Ein Mensch, den sie Schnute nannten - Josef Krämer - E-Book

Ein Mensch, den sie Schnute nannten E-Book

Josef Krämer

4,8

Beschreibung

Die fiktive Geschichte ist eingebunden in das Leben in der Zeit von 1920 bis zum Beginn der 60er Jahre im Bergischen Land im Milieu einer Steinhauerfamilie. Sie ist von der Stärke der handelnden Personen getragen, sich am eigenen Haarschopf aus dem problembeladenen Alltag herauszuziehen. Sie nutzen ihre Tugenden, um das Leben auf wundervolle Weise zu bewältigen. Karl, der behindert zur Welt kommt, zeigt insbesondere, was er mit liebender Hilfe aus sich herausholen kann, mit der fürsorgenden Liebe seiner Oma, der Freundschaft seines Freundes Hans und der starken Liebe von Helga. Eine spannende, ergreifende und unterhaltsame Geschichte um Liebe und Freundschaft in schlimmen Zeiten.

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Seitenzahl: 209

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Eine Erzählung aus dem Bergischen Land

Karl ahnte etwas von der Wahrheit, dass man in dieser Welt nur weiterleben kann, wenn man zutiefst glaubt, dass sie nicht so bleibt, wie sie ist, sondern dass sie werden wird, wie sie sein soll. (Ausschnitt)

„Wir sind, was wir denken. Alles, was wir sind, entsteht aus unseren Gedanken. Mit unseren Gedanken formen wir die Welt.“ (Sokrates)

„Glück ist die Überwindung von Leid.“

„Du wirst morgen sein, was Du heute denkst.“ (Gautama Buddha)

„Du kannst über das Wasser gehen“.

„Stehe auf!“

(Jesus)

Inhalt:

Dank

„Die große Reise“

Reukaffee

Schulzeit

Das Leben auf dem „Kamp“

Die Harmonika

Der Steinkühler

Der Sonntag

Die Birnenbachs

Schätzmühle

Der Musikant

Berufswahl

Das Geschenk des Himmels

Der Meister

Der Musikverein

Der Doktor

Helga

Demenz

Betragen: sehr gut

Krieg

Umbruch

Lebensfreude

Hans

Dorothea

Die Rettung

Dank

Diesen Roman, zu dem mich meine Frau Hildegard besonders ermuntert hat, habe ich mit besonderer Freude geschrieben. Immer, wenn ich über Sachthemen brüte und daran intensiv arbeite, fragt sie mich, warum ich es mir so schwer mache, denn beim Schreiben von Erzähltexten sei ich gelöster und fröhlicher.

Es ist tatsächlich so, dass Texte und Dialoge dann aus mir heraus fließen, wie aus einer unstillbaren Quelle. Ich spüre, wie ich aus dem unausschöpfbaren Fundus greifen kann, den Gott in mir über Generationen angelegt hat. Ich höre meine verstorbene Frau Franziska und meinen Vater sprechen, mein Großvater deckt mir lachend den Tisch und lädt seine Freunde dazu ein, so dass ich nur noch aufschreiben muss, was sie tun und erzählen.

So war es auch bei diesem Roman. Und doch sind die Personen und ihre Namen fiktiv, sie sind so, wie sie hier handeln, von mir erfunden, obwohl ich denke, dass ich die Charaktere getroffen habe und man die dahinter versteckten Menschen wiedererkennen kann.

Die Orte, an denen diese Geschichte spielt, existieren tatsächlich und die Kriegsereignisse sind leider traurige Realität gewesen, jedoch nicht genau in der Form, wie ich sie im Zusammenhang mit den Ereignissen beschreibe. Schon immer faszinieren uns Menschen, die das Leben vor besondere Herausforderungen stellt. Da sind Ereignisse, die zunächst wie eine Katastrophe aussehen, in Wirklichkeit eine Chance, herauszufinden, was wirklich wichtig ist. Es gibt Menschen, die aufgrund eines Handicaps ihr Leben völlig unorthodox ordnen und aufbauen müssen, Menschen, die ein anderes Leben führen müssen, deshalb aber nicht weniger glücklich sind, als andere. Obwohl diese Menschen ihre körperliche Unversehrtheit verloren, haben sie andererseits viel gewonnen und sie können uns sehr viel geben.

Wir können von ihnen lernen, dass in uns allen sehr viel mehr steckt, als wir für möglich halten. Wir können von ihnen lernen, was es heißt, Probleme zu haben und diese zu lösen. Wir können von ihnen aber auch lernen, dankbar zu sein. Und wir können von ihnen lernen, dass Freude, Glücklichsein, Zufriedenheit und Erfolg nicht von den Äußerlichkeiten eines unversehrten und intaktem Körpers abhängen und durch Behinderungen infrage gestellt werden müssen.

Diese Menschen nutzen ihre von Gott gegebenen Tugenden und Talente in besonderer Weise. Diese Menschen zeigen, dass wir in jeder Situation die Wahl haben zwischen den Gegensätzen: Aufgeben und Weitermachen, Verzweiflung und Sich-herausgefordert-fühlen, Selbstmitleid und das Beste daraus machen, Unglücklichsein und Glücklichsein, Verbitterung und Liebe. Und mit dieser Freiheit halten wir alle den Schlüssel in der Hand, trotz aller Widrigkeiten ein zufriedenes und erfülltes Leben zu führen.

Uns sollte klar sein, dass, wenn wir von Behinderungen sprechen, damit nicht nur tiefgreifende körperliche Beeinträchtigungen gemeint sind, sondern jedes kleine Wehwehchen, sei es körperlich oder mental, dem wir negativen Einfluss auf unser Verhalten überlassen. Mit zunehmendem Alter verspüre ich selber die damit verbundenen Veränderungen, die über unabdingbare körperliche Beeinträchtigungen auch Einfluss auf die Psyche nehmen wollen. Doch: Dein Lächeln ist ein Bumerang! Im Grunde unseres Herzens sollten wir erkennen, dass wir zwar alle auf irgendeine Art und Weise unvollkommen sind, aber gleichzeitig auch alle über das Potential verfügen, das aus uns heraus zu überwinden. Wie sagen es die Bläck Föhß treffend: „Jedem fählt en Eck“ oder eben: „Nobody is perfect.“

Im Buch ist viel von Tugenden die Rede und ich habe mich bemüht, einige in mir schlummernde zu aktivieren, wobei ich hoffe, dass ich das auch bei den Lesern bewirken kann.

Der Autor

Nutze den Tag!

Carpe diem (Horaz)

„Die große Reise“

„Um die Grabrede, die du heute halten musst, bist du wirklich nicht zu beneiden, Theo. Wie du die immer hinkriegst, ist mir sowieso ein Rätsel.“

In der Sakristei der Lindlarer Pfarrkirche Sankt Severinus bereiteten sich Pastor und Küster auf ein Begräbnis vor. Der Küster versuchte den kunstvollen Turmdeckel auf den mit frischen Weihrauchkräutern gefüllten, goldig glänzenden Turibulum einzurasten. Er zog die Messingketten durch die seitlichen Ösen und schwenkte probierend die Weihrauchschale einige Male hin und her. Dabei schaute er lächelnd zu seinem Freund, der augenscheinlich keine Zeit hatte, ihm sofort zu antworten, denn sein Kopf steckte unter der Soutane, die er sich übergezogen hatte, ohne sie aufzuknöpfen. Wie das so ist, wollte er den einfacheren Weg gehen, doch merkte nun, dass das Gegenteil der Fall war. Er hatte sich hoffnungslos in seiner eigenen Falle verstrickt. So fuchtelte er mit den Armen in der Luft herum. Der Küster griff schnell nach dem Weihwasserkännchen, um es zu bewahren, Opfer dieser Ungeschicklichkeit zu werden. Dann packte er beherzt das verhedderte Kleidungsstück seines Gegenübers am Kragen und befreite ihn aus seiner unbequemen Lage.

Der Pastor schnaufte und atmete schwer. „Danke dir, Heinrich“, sagte er. „Was meintest du eben?“ Er griff den Gesprächsfaden auf.

„Du hast mich schon verstanden.“ Der Küster fuhr fort, die Sachen für die Beerdigung bereitzustellen.

Dabei sprach er, ohne sich ablenken zu lassen. „Schließlich fällt mir bei unserer Toten heute einiges ein, was sich für eine Grabrede, sagen wir mal, nur bedingt eignet. Ein so bewegtes Leben in ein paar Sätze zu fassen, ist ein Kunststück, das nicht mal du fertig bringen kannst.“

„Quatsch, Heinrich“, antwortete sein Freund und Pastor, während er weiter machte, sich so zu bekleiden, wie es für ein Begräbnis üblich war. „Wenn ein Mensch gestorben ist, den man gut gekannt hat, so bündeln sich in Gedanken seine Tugenden auf wundersame Weise in unserem Gedächtnis. Das ist die Gerechtigkeit, die jedem zusteht, meine ich“.

Der Pastor legte die Stola an. „Wenn ich einen Verstorbenen in meiner Grabrede über den grünen Klee lobe, ist das nicht gelogen. Ich vergesse einfach, was ich zu Lebzeiten an ihm als nicht besonders lobenswert empfunden habe. Es ist auf einmal nicht mehr wichtig. Und bei ihr habe ich solche Klimmzüge ja nicht nötig“.

Er schnäuzte sich in ein großes Taschentuch und ergänzte dann: „Glaube mir, Heinrich, vielleicht ist irgendwelche ehrliche oder versteckte Kritik in den meisten Fällen sowieso nicht so nennenswert und dient nur dazu, den eigenen Frust abzureagieren.“ Sinnend stand er da und dachte über seine Worte nach.

„Wie meinst du das denn?“ fragte der Küster Heinrich, der mittlerweile mit seiner Kramerei nach all den Utensilien fertig geworden war.

„Ich meine, dass man oft etwas haben muss, an dem man seinen eigenen Ärger aufhängen kann; und da kommen einem andere Leute richtig.“

„Da könntest du Recht haben“, bestätigte Heinrich. „Wie leicht ist es doch manchmal, andern das anzuhängen, mit dem man selber nicht fertig wird.“

„Genau so habe ich es gemeint.“ Der Pastor kniete nieder, indem er seine beiden Hände auf die Oberschenkel drückte und sich mühsam dabei bückte. Er merkte seine Jahre, aber auch seine Pfunde. Er bekreuzigte sich. Nachdem er ebenso voller Mühe wieder nach oben gekommen war, redete er weiter: „ Doch, wie gesagt, es kommt der Tag, da erkennt man, was da eigentlich alles unter den Teppich gekehrt werden könnte, von dem man sonst glaubt, man müsse es an die große Glocke hängen. Schließlich steckt ja in jedem Menschen etwas Gutes, was er aber leider nicht immer nach außen zeigt.“

Der Küster lachte: „In der Beziehung könnte sich mancher mal wenden lassen. Aber es geht ja bei einem Rückblick nicht nur um den einen, da müssten auch manche andere Beteiligte ihr Fett weg kriegen.- Vielleicht stünde es auch einem Pastor gut an, vorsichtiger und demütiger zu sein, bevor er sich über andere ein Urteil erlaubt.“

Der Pastor lächelte wissend, während er seinen Blick auf die Uhr richtete, die in der Sakristei über der Tür zur Kirche hing. „Lass mal gut sein! Ich urteile nicht, das mag ein anderer tun.“ Er schluckte. „Einen Augenblick haben wir noch Zeit, Heinrich. Lass uns nicht so hetzen.“

„Soll mir Recht sein. Die Emma Schnute hält still.“ Er meinte die Tote, die in der Kirche im Sarg auf die Fahrt zum Friedhof wartete.

„Nun sage nicht mehr Schnute zu ihr, jetzt, wo sie tot ist, das hört sich so respektlos an“, sagte der Pastor vorwurfsvoll.

„Ja, was soll ich denn sonst sagen? Ich kenne sie nur als Schnutes Oma. Und das seit meiner frühesten Jugend.“

„Die Schnutes haben einen ganz normalen Namen, wie alle anderen Menschen. Sie heißen Kramm, weißt du? Die Kramms vom Kamp. Du wohnst doch auf dem „Vogelsdreck“, das ist doch nicht weit weg davon.“

„Spitznamen haben ja in Lindlar eine alte Tradition. Wenn Schnute einmal anzüglich gemeint war, dann hat sie daraus einen Ehrennamen gemacht, meine ich.“

„Vor ein paar Tagen beim Reukaffee vom Webers Schorsch hat ihr Enkel, der Karl noch seine Witzchen gemacht. Als einer meinte, es wären wieder viele Leute bei der Leiche, war seine prompte Antwort: „Ich möchte sie nicht hinter mir haben“.

Heinrich holte tief Atem: „Wer möchte das schon?“ Er machte eine Gedankenpause. „Und jetzt ist es seine Großmutter, die er nach so einem tragischen Ende zu Grabe tragen muss. Das wird nicht leicht für ihn sein, denn die beiden haben sich besonders nahe gestanden – und er hat ihr eine Menge zu verdanken.“

„So schnell kann es gehen.“ Der Pastor seufzte: „Wir wissen alle nicht, wann wir die Reise antreten müssen.“

„Das ist auch gut so. Weil das so ist, sollten wir jederzeit vorbereitet sein.“

Der Küster zog seine Taschenuhr aus der Hosentasche und verglich die Zeit mit der Wanduhr. Die Zeit schien überein zu stimmen, denn er sagte kommentarlos: „Über so etwas denke ich gar nicht nach. Dafür sorgt meine Frau schon, dass ich nicht über die Stränge schlage.“

„Ich hoffe doch, dass du auch alleine weißt, was du zu tun oder zu lassen hast“, scherzte der Geistliche. Er griff nach dem Barett, setzte es auf seinen Kopf und sich selbst in Bewegung durch die Tür, vor der in der Kirche zwei Jungen im Gewand der Messdiener standen. Sie mussten hier warten, während sich der Pastor in der beengten Sakristei umzog, in der allerlei Kram herumstand, der für eine Kindermesse am Sonntag vorgesehen war. Das war gar nicht so einfach, ruhig zu stehen angesichts der Leute, die mehr und mehr die Kirche füllten. Die beiden hatten das Gefühl, aller Augen seien auf sie gerichtet. So scharrten sie mit den Füßen wie zwei ungeduldige Pferde, die man vor den Kutschwagen gespannt hatte und zurück hielt, los zu stürmen.

Doch sobald die Tür hinter ihnen knackte, warf einer einen schnellen Blick aus den Augenwinkeln nach hinten, zog an dem Glockenstrang neben der Tür, die Glocke bimmelte und sogleich hörte man das Schrappen und Schürfen der Schuhe der wartenden Leute, das anzeigte, dass alle aufstanden. Dabei ging ein Raunen durch das Gotteshaus, als ob alle gleichzeitig den Atem ausströmten, und es war, als ob man einen angestauten Druck durch hundert Ventile ausließe.

Emma Kramm konnte auf ihre letzte Fahrt gehen, obwohl sie eigentlich schon längst angekommen war.

Ein Pastor ist von Berufs wegen angehalten, sich mit dem Leben der Menschen in seiner Gemeinde zu beschäftigen. Sofern sie katholisch sind und zur Beichte kommen, erhält er noch mehr als alle andern, Einblicke in ihren Alltag und ihr Seelenleben. Natürlich würde jeder Geistliche nie Gebrauch von seinem Wissen machen, doch unser Pastor war klug genug zu wissen, dass man manche Tatsachen nicht ignorieren kann, weil sie fest im Gedächtnis verankert sind. Sie drängen sich von ganz alleine nach vorne und erinnern daran, berücksichtigt zu werden.

Besonders bei seinen Überlegungen zu Ansprachen bei Familienfesten, zu denen er auch Beerdigungen zählte, kamen Theo so viele Einzelheiten aus dem Leben der beteiligten Personen in den Sinn, dass er Mühe hatte, sie so einzusortieren, dass niemand gewahr werden konnte, woher er sein Wissen um sie hatte.

Auch beim Nachdenken über ein paar Worte am Grab von Emma Schramm, genannt Schnute, kamen ihm so viele Dinge in den Sinn. Schließlich kannte er die Familie seit er nach Lindlar gekommen war. Spontan verband er ihr Leben mit dem ihres Enkels Karl, der mit schlimmen Behinderungen auf die Welt gekommen war. Sie, als seine Oma, trug wesentlichen Anteil daran, dass es ihm gelungen war, seine Rolle als geschundener Außenseiter während seiner Schulzeit, später in eine absolut positive Einstellung zu wandeln. Sie hatte nie das Vertrauen verloren, dass ihr Enkel etwas Besonderes war. Die Geschichten aus den Jugendtagen von Schnute kannte er vom Erzählen der Leute. Sie waren voller Vorurteile gegen den behinderten Schnute. Er, als Pastor wusste, wie unbedacht grausam und voller Vorurteile Menschen untereinander manchmal handeln können.

So verband sich die Lebensgeschichte der Toten in seinem Kopf automatisch mit der ihres Enkels. Als er Pastor in Lindlar wurde, das musste so kurz nach dem Kriegsbeginn gewesen sein, war Schnute noch zu den Leuten in die Häuser gegangen, um ihnen die Haare zu schneiden. Er hatte seine festen Kunden. Bei einigen, vorwiegend älteren Männern, erschien er morgens zum Rasieren oder Bartschneiden. Aus welchem Grund auch immer, mit Frauenköpfen gab er sich nicht ab. Er war nie dahintergekommen, ob die Frauen ihn nicht an ihre Frisuren lassen wollten oder umgekehrt, obwohl Karl sein Handwerk richtig gelernt hatte und außerdem auf originelle Art charmant sein konnte. Seine Haarschnitte zeichneten sich durch eine Mischung aus Mode und Naturtalent aus, denn er achtete darauf, dass sie genau zum Träger passten, meistens eine originelle Individualität auswiesen und irgendwie charakterisierend wirkten. Dem Pastor fiel ein Mann ein, dessen Ähnlichkeit mit seinem Hund unverkennbar war, nachdem Karl ihm Haare und Schnurrbart „getrimmt“ hatte.

Wenn er richtig überlegte, so waren die Schramms wieder einmal ein typisches Beispiel für eine Theorie, die er sich als Pastor zurecht gelegt hatte, weil er immer wieder darauf stieß: Bei den Menschen geht so etwas wie ein roter Faden durch die Jahre ihres Lebens und zeichnet ihren Weg. Alle möglichen Einflüsse mögen noch so stark auf sie einwirken, sie kehren trotzdem immer wieder auf ihren Grundkurs zurück. Dieser Weg durch das Leben entspricht ihrem innersten Charakter, ihren Tugenden, die anscheinend in jedem Menschen angelegt sind. Er nannte es ihre Berufung. Jeder Mensch hat eine Berufung in sich und verfügt über die Mittel, ihr gerecht werden zu können.

„Vielleicht ist das ja der Hauch Gottes“, dachte der Pastor. „Wenn er Milliarden anderer seiner Schöpfungen in so idealer Weise geschaffen hat, sollte man annehmen, dass er auch den Menschen mit dem Notwendigen ausgestattet hat, das ihm ermöglicht, im Leben zu Recht zu kommen. Eine Rose ist eine Rose, und sie bleibt es. Schon im Samenkorn ist alles angelegt, was die Rose ausmacht. Beim Menschen sind diese Anlagen genauso vorhanden. Die kleinen Verschiedenheiten von Mensch zu Mensch kann man vergessen. Es läuft immer wieder auf das Gleiche hinaus.“

Wie viele Lebensgeschichten waren ihm schon begegnet und er hatte versucht, sie mit seinen Worten nachzuerzählen? Wie oft stellte er fest, dass die Rückkehr auf den Weg der Berufung die Menschen glücklich machte, obwohl er auch welche kannte, die immer wieder, wie magisch angezogen, das Falsche machten und wiederholten. Aber grundsätzlich würde er sagen, dass wir zufrieden und glücklich sind, wenn wir mit Gott und der Welt im Reinen sind, wenn wir mit uns selbst und die Welt mit uns übereinstimmen. Dieses Gleichgewicht herzustellen, ist vielleicht das Geheimnis des Glücks.

Seine Ansprache für die Frau, die den Namen Emma Schnute führte, weil sie ihren Enkel Schnute nannten, konnte den Zuhörern klar machen, dass es diesen Menschen trotz besonderer Widrigkeiten gelungen war, das Geheimnis des Glücks wenigstens etwas zu lüften. Das freute ihn und ließ ihn lächelnd den Weg zurück zur Kirche gehen, mit vielen guten Gedanken im Kopf.

Reukaffee

Wenn gesagt wird, beim Reukaffee in Lindlar sei mehr los als beim Karneval in Gummersbach, dann galt das bestimmt auch heute. Die Menge der schwarz gekleideten Frauen und Männer hatte sich nach der Beerdigung hinter der Gruppe von Pastor, Küster und Messdienern vom Friedhof zurück ins Dorf in Bewegung gesetzt. An der Ecke zum „Buschkett“ tönten aus der Kaiserhalle die Fetzen lauter Musik. Man probierte etwas aus für die Kinovorstellung am Abend. Große Plakate mit dem Bild einer gewagt bekleideten Frau, mit Beinen bis zum Hals, hingen an der Seite zur Straße „En dr Angst“ auf der Holzfassade: die Reklame für einen Film mit Marika Rökk. Daneben waren kleinere Plakate, mit der Ankündigung für den Film „Quax, der Bruchpilot“ mit Heinz Rühmann, angeheftet. Die Männer riskierten im Vorbeigehen einen verstohlenen Blick auf die Beinbilder. Die Frauen taten so, als ob sie sie nicht sähen, neigten die Köpfe und redeten im Vorbeihasten ein paar Tonlagen lauter mit dem Nachbarn. Die Gruppe um den Geistlichen bog an der Kirche ab. Die vier legten einen Schritt zu, um nicht zu spät zum Reukaffee zu kommen. Womöglich waren nur noch die Kanten vom Streuselkuchen übrig. Das ging manchmal im Rubbedidupp. Kam man zu früh, so sah das aus, als ob man zu gierig nach Essen und Trinken war, kam man später, konnte es sein, dass schon zu viel Stimmung im Saal war, eines Geistlichen abträglich, dabei mitzumachen. Da musste man zu viel weghören bei den Ausdrücken, die von Tisch zu Tisch flogen. So war das nun mal wenn der Schnaps floss. Es hieß zwar Reukaffee, aber Kaffee wurde am wenigsten konsumiert bei so einem Ereignis.

Der eine der beiden Messdiener flüsterte seinem Freund zu: „Ich freue mich schon auf den Streuselkuchen. Ich wünschte, jede Woche würde einer sterben, bei dem es was Leckeres zum Reukaffee gibt.“ Es gab viele Zeiten in Lindlar, in denen viele Leute das auch bei Brotkrusten gesagt hätten.

Sein Freund nickte zustimmend: „Wenn ich gewusst hätte, dass ich ab und zu Streuselkuchen kriege, wäre ich schon früher Messdiener geworden.“ Streuselkuchen und Hefeteilchen gehörten zum traditionellen Verzehr beim Treffen nach den Beerdigungen. Im Bergischen heißen sie Reukaffee und es ist ein Neuanfang nach dem traurigen Ereignis, bei dem im Kreis von Freunden, Nachbarn und Bekannten das Leben wieder durchstartet.

Schwatzend und hier und da lachend strömte die Menge Richtung „Korb“ zum Reif in die „Helling“. In dieser Gaststätte war ein kleiner Saal, der dem Ansturm bei Beerdigungen gewachsen war.

Es war ein Betrieb wie beim Schützenfest, ein Zeichen, dass viele Menschen Anteil am Tod von Oma Schnute nahmen. Sie gehörte zu den Menschen, von denen man zu ihren Lebzeiten nie so recht weiß, welchen Gedanken über sie man den Vorzug geben soll. Doch es wird sich herausstellen, dass jemand, der meint, sich schnell eine Meinung über sie machen zu können, es sich zu leicht macht.

Die Schulzeit

Wenn ich jetzt mehr von Schnute erzähle, so will ich mit der Schulzeit anfangen. Die Sachen hat mir Birnenbachs Hans erzählt, der sicher nichts dagegen hat, dass ich das weitergebe, was er mir brühwarm berichtet hat. Wenn ja, ist es auch nicht schlimm, denn er ist schon tot und kann sich nicht mehr wehren.

Ich muss so um die 8 Jahre alt gewesen sein, also im zweiten Schuljahr. Wir wohnten damals, das war so um das Jahr 1931, auf der „Alten Linde“, ziemlich am Ende, wo die Straße ins Tal nach Ohl und Hartegasse abbiegt. Wenn ich morgens zur Schule ging, waren wir meistens zu zweit oder dritt. Mindestens ein Bruder oder eine Schwester von mir waren dabei, denn wir waren sieben Kinder zu Hause. Zuerst kam Knofs Haus und dann der Hof von Spichers. Dort roch es immer nach Schnaps, wenn wir am Haus und den Stallungen, die zu beiden Seiten des Weges lagen, vorbei gingen. Da wurde Spicher´s Kornbrand, allgemein als „Spischech Kloren“ bekannt, gebrannt. Dann mischte sich der Geruch mit dem von frischem Brot, denn im nächsten Haus war der Sprenger schon seit der Früh in seiner Backstube bei der Arbeit. Dahinter auf der anderen Seite kam die Wirtschaft „Zur alten Linde“, von wo aus öfter Elsbeth, ein Mädchen aus meiner Klasse, sich uns anschloss. Meistens hatte sie an der Haustür gewartet und sprang, wenn sie mich sah, zwei Stufen auf einmal nehmend, die hohe Treppe vom Haus hinunter auf die Straße. Dann kamen die Bahnhäuser und ein Stück weiter war es noch einmal spannend. Hier kreischten und polterten öfter am Tag die mit Grauwackesteinen beladenen Kipploren unter der Straße her auf ihrem Weg vom Steinbruch im Brungertsberg zum Bahnhof. Oben im Steinbruch war eine große, runde Rillenscheibe montiert, über die ein Drahtseil lief, an dem die Loren hingen. So zogen die schweren beladenen Wagen die leeren auf den Parallelschienen wieder nach oben. Ein Mann an einer Backenbremse sorgte dafür, dass die Geschwindigkeit sich im Rahmen hielt. Am Bahnhof wurden die Steine auf Güterwaggon gekippt. Es waren entweder unbearbeitete Steinbrocken oder Pflastersteine. Die behauenen Hammerrechte, wie sie für vorgefertigte Mauern vorgesehen waren, wurden vorsichtig von Hand umgeladen.

Ich erinnere mich noch genau. An dem Morgen war ich mit Elsbeth alleine. Wahrscheinlich hatten wir etwas getrödelt, denn die Schule hatte bereits begonnen, als wir ankamen. Der Schulhof auf dem „Buschkett“ war leer. Der Unterricht lief also schon ein paar Minuten. Aus einem offenen Fenster hörten wir die grollende Stimme von Lehrer Pleng, wie er mit jemandem schimpfte.

Er war unser Klassenlehrer, schmal und hochgeschossen mit einem blassen, langen Gesicht, das von einer unglaublich großen Hakennase dominiert wurde. Ich will nichts Schlechtes über ihn sagen, er war streng, aber gerecht. Ich bin fünf Jahre in seiner Klasse gewesen und habe später im Leben oft gemerkt, dass ich viel bei ihm gelernt habe, obwohl ich das damals nicht wahrhaben wollte.

Unter dem Fenster machten wir Halt, guckten uns an und ich nahm Elsbeth an der Hand. „Komm, Elsbeth, wir gehen wieder nach Haus!“ flüsterte ich ihr ins Ohr. Wir wendeten uns zurück, um schnurstracks wieder auf heim an zu steuern. Dem bevorstehenden „Gewitter“ wollten wir uns nicht aussetzen.

Da ertönte hinter uns eine strenge Stimme. „Wen haben wir denn da?“ Es war ein Lehrer, mit dem wir direkt nichts zu tun hatten. Er war ein schlacksiger Typ, den wir kaum kannten, weil er ganz neu an der Schule war und auch nicht bei uns Unterricht gab. Doch er hatte sich schon einen Namen gemacht. Keinen rühmlichen, denn einer seiner Tricks machte bereits nach wenigen Tagen die Runde bei den Schülern: Der Neue hob immer die linke Hand, um Ohrfeigen zu verteilen. Wenn man sich dann wegduckte, schlug er mit der rechten zu, dass einem Sehen und Hören verging. Ein ganz fieser Trick. So einem ging man besser aus dem Weg. Er stand da mit grimmigem Gesicht, sagte kein Wort, sondern zeigte nur mit der Hand auf die Tür zum Schulgebäude. Seine Gebärde ließ mir schon das Herz in die Hose rutschen. Ich passte auf, dass Elsbeth zwischen ihm und mir war, als wir an ihm vorbeihuschten. Doch in der Klasse kamen wir vom Regen in die Traufe. Der Pleng war in der richtigen Laune. Er stand sowieso auf dem Standpunkt, morgens erst einmal zwei, drei Jungen zu verdreschen, damit die gehörige Raison herrschte und jedem klar war, was passieren würde, wenn einer den Mund aufmachte, ohne gefragt zu sein. Da war der Pleng keine Ausnahme, denn zuzeiten war das gängige Pädagogik. Ziel war immer schon, möglichst viel in Schüler hineinzustopfen, wobei die Methoden über die Zeiten von derb bis subtil wechseln, sich an der Tatsache jedoch wenig ändert.

„Du, Elsbeth, kannst dich setzen!“ sagte er streng. „Und du, Hans, bleibst bei mir. Wir haben noch etwas zu erledigen.“ Er zog die Schublade von seinem Pult auf und griff nach seiner Jusche, einem biegsamen Stöckchen. Er ließ es demonstrativ einmal durch die Luft sausen, damit jeder in der Klasse es pfeifen hören konnte. Sein abgegriffenes Büchlein, in dem er die Strafen für die Konferenz detailliert eintrug, legte er gleich mit auf das Pult.

„Streck beide Hände nach vorn!“ Zögernd kam ich der Aufforderung nach. „Du weißt, dass ich das nicht gerne mache“, sagte er scheinheilig. „Das tut mir genau so weh, wie dir.“ Ich wollte schon sagen: „Aber an einer anderen Stelle, Herr Lehrer.“ Doch das war ungehörig und ich ließ es lieber. Ich dachte mir mein Teil und formulierte im Kopf: „Dann lass es doch!“ Gott sei Dank konnte das keiner hören, doch ich glaube, meine Lehrer konnten mir immer ansehen, was ich insgeheim dachte. So schwer war das ja auch nicht zu erraten.

Ich ergab mich in mein Schicksal um die Prozedur über mich ergehen zu lassen. Ich hatte schon früh gelernt, dass es unabänderliche Dinge gab, denen man sich am besten einfach fügte.

Im selben Moment öffnete sich die Klassenzimmertür und der Rektor erschien. Sofort ließ der Lehrer von mir ab.

„Setz dich!“ zischte er und schubste mich unsanft auf die Reihe der Bänke zu, wo in der ersten Reihe mein Platz war.