)

1

Im zweiten Stock des elegantesten New Yorker Hotels, dem Knickerbocker, an der Ecke Broadway und 42nd Street, verschaffte sich der Chefermittler der Van Dorn Detective Agency durch den Spion des Empfangsraums einen ersten Eindruck von einem neuen Klienten. Die Recherche-Abteilung hatte ihm das Kurz-Dossier eines »hochnäsigen, selbstgefälligen Waterbury-Messingmagnaten mit fünfzig Millionen im Rücken« geliefert.

Isaac Bell kam zu dem Schluss, dass die Informationssammler mit ihrer Einschätzung richtiglagen.

William Lathrop Pape war das Paradebeispiel eines Neureichen. Eine massige Erscheinung Anfang fünfzig, stocksteif mitten im Raum stehend, in den behandschuhten Händen einen Gehstock mit goldenem Knauf. Sein Anzug und seine Schuhe waren von englischer Machart, sein Hut kam aus Italien. Seine Weste zierte eine schwere goldene Uhrkette, massiv genug, um eine Dampfyacht zu vertäuen, und sein eisiger Blick ging durch den Mann am Empfangspult hindurch, als wäre der Jung-Detektiv nur ein Möbelstück.

Die Recherche-Abteilung hatte nicht in Erfahrung bringen können, weshalb der Industrielle die Hilfe einer Privatdetektei benötigte, aber ganz gleich, wie seine Probleme auch aussehen mochten, er hatte ein ganzes Bündel Fäden gezogen, um von Joseph Van Dorn, dem Gründer der Agency, persönlich empfangen zu werden. Da sich Van Dorn in diesem Augenblick dreitausend Meilen entfernt in San Francisco aufhielt, war es Isaac Bell zugefallen, ihm die Gunst zu erweisen, um die ein alter Freund des Chefs gebeten hatte.

»Okay, führen Sie ihn herein.«

Der Lehrling, der diensteifrig auf Bells Anweisungen gewartet hatte, entfernte sich im Laufschritt.

Bell trat hinter Van Dorns Schreibtisch, schob Kerzentelefone und Graphophon-Membran zur Seite und legte sein Notizbuch und seinen Füllfederhalter auf die Tischplatte. Er war hochgewachsen und etwa dreißig Jahre alt, schlank und kräftig, hatte welliges goldblondes Haar, einen sorgfältig gestutzten buschigen Schnurrbart und wache blaue Augen. An diesem warmen Frühlingstag trug er einen maßgeschneiderten weißen Leinenanzug. Der Hut, den er an Van Dorns Garderobe aufgehängt hatte, war ebenfalls weiß mit breiter Krempe und flacher Krone. Seine ebenfalls nach Maß gefertigten Stiefel waren aus Kalbsleder hergestellt, häufig getragen und sorgfältig gepflegt, ganz eindeutig nicht das Schuhwerk eines Büro­hengstes. Er sah aus, als spielte ständig ein Lächeln um seine Lippen, aber der nüchtern prüfende Ausdruck seiner Augen und die raubkatzenhafte Eleganz, mit der er sich bewegte, verhießen für den Fall, dass er sich provoziert fühlte, alles andere als ein freundliches Lächeln.

Der Lehrling führte Pape herein.

Isaac Bell begrüßte ihn mit einem Händedruck und lud ihn ein, sich zu setzen.

Pape ergriff das Wort, ehe der Lehrling die Bürotür hinter sich geschlossen hatte. »Mir wurde mitgeteilt, dass Van Dorn alles Menschenmögliche versuchen würde, um persönlich anwesend zu sein.«

»So ernsthaft Mr. Van Dorn sich auch bemüht hat, er konnte sich von seinen vorher eingegangenen Verpflichtungen in San Francisco nicht freimachen. Ich bin sein leitender Ermittler. Wie kann die Van Dorn Detective Agency Ihnen behilflich sein?«

»Ich muss unbedingt eine Person finden, die verschwunden ist.«

Bell griff nach seinem Füllfederhalter und schraubte die Kappe ab. »Erzählen Sie mir etwas über diese Person.«

William Lathrop Pape starrte so lange ins Leere und schwieg, dass Bell annahm, er habe ihn nicht gehört. »Der Name der Person?«, fragte er.

»Pape! Anna Genevieve Pape«, sagte Pape und verstummte wieder.

»Ein Mitglied Ihrer Familie?«, fragte Bell weiter. »Ihre Frau?«

»Natürlich nicht.«

»Wer dann?«

»Meine Tochter, um Himmels willen. Meine Frau würde niemals …« Seine Stimme verstummte.

Bell fragte weiter. »Wie alt ist Ihre Tochter, Mr. Pape?«

»Achtzehn Jahre.«

»Wann haben Sie Anna zuletzt gesehen?«

»Beim Frühstück am siebenundzwanzigsten Februar.«

»Hat sie das Haus schon häufiger für längere Zeitspannen verlassen?«

»Natürlich nicht. Es ist ihr Elternhaus, und dort wird sie wohnen, bis sie heiratet.«

»Ist sie verlobt?«

»Ich sagte doch schon, sie wurde gerade erst achtzehn Jahre alt.«

Isaac Bell stellte eine Frage, deren Antwort er mit ziemlicher Sicherheit bereits zu kennen glaubte. »Wann haben Sie das Verschwinden des Mädchens gemeldet?«

»Das tue ich in diesem Augenblick.«

»Heute ist der vierundzwanzigste März, Mr. Pape. Weshalb haben Sie so lange damit gewartet, Alarm zu schlagen?«

»Ist das von Bedeutung?«

»Es wird die erste Frage sein, die die Polizei stellt, wenn sie erfährt, dass wir nach dem Mädchen suchen.«

»Ich möchte nicht, dass die Polizei involviert wird.«

Der Detektiv hatte eine markante, volltönende Baritonstimme. Diese benutzte er nun und verfiel in einen Tonfall, als redete er auf ein trotziges Kind ein. »Die Polizei wird von sich aus tätig, wenn die Umstände eines ungewöhnlichen Geschehens die Möglichkeit eines Verbrechens nahelegen.«

»Sie ist ein unschuldiges Mädchen, fast noch ein Kind. In was für ein Verbrechen sollte sie verwickelt sein?«

»Polizisten gehen meistens vom Schlimmsten aus. Warum haben Sie so lange damit gewartet, Hilfe zu suchen, wenn Annas Verschwinden doch ungewöhnlich war?«

Papes Hand krampfte sich um den Knauf seines Gehstocks. »Ich hatte vermutet, dass sie nach New York durchbrennen wollte.«

»Was hätte sie in New York gewollt?«

»Sie träumte von einer Karriere als Schauspielerin.«

Isaac Bell unterdrückte ein Lächeln. Jetzt wurde ihm einiges klar, und er konnte sich ein genaueres Bild von der Situation machen.

»Darf ich erfahren, weshalb Sie sich in diesem kritischen Augenblick an die Van Dorn Agency gewandt haben?«

»Ich hatte damit gerechnet, dass sie nach spätestens vierzehn Tagen auf allen vieren reumütig wieder nach Hause zurückgekrochen käme.«

»Machen Sie sich Sorgen wegen ihres Wohlergehens?«

»Selbstverständlich.«

»Aber Sie haben nach diesen ›vierzehn Tagen‹ trotzdem noch eine weitere Woche gewartet.«

»Ich dachte, dass Anna am Ende zur Vernunft käme. Ihre Mutter drängte mich dann und meinte, wir dürften nicht länger warten … Hören Sie, Bell, sie war immer ein vernünftiges Kind. Auch als sie noch ein kleines Mädchen war. Sie ist keine Phantastin, keine Spinnerin.«

»Ich nehme an, dann können Sie Ihre Frau beruhigen. Ein Mädchen mit Annas Eigenschaften, so wie Sie diese beschrieben haben, hat gute Chancen, auf der Theaterbühne Karriere zu machen.«

Pape erstarrte regelrecht. »Sie würde Schande über meine Familie bringen und ihr Ansehen ruinieren.«

»Schande?«

»Solche Vorfälle und Verhaltensweisen sind für die Presse ein gefundenes Fressen. Waterbury ist nicht New York, Mr. Bell. Es ist keine schnelllebige Stadt. Meine Familie wird sich niemals von diesem Makel reinwaschen können, wenn die Zeitungen davon Wind bekommen, dass eine wohlgeborene Pape zum Theater geht.«

Bells anfangs durchaus verständnisvolles Auftreten kühlte nun deutlich ab. »Ich werde einen Van-Dorn-­Detektiv mit dem Fall betrauen, der sich in der Theaterszene auskennt. Auf Wiedersehen, Mr. Pape. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Nachmittag.«

»Einen Moment mal!«

»Was ist?«

»Ich verlange, dass Sie persönlich die Suche aufnehmen, wenn Van Dorn zurzeit verhindert ist.«

»In der Detektei herrscht eine Aufgabenteilung, die sich nach der Art und Schwere der kriminellen Aktivitäten richtet. Mr. Van Dorn und ich sind auf die Verfolgung von Mördern, Berufsverbrechern, Bankräubern und Kidnappern spezialisiert.«

Zurzeit leitete er die Ermittlungen gegen Eisenbahnräuber im Mittleren Westen, die Postwagen zum Entgleisen brachten und ausräumten, mit schnellen Automobilen motorisierte Bankräuber, die über Staatsgrenzen hinweg agierten, italienische Banden, die im New Yorker Hafen ein Terrorregime etabliert hatten, einen Juwelendieb aus Chicago, der mit Vorliebe die Safes der Geliebten führender Wirtschaftsbosse knackte, und Erpresser, die ihre zahlungskräftigen Opfer unter den Passagieren von Ozeandampfern fanden.

»Eine zeitweise von der Bildfläche verschwundene junge Lady fällt nicht in mein Ressort. Oder können Sie irgendwelche Anhaltspunkte nennen, dass sie möglicherweise entführt wurde?«

Pape blinzelte irritiert. Offensichtlich daran gewöhnt, dass Angestellte seine Befehle befolgten und widerspruchslos auf seine Launen eingingen, wirkte er jetzt vollkommen durcheinander. »Nein, natürlich nicht. Ich habe mich im Bahnhof nach ihr erkundigt. Offensichtlich hatte sie dort eine Fahrkarte nach New York gelöst – Bell, Sie verstehen nicht.«

»Ich verstehe sehr wohl, Sir. Ich war nicht viel älter als Ihre Anna, als ich mich den Wünschen meines Vaters widersetzte und die Detektivlaufbahn einschlug, anstatt ihm ins Bankgeschäft zu folgen.«

»Ins Bankgeschäft? Bei welcher Bank?«

»Der American States.«

»Das war ein Riesenfehler«, sagte Pape. »Ein Angestellter der American States hat eine bei Weitem aussichtsreichere Zukunft vor sich als ein Privatdetektiv. Lassen Sie sich einen Rat geben, Sie sind noch ziemlich jung, jedenfalls jung genug, um zu wechseln. Steigen Sie aus dem Plattfußgewerbe aus und bitten Sie Ihren Vater, dass er seinen Boss überredet, Ihnen einen Job anzubieten.«

»Er ist der Boss«, erwiderte Bell. »Es ist seine Bank.«

»American States. American Stat… Bell? Ist Ihr Vater Ebenezer Bell?«

»Ich erwähne ihn nur, um Ihnen zu versichern, dass ich verstehe und nachvollziehen kann, dass Anna sich für ihr Leben etwas anderes wünscht«, sagte Bell. »Ihre Tochter und ich, wir haben gemeinsam, dass wir unsere Väter enttäuscht haben … also, haben Sie zufällig ein Foto Ihrer Tochter zur Hand?«

Pape zog einen Briefumschlag aus einer Innentasche seines Jacketts und reichte Bell eine Fotografie von mehreren Kindern, die auf der Freiluftbühne eines Sommerferienlagers ein Theaterstück aufführten. Anna war hellblond und hatte ein engelhaftes, ausdrucksvolles Gesicht. Ob sie so vernünftig war, wie ihr Vater sie beschrieb, war ihrer Mimik nicht zu entnehmen – vielleicht ein Indiz, dachte Bell insgeheim schmunzelnd, für ihr schauspielerisches Talent.

»Shakespeare«, sagte Pape.

Bell nickte. Das Bild weckte bei ihm lebhafte Erinnerungen. »Ein Sommernachtstraum.«

»Woher wissen Sie das?«

»Man hat mir damals die Rolle des Oberon gegeben, als ich zu groß war, um den Puck zu spielen – Anna ist ein hübsches Mädchen. Wie alt war sie, als das Foto aufgenommen wurde?«

Pape murmelte etwas, das Bell nicht verstehen konnte. »Was sagten Sie, Sir?« Er schaute von dem Foto hoch.

Der Messing-König hatte Tränen in den Augen. »Was ist, wenn ich mich irre?«, flüsterte er.

»Was meinen Sie?«

»Was ist, wenn ihr etwas Schreckliches zugestoßen ist?«

»Jeden Tag kommen junge Frauen in die Stadt«, erwiderte Bell in sanftem Tonfall, um die Sorgen des Mannes zu zerstreuen. »Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder finden sie, was sie gesucht haben, oder sie kehren nach Hause zurück. In beiden Fällen bleiben sie gewöhnlich unversehrt. Sie setzen ihr Leben fort, um einige wichtige Erfahrungen reicher, vielleicht sogar glücklicher, weil ihre Träume in Erfüllung gegangen sind. Sie sollten sich keine unnötigen Sorgen machen. Wir werden Ihre Tochter finden.«

2

Anna Waterbury, blutjunge achtzehn Jahre alt, las mit glänzenden Augen laut aus einer Ausgabe der Variety vor. Ihre Zuhörerin war Lucy Balant, mit der sie sich ein Zimmer in Mrs. Shine’s Boarding House for Actors teilte. Sie sparten ihr Kleingeld und verfügten stets über einen Vorrat an Fünf-Cent-Münzen, um regelmäßig das wöchentlich erscheinende Showbusiness-Magazin zu kaufen, und – als sei es ein Wink des Schicksals, dachte Anna – die neue Variety hatte als Aufmacher die Schlagzeile, dass die Theaterproduktion Dr. Jekyll und Mr. Hyde im Begriff sei, mit dem Barrett-&-Buchanan-Privatzug zu ihrer landesweiten Tournee zu starten.

»›Jackson Barett und John Buchanan – heiß geliebte Stars des Matineepublikums, die auf der Bühne ein wahres Feuerwerk an Melodramatik erzeugen – werden auch in der Provinz allabendlich die Titelrollen tauschen, wie sie es bereits am Broadway getan haben. Das Gesche­hen rankt sich um den Kampf zwischen der guten und der bösen Seite der Persönlichkeit ein und desselben Mannes – des Titelhelden. Isabella Cook verkörpert das Prinzip der unschuldigen Liebe, die von Hyde ausgebeutet wird. Nach nunmehr zwei Jahren, in denen sie Rufus S. Oppenheim, den Chef des Theatrical Syndicate, heiratete und tragischerweise schon bald wieder verlor, nämlich als er nach der Explosion seiner Yacht mit dieser unterging und ertrank, kehrt Miss Cook auf die Bühne zurück.‹«

Anna senkte die Stimme zu einem Flüstern herab. »Kann ich dir ein Geheimnis verraten?«

Lucy las über ihre Schulter hinweg die Stellenangebote. »Sieh mal! ›Neues Ensemblemitglied gesucht. Für vielseitige Tätigkeiten geeignet. Hochgewachsen, jung, bühnenerfahren und sollte über eigene gute Garderobe verfügen. Engagement-Beginn sofort. Alkoholabstinenz, Garderobe und Talent Voraussetzung. Lange Spielsaison. Gage garantiert …‹ Wie groß ist ›hochgewachsen‹?«

Anna sagte: »Es ist ein Geheimnis.«

»Was?«

»Du musst mir versprechen, dass du es wirklich niemals jemandem weitererzählst.«

»Okay, versprochen.«

»Ich habe einen Mann kennengelernt, der mir beibringt, wie ich am besten für eine Rolle in einem großen Bühnenerfolg vorspreche.«

»Ist er ein Schauspiellehrer?«

»Nein! Viel besser. Er ist ein Produzent. Ein Broadway-Produzent, der jemanden kennt, der Beziehungen zu einem Bühnenhit hat.«

Annas Freundin verzog skeptisch – oder vielleicht sogar neidisch – das Gesicht. »Hat er dich zu Rector’s eingeladen?«

»Zu Rector’s? Nein.«

»Anna! Ein Mäzen sollte einem Mädchen mindestens ein Beef Wellington spendieren. Ich meine, was verlangt er fürs ›Betreuen‹? – Warum lachst du?«

»Weil ich vor drei Wochen noch nicht gewusst hätte, was mit einem ›Beef Wellington‹ gemeint ist.«

Von all den vielen Dingen, die Anna Waterbury seit ihrer Ankunft in New York hinzugelernt hatte, war Beef Wellington das Mindeste. »Ich bin in der Geschichte der St. Margaret’s School of Girls die Einzige, die auch daran denken würde, wer für das Fahrgeld aufkommt.«

Ganz zu schweigen davon, wer Kostüme lieferte. Und Inspizienten abzuwimmeln, die Künstler anlockten, indem sie sich als ihre Agenten anboten. Und auf keinen Fall ein Engagement bei einem Zirkus anzunehmen. Nicht dass irgendjemand ihr überhaupt irgendeine Stelle bei irgendetwas angeboten hätte.

»Willkommen am Broadway«, schoss Lucy zurück. Sie wartete nervös auf den Bescheid, dass sie als Zweitbesetzung für eine Rolle in Alias Jimmy Valentine angenommen worden war. Das war ein Bühnenerfolg, der auf einer Kurzgeschichte von O. Henry basierte und ein Wandertheater bis nach Philadelphia führen würde. Sie hatten beide für das Schauspiel vorgesprochen, aber nur Lucy war zu einem zweiten Vorsprechtermin eingeladen worden.

»Nein«, sagte Anna. »Er gehört nicht zu dieser Sorte. Nein, er ist ein wirklich netter alter Kerl.«

»Wie alt genau?«

»Das weiß ich nicht – so alt wie mein Vater. Er hinkt und braucht einen Spazierstock. Außerdem ist er verheiratet. Er trägt einen Trauring, den er nicht versteckt. Er hat eine ganze Menge guter Ratschläge auf Lager.«

»Welchen denn, zum Beispiel?«

»Überlass dem Star die Bühnenmitte und komm ihm nicht in die Quere.«

»Wie heißt er?«

»Ich darf nicht verraten, wie er heißt. Das musste ich ihm versprechen … Weshalb? Weil die anderen Mitwirkenden mich ablehnen würden, wenn sie wüssten, dass er mir die Rolle verschafft hat.«

»Um welchen Bühnenerfolg geht es denn?«

Anna ließ die Stimme noch weiter sinken und schaute sich prüfend um, aber wer außer den beiden jungen Frauen hätte denn in dem winzigen Zimmer Platz gehabt? »Um diesen!« Sie wedelte mit der Theaterzeitung. »Die Frühjahrstournee von Jekyll und Hyde. Ich kann mein Glück kaum fassen.«

Es klopfte laut an der Zimmertür, und die Pensionswirtin kam mit einem ungewöhnlich freundlichen Lächeln herein. »Lucy Balant, Sie haben Besuch.«

Neben Mrs. Shine erschien, nervös seine Mütze mit den Händen knetend, ein Bühnenassistent des Wallack’s Theatre. »Der Inspizient bestellt Ihnen, schnellstens Ihre Sachen zu packen.«

Es dauerte nur wenige Minuten, dann wirbelte Lucy durch die Tür hinaus. »Viel Glück, Anna. Mach dir keine Sorgen. Bestimmt bist du als Nächste an der Reihe.«

Anna ging zu dem schmalen Fenster und verrenkte sich den Hals, um Lucy und dem jungen Mann nachzuschauen. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass sie tatsächlich als Nächste an der Reihe wäre. Wie würde sie reagieren, wenn der freundliche alte Herr sie einlüde, mit ihm bei Rector’s zu dinieren? Im Grunde ihres Herzens wusste sie, dass sie diese Frage niemals zu beantworten brauchte, da er sie das nicht fragen würde. Er wollte ihr wirklich nur helfen. Obgleich er, wenn sie die Rolle bekäme, vielleicht den Wunsch hätte, dies zu feiern. Dagegen wäre nichts einzuwenden. Solange er seine Ehefrau mitbrächte.

3

ALLEKLEIDERGEWASCHENUNDSOGUTWIENEUUNSERESPEZIALITÄTSINDTHEATERKOSTÜME

Als er die chinesische Wäscherei verließ, hatte Issac Bell es eilig.

Ein breitschultriger Kleiderschrank in Mantel und ­Melone versperrte den Bürgersteig.

»Würden Sie mir verraten, weshalb der Chefermittler einer Privatdetektei mit Regionalbüros in jeder halbwegs bedeutenden Stadt und autonomen Filialen in London, Paris und Berlin sich persönlich an der Suche nach einer vermissten jungen Dame beteiligt?«

»Ich hatte mich schon gefragt, wann Sie mich darauf ansprechen würden, Mike. Ihre Zivilbeamten taten so, als würden sie mich nicht sehen, als ich das Hammer­smith durch den Bühnenausgang verlassen habe.«

»Ich habe sie darauf gedrillt, stets auf dem Laufenden zu sein und Überraschungen zu vermeiden.«

Captain »Honest Mike« Coligney leitete im Tenderloin-Viertel das Revier des New York Police Department. Zu seinem Einsatzbereich gehörten der Theaterdistrikt und die Straßen mit den Hotels und den Pensionen, in denen die Schauspieler wohnten. Bell hatte einige Jahre zuvor mit ihm zusammengearbeitet, als beide Jagd auf einen italienischen Gangsterboss mit Verbindungen in die höchsten Kreise der Finanzwelt machten. Aber die Tatsache, dass sie auf derselben Seite des Gesetzes standen, jedoch mit gegensätzlichen Methoden arbeiteten, machte sie gleichermaßen zu Konkurrenten wie zu Verbündeten. Für den Polizisten war die Ausführung seines Dienstauftrags der reinste Eiertanz, da er ständig auf die unterschiedlichen Interessen der politischen Amtsinhaber, die New York City regierten, Rücksicht nehmen musste. Der Privatdetektiv war niemandem verpflichtet. Coligney hatte sechstausend Cops unter seinem Kommando, Bell musste sich ausschließlich an das eiserne Motto der Van Dorn Detective Agency halten, das lautete: »Wir geben nicht auf! Niemals!«

»Hab Sie lange nicht mehr gesehen«, sagte Coligney. »Wo waren Sie?«

»Im Westen.«

»Was hat Sie in die Heimat zurückgerufen?«

Bell reichte ihm eine Kopie von Annas Foto. Nun, da der Captain seine Truppe »involvierte«, wie Pape es ausgedrückt hatte, war Bell daran interessiert, sich zusätz­licher Unterstützung zu versichern.

»Wirklich reizend, die Kleine«, sagte Coligney. »Eine hoffnungsvolle Schauspielerin, weshalb Ihr Kumpel ­Archie Abbott ständig in den Theaterkneipen herumhängt. Der blaublütige Mr. Archibald Abbott IV war selbst mal ein Thespisjünger, ehe Sie ihn in die Agentur geholt haben.«

Bell sparte sich einen Kommentar und verhielt sich abwartend.

Der Captain bohrte hartnäckig weiter. »Es könnte sogar erklären, weshalb Harry Warrens Gang Squad systematisch die Pensionen abklappert, obgleich ich mir nicht ganz sicher bin, wie weit als Gangster verkleidete Detektive bei Pensionswirtinnen mit ihren Nachforschungen vorankommen. Aber es erklärt nicht, weshalb Sie sich diese Laufarbeit persönlich aufhalsen – ist der Vater der Kleinen möglicherweise ein großes Kaliber?«

»Kein Rockefeller oder Richter Congdon, aber groß genug. Die Wahrheit ist, ich hatte ein paar ruhige Tage und auch etwas Mitleid mit dem armen Teufel. Er kommt sich unendlich wichtig vor und hält sich für den Größten – aber Anna ist sein einziges Kind, und ich konnte feststellen, dass er sie wirklich abgöttisch liebt.«

»Hatten Sie Erfolg?«

»Nicht viel. Ich fand einen Inspizienten, der sich vage daran erinnern konnte, dass sie sich bei einem Vorsprechtermin um eine Rolle beworben hatte. Archie fand einen Bühnenassistenten, der ihr die Auskunft gab, dass in seinem Theater keine Rollen zu vergeben seien. Und Harry berichtete von einer Pensionswirtin, die glaubte, dass sie sich vor drei oder vier Wochen bei ihr nach einem freien Zimmer erkundigt habe. Das würde in etwa zu dem Zeitpunkt passen, an dem sie ihr Zuhause verlassen hat, aber wenn sie damals ihren richtigen Namen genannt hat, dürfte sie ihn mittlerweile in einen Künstlernamen umgeändert haben.«

»Das hat Lillian Russel auch getan.«

»Dieser Name lautet ›Anna Waterbury‹.«

»Vielleicht hat sie bald Heimweh.«

Bell und Abbott hatten sich in den Tanz- und Musikschulen umgehört und die billigen Restaurants durchgekämmt, die vorwiegend von jungen Schauspielern am Anfang ihrer hoffnungsvollen Karriere und älteren, die sich im Abstieg befanden, frequentiert wurden, und Bell nahm sich gegenwärtig die billigen Wäschereien im Theaterdistrikt vor. Sie hatten Annas Fotografie Pensionswirtinnen, jungen Schauspielern und Schauspielerinnen und Bühnentürstehern gezeigt; einige glaubten, sie schon einmal gesehen zu haben. In einer winzigen Garderobe in der Broadway Music Hall, in der es von Revuegirls wimmelte, hatte Bell eine Tänzerin aufgestöbert, die sie auf dem Foto erkannte und sich erinnern konnte, dass sie sich Anna Waterbury nannte. Daher war er sich einigermaßen sicher, dass sie sich noch in New York aufhielt, hatte aber noch immer nicht den geringsten Hinweis, wo genau.

»Was ist mit Krankenhäusern?«, fragte Coligney.

»Keine Papes, keine Waterburys.«

»Leichenhallen?«

»Gibt es irgendwelche nicht identifizierten jungen Frauen, von denen ich wissen sollte?«, erwiderte Bell und strich diese Möglichkeit gleichzeitig von seiner Liste. Weder machte er sich ausgesprochene Sorgen wegen Annas Sicherheit noch überraschte es ihn, dass er sie noch nicht gefunden hatte. New York war eine riesige Stadt, und in den Varieté- und Schauspieltheatern, auf den Musical- und Burlesque-Bühnen und in den Roadshows, die sie abgegrast hatten, gab es Tausende von Arbeitsmöglichkeiten für Schauspielerinnen.

»Bis vor einer Stunde nichts dergleichen«, sagte Colig­ney. »Schön, Sie wieder hier zu sehen, Isaac. Übrigens herzlichen Glückwunsch. Wie ich hörte, konnten Sie ­Marion Morgan endlich überreden, Sie zu heiraten.«

»Vielen Dank. Wenn es auf diesem Planeten einen glücklicheren Menschen geben sollte, wüsste ich nicht, wo er zu finden wäre.«

»Der Himmel mag wissen, was sie in Ihnen sieht.«

»In diesem Punkt ist sie ein wenig seltsam. Nicht einmal ich weiß es nämlich.« Bell erwiderte das Grinsen des Polizeioffiziers, und sie verabschiedeten sich mit einem Händedruck voneinander.

»Grüßen Sie Joe Van Dorn von mir.«

»Darf ich ihm mitteilen, dass Sie uns unterstützen?«

Der Captain nickte. »Ich lasse Annas Foto aufhängen und bitte meine Sergeants, während der Einsatzbesprechungen auf sie hinzuweisen.«

Zwei Tage später, als ihm die Orte ausgingen, an denen er hätte suchen können, und er so langsam begann, sich Sorgen zu machen, stieg Isaac Bell die Eingangstreppe eines Klinkerbaus in einer nur spärlich erleuchteten Straße im Tenderloin District hinauf. Der Türsteher war gut eins neunzig groß und brachte muskulöse zweihundertfünfzig Pfund auf die Waage. »Guten Abend, Sir. Es kommt mir vor, als sei es Jahre her, seit Sie uns das letzte Mal beehrt haben.«

»Guten Abend, Skinner. Würden Sie Mr. Sayers bestellen, dass ich ihn sprechen möchte?«

Der Türsteher murmelte etwas in ein Sprachrohr.

Nick Sayers, der gut aussehende Inhaber des Grove-Mansion-Bordells – bekannt als »Ritz des Tenderloins« – ließ ihn zehn Minuten warten. Er trug einen eleganten Smoking und roch durchdringend nach einem teuren Eau de Cologne.

»Mr. Bell. Erlauben Sie eine Frage: Was führt Sie hierher? Geschäft oder Vergnügen?«

»Es geht um eine Auskunft, Nick. Gehen wir in Ihr Büro.«

Sayers geleitete ihn die prunkvolle Treppe hinauf und weiter in sein gediegen eingerichtetes Büro. Er ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder und bot Bell einen Sessel an. Bells Blick blieb an einer Glasvitrine hängen, die mit bemerkenswert eindeutig wirkenden pornografischen Porzellanfiguren gefüllt war. Sayers lächelte stolz. »Ich bin unter die Sammler gegangen. Wie ich feststellen durfte, produziert nicht jeder Staffordshire-Töpfer ausschließlich dekorative Hundefiguren – welche Art von Auskunft wünschen Sie?«

»Wer rekrutiert Mädchen im Grand Central Terminal?«

»Nicht das Grove Mansion.«

»Ich bin mir darüber im Klaren, Nick, dass Sie die Mädchen nicht selbst aussuchen und hierherlocken. Wer macht das für Sie? Wer lauert hübschen Mädchen vom Land auf, wenn sie aus dem Zug steigen? Wer verspricht ihnen ein Leben in Luxus?«

»Mr. Bell, ich habe es niemals für nötig befunden, personellen Nachschub anzuwerben. Die jungen Damen kommen freiwillig ins Grove Mansion.«

»Nick.«

»Ich denke, ich sollte meine Mädchen vor Ihnen aufmarschieren lassen. Dann würden Sie mit Ihren eigenen Augen sehen, dass sie in jedem besseren Haus in New York arbeiten könnten. Sie arbeiten ausschließlich hier, weil sie es wollen.«

»Nick. Die Van Dorn Detective Agency wurde nicht erst gestern gegründet. Luden der billigsten Sorte lauern an den Landungsbrücken und den Busbahnhöfen ahnungs­losen Bauerntöchtern auf, die sich nicht mehr leisten können als Fahrten auf einem Dampfschiff oder mit der Straßenbahn. Bessere Etablissements wie Ihr ›Ritz des Tenderloins‹ picken sich in der Pennsylvania Station und im Grand Central die Mädchen heraus, die sich eine Eisenbahnfahrkarte leisten können, um von zu Hause durchzubrennen. Ich suche ein bestimmtes gut betuchtes Mädchen. Ich weiß, dass die Kleine den Zug benutzt hat, um hierherzukommen. Ich weiß außerdem, dass sie im Grand Central eingetroffen ist, weil sie aus Connecticut kam. Und ich verliere allmählich die Geduld.«

»Geduld?«, fragte Sayers indigniert. »Isaac! Sie haben mir vor langer Zeit geholfen, und ich habe mich revanchiert. Ich denke, damit sind wir quitt.«

»Isaac anstatt Mr. Bell? Das klingt ja, als ob Sie zunehmend wichtigeren Freunden in der Tammany Hall Schmiergelder zahlen.«

»Für Sie wäre es besser, sich daran zu erinnern, was man tun muss, um in dieser Stadt unbehelligt zurechtzukommen. Wie können Sie es wagen, sich Einlass in mein Haus zu verschaffen und Drohungen gegen mich auszustoßen?«

»Drohungen?«

Isaac Bell erhob sich, legte eine Hand auf die Glasvitrine, kippte sie nach vorne und ließ sie auf den Fußboden stürzen. Glasscheiben und Porzellanfiguren zerschellten.

Sayers verfolgte das Geschehen mit einem ungläubigen Blick. »Wissen Sie, was diese Figuren kosten?«

»Das war keine Drohung«, sagte Bell. »Wer angelt sich die Mädchen im Grand Central?«

Sayers streckte die Hand nach seinem Sprachrohr aus.

Bell sagte: »Wenn Sie Skinner jetzt heraufrufen, werden Sie sich nach einem neuen Türsteher umsehen müssen. Und auch das ist keine Drohung.«

Der Bordell-Anwerber in der Grand Central Station ­benutzte das Nyren’s, seinen eleganten Bahnhofsladen, der französisches Parfüm, Glacéhandschuhe und Seidenschals führte, als Basis für seine anrüchigeren Aktivitäten. Elegant gekleidet und sorgfältig rasiert und frisiert, trat er wie der freundlich und einnehmend lächelnde unverheiratete entfernte Onkel auf. »Darf ich Ihnen helfen, Sir? Könnte es vielleicht etwas für eine junge Freundin sein?«

»Ich habe keine junge Freundin.«

Nyren schenkte ihm ein vielsagendes verschmitztes Grinsen. »Nun, bis sie eine gefunden haben, wie wäre es mit etwas Nettem für Ihre Frau?«

»Was ich wünsche«, sagte Isaac Bell, »ist ein ungestörtes Gespräch unter vier Augen in Ihrem Hinterzimmer mit jedem Ihrer jungen Burschen, die Mädchen an den Zügen auflauern und sie hierherlocken.«

Das Zwinkern bekam schlagartig einen harten Glanz, so wie grelles Rampenlicht. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Wenn Sie nicht hereingekommen sind, um etwas zu kaufen, verlassen Sie bitte sofort wieder meinen Laden.«

»Aber vorher möchte ich mich kurz mit Ihnen unterhalten, Mr. Nyren. Ich suche diese junge Frau.«

Er hielt Annas Foto hoch.

Nyren tat so, als ob er es eingehend studierte. »Ich weiß noch immer nicht, wovon Sie sprechen, aber ich habe dieses Mädchen nie gesehen.« Dann, in einer Reak­tion, die bewirkte, dass der hochgewachsene Detektiv ihm Glauben schenkte, ließ er seine Maske lange genug fallen, um anzüglich zu grinsen. »Ich kann Ihnen versichern, dass ich ein hübsches Gesicht niemals vergesse.«

»Ich passe auf Ihren Laden auf, während Sie Ihre jungen Freunde zusammentrommeln. Einen nach dem anderen.«

»Ich rufe einen Polizisten.«

»Das werde ich ebenfalls tun«, versprach Bell, »und es wird keiner der Bahnpolizisten der New York Central sein, die Sie bestochen haben. Es wird sein oberster Chef sein.«

»Wer zum Teufel sind Sie?«

»Ein Freund der Familie dieser jungen Lady. Holen Sie die Kerle hierher – und zwar auf der Stelle!«

Drei von ihnen stolzierten in den Laden, einer nach dem anderen, so wie Bell es verlangt hatte. Sie waren jung, schick gekleidet, und es fiel nicht schwer sich vorzustellen, dass sich eine verängstigte junge Frau von ihren geschliffenen Manieren und ihrem charmanten ­Lächeln bereitwillig einwickeln ließ. Bell begrüßte jeden von ihnen höflich. »Ich bin nicht hier, um Ihnen das ­Geschäft zu verderben und Sie arbeitslos zu machen. Ich suche eine bestimmte junge Dame, und ich wäre Ihnen für Ihre Hilfe dankbar. Als Dankeschön könnte ich mir eine Belohnung finanzieller Art vorstellen.«

»Wie viel?«

»Einhundert Dollar«, sagte Bell. Der Betrag, zwei Monats­verdienste für einen Tagelöhner, weckte ihr Interesse. »Haben Sie dieses Mädchen schon einmal gesehen?«

Zwei schüttelten die Köpfe. Der dritte antwortete: »Ich erinnere mich an sie.«

»Wann haben Sie sie gesehen?«

»Ich muss nachdenken … vor einem Monat. Vielleicht waren es auch fünf Wochen.«

Der Zeitpunkt passte, und Bell fragte: »Haben Sie mit ihr gesprochen?«

»Ich hab’s versucht. Sie wollte aber nichts von mir wissen.«

»Was ist geschehen?«

»Sie rauschte einfach an mir vorbei, als sei ich gar nicht vorhanden, und dann entfernte sie sich.«

»Hat sich einer der anderen Jungs an sie herangemacht?«

»Nein. Nur ich.«

»Woher wissen Sie das so genau?«

»Ich bin ihr auf die Straße gefolgt.«

»Tatsächlich? Und in welche Richtung ist sie gegangen?«

»Durch die 42nd.«

»West?«

»Ja.«

»Wie weit sind Sie ihr gefolgt?«

»Bis zur Fifth Avenue.«

»Weshalb nicht weiter?«

»Sie bewegte sich, als wüsste sie genau, wohin sie wollte. Oder was sie wollte. Daher dachte ich mir, dass sie nicht zu der Sorte gehörte, die ich überreden könnte.«

Bell schwieg, und der Bordell-Aufreißer fügte hinzu: »Wollen Sie etwas Seltsames hören?«

»Was wäre das?«

»Ich habe sie einige Zeit später wiedergesehen – vergangene Woche, um genau zu sein.«

»Wo?«

»Drüben auf dem Broadway. Sie befand sich in Begleitung eines alten Lackaffen. Jetzt sind Sie dran.«

»Wie sah er aus?«

»Alt.«

»Gebeugt? Gebrechlich?«

»Nein. Eine große Erscheinung, so wie Sie.«

»Welche Haarfarbe?«

»Grau.«

»Bärtig?«

»Nein, nur ein Schnurrbart.«

»Welche Farbe hatten seine Augen?«

»Keine Ahnung. So nah bin ich nicht herangekommen. Hören Sie, kann ich jetzt gehen? Können Sie mir vielleicht auch schon einen Teil des Hunderters geben?«

»Vielleicht«, sagte Bel. »Sie nannten ihn einen Lackaffen. Wie war er gekleidet?«

»Mit Homburg und Pelerine. Er sah aus wie geradewegs aus einer Operette entsprungen. Er hatte sogar einen Stock mit goldenem Knauf.«

»Trug er unter der Pelerine einen Gehrock?«

»Nein. Eher ein Pinchback-Jackett. Sie wissen sicher, was ich meine. Mit so einem Rückengurt.«

»Ein Pinchback?«, fragte Bell. »Ein wenig zu modern für eine Operette.«

»Das dachte ich mir auch. Vielleicht hat die junge Lady einen Einkaufsbummel mit ihm gemacht.«

Bell reichte ihm den Hundert-Dollar-Schein. »Hier, nehmen Sie. Machen Sie eine Woche Urlaub, und geben Sie einem armen Mädchen eine Chance.«

»Wenn ich sie nicht abfange, tut es ein anderer.«

Vier Männer hefteten sich an der Grand Central Station an Isaac Bells Fersen und folgten ihm auf der anderen Seite der 44th Street. Durchaus schick gekleidet – beinahe elegant für die Umgebung, wenn auch mit zweifarbigen Schuhen ein wenig auffällig. Möglicherweise waren es Auswärtige, die mit dem Zug nach New York gekommen waren, um in der Stadt einzukaufen, oder junge Bürohengste aus der Werbebranche, nur wollten ihre Socken nicht dazu passen. Sie waren gelb und vor allem beim jungen Nachwuchs der Gopher Streetgang in Mode. Sie waren noch immer zu sehen, als er die Fifth Avenue überquerte. Ein Verkehrscop nahm sie kurz in Augenschein, aber er hatte alle Hände voll zu tun, Pferdefuhrwerke und Motor-Trucks zueinander auf Distanz zu halten.

Bell rechnete nicht damit, dass sie in Höhe des Blocks zwischen der Fifth und der Sixth zuschlagen würden. Da dieser Block Garagen und Kutschenhäuser und außerdem den Yale, den New York Yacht und den Harvard Club sowie das Iroquois und das Algonquin ­Hotel beherbergte, wimmelte es dort von zu vielen Passanten. In der Sixth Avenue wechselte er die Straßenseite, gelangte unter die El und blieb, mit einem Stützpfeiler im Rücken, im Schatten der über ihm verlaufenden Zuggleise abrupt stehen.

4

Die Gophers schlängelten sich durch den fließenden Verkehr und blockierten den Gehsteig. Aus der Nähe betrachtet ließen ihre vernarbten Gesichter und fehlenden Zähne keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinten. Aus Gründen, über die innerhalb der Van Dorn Gang Squad schon häufig diskutiert worden war, führte jeweils der kleinste Gopher das Wort.

»Freund der Familie?«

Isaac Bell sagte: »Aus dem Weg, Jungs.«

»Willst wohl den Wohltäter spielen, oder?«

»Wie ich schon sagte, ich bin ein Freund der Familie.«

»Du musst noch viel lernen – zum Beispiel, dich nicht in fremde Angelegenheiten einzumischen.«

Der Größte des Trupps machte zwei Fehler. Er hatte es eilig, sodass seine Kumpane ein Stück zurückblieben, und er senkte die Hand, um nach seinem Totschläger zu greifen. Bell nutzte diesen Vorteil mit einer Rechtslinks-Kombination, die den Gangster sofort aufs Pflaster streckte. Er nahm die Deckung hoch – linke Faust samt Unterarm schützten das Kinn und die Magengrube, die Rechte ging gleichzeitig in Position, um einen Angriff abzuwehren oder selbst zuzuschlagen – und verhalf seinem Gegner mit einem blitzartigen Jab zu einer blutigen Nase und wich ebenso schnell zurück, wie er mit ihm auf Tuchfühlung gegangen war.

»Es ist eure letzte Chance, Freunde. Aus dem Weg.«

Der kleine Gangster lachte. Er streckte die Hand aus, machte eine Schlenkerbewegung, und der Totschläger glitt aus dem Ärmel in seine Hand. »Letzte Chance? Willst du es mit dreien von uns aufnehmen?«

»Sicher nicht, solange ich meinen besten Anzug trage.«

Bell schlug den Mantel zurück und enthüllte den vom häufigen Gebrauch auf Hochglanz polierten Griff der Colt Automatik in seinem Schulterholster. »Ich werde zwei erschießen und den Letzten ins Reich der Träume schicken.«

Am Spätnachmittag des folgenden Tages suchte Isaac Bell die Leichenhalle des Bellevue Hospital auf, wo er einem erst vor Kurzem eingestellten amtlichen Assistenzleichenbeschauer Annas Foto zeigte.

»Ich habe keine Anna Pape. Und auch keine Anna Water­bury.«

»Und wie ist es mit unbekannten Leichen?«, wollte Bell wissen.

Der neue Assistent arbeitete mit nimmermüdem Eifer an der Modernisierung der veralteten Einrichtung, die über zu viele Jahre von einer Kommission gewählter, häufig unqualifizierter und gelegentlich korrupter Leichenbeschauer geleitet worden war. Zu den Verbesserungen gehörte, dass von den Toten Fotos gemacht und archiviert wurden. Er blätterte die Akten der Registratur durch, und Bell stimmte zu, als er feststellte: »Jemand wie sie ist nicht dabei – aber trotzdem seltsam, dass Sie nach ihr fragen. Später wird möglicherweise eine junge Frau eingeliefert. In der Meldung war von einem Mord die Rede. Einer der Chefs ist selbst hingefahren.«

»Wohin?«

»Ins Tenderloin-Viertel.«

Bell bat um die Adresse, erwischte die Straßenbahn ­hinüber zur 34th Street und eilte die Eighth Avenue zur West 29th Street hinunter. Captain Mike Coligney stand vor einem heruntergekommenen Gebäude mit Mietwohnungen. Er unterhielt sich mit einem Gerichtsarzt, den Bell nicht kannte, und ignorierte die gebrüllten Fragen von Zeitungsreportern, die von Polizisten in Uniform unter Kontrolle gehalten wurden. Bell ging an dem Gebäude vorbei, wechselte einen kurzen Blick mit Coligney und wartete einen halben Block entfernt, bis der Amtsarzt in einem Marmon den Schauplatz verließ.

Coligney begrüßte den Privatdetektiv mit ernster Miene. »Tut mir leid, Isaac, sie könnte Ihr Mädchen sein.«

»Wer hat sie gefunden?«

»Der Schauspieler, der hier wohnt, beteuert, dass er nach einem Monat im Mittelwesten nach Hause zurückgekehrt sei. Er schwört, dass er sie nicht kannte. Wir behalten ihn in Gewahrsam, während wir seine Angaben überprüfen, aber es sieht so aus, als ob er Pittsburgh tatsächlich erst heute Morgen verlassen hat – das Theaterstück, in dem er mitspielte, wurde kurzfristig abgesetzt. Sie ist seit mindestens einem Tag tot.«

Die Rufe der Reporter wurden lauter und drängender. Auf einen drohenden Blick Coligneys hin scheuchten die Cops die Meute weiter die Straße hinunter. Coligney sagte zu Bell: »Ich habe sechs Mädchen. Ich dulde nicht, dass in den Zeitungen anzügliche Vermutungen über eine Tochter aus gutem Haus zu lesen sind. Schließlich war sie keine Prostituierte, die zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war.«

»Haben die Nachbarn irgendetwas gehört?«, fragte Bell.

»Nicht in der Wohnung. Nicht im Hausflur. Nicht in der Eingangshalle. Wir nehmen an, dass sie aus eigener Kraft ins Haus gelangt ist. In diesem Fall müsste sie ihren Mörder gekannt haben.«

»Es sei denn, sie wurde hineingetragen.«

»Dafür haben wir keinerlei Zeugen gefunden. Nein, es sieht nach einem persönlichen Motiv aus. Brutalität. Eifersucht. Wut.«

»Darf ich einen Blick auf sie werfen?«, fragte Bell.

Coligney zögerte. Bell fügte hinzu: »Ein zusätzliches Augenpaar kann nur helfen.«

»Sie schicken mir einen Bericht?«

»Natürlich. Danke, Mike.«

Coligney hob warnend eine Hand. »Ich brauche Sie nicht eigens darauf aufmerksam zu machen, nichts zu berüh­ren. Aber eins sollten Sie wissen, Isaac, ehe Sie hinein­gehen. Sie wurde schrecklich zugerichtet.«

5

Isaac Bell blieb in der Tür stehen und registrierte und katalogisierte in Gedanken Position und Zustand jedes Gegenstands im Raum. Persönliche Besitztümer – gebundene Texte von Shakespeare-Schauspielen in einem Wandregal neben einem Polstersessel; Büsten und Gravuren der Schauspieler John Wilkes Booth, Richard Mansfield, Henry Irving und Joseph Jefferson; Fotografien von Hauptdarstellerinnen, signiert und gerahmt; und ein Glaskasten, angefüllt mit einem Stapel Theater­programme, bestätigten das Alibi des Schauspielers ebenso überzeugend wie die gelochte Eisenbahnfahrkarte, die er Captain Coligneys Detektiven gezeigt hatte. Es war mehr ein Zuhause als ein gemietetes Zimmer, und es war blitzsauber mit geschlossenen Fenstervorhängen, gemachtem Bett und geschlossenem Kleiderschrank zurückgelassen worden. Eine dünne Staubschicht bedeckte Tischplatten und Ablageflächen, und zwischen den Büsten zitterte ein Spinnennetz in einem Luftzug, der von der Tür kam. Aber eine Pensionswirtin oder ein Nachbar mussten in dem Monat, den er auswärts verbracht hatte, die Zimmerpflanze, eine gesunde Geranie, regelmäßig gegossen haben. Die Fenster waren verriegelt, und Bell vermutete, dass ein muffiger Geruch herrschen würde, wenn nicht der typische Blutgeruch in der Luft läge. Die Umstände legten die Vermutung nahe, der Mörder müsse gewusst haben, dass das Zimmer nicht benutzt wurde. Und der Schauspieler konnte seinem Schicksal danken, dass das Theaterstück nicht schon einen Tag früher abgesetzt worden war, sonst hätte er den Mörder gestört und wäre in diesem Augenblick möglicherweise ebenfalls tot.

Sie lag im Bett, auf dem Rücken, noch immer halb in ihren Mantel gehüllt. Die Hände befanden sich rechts und links neben ihrem Körper, offen, eine Hand in einem Handschuh, die andere nackt. Ihre Handflächen wiesen keinerlei Verletzung auf. Offenbar hatte sie nicht versucht, das Messer abzuwehren. Auch ihr Gesicht war unversehrt, weder eine Schnittwunde noch ein Bluterguss waren dort zu sehen. Aber es war angeschwollen, und ihre Haut hatte einen bläulichen Schimmer. Mit ihren im Tod aufgedunsenen Wangen ähnelte sie frappierend dem engelhaften Porträtfoto, auf dem sie fünfzehn Jahre alt war.

Ein Ring horizontaler Blutergüsse umgab ihren Hals parallel zu dem Schnitt durch ihre Kehle, der den Kopf fast vom Körper getrennt hatte. Das Fehlen von Wunden an den Händen, ihre bläuliche Hautfarbe und die Blutergüsse am Hals ließen Bell hoffen, dass der Mörder sie erwürgt hatte, bevor er sie mit dem Messer bearbeitete.

Nach einigen reglosen Sekunden gab sich der Detektiv einen Ruck und trat weiter in den Raum.

Blut tränkte ihren Mantel und den Bettvorleger, aber nichts davon war gegen das Kopfbrett oder die Zimmerwand darüber gespritzt, was Bell als weiteren Beweis dafür wertete, dass ihr Herz nicht mehr geschlagen hatte, ehe Arterien durchtrennt wurden. Er zählte zehn sichelförmige Schnitte an ihren Armen und Beinen. Sie waren zwar unterschiedlich lang, jedoch nicht sehr tief, und hatten kaum geblutet. Ratlos und nach einer Erklärung suchend kopierte er sie in sein Notizbuch.

Er inspizierte ihre Fingernägel. Zwei waren abgebrochen, aber zu seiner Überraschung fand er an ihnen weder Blut noch Hautfetzen, mit denen er nach einem Kampf um Leben und Tod gerechnet hätte, in dessen Verlauf sie die Unterarme und Hände ihres Mörders sicherlich zerkratzt haben dürfte. Denn dass sie sich gewehrt hatte, wenn auch nur im letzten Moment, dessen war er sich sicher. Einer ihrer Schuhe war halb von ihrem Fuß gerutscht, als sie damit gegen den Fußboden oder den Bettpfosten getreten hatte.

Bell war geneigt, den Cops beizupflichten, dass sie die Wohnung freiwillig betreten hatte, bezweifelte jedoch, dass ein Rendezvous dafür der Grund gewesen war. Selbst wenn man die Blindheit eines liebenden Vaters für etwaige Fehler seines Kindes in Rechnung stellte, wiesen Annas Alter, ihr stets wohlbehütetes Aufwachsen und ihr leidenschaftliches Bemühen, im Theater Karriere zu machen, auf ein vollkommen unschuldiges Mädchen hin, das sich wohl kaum so kurz nach dem Verlassen des elterli­chen Hauses auf eine Liebesbeziehung eingelassen hätte.

Die Cops hatten die Heftigkeit der Attacke hervorgehoben und sie als einen Akt rasender Eifersucht eingestuft. Oder als wütende Reaktion auf eine Zurückweisung, dachte Bell. Er stellte sich vor, dass sie auch unter irgendeinem Vorwand, der nichts mit einer Liebesbeziehung zu tun hatte, in die Wohnung hatte gelockt werden können. Aber er war sich auch schmerzlich bewusst, dass er, wenn ihm die Aufgabe zufiel, den Vater über das Schicksal seiner Tochter zu informieren, den Schlag, der ihn treffen würde, mildern müsste – ganz gleich wie geringfügig das möglich wäre.

Wenn ich sie doch nur rechtzeitig gefunden hätte, dachte er niedergeschlagen.

»Lassen Sie’s gut sein«, sagte Captain Coligney, als er Isaac Bells Gesichtsausdruck sah. Beschwichtigend hob er eine massige Hand, die ein Lastenfuhrwerk auf der Stelle aufgehalten hätte. Bell stürmte die Eingangstreppe hinunter, drängte sich an ihm vorbei und entfernte sich in Richtung Broadway und Times Square.

»Überlassen Sie ihn uns!«, rief ihm Coligney hinterher. »Wir schnappen ihn!«

»Nicht wenn ich ihn vorher zur Strecke bringe.«

Eine Viertelstunde, nachdem er das Haus verlassen hatte, in dem Anna ermordet worden war, beugte er sich über den Schreibtisch des Theaterkritikers der New York Times. »Mr. Klauber, ich bin Isaac Bell. Unser gemeinsamer Freund Walter Hawley machte uns kurz vor seinem Tod im Amen Corner miteinander bekannt.« Walter L. Hawley war der leitende politische Journalist und Reporter der Evening Sun gewesen.

»Bell? Sicher«, sagte Adolph Klauber gedehnt mit starkem Louisville-Kentucky-Akzent. »Sie sind doch im Versicherungsgeschäft tätig, wenn ich mich richtig entsinne. Was ist los, Mr. Bell? Sie sehen ziemlich angefasst aus.«

Bell sagte: »In wenigen Minuten werden Schauspieler zum Telefonhörer greifen und Sie anrufen, um Ihnen zu erzählen, dass eine junge Schauspielerin namens Anna Waterbury bei ihnen in derselben Pension wohnte. Ich brauche deren Adresse.«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie reden.«

»Miss Waterbury wurde ermordet.«

Ein herausgeplatztes, unwillkürliches »Was?« verstummte halb erstickt.

Rasende Wut hatte die attraktiven Gesichtszüge des großen, athletischen Mannes verzerrt, der sich über den Schreibtisch beugte. Klauber zuckte zusammen, schluckte krampfhaft und duckte sich, weil er plötzlich um sein eigenes Leben fürchtete. Dann fand mit Isaac Bells Gesicht eine Veränderung statt, die so schnell und erstaunlich erfolgte, wie der Kritiker sie noch nie auf irgendeiner Theaterbühne hatte beobachten können. Es war Wut, erstarrt zu ausgeprägter, konzentrierter, unbeugsamer Entschlossenheit. Als er redete, klirrte seine Stimme wie Polareis.

»Der barbarische Mörder, der das arme Mädchen mit einem Messer getötet hat, schlachtete sie regelrecht ab, sodass die Zeitungen Extraausgaben drucken werden. Ich gehe jede Wette ein, dass irgendein Schauspieler, der weiß, wo sie wohnte, Sie anrufen wird. Ihre Nachbarn und Mitbewohner des Hauses, in dem sie lebte, können mir unter Umständen helfen, den Mörder zu identifizieren.«

»Weshalb sollten sie ausgerechnet mich anrufen?«

»Weil Sie, bevor Sie Kritiker wurden, selbst Schauspieler waren, Mr. Klauber. Wen hätten Sie angerufen, als sie sich um eine Stelle im Theater bemühten? Die Polizei? Oder einen berühmten Theaterkritiker, der selbst einmal Schauspieler war und daher Verständnis für die Nöte der im Bühnengewerbe Tätigen haben dürfte?«

»Ich hoffe – nein, ich weiß genau –, dass ich niemals derart rücksichtslos ehrgeizig gewesen wäre.«

»Sie vergessen die Demütigungen, die Sie ertragen mussten, die Enttäuschungen, die Armut. Nach dem zu urteilen, was ich in den letzten paar Tagen gesehen und gehört habe, ist das Leben am Theater hart und entbehrungsreich – und wie ich zuletzt erfahren musste, offenbar nicht viel wert.«

»Nun«, räumte Klauber ein, »jeder muss zusehen, dass er irgendwie über die Runden kommt.«

Sein Telefon klingelte.

Isaac Bell stürmte die Eingangstreppe von Anna Water­burys Pension hinauf – zwei vom Alter gezeichnete Wohnhäuser aus dem neunzehnten Jahrhundert, zu einem einzigen Gebäude verbunden, in einer Querstraße des Broadway. Er wusste, dass er von Glück sagen könnte, wenn ihm fünf ungestörte Minuten Zeit blieben, ehe Cops und Zeitungsreporter das Haus belagerten. Die Haustür wurde aufgestoßen, ehe er anklopfen konnte. Ein Paar Varietétänzer, die Frau in wallender Seide, der Mann in weißem Smoking, waren offensichtlich zutiefst enttäuscht.

»Sie sind nicht Mr. Klauber.«

»Mr. Klauber schickt mich«, log Bell. »Wir brauchen Ihre Hilfe. Wie heißen Sie?«

»Heather und Lou«, sagte die Frau, eine außergewöhnlich schöne Brünette mit langem dunklem Haar.

»Heather und Lou, wie gut kennen Sie Anna?«

»Nur von unseren gemeinsamen Abendessen«, sagte Heather.

»Können Sie sich erinnern, wann Sie sie das letzte Mal gesehen haben?«

»Gestern. Sie ist abends nicht nach Hause ­gekommen.«

»War sie in Begleitung, als sie wegging?«

»Nein, sie ging allein.«

Hinter dem Tanzpaar erschien die Pensionswirtin, Mrs. Shine, eine rundliche Frau mit misstrauischen Augen und abgearbeitetem Gesicht. Sie reagierte entrüstet, als Bell fragte, ob sie Anna gekannt habe, und sie protestierte lautstark und erklärte, sie führe ein anständiges Haus und könne nicht für das verantwortlich gemacht werden, was ihre Mieter außer Haus trieben.

»Hatte sie einen Freund?«

Die Wirtin verschränkte die Arme vor der Brust. »Nicht in diesem Haus.«

»Könnte jemand von Ihren Mietern wissen, ob sie einen Freund hatte?«

»Nur Lucy Balant. Sie haben sich ein Zimmer geteilt.«

»Kann ich mit Lucy reden?«

»Wenn Sie nach Philadelphia reisen«, sagte die Pensionswirtin, und einer der beiden Tänzer erklärte: »Lucy ist eine Zweitbesetzung in Jimmy Valentine …«

Sie verstummte abrupt.

»O mein Gott«, stöhnte die Pensionswirtin dann. »Sehen Sie sich das an!«