1,99 €
Seit einigen Tagen hat Dr. Stefan Frank einen jungen Mann in seinem Gästezimmer untergebracht. Der fünfundzwanzigjährige Christoph hat schwere Zeiten hinter sich und möchte sich gerade ein neues Leben aufbauen. Die Hilfe des Grünwalder Arztes nimmt er daher dankbar an.
Als Christoph kurz darauf die bildschöne Finja kennenlernt, scheint sich sein Schicksal endgültig zum Positiven zu wenden: Die beiden verlieben sich auf den ersten Blick ineinander.
Dr. Frank freut sich für seinen Untermieter darüber, dass wieder das Glück in sein Leben gekehrt ist. Allerdings bedrückt es den Mediziner, dass Christoph zu seiner neuen Freundin nicht ganz offen ist. Er verschweigt ihr wesentliche Informationen über seine dunkle Vergangenheit - aus Angst, seine große Liebe zu verlieren. Eindringlich bittet er Dr. Frank, Finja nichts über ihn zu verraten.
Als seine Vermittlungsversuche erfolglos bleiben, akzeptiert Stefan Frank schweren Herzens die Entscheidung seines Gastes, vorerst mit verdeckten Karten zu spielen. Doch etwas anderes beunruhigt den Arzt zusätzlich: Christoph zeigt zunehmend Symptome einer möglicherweise ernsten Erkrankung, und auch darüber will er mit Finja auf keinen Fall sprechen ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 126
Cover
Impressum
Sie darf es nicht erfahren, Dr. Frank!
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: g-stockstudio/iStockphoto
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5712-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Sie darf es nicht erfahren, Dr. Frank!
Wie Christoph im Doktorhaus lernte, an seine Zukunft zu glauben
Seit einigen Tagen hat Dr. Stefan Frank einen jungen Mann in seinem Gästezimmer untergebracht. Der fünfundzwanzigjährige Christoph hat schwere Zeiten hinter sich und möchte sich gerade ein neues Leben aufbauen. Die Hilfe des Grünwalder Arztes nimmt er daher dankbar an.
Als Christoph kurz darauf die bildschöne Finja kennenlernt, scheint sich sein Schicksal endgültig zum Positiven zu wenden: Die beiden verlieben sich auf den ersten Blick ineinander.
Dr. Frank freut sich für seinen Untermieter darüber, dass wieder das Glück in sein Leben gekehrt ist. Allerdings bedrückt es den Mediziner, dass Christoph zu seiner neuen Freundin nicht ganz offen ist. Er verschweigt ihr wesentliche Informationen über seine dunkle Vergangenheit – aus Angst, seine große Liebe zu verlieren. Eindringlich bittet er Dr. Frank, Finja nichts über ihn zu verraten.
Als seine Vermittlungsversuche erfolglos bleiben, akzeptiert Stefan Frank schweren Herzens die Entscheidung seines Gastes, vorerst mit verdeckten Karten zu spielen. Doch etwas anderes beunruhigt den Arzt zusätzlich: Christoph zeigt zunehmend Symptome einer möglicherweise ernsten Erkrankung, und auch darüber will er mit Finja auf keinen Fall sprechen …
Martha Giesecke knöpfte ihren weißen Schwesternkittel auf und hängte ihn in den Schrank am Empfang. Gerade wollte sie in ihre geliebte rote Strickjacke mit dem aufgestickten Berliner Bären schlüpfen, da klingelte das Telefon.
Prompt verebbte Schwester Marthas Feierabendlächeln.
„Wer auch immer det ist: Er oder sie hat besser einen guten Grund“, murmelte sie drohend.
Ihre jüngere Kollegin nahm den Hörer ab.
„Praxis Dr. Frank, mein Name ist Marie-Luise Flanitzer. Was kann ich für Sie tun?“
Martha Giesecke schulterte ihre geräumige Umhängetasche, machte aber keine Anstalten, die Praxis zu verlassen. Mit ihrer resoluten Art und einer guten Portion Beharrlichkeit hatte sie es im Laufe der Jahre geschafft, auch notorisch unpünktliche Patienten auf Kurs zu bringen. Sie wollte wissen, wer da aus der Reihe tanzte und zehn Minuten nach der Sprechstunde anrief.
„Grüß Gott“, sagte Marie-Luise Flanitzer und hörte mit gerunzelter Stirn zu. „Ja, in Ordnung, bis gleich“, meinte sie schließlich und legte auf.
„Notfall?“, erkundigte sich die grauhaarige Arzthelferin gleichmütiger, als ihr zumute war. Ihr Chef hatte einen anstrengenden Beruf. Er brauchte seine Freizeit, und als langjährige Mitarbeiterin empfand sie es als ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass er sie auch bekam.
„Anne Baumgart kann nicht mehr tippen.“
Martha Giesecke überlegte kurz. Wenn jemand nicht mehr tippen konnte, war das gewiss kein Notfall. Hieß dieser Jemand allerdings Anne Baumgart, lag der Fall anders. Die Steuerberaterin war gut organisiert – fast so gut wie Schwester Martha. Außerdem neigte sie nicht zum Dramatisieren. Wenn sie jetzt anrief, tat sie es nicht leichtfertig.
„Gehen Sie ruhig, Schwester Martha.“ Marie-Luise Flanitzer zog einen Aktenordner aus der Registratur. „Ich wollte sowieso noch Verbandsmaterial bestellen, und Frau Baumgart ist in fünf Minuten hier.“
„Also gut. Schönen Feierabend, Marie-Luise.“
„Danke, Ihnen auch. Bis morgen!“
Als Martha Giesecke die Tür öffnete, kam eine brünette Mittvierzigerin im grauen Nadelstreifenanzug durch den Vorgarten auf sie zu. Die Absätze ihrer halbhohen schwarzen Pumps klickten im Stakkato auf die Steinplatten.
„Grüß Sie, Schwester Martha! Ich hätte nie gedacht, einmal so etwas sagen zu müssen, aber: Entschuldigen Sie bitte, dass ich nach der Sprechstunde vorbeikomme.“
„Schon in Ordnung“, erwiderte Martha Giesecke lächelnd.
Anne Baumgart hatte einen missbilligenden Blick erwartet. Stirnrunzeln. Tadelnde Worte. Schließlich kam sie aus eigener Kraft in die Praxis, noch dazu im Eilschritt, ohne sichtbare Wunden.
„Alles Gute, Frau Baumgart. Servus.“ Martha Giesecke nickte der Patientin mit dem exakt geschnittenen Pagenkopf zu und ging.
Die Steuerberaterin atmete auf. Schlimm genug, dass ihr die rechte Hand solche Scherereien bereitete. Offenbar brauchte sie sich obendrein nicht auch noch mit einem schlechten Gewissen herumzuplagen. Trotzdem hatte sie es, deshalb wiederholte sie ihre Entschuldigung Marie-Luise Flanitzer gegenüber – und noch einmal wenige Minuten später im Sprechzimmer.
„Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie von Ihrem Feierabend abhalte, Herr Dr. Frank. Regeln sind da, um befolgt zu werden, sage ich immer. Und jetzt breche ich selbst eine.“
„Seien Sie nicht so streng mit sich. Ich nehme mir gern Zeit für Sie. Außerdem bin ich nach der Sprechstunde immer noch eine Weile in meiner Praxis.“ Lächelnd schüttelte Stefan Frank ihr die Hand. „Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, hängen Sie das allerdings nicht an die große Glocke.“ Er zwinkerte ihr zu.
„Selbstverständlich nicht“, versicherte Anne Baumgart.
„Setzen Sie sich doch, und erzählen Sie mir, was Sie zu mir führt.“ Der Arzt wartete, bis sie Platz genommen hatte. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch.
„Meine rechte Hand kribbelt.“ Sie verzog das Gesicht. „Ich komme mir regelrecht albern vor, wenn ich sage, dass ich deswegen hier bin. Wegen eines Kribbelns. Es klingt so harmlos, fast schon lustig.“
„Sie sind nun schon seit einigen Jahren meine Patientin, und ich weiß, dass Sie nicht wegen einer Lappalie zu mir kommen. Wann haben Sie das Kribbeln denn zuerst gespürt?“
„Vor ungefähr einer Woche. Da war es noch ganz schwach. Ich saß am Schreibtisch und dachte, mir muss die Hand eingeschlafen sein. Nachdem ich sie ausgeschüttelt hatte, ging es wieder, darum habe ich dem Ganzen keine Bedeutung beigemessen. Aber dann kribbelte es immer öfter.“
„Nur öfter oder auch stärker?“, erkundigte sich Dr. Frank.
„Auch stärker. Heute Morgen bin ich schon damit aufgewacht, und seitdem hört es nicht mehr auf. Es zieht in den Arm hoch und tut richtig weh. Ich kann mit rechts gar nicht mehr schreiben, weder einen Stift halten noch meine Computermaus bedienen. Da habe ich es mit der Angst zu tun bekommen.“
Stefan Frank nickte.
„Haben Sie sich an der Hand oder am Arm verletzt? Möglicherweise schon vor längerer Zeit?“
„Nein. Weder noch.“
„Kribbelt es ausschließlich in der rechten Hand und im rechten Arm?“
„Nirgendwo sonst“, bestätigte Anne Baumgart.
„Haben Sie abgesehen vom Kribbeln irgendwelche anderen Beschwerden?“
Seine Patientin überlegte kurz.
„Meine Schultern sind verspannt. Das sind sie immer ein bisschen, aber in letzter Zeit mehr als sonst.“
„Wie viele Stunden sitzen Sie denn pro Tag ungefähr am Computer?“
„Im Grunde die ganze Zeit, also mindestens acht Stunden.
„Auch am Wochenende?“
Anne zögerte. „Nicht acht Stunden, nein. Aber die eine oder andere Stunde kommt schon zusammen, seit meine Tochter erwachsen ist und Treffen mit anderen jungen Leuten angesagter sind als Spielenachmittage oder Ausflüge mit mir. Sie sind ja auch selbstständig, Dr. Frank. Sie kennen das bestimmt.“
Warum rechtfertigst du dich?, fragte sich Anne, die früher manche Nachtschicht eingelegt hatte, um tagsüber für Finja da zu sein. Hatte eigentlich jede alleinerziehende berufstätige Mutter ein schlechtes Gewissen?
Stefan Frank notierte sich ein paar Stichworte.
„Ich werde Sie jetzt untersuchen, Frau Baumgart. Wo tut es denn am meisten weh?“
Sie zeigte auf eine Stelle am Handrücken. Vorsichtig tastete der Arzt Arm, Hand und Schultern ab.
„Schmerzt es, wenn ich hier drücke? Oder hier?“ Er prüfte ihre Muskelkraft und die Beweglichkeit der Gelenke. „Sie haben einen Mausarm“, stellte er einige Minuten später fest. „Man sagt auch RSI-Syndrom dazu. RSI steht für Repetitive Strain Injury – eine Verletzung, die durch wiederholte Über- oder Fehlbelastung ausgelöst wird.“
„Aber ich habe die beste ergonomisch geformte Maus und Computertastatur, die es auf dem Markt gibt“, beteuerte Anne. „Darauf lege ich großen Wert, auch bei meinen drei Angestellten.“
„Dann haben Sie gewiss auch moderne Bürostühle?“
Seine Patientin antwortete nicht sofort.
„Im Frühjahr habe ich neue Stühle gekauft“, sagte sie schließlich gedehnt. „Meine Mitarbeiterinnen finden sie toll, aber ich konnte mich nicht damit anfreunden. Seit ein paar Monaten sitze ich wieder auf meinem alten Stuhl.“
„Ist der auch ergonomisch geformt?“
„Also … eher nicht. Nein. Es ist ein Erbstück, eine Art Talisman. Auf dem Stuhl hat schon mein Großvater gesessen und nach ihm mein Vater, als er die Kanzlei vor dreißig Jahren gegründet hat.“
„Das ist eine schöne Familientradition, Frau Baumgart. Sie können den Stuhl ja auch in Ihrem Büro behalten und beispielsweise bei Besprechungen darauf sitzen. Für die Arbeit am Computer rate ich Ihnen allerdings dringend, Ihren modernen Bürostuhl zu nutzen. Haben Sie ihn noch?“
„Ja, schon.“
„So ein Mausarm kann chronisch werden“, warnte Dr. Frank seine Patientin, weil Anne wenig begeistert wirkte.
Erschrocken sah sie ihn an.
„Oh. Nein, das kann ich mir nicht leisten. Ich muss schreiben, davon hängt meine Existenz ab! Einige meiner größten Kunden bestehen darauf, dass ich ihre Angelegenheiten persönlich betreue.“
„In dem Fall sollten Sie dem neuen Stuhl eine zweite Chance geben. Auch Ihren Schultern zuliebe. Investieren Sie etwas Zeit, und experimentieren Sie mit den Einstellungen. Manchmal wirkt es schon Wunder, wenn man die Sitzfläche einen Zentimeter höher oder tiefer stellt.“
Anne nickte entschlossen.
„Gut. Ich probiere es.“
„Wichtig ist auch, Ihren Muskeln und Gelenken immer mal wieder Pausen zu gönnen. Ballen Sie die Hände zu Fäusten und öffnen Sie sie langsam wieder. Stehen Sie auf, schütteln Sie die Arme aus. Drücken Sie beide Hände gegeneinander oder gegen eine Wand.“
Anne Baumgart sah den Arzt skeptisch an.
„Das ist alles? Dann geht das Kribbeln weg?“
„Ich hoffe es.“ Dr. Frank zog den Rezeptblock zu sich heran. „Da Sie akute Beschwerden haben, verschreibe ich Ihnen Schmerztabletten. Dauerhaft sollten Sie die jedoch nicht einnehmen. Treiben Sie eigentlich Sport?“
Die Steuerberaterin druckste herum.
„Na ja … Ich lasse das Auto wann immer möglich stehen und fahre stattdessen mit dem Rad oder laufe.“
„Das ist ein guter Anfang. Gerade Menschen, die beruflich viel sitzen, tut Bewegung enorm gut. Wie wäre es mit einem Sportkurs? Der Grünwalder Turnverein bietet Wirbelsäulengymnastik an.“
Anne Baumgart seufzte.
„Sie haben bestimmt recht. Bloß: Ich bin tagsüber ja dauernd mit meinen Klienten und Angestellten zusammen. Da freue ich mich, abends keine Menschen um mich zu haben – abgesehen von meiner Tochter natürlich. Ich bin einfach nicht der Vereinstyp.“
„Dann kaufen Sie sich vielleicht eine DVD. Die können Sie abspielen, wann immer Ihnen danach zumute ist.“
„Stimmt. Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?“, fragte die Patientin verwundert.
Stefan Frank lächelte. „Weil der Leidensdruck noch nicht groß genug war. Aber mit zunehmenden Beschwerden wäre es Ihnen bestimmt auch bald eingefallen.“
„Eine DVD. Natürlich. Ich bestelle mir gleich heute eine per Internet.“
„Als Unternehmerin sind Sie ja diszipliniert, deshalb habe ich keinen Zweifel, dass Sie die DVD nicht nur kaufen, sondern auch benutzen werden. Machen Sie bitte mehrmals täglich die Entspannungsübungen, und stellen Sie Ihren Bürostuhl so ein, dass Sie bequem und gleichzeitig gerade sitzen können. Ich bin optimistisch, dass Sie den Mausarm dann bald in den Griff kriegen.“
„In Ordnung.“ Anne Baumgart steckte das Rezept, das der Arzt ihr reichte, in ihre schmale dunkelgraue Handtasche und stand auf. „Vielen Dank, Dr. Frank. Und bestellen Sie Frau Dr. Schubert doch bitte einen schönen Gruß. Mit den Kontaktlinsen, die sie mir empfohlen hat, komme ich wunderbar zurecht. Die besten, die ich je hatte.“
„Alexandra wird sich freuen, wenn ich ihr das erzähle, Frau Baumgart. Und Sie grüßen bitte Ihre Tochter von mir, ja?“
„Das mache ich gern.“
Stefan Frank kam um seinen Schreibtisch herum.
„Wie gefällt es Finja denn an der Uni?“
„Gut. Leider.“
„Leider?“
Anne Baumgart winkte ab.
„Ach, mir ist schleierhaft, warum sie unbedingt Grundschullehrerin werden will. Was erwartet sie denn als Lehrerin? Freche Schüler und arrogante Eltern, die ihre Kinder für Mini-Einsteins halten. Ich weiß, es ist nicht politisch korrekt, so etwas zu sagen, aber darauf läuft es doch hinaus.“
„Offenbar schätzt Finja die Zustände an den Schulen optimistischer ein.“
„Ja, weil sie ihre eigene Grundschulzeit in bester Erinnerung hat. Heutzutage ist vieles anders. Die Kinder sind respektloser. Vielleicht muss sie erst ein Praktikum machen, um dahinterzukommen.“
„Also, ich kann mir Finja gut als Lehrerin vorstellen. Sie interessiert sich für ihre Mitmenschen, ist hilfsbereit und geduldig.“
Anne versuchte, ihr Lächeln nicht zu breit ausfallen zu lassen.
„Danke für das Kompliment. Ich bin ja auch stolz auf meine Tochter. Aber genau diese Qualitäten könnte sie doch in meiner Kanzlei einbringen – und sich dadurch viel Ärger ersparen.“
Nachdenklich betrachtete Dr. Frank seine Patientin.
„Liegen Ihre verspannten Schultern möglicherweise nicht nur an einem ungeeigneten Bürostuhl, sondern auch daran, dass Sie von Finjas Berufswunsch nichts halten?“
Anne Baumgart wich seinem Blick kurz aus. Dann holte sie tief Luft.
„Möglich. Meine Kanzlei floriert. Arbeit ist mehr als genug da. Der Schuldienst hingegen … Wer kann schon sagen, ob Finja nach dem Examen eine Stelle bekommt? Noch dazu an einer Schule, die ihr gefällt? Bei mir weiß sie, was sie hat, und könnte ihre eigene Chefin sein. Aber sie will nicht.“
„Versuchen Sie, es nicht persönlich zu nehmen“, riet Stefan Frank. „Ich weiß, das ist leicht gesagt. Die meisten jungen Menschen wollen ihre eigenen Erfahrungen machen.“
„Dagegen habe ich ja auch gar nichts – aber Fehler müssen sie doch nicht unbedingt selbst machen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten ein Kind, und es wollte partout nicht Ihre Praxis übernehmen. Wären Sie da nicht auch enttäuscht?“
„Gute Frage.“ Der Arzt überlegte. „Ich schätze, ich fände den Gedanken schön, das, was ich aufgebaut habe, an mein Kind weiterzugeben.“
„Na, sehen Sie!“
„Gleichzeitig würde ich meinem Kind nicht die Verantwortung übertragen wollen, mein Lebenswerk fortzuführen. In ihm würde vielleicht das Potenzial für etwas ganz anderes stecken. Und wenn es keine Chance hätte, das herauszufinden, würde es beruflich vielleicht nie so zufrieden sein wie Sie oder ich.“
Anne seufzte. „Natürlich will ich in erster Linie, dass mein Kind glücklich ist. Und ich weiß, ich jammere auf hohem Niveau. Schließlich will Finja Lehrerin werden und nicht Karriere bei der Mafia machen. Aber ich fände es fahrlässig, meine Bedenken für mich zu behalten.“ Sie lächelte. „Vielen Dank für Ihre Zeit“, beendete sie dann recht abrupt das Gespräch.
Dr. Frank merkte, dass seine Patientin trotz des freundlichen Lächelns ein wenig unzufrieden mit ihm war.
In der Tat verließ sie die Praxis mit dem Gefühl, sie hätte sich den privaten Teil des Gespräches sparen sollen. Stefan Frank hatte keine Kinder. Er war der ideale Hausarzt, doch was sie wegen Finja durchmachte, konnte er beim besten Willen nicht nachvollziehen. Das konnten nur Eltern.
Und noch nicht einmal alle. Dafür musste man schon wie Anne mit Anfang zwanzig auf einen ebenso charmanten wie leichtfertigen Mann hereingefallen sein. Einen, der ewige Liebe schwor und dann Reißaus nahm, wenn seine Freundin ihm freudestrahlend von der Schwangerschaft berichtete. Der sich nie wieder blicken ließ …
Nicht, dass Anne Finjas Erzeuger noch einmal sehen wollte. Er konnte ihr gestohlen bleiben, genau wie alle übrigen Männer.
Sie hatte sich durchgekämpft, etwas aus ihrem Leben gemacht, ihrem Kind Liebe und Geborgenheit geschenkt. Darauf war Anne stolz. Finja sollte es leichter haben als sie damals. Dazu gehörte auch, ihr ein gesundes Misstrauen Männern gegenüber einzuimpfen und sie davon abzuhalten, den Lehrerberuf durch eine rosarote Brille zu betrachten.
***
Stefan Frank sperrte die Praxis zu, wechselte seine weiße Arztkleidung gegen Jeans und ein dunkelrotes Flanellhemd ein und verließ das Haus, um seine Lebensgefährtin abzuholen.