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Nickel möchte groß herauskommen in diesem Sommer. Zunächst aber fällt er durch die Matheprüfung und tritt seine Lehre nicht an. Wer keiner geregelten Arbeit nachgeht, fällt in der DDR auf. Der Abschnittsbevollmächtigte kümmert sich schon um ihn, mehrmals wird er vom Amt für Arbeit vorgeladen. Da hilft ihm auch nicht der gute Ruf der Eltern und Großeltern. Groß und stark fühlt er sich an der Seite des Mädchens Kora,aber sie sagt ihm, dass sie nicht nur ihn liebt. LESEPROBE: Der Wind pfeift aus Wolkenlöchern, als sich die Verschwörer treffen. Nickel kommt sich nicht gemein vor, weil er zu James, den Kora doch bestellt hat, sagt: „Wir brauchen dein Motorrad nicht, eine Taxe wird kommen.“ Kora protestiert, aber James sagt: „Lass, es ist besser so, und ich muss mich ohnehin noch spritzen, habe es einmal heute vergessen.“ Nickel bekommt einen kleinen Schreck. Spritzen? Also süchtig? Die Taxe kommt. Der Fahrer ist ungeduldig, er hat noch andere Bestellungen. Oma klettert gleich nach hinten. Nickel verstaut mit dem Fahrer die Koffer und Taschen. Und James sagt zu Kora: „Fahr mit, hab dich nicht so, eine alte Frau auf dem Motorrad, was soll das.“ Primasz steht im Tor und hebt die rechte Hand zu einem magischen Zeichen und macht ein trauriges Gesicht. Sie sind schnell auf dem Spionskopf. Als sie ankommen, bricht die Sonne durch die Wolkendecke, ein guter Wink, der Himmel blinkt seine Zeichen: In Ordnung, willkommen, alles okay, die Welt ist offen. Oma bemerkt nicht einmal, dass Nickel gestern die Kachelöfen geheizt hat. Sie geht, als müsste das so sein, in der wohligen Wärme durch ihr Häuschen, von Zimmer zu Zimmer. „Wie durch ihr Leben geht sie“, flüstert Kora. Ist auch so. Überall sieht sie Bilder, erinnert sie sich. Das Foto. „Goldene Hochzeit, da hat Jan mit allen Frauen getanzt, nur mit mir nicht, ich konnte schon damals mit den Beinen nicht mehr so richtig.“ Ein Kistchen aus Sperrholz. „Hat er gemacht, für sein Rasierzeug, das gehört nun dir, Nickel.“ Darüber kann Kora nur lachen, denn Nickel ist glatt im Gesicht, zu seinem Kummer. Jans Schnitzmesser, Jans Handwerkszeug, Jans Abschiedsgeschenk von der Reichsbahn, Jan mit seinem Vater in der Uniform eines Infanteristen des ersten Weltkrieges. „Zwei Wochen später fiel sein Vater, und Jan wurde achtzehn Jahre alt und erhielt das Eiserne Kreuz zweiter Klasse.“ Der vertrocknete Hochzeitsstrauß. „Es war so kalt, dass es hier oben kein Wasser gab und Spatzen steif von den Ästen fielen.“
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Seitenzahl: 290
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Heinz Kruschel
Endlich ein Mann sein
ISBN 978-3-95655-128-4 (E-Book)
Das Buch erschien erstmals 1987 im Verlag Neues Leben, Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2014 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Nickel geht die Treppen hinauf. Das Haus, in dem er wohnt, steht in einer engen, kühlen Straße. Alle Häuser der Straße sind Anfang dieses Jahrhunderts gebaut worden. Sie wirken von außen narbig, angeschimmelt und schaumgrau, haben aber schöne und große Wohnungen, gedrechselte Geländer im Treppenhaus und farbige Ornamente auf den Flurfenstern, die verschlungene Pflanzen und Tiere darstellen.
In dem Haus ist Nickel aufgewachsen. Er kennt jeden Mieter, jede Ecke und jeden Bodenverschlag.
Frau und Herr Reiher kommen ihm entgegen und grüßen ihn leise. Darüber wundert er sich. Die Reihers mögen ihn nicht, und er mag sie nicht. Herr Reiher versucht, den Dackel Nante zu vergiften, weil er nach Hundeart manchmal einen Knochen in Reihers Hausgarten verbuddelt oder einen Haufen setzt. Die Reihers bedauern Herrn und Frau Groß, dieses pampigen Sohnes Nickel wegen.
Und nun grüßen sie ihn, und sogar zuerst. Dabei tut er das nicht, obwohl ihn seine Mutter darum gebeten hat. Hauslamas grüße er nicht, hat er ihr geantwortet, solche Leute könnten bloß spucken. Er kann sich nur kurz über den Gruß der Reihers wundern, denn Nickel sieht Primasz auf dem Absatz des fünften Stockes stehen und winkt ihm zu. Der alte Zigeuner wohnt ganz oben. Ein stiller Mann, der manchmal einen trinkt.
Primasz verschwindet schnell. Dabei wartet er sonst immer darauf, von Nickel angesprochen zu werden.
In der Wohnung ist es sehr ruhig. Kein Fernseher läuft, kein Radio, sodass Nickel schon in sein Zimmer gehen will, als er das Hüsteln seines Vaters hört. Nickel geht in das Wohnzimmer.
Vater sitzt auf einem Stuhl am Tisch und sieht ihn ernst an. Nickel überschlägt in Gedanken den heutigen Tag und den gestrigen, denn so lange hat er seinen Vater nicht gesehen. Ihm fällt nichts ein, wofür er eine Entschuldigung erfinden müsste. Gut, er hat in den letzten Tagen für die Nachprüfung in Mathe nichts getan, aber das kann Vater nicht wissen. Vater trägt keinen beuligen Trainingsanzug, sondern eine gebügelte Hose und ein weißes Hemd.
Nickel schließt die Tür hinter sich. Sein Vater schweigt eine Weile, bis er sagt: „Setz dich, Nikolaus, setz dich doch.“
In Nickel steigt Beklemmung auf. Er setzt sich schnell, weil sich das Zimmer um ihn zu drehen beginnt. Er hat so ein Gefühl, als müsse er sich übergeben. Es ist etwas passiert. Irgendetwas.
Er möchte fragen und kann nicht fragen.
„Ja“, sagt Vater, „der alte, gute Jan, dein Opa. Er ist tot. Ganz plötzlich ist er gestorben. Er hat nichts gemerkt. Es war ganz friedlich. Nikolaus, Junge.“
Nickel schüttelt den Kopf. „Nein, nein.“ Er denkt: Der doch nicht, der Jan doch nicht, der war doch gesund. Der stieg in die Bäume, um sie zu beschneiden. Der schleppte einen Zentnersack auf dem Rücken weg. Der fuhr mit dem Rad. Der war mal Sportler, er hat ein paar Läufe auf der ersten Rennschlittenbahn Deutschlands gewonnen. Der konnte sich bücken. Der konnte mit Holz umgehen und aus verknorpelten Ästen und Stämmen die wunderlichsten Tierfiguren machen.
„Doch, Nikolaus. Es ist schwer zu begreifen. Mutter ist bei Oma auf dem Spionskopf.“
Auf dem Spionskopf wohnen Oma und Opa seit sechzig Jahren. Der Stadtteil liegt zwischen Fluss und Eisenbahn, begrenzt von Rübenfeldern. Er liegt auf einem neunzig Meter hohen Hügel, der höchsten Erhebung in der Landschaft. Vom Spionskopf aus kann man die ganze Stadt sehen, den Dom, die Gasometer, die neuen Wohngebiete, die Schornsteine der vielen Fabriken und die Autobahn in Richtung Westen. Nickel ist gern auf dem Spionskopf. Er versteht sich gut mit Oma und Opa, besonders mit Opa Jan. Der soll nun gestorben sein.
„Vielleicht stimmt es nicht, vielleicht war es nur eine Ohnmacht“, sagt Nickel, denn über den Tod hat er bisher nur in Büchern gelesen. Im Fernsehen zeigen sie den Tod täglich. Bis jetzt aber hat er noch nie erlebt, dass ein Verwandter gestorben ist.
Vater schüttelt den Kopf. Er knöpft sich die Hose zu, er hat einen Bauch. Dabei arbeitet er schwer in einem Dieselmotorenwerk, er arbeitet in Schichten.
„Aber wir wollten doch einen Giraffenlöwen bauen“, sagt Nickel, „für den neuen Kindergarten am Galgenberg.“ Als er es gesagt hat, merkt er erst, was für ein dämlicher Satz das gewesen ist. Er fragt: „Warum habt ihr ihn nicht rasch in ein Krankenhaus gebracht?“
„Jan lag im Garten“, sagt Vater, „zwischen den Blumen Hennys. Er war tot, Nickel, er war achtzig Jahre alt.“
„Und wenn schon, vielleicht ist er nicht richtig tot.“ Nickel zittert. Er hat das Gefühl, das Zittern kriecht in seinen Körper, es kommt nicht von innen, es kriecht von außen in Arme, Hände, Beine und in seine Brust.
„Ihr hättet euch um ihn kümmern müssen, so ein Mann wie Jan, der ist nicht gleich tot, der lebt doch noch, der muss nur rasch in ein Krankenhaus gebracht werden, ihr denkt immer bloß an euch, wann bist du denn das letzte Mal bei ihm gewesen, wann denn?“
„Ach, Nikolaus, was soll das jetzt noch.“
In Nickel ist Zorn, ein hilfloser, bitterer Zorn, und Wut, die er an seinem Vater auslässt. Sein Vater hat, wenn Sohn Nickel wütend war, auch als kleines Kind schon, nicht mit Strafe oder Schlägen reagiert. Nickel ist nie geschlagen worden, und sein Vater weiß, dass sich auch jetzt hinter Zorn und Wut eine tiefe Trauer versteckt.
„Aber es hätte nicht geschehen müssen. Ein paar Tage im Krankenhaus, der wäre wieder fit gewesen.“ Er wird leiser, er spürt die aufsteigenden Tränen und will vor seinem Vater nicht weinen.
„Man hätte doch, ach, Mann, und du sitzt hier rum, früher hättest du bei ihm sein müssen, denkst du, ihr seid ohne Schuld?“
Der Vater lässt Nickel in Ruhe, weil er sich nicht verteidigen muss, auch nicht gegen Nickels ungerechtfertigte Vorwürfe. Vater und Mutter Groß haben stets ihre Kinder Hannchen und Nikolaus und deren Gefühle geachtet, auch bei heftigen Reaktionen haben sie weder mit Arrest noch mit bösen Worten noch mit scharfen Blicken reagiert.
Vater Groß sieht seinen Sohn nur ernst an. Und Nickel geht nach einer Weile in sein Zimmer. Aber es hält ihn nicht lange darin. Er geht die Treppe hinauf. Er will auf den Boden, in die Kammer.
Primasz muss ihn gehört haben, denn er kommt aus seiner Wohnung heraus und sieht ihn bekümmert an. Primasz ist sein Verbündeter, denn als sich Nickel versteckt hielt, hat ihn der alte Zigeuner nicht verraten. Als Herr Reiher einmal mit einem Beil in der Hand den Dackel Nante jagte, hat Primasz magische Zeichen vor Herrn Reiher gemacht und ihn damit erschreckt: ein Hexer im Haus! Seitdem sieht sich Reiher vor. Primasz hat volles weißes Haar, das er wachsen lässt wie ein indischer Sikh, und einen schwarzen Heiduckenbart, dessen Ecken herabhängen. Darum sieht Primasz immer traurig aus. „Nickel“, sagt er nun, „es tut mir leid, das ist überhaupt kein Trost, aber das ist nun mal das einzig Gerechte auf der ganzen Welt, dass alle sterben müssen, keiner von den Lebenden bleibt übrig, ist’s wahr?“
„Wahr ist’s“, sagt Nickel leise. Auf diese Formel hatten sich Primasz und er vorzeiten geeinigt, wenn sie übereinstimmten. Er sagt kein Wort mehr, sondern geht in die Bodenkammer. Hier sind seine Burgen gestapelt, vier Schuljahre lang hat er nur Burgen gebaut, Modelle von Wallburgen und Pfalzen, von Ritterburgen und Kastellen. Nun stehen sie hier und verstauben.
Er will sie alle verbrennen, diese Kindereien, aus Wut, aus Ohnmacht, was sollen noch diese sächsischen Rundburgen und die viereckig fränkischen, die Tiroler Klausen, mit denen sie früher die Pässe versperrten. Er müsste etwas tun, es kann doch nicht alles so weitergehen wie bisher, ohne Jan!
Alles ist anders geworden. Er selber hätte Ferien machen können wie seine Klassenkameraden, die die Prüfung bestanden haben, er könnte durchs Land radeln, nach Querfurt, wo die größte Burganlage Deutschlands stehen soll, die er noch nie gesehen hat. Aber er muss eine Prüfung wiederholen. Und nun Jan. Der kann nicht mehr auf der grünen Bank sitzen und seine Frau eine „Schwester der Schakale“ nennen, weil sie vorgeschlagen hat, den Nussbaum zu fällen, da der zu viel Dreck mache. Nickel hört, wie Jan antwortet: „Der Baum bleibt, schämste dich nicht, Henny, versteh mal recht, wo ein Nussbaum steht, da gibt es keine Mücken und Gnitzen.“
Nun kann Oma Henny ihn ja fällen lassen. Sie hat nämlich Angst, dass er mal umkippt, wenn es stürmt, dass er ihr kleines Haus zerschlägt. Außerdem muss sie immer die Samenraupen wegräumen und die vielen schmierigen Blätter. Und dann wachse unter so einem großen Baum keine Blume. Nun kann der Baum weg. Der Mann, der dagegen war, lebt nicht mehr. Lebt nicht mehr. Ist tot. Lag zwischen den Blumen. Muss noch die Kamille gerochen haben. Hat noch einen Wurm gesehen oder einen Käfer oder einen Schmetterling. Hat mit den Händen noch einmal die Erde gefühlt. Mit der Stirn, mit dem Mund. Er soll nichts gemerkt haben, aber wer will denn das wissen? Das reden sich die Lebenden bloß ein.Opa Jan war sein bester Freund. Sein Vater ist nicht sein Freund, er ist der Vater, und wie Väter eben so sind, sie belehren, sie wissen alles besser. Sein bester Freund soll nun tot sein. Ob sie ihn verbrennen lassen? Dann müssen sie die Asche in eine Urne tun. Wer weiß aber, ob das auch wirklich Jans Asche sein wird. Oder sie begraben ihn und lassen den Sarg hinunter.
Nickel kann und will sich das nicht vorstellen. Er zertrampelt eine Burg und reißt sich Splitter in den rechten Fuß. Die Nacht hindurch liegt er wach, wirft sich hin und her, sieht Opa Jan in der hölzernen Kiste liegen, sieht ihn lebendig werden und herauswollen. Verbrennen ist schlimm. In die Erde versenken ist auch schlimm. In der Schule haben sie vor zwei Jahren, in der Achten, mal über solche Fragen diskutiert. Der Lehrer hat ihnen gesagt, was eine Dichterin dazu geschrieben hatte: Dass es kein Brot geben könne, wenn das Korn in der Erde nicht sterbe; dass aus verfaulten Kartoffeln neue Kartoffelpflanzen wüchsen; dass aus der Raupe der Schmetterling entstehe; dass aus dem Grabe, aus dem verfaulten Holz und Menschen, dass auch daraus Blumen und Hecken und Bäume wüchsen. Das kommt alles, und das geht alles.
Gegen Morgen bekommt Nickel Zahnschmerzen. Er tastet die Schneidezähne und die Backenzähne ab, er klopft mit dem Stiel der Zahnbürste dagegen. Alle tun sie weh. Alle müssen doch nicht gezogen werden, denkt er, sonst trage ich noch vor Abschluss meiner Lehre ein Gebiss. Nickel soll bei der Reichsbahn lernen. Das kann er nur, wenn er die Prüfung in Mathematik besteht. Dabei mag er nicht zur Reichsbahn. Erst sollte er den Beruf seines Vaters erlernen, dazu hatte er keine Lust: Aber da entdeckte man, dass er unter Allergien leidet, insbesondere gegen Schmieröl. Nun wird bei der Deutschen Reichsbahn auch geölt und geschmiert, aber er soll ausschließlich mit dem Güterverkehr zu tun bekommen.
Nickel möchte etwas machen, was noch niemand vor ihm gemacht hat. Vor allem, wofür gerade er sich eignet. Oder aber hundert Dinge ausprobieren.
Mutter ist die Nacht über nicht nach Hause gekommen, sie ist auf dem Spionskopf geblieben. Vater ist schon zur Schicht. In der Küche steht Nickels Frühstück, aber er kann nichts essen. Die Zahnschmerzen. Wenn er zubeißt, werden sie gleich stärker. Jeder einzelne Zahn scheint zu wackeln.
Nickel weiß nicht, ob er Opa Jan noch einmal sehen möchte. Er hat Angst davor. Vielleicht sieht Jan jetzt ganz anders aus. Jan hatte struppiges Haar, vielleicht ist es nun straff gekämmt. Er war immer ganz braun im Gesicht, vielleicht ist er jetzt fahlgelb. Seine Haut war ledern, nun schimmert sie vielleicht wie Pergament. Er war quicklebendig, nun liegt er ganz still. Und ansehen kann er einen auch nicht mehr, die Augen werden geschlossen sein, zugedrückt.
Auf dem Türpfosten seines Zimmers sind schwarze Striche wie auf einer Messskala. Die Striche zeigen an, wie groß er zu Weihnachten war, zu Ostern, wie viel er in den letzten zwei Monaten und Jahren gewachsen ist. Minimal, alles minimal. Es geht vorwärts, aber wenig. Mutter misst, und er weiß, Mutter schummelt, um ihn zu trösten. Deutsche Reichsbahn, das klingt knochentrocken. Aber Jan ist Lokführer gewesen. Deswegen hat er überhaupt nur die Lehrstelle bekommen. Jan ist bekannt bei der Reichsbahn.
Er kann nicht mal trinken, kaltes Leitungswasser tut ihm weh, die süße Cola auch. Dabei ist Nickel colasüchtig. Was ist mit seinen Zähnen geschehen?
Während er durch die Straßen geht, nehmen die Zahnschmerzen zu. Jeder Schritt zittert im Schädel nach. Nickel hat den Eindruck, seine Nerven liegen bloß. In der Siedlung, in der ihr Zahnarzt wohnt, stehen nur Eigenheime, und vor jedem Hause mären die Leute herum. Nickel findet, dass Leute, die Eigenheime haben, immer an ihnen herummären müssen. Die Häuser sind Schaufenster für sie, die sie dekorieren. Er würde sich nicht wundern, wenn die Besitzer ihre Häuser auch noch abwaschen, eincremen und föhnen würden. Alles für die Leute, die vorbeikommen. Seine Großeltern haben auch ein eigenes Haus, aber das ist - gemessen an diesen Bungalowpalästen mit zwei Garagen, betonierten Wegen, Terrassen, englischem Rasen und Swimmingpools - nur eine Hütte, die immer schief aussieht, von welcher Seite man sie auch beguckt. Aber die Hütte ist viel schöner für Nickel, und ihm fällt ein, dass nur noch Oma Henny in Zukunft darin wohnen wird. Oma hat dicke Beine und kann schlecht laufen. Jan ist für sie die Wege gegangen oder gefahren. Am liebsten ist er mit einem alten, stabilen Rad gefahren, das an der hinteren Achse einen runden, eisernen Steg besaß: zum Aufsteigen, denn mit achtzig Jahren schwingt sich auch ein ehemaliger Fast-Weltmeister nicht mehr in den Sattel. Nickels Mutter hat ihren Vater oft vor dem Radfahren gewarnt, denn Opa Jan kannte nur wenige Verkehrsregeln und fuhr dort, wo gerade Platz war, oder nach den Grundsätzen: „Motorkraft vor Muskelkraft“, und: „Die größeren Pferdestärken haben immer Vorfahrt!“
Im Wartezimmer ist es voll. Der Patient Nikolaus Groß nickt, er kann nicht sprechen. Nur zwei Leute mümmeln eine Erwiderung, die wie tiefe Anteilnahme klingt. Alle tun sich hier leid. Zahnarzt, das ist auch so ein Beruf, denkt Nickel, man kann helfen, aber man weiß, die Leute kommen voller Angst und ohne Lust.
Das Fräulein Elka, braun gebrannt und in einem blütenweißen Kittel, sammelt die Versicherungsausweise ein und spricht ausgerechnet ihn an: „Na, sieht man Sie auch mal wieder, Herr Groß?“
Er kann nur nicken. Seit seiner Jugendweihe sagt dieses Mädchen „Sie“ zu ihm und „Herr“ und ist knapp zwanzig Jahre alt. Dann betont sie das „Groß“ besonders. Sie ist größer als er. Dazu gehört nicht viel. Er bemüht sich gegenwärtig, die Höhe von einssechzig zu schaffen, und erreicht sie mit Absätzen. Groß, das ist nicht der ideale Familienname, wenn man klein ist.
Elka, denkt er, bestimmt hat man nach ihr die Zahnpasta „elkadent“ benannt, die keinen richtigen Schaum gibt. Er malt sich aus, wie sie neben ihm stehen wird, wie sie mit einem marterähnlichen Instrument seine Lippen auseinanderreißen, wie er die Fäuste ballen und die Fingernägel ins Fleisch bohren wird. Zahn um Zahn muss der Doc rannehmen. Er malt sich aus, wie Elka sehr dicht neben ihm stehen wird, er wird sie spüren, ihre runden Hüften, ihren warmen Leib, wenn sie sich über ihn beugen muss, um dem Doc irgendeinen Meißel zu reichen. Nickel träumt oft in letzter Zeit, dass er ein Mädchen berührt. Vielleicht steckt er darum in dieser dämlichen Krise? Wiederholungsprüfung. Der Knobbel wird ihn reinlegen.
Für einen Moment sind die Schmerzen schwächer. Er will sich ablenken, aber auf dem Tisch liegen Zeitschriften, die aussehen, als könnte man sich die Krätze holen, wenn man sie in die Hände nimmt.
Ein kleines Mädchen kommt zu ihm und fragt, ob ein Meerschweinchen auch Zahnschmerzen bekommen könne. „Natürlich“, sagt er, „alles, was Zähne hat, kann Zahnschmerzen kriegen.“
„Auch Socke?“
„Wer ist Socke?“
Die Kleine öffnet eine Schachtel. In ihr sitzt ein lockiges Meerschweinchen.
„Warum heißt denn Socke Socke?“, fragt Nickel.
„Weil es immer in einer Socke schläft.“
„Ich hatte auch ein Meerschweinchen, das hieß Schorsch und schlief in einer Burg.“
„Musste es auch mal zum Doktor?“
„Ja, die Zähne wurden plombiert.“
„Tut das nicht weh?“
„Der Doktor macht einen vorher mit Eierlikör besoffen, dann merkt man nichts, ob Tier, ob Mensch.“
„Besoffen“, sagt das kleine Mädchen mit Genuss, „wirst du auch besoffen gemacht, Mutti? Kann ich da mal lecken?“ Die Mutter schüttelt missbilligend den Kopf und holt das Mädchen auf ihren Schoß zurück. Das Wort „besoffen“ gehöre sich nicht. Das soll ein Kind nun begreifen, was sich gehört, was nicht, Mütter können einem Kind frühzeitig jeden Spaß verderben, denkt Nickel. Seine Schmerzen melden sich wieder.
Nach beinahe zwei Stunden ist Nickel an der Reihe. Elka steht neben ihm. Der Doktor ist rotgesichtig, laut und fröhlich wie immer und stellt seine Fragen, wo und welcher und was und wie und ob unten oder oben.
Darauf kann Nickel nur sagen: „Überall.“
„Hauch mich mal an, Junge.“
Nickel haucht mit voller Kraft. Der Doktor schüttelt den Kopf und beginnt zu klopfen, zu spiegeln, zu rütteln, zu kratzen, zu stechen, er fordert seinen Patienten zum festen Zubeißen und zum Mundaufreißen auf. Der Doktor sieht Elka an, bedeutungsvoll.
„Alles in Ordnung, Nikolaus.“
Nickel sagt: „Nein. Nichts ist in Ordnung. Das ganze Gebiss tut mir weh. Da muss was sein.“
Der Doktor, der über fünfzig ist und die ganze Familie behandelt, fragt Nickel, ob er Angst vor der Wiederholungsprüfung habe. Das weiß der also auch schon.
„Ich doch nicht“, sagt Nickel. Nächste Woche muss er hin. In der Schule wird es leer sein. Die Maler werden arbeiten und ihn verwundert ansehen. Eine Minikommission wird da sein, vergnatzt, weil ein Schüler, der nicht unbegabt ist, die Prüfung wiederholen muss. Kein anderer Schüler wird da sein, nur der faule Nikolaus Groß, Sohn anständiger Leute, Vater Schlosser und Mutter Programmiererin.
„Der Taschenrechner, nicht wahr“, sagt der Doc, den Nickel Lachmund getauft hat, weil er zu Beginn einer Behandlung immer einen neuen Witz erzählt, „der Taschenrechner war dein Pech.“
„Immer habe ich gar nicht damit gerechnet.“
Heute erzählt Lachmund keinen Witz. „Das ist es also nicht. Dann will ich dir die Diagnose stellen. Es ist wegen Jan. Es ist dein Herz. Ich habe den Jan schon als kleiner Junge gekannt. Er stand am Zaun, wenn er keinen Dienst hatte, und sagte mir: ,Nimm man den Weg mang de Beene, sonst kommste in Verlegenheit.“ Jan hat für uns hungrige Hammel bergeweise Schmalzstullen rausgebracht. Wir werden ihn beide nicht vergessen, Nickel, und wenn man so etwas sagen kann, Mensch, Junge ...“
Nickel will erwidern, dass das mit seinen Zahnschmerzen nichts, aber auch reinweg gar nichts zu tun habe, aber da kommen ihm endlich die Tränen. Ihm ist, als strömten sie über sein Gesicht. Elka betupft wortlos mit Zellstoff seine Wangen. Sie weint ein wenig mit.
Und während seines Weinens merkt Nickel, dass die Zahnschmerzen zurückgehen, dass sie immer leiser werden, dass schließlich nicht mal ein Druck übrig bleibt. Er wischt die Tränen ab, aber die laufen und laufen noch.
„Gut so“, sagt Lachmund zu Elka, „das hilft. Das muss ein Mensch tun können in so einer Lage, sich ausheulen, wenn ihm danach ist, merken Sie sich das. Zahnschmerz im Herzen, sagt man dazu. Was der Jan so gemacht hat im Leben, das wirkt weiter. Er wird immer mit dabeibleiben, Junge.“
Das Fräulein Elka sieht den Doktor bewundernd an. Das bemerkt Nickel trotz des Schleiers vor seinen Augen. So sieht keine Tochter ihren Vater an, dabei könnte der Doc ihr Vater sein, denkt Nickel. Elkas Blick ärgert ihn. Elka Wunderbar, denkt er. Dabei heißt die Feger. Sie ist nämlich jung verheiratet, und ihr Mann ist an der Trasse. Ausgerechnet eine solche Frau muss nun auf morsche Kronen, verkümmerndes Zahnfleisch und blutige Wurzelkrater sehen. Warum sind Mädchen für ihn so wichtig geworden? Seine Eltern nennen das Pubertät. Auf gut deutsch heißt das geschlechtsreif, das klingt so blöde biologisch.
Der Doktor fordert Nickel auf, ins Erkerzimmer zu gehen, und Elka schiebt schon die Tür auf. „Der nächste Patient wartet nämlich, das Leben geht weiter.“ Im Erkerzimmer müssen immer jene Patienten warten, die eine Spritze bekommen haben; sie warten so lange, bis sich die Taubheit eingestellt hat und sie nicht mal mehr ihren Namen sagen können.
Nickel will nicht ins Erkerzimmer. Er verabschiedet sich.
Im Wartezimmer sehen ihn manche Leute mitleidig, andere trotzig und vorwurfsvoll an. So lange ist der arme Kerl drin gewesen. Was der alles überstanden hat. Die haben doch bloß so lange gequatscht. Man sieht es ihm noch an, ganz rot im Gesicht. So weh tut das also.
Das Mädchen hat Socke auf den Tisch gesetzt und spielt mit ihm Zahnarzt.
Nickel geht schnurstracks nach Hause und setzt sich an seinen Tisch. Den Taschenrechner lässt er im Schubfach. Denn auf dem Taschenrechner ist er perfekt, und dieser Rechner war ihm zum Verhängnis geworden. Schwierige Aufgaben hat er mit dem Rechner schnell gelöst. Dabei lag der in seiner Hand, so flach wie starker Zeichenkarton. Der Mathematiklehrer Knobbel hat über ein Jahr lang gar nicht bemerkt, dass sein Schüler Nikolaus Groß und alle, die um ihn herum saßen, die Aufgaben sozusagen im Handumdrehen heraushatten. Gelobt hatte Knobbel, Einsen hatte er verteilt, die Leistungskurve in seinem Fach war in dieser Klasse steil angestiegen.
Nickels Vater hatte den Taschenrechner von einer ausländischen Messe mitgebracht, wo er die Dieselmotoren aus seinem Betrieb vorgeführt hatte.
Natürlich war Nickel blass geworden, als während der schriftlichen Prüfung die „Aufsicht führende Lehrkraft“ den Taschenrechner entdeckte und ihn beschlagnahmte, wie ein Zollbeamter ein Kilo Heroin. Nickel verstand das nicht, er versteht es bis heute nicht. Wenn man Aufgaben im Handumdrehen rechnen kann, braucht man nicht so viel Zeit zu verplempern und handelt sich nicht selber Flüchtigkeitsfehler ein, denn der Taschenrechner irrt sich nie. Zu der Aufsicht sagte er: „Ich krabble doch auch nicht wie ein Käfer auf allen vieren, wenn ich schon Fahrrad fahren kann.“ Die Aufsicht sah das anders, sie sah es nach der Vorschrift, meldete den Fall Herrn Knobbel, und der entschied: eine Fünf. Mit Knobbel verstand sich Nickel nicht. Der hatte ihm einmal zur Strafe einen Zettel auf die Bank geklatscht: „Alle Aufgaben, die draufstehen, hast du bis morgen intus, kapiert?“ Nickel hatte den Zettel in den Mund gesteckt, gewürgt, bis er das Papier vor der still gewordenen Klasse hinuntergeschluckt hatte. „Schon intus, Herr Knobbel, Aufgabe erfüllt.“
Knobbel schickte Nickel wütend zum Direktor. Dieser ermahnte den Jungen leise, den überarbeiteten Herrn Knobbel nicht zu reizen. Knobbel schrieb einen Tadel ein. Knobbel gab ihm eine solche Menge Aufgaben, dass sogar Ute, die Einskommanull, dagegen protestierte. „Das kann man doch gar nicht schaffen, Herr Knobbel.“
Nickel winkte ab. Von dem finnischen Taschenrechner, der in Japan produziert worden war, wusste keiner. Knobbels Aufgaben hatte er in einer halben Stunde gelöst. Am nächsten Tag war Knobbel überrascht. Nickel vermutete, Knobbel hatte eine ganz bestimmte Aufgabe selber nicht herausbekommen und war ihm deswegen dankbar.
Und nun muss er Formeln lernen. Sie sind nicht schwer. Aber man muss sie sich einpauken. Nickel sieht aus dem Fenster. Gegenüber steht auch so ein Haus aus der Gründerzeit. Auf dem Fensterbrett des dritten Stocks liegt der Dackel Nante und sieht zu ihm herüber. Dann ist die alte Frau, die den Rücken nicht mehr gerade machen kann, zu Hause.
Nickel denkt: Man steht an einer Bahnschranke, der Zug donnert vorüber, so schnell müsste die Zeit vergehen. Der Zug rast dahin, verschwindet in der Ferne, man schließt die Augen und hört nur noch Grummeln und Rauschen. Dann ist alles vorbei, Zug weg, Zeit weg, Prüfung mit links bestanden.
Aber dann denkt er gleich: Ja, Opa Jan, lieber müsste die Zeit rückwärts laufen, lieber noch einmal ertappt werden, lieber noch einmal diesen widerlichen Zettel hinunterwürgen, lieber das ganze Theater mit der Jugendweihe von vorn, lieber noch mal die dämlichen Eintragungen und Tadel, aber Jan müsste leben und mit ihm in die Werkstatt gehen, in die Hände spucken und sagen: dann wollen wir mal, Nick, das kriegen wir schon in den Griff. Opa Jan bekam alles in den Griff, nicht gleich, auf Anhieb selten, aber er probierte, bis es klappte. Klempnern zum Beispiel. Davon hatte er keine Ahnung, aber er schloss Wasserhähne an, verband Leitungen miteinander, montierte wieder ab, wie ein Kind, das mit einem Baukasten spielt. Am Ende lief das Wasser meistens aus der richtigen Leitung, am Ende sprang die Haussicherung nicht mehr raus. Eine Geduld hatte Opa Jan, während Oma Henny das nicht ertragen konnte, aber Jan wurde immer ruhiger, je lauter sie schimpfte.
Mit kaltem Schreck denkt Nickel die Wörter: wurde, Vergangenheit, er wurde ruhiger, er hatte Geduld, er ist nicht mehr. Das soll man nun kapieren, das kann nicht sein, Opa hat nie einen Doktor gebraucht, einen Zahnarzt Lachmund auch nicht, er hat sich einen Zwirnsfaden um den wackelnden Zahn gebunden, das andere Ende um die Türklinke und zu Nickel gesagt: „Mach dich mal raus und komm ganz rasch rein.“ Trotz seiner achtzig Jahre war er immer noch einen halben Kopf größer als Nickel. Einmal hat Nickel seinen Vater gefragt, ob in der Familiengeschichte vielleicht Buschmänner, Japaner oder Obongo vertreten waren. Vater hat so gelacht, dass sein Bauch schwabbelte. Ein Buschmann wird 143 Zentimeter groß. Und was ein Obongomann war, das wusste Vater gar nicht, die Riesen unter diesen afrikanischen Pygmäen erreichen nämlich 138 Zentimeter. Vater konnte sich nicht erinnern, je einen derartigen Stammesvertreter in der Familie gehabt zu haben. Dabei hatte Nickel seine Frage ernst gestellt. Er kommt sich oft wie ein Zwerg vor. Mir bleibt eigentlich nur der Zirkus, denkt er, von Beruf Clown. Warum eigentlich nicht. Oder Zauberer.
Jan hat gesagt, in dem Alter wachse man noch zehn Jahre lang und bei ganz Großen sei oft der Kopf nicht richtig mitgewachsen.
Am Abend kommt Oma. Nickel kann sich nicht erinnern, sie je in diesem Hause gesehen zu haben. Sie zieht sich am Geländer hoch, Mutter stützt sie. Oma umarmt Nickel und hält sich an ihm fest, er weint und spürt wieder seine Zähne. Oma Henny weint nicht. Sie hat ein ganz starres Gesicht, in dem keine Miene zuckt. Ihre Frisur ist strähnig, sonst hat sie viele Wellen, die sie sich selber wickelt und legt.
Oma spricht nicht. Sie isst nicht, dabei isst sie sonst so gern. Vater und Mutter reden. Oma sagt nur: „Ich will nun auch nicht mehr, ohne Johann, nein, tut mich einfach dazu.“
„Wir sind alle traurig“, sagt Vater, der über der Hose ein kurzärmliges Hemd trägt, durch das seine Hosenträger schimmern, „aber das Leben geht weiter.“
Was sie für Sprüche machen, denkt Nickel, konnte Vater nicht heute mal ein anderes Hemd anziehen, diese kurzärmligen, seidigen Hemden sind das allerletzte.
Oma schüttelt den Kopf. Aber nicht energisch wie sonst, eher kraftlos. Vater schlägt vor, ein Glas auf Jan zu trinken.
Nickel fragt sofort, was das für eine dämliche Sitte sei.
Strafende Blicke. Aber keine Reaktion bei Oma. Ihr ist alles gleichgültig. Sie soll hier schlafen. Mutter richtet ihr Hannchens Zimmer her. Hannchen ist Nickels Schwester, die schon aus dem Hause ist und weit weg: in einer fernen Wüstenrepublik. Dort bringt sie die Erfahrungen unserer Volksbildung an. Sie ist Pädagogin mit Diplom, spricht perfekt englisch, ist zehn Jahre älter und soll als Kind unproblematisch gewesen sein. Hoffentlich führt sie nicht Knobbels Methoden ein, da unten in der Wüste.
„Johann war freilich lieb“, sagt Oma.
Sie nicken. Henny scheint sich allmählich zu fangen. Das hätte Jan ihr nicht antun dürfen, sie habe immer gesagt, in dem Alter habe man sich nicht mehr zu bücken, man müsse in die Hocke gehen und nicht den Kopf so tief senken, das habe er nun davon.
Vater und Mutter sehen sich an, Mutters Blick flattert. Sie nimmt ein paar Tabletten aus einer Röhre und wirft sie sich in den Mund. Mutter ist nicht sehr gesund.
Vater gießt Eierlikör ein. Sie trinken. Nickel geht sofort in sein Zimmer, trinken mag er nicht. Er mag auch nicht hören, wie sie Jan loben. Seine Eltern haben sich mit dem Alten nicht besonders gut verstanden, und Oma, die hat oft mit ihm und über ihn geschimpft. Jan hat ihr selten etwas richtig gemacht, und wenn er etwas sehr gut gemacht hatte, dann brachte sie es nicht fertig, ihn zu loben. Oft hat Nickel gedacht: Die mögen sich ja gar nicht, die sind bloß zusammen, weil das Auseinandergehen zu umständlich ist. Sie warf ihm Sachen vor, die Jahrzehnte zurücklagen, und nannte ihn oft Tolter, manchmal rief sie ihn sogar so, Tolter, Tolter. Und wenn sie schimpfte, nannte sie ihn alter Fuchs, Rußaffe und Knacker.
Nein, Oma, du hast nie zu ihm gesagt: Jan, du bist freilich lieb. Das sagst du nun heute, da er tot ist. Als er noch lebte, hättest du das sagen müssen, vielleicht hätte er geknurrt, aber gefreut hätte er sich. Heute, da tust du, als hättet ihr euch nie gestritten, der Streit war ja immer einseitig, du schimpftest, er schwieg.
Vielleicht sieht Nick auch alles falsch. Der Kleinkrieg hielt sie fit.
Man sagt ja, dass Bäume, die oft knarren, nicht so leicht brechen können.
Nickels Eltern zanken sich selten, die sprechen sich aus oder gehen sich aus dem Weg.
Wenn Nickel zu Jan sagte, er solle sich nicht alles gefallen lassen, antwortete der zum Beispiel: „Ich achte doch nicht auf das ewige Vogelgeschrei.“ Jan hat ihn nie nach der Wiederholungsprüfung gefragt. Schule war für ihn kein Thema. Muss zwar sein, er hat sie acht Jahre lang besucht und ist ein guter Lokführer geworden. Schule sei noch nicht das Leben.
Wenn Nickel ihn aber aufforderte, sich doch zu wehren, sich nicht alles gefallen zu lassen, sagte der alte Jan schmunzelnd: „Schweigen dient dem Heil meiner Seele.“ Der Jan lebte sein Leben. Der liebte das Leben überhaupt. Und einmal sagte er, als sie sich beide vor Lachen gebogen hatten: „Wir beide, wir sind wie Max und Moritz, ein Herz und eine Seele.“
Nickel schaltet das Radio ein und hofft auf Trost aus dem Äther und merkt, wie seine Augen sich wieder mit Tränen füllen. Max und Moritz waren auch nur gemeinsam unschlagbar.
Die nächsten Tage bleibt Oma Henny wie versteinert. Wenig Äußerungen, wenig essen. Das wenige Essen kann ihr nur bekommen, sie ist viel zu dick. Sie lebt wie im Traum, wie unter Hypnose, wie darauf wartend, aufgeweckt zu werden.
Wenn sie mal spricht, dann von Jan. Einmal wagt Nickel zu sagen: „Gezankt hast du dich doch oft mit ihm, er hat ja meistens geschwiegen. Dass ihr euch immer gut verstanden habt, das kann man wirklich nicht sagen.“
Oma Henny ist fassungslos. Dann lächelt sie ein wenig. Das erste Lächeln, seitdem sie in der Wohnung ist. Sie rundet den Mund dabei und sagt: „Nun sage mal, Junge, das war doch kein Zanken, das war kein Krach, versteh mal recht, du hattest schon immer eine blümerante Fantasie.“
Nickel denkt: Mit einem Mal soll alles anders gewesen sein?
Oma hat einen Schuhkarton voll Fotos mitgebracht und besieht sich die Bilder und will keine Unterhaltung. Sie will mit ihrem Leben, das da in Etappen festgehalten ist, und mit ihrem Jan allein sein.
In diesen Tagen erledigt Mutter alle Formalitäten. Es ist, als sei durch den Tod ihres Vaters die Beziehung zur Mutter herzlicher und enger geworden. Mutter denkt an alles.
Nickel bleibt in seinem Zimmer. Er beherrscht die mathematischen Formeln. Aber er bleibt trotzdem in seinem Zimmer. Henny ist ihm zu apathisch, und er weiß kein anderes Thema, wenn er mit ihr zusammen ist, als über Jan zu sprechen.
An dem Tag, da die Prüfung für Nickel stattfindet, geht Lisa Groß später zur Arbeit. Henny ist noch in der Wohnung, sie interessiert sich nicht für die Nachprüfung ihres Enkels Nikolaus im Fach Mathematik. Sie sinniert nur.
Mutter begutachtet Nickels Aussehen. Ihr zuliebe hat er sich ein frisches Taschentuch eingesteckt. Sogar die neuen, steifen, dämlichen Jeans hat er angezogen. Alle Ermahnungen hat er widerspruchslos ausgehalten: Grüß Frau Reiher, wenn du sie triffst. Kämm dir die Haare. Hast du die Zähne geputzt? Leg die dreckigen Sachen in den Wäschepuff. Wirst schon noch mit einem Mal in die Höhe schießen. Warum rülpst du, lass das bitte. Komm Herrn Knobbel nicht wieder dumm. Du kannst nämlich nicht mit dem Kopf durch die Wand. Bist doch erwachsen. Sei höflich. Nein, Cola trinkst du heute Morgen nicht. Reiß dich zusammen. Alle haben diese Prüfung geschafft. Gib deiner Mutter mal einen Kuss. Nun mach deine Sache gut, mein Kleiner.
Ja, er gibt ihr heute einen Kuss, ja, er putzt seine Zähne, ja, er kämmt seine Haare. Er trinkt keine Cola, weil er nicht rülpsen soll.
Ja, er hört heute auf seine Mutter.
Nickel hat nicht mal einen Blick für Nante, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus dem Torbogen schlenzt und ihm aus tränenden Augen nachblickt.
Herr Knobbel ist ausgeruht und braun gebrannt. Nickel geht in Ruhe die Aufgaben an. Sie sind zu schaffen, das sieht er nach zwei Blicken. Er fühlt sich locker. Keine Zahnschmerzen mehr, und an diesen Aufgaben beißt er sich keine Zähne aus. Er wird vor der Zeit fertig, überfliegt die Aufgaben und gibt ab.
Herr Knobbel studiert die Blätter. „Warum nicht gleich so, Groß?“
„Heute habe ich eben eine mächtige Lust“, sagt Nickel.
„Angeber“, sagt Knobbel, er lässt sich nicht seine gute Laune verderben. „Sie werden noch manches im Leben machen müssen, wozu Sie keine Lust haben.“
Das befürchtet Nickel auch, aber genau das will er nicht. Er ärgert sich, dass Knobbel ihn siezt.
„Wachsen Sie man schön, dass ich Sie auf dem Bahnhof auch sehen kann, mit der Kelle in der Hand. Oder Sie müssen sich eine Fußbank mitnehmen.“
„Sie sehe ich immer“, sagt Nickel, „eine solche Glatze sendet so schöne Blitze aus.“
Das muss Knobbel treffen. Dabei ist Nickel gar nicht auf ein Wortgeplänkel scharf.
Knobbel verteilt seine wenigen Haare kunstvoll wie ein Spinngewebe auf der blanken Kopfhaut. An dem Tag, der nicht mehr fern ist, da Knobbel die letzten Haare ausgehen werden, wird er seine Versetzung beantragen und an einer anderen Schule mit einer Perücke anfangen. Haupthaar, das ist für Knobbel das wichtigste männliche Attribut. Nickel findet, dass es da andere, viel wichtigere, gibt.
„Verschwinde schon“, sagt Knobbel, „Glatze wird wieder modern.“
Nickel staunt über diese Bemerkung.
Bestanden und befreit. Nickel steht draußen unter der freien Sonne. Seine Beine möchten laufen, seine Stimme möchte grölen, seine Arme möchten schlenkern, sein Herz möchte hüpfen. Wenn Jan noch lebte, würde er jetzt zum Spionskopf hochfahren, von dem man über die Stadt sehen kann wie ein Gott auf die Tagseite der Erde.
Wie hätte er sich zusammen mit Jan gefreut! Sie hätten beide Obstwein getrunken, selbst gezogen und sauer.
Der alte Jan ist nicht mehr, sagt er sich, aber das ist so schwer zu verstehen, das ist nämlich überhaupt nicht zu verstehen.
Nickel geht in seine kühle Straßenschlucht und in den Hofgarten, den Herr Reiher pflegt, bepflanzt und begießt und beharkt. Auf dem sauberen Weg findet er eine Praline. Nickel hebt sie auf und weiß noch nicht, ob er sie den Reihers in das Schlüsselloch stecken soll.
Reiher verabscheut Hunde, besonders Dackel. Der Dackel Nante aber ist weise, er kneift nicht mal in Reihers dünne Beine. In der Praline könnte Rattengift sein. Wenn Reihers den Dackel vergiften, denkt Nickel, dann lege ich Nantes Leiche auf ihre Türschwelle, so wie sie es im Nibelungenlied mit diesem schönen getöteten Zehnkämpfer gemacht haben. Das Gottesurteil wird sprechen. Anschließend wird er die Reihers anzeigen. Wegen Mordes. Wer einen Hund vergiftet, der verschleppt auch alte Witwen und trägt im Sommer lange Unterhosen, der muss büßen.
Nickel weiß nicht, warum der Reiher seit seinem zweiunddreißigsten Lebensjahr nicht mehr arbeitet, sondern eine Invalidenrente bezieht. Aber dabei geht der einkaufen und kann netzeweise Bier ranschleppen, der lässt sich Kohlen vor das Haus kippen und trägt sie in den Keller, weil er geizig ist, um je Sack zu bezahlen. Und nun schwebt Nante, der braune Kurzhaardackel der alten Frau Löckchen, in Lebensgefahr, weil so ein Reiher Angst um seine Kohlrabibeete hat. Nickel überlegt, ob er den Reihers mal einen großen Stamm weißer Mäuse in die Wohnung schmuggeln sollte.
Reiher kommt ihm mit einer Gießkanne entgegen.
Nickel sagt: „Ihre Sorte mag Nante nicht, es muss Marzipan drin sein, kleiner Tipp.“
„Wie bitte? Frecher Bengel.“
Nickel gähnt laut mit weit geöffnetem Mund, lässt Reiher stehen und geht auf die Straße. Nante bleibt unsichtbar.
Nickel schlendert durch die Stadt, weil er nicht in die Wohnung gehen möchte.
Er geht durch den Volkspark, an der Weitsprunggrube vorbei, an der er immer übertrat oder verschiedene hochwichtige Zentimeter, die später an der Note Zwei fehlten, verschenkte. Nie hat er das eingesehen. Warum kann man denn nicht vom Abdruck des Fußes aus messen? Und was heißt überhaupt verschenken? Warum muss man von diesem dummen, harten, weißen Balken aus messen? Es ist doch wichtig, dass man über einen breiten Graben springen kann. Da fragt kein Mensch, ob man übergetreten hat. Und wenn man verschenkt hat, dann landet man eben in der Brühe.