Familie mit Herz 135 E-Book

Sabine Stephan

• Herausgeber: Bastei Lübbe
• Kategorie: Gesellschafts- und Liebesromane
• Serie: Familie mit Herz
• Sprache: Deutsch
• Veröffentlichungsjahr: 2022

Seitenzahl: 107

Beschreibung

Igitt! Unerträglich! Der kleine Noah Menrath starrt seinen Erzfeind Emil Gillich entsetzt an. Wenn seine Mami und Emils Vater wirklich heiraten, werden sie beide ja Geschwister! Dann werden sie zusammen wohnen, müssen sich jeden Tag begegnen und sind gezwungen, »heile Familie« zu spielen.
Das muss verhindert werden - um jeden Preis! In diesem Punkt sind sich die beiden Jungen - sonst spinnefeind - ausnahmsweise einmal einig. Zusammen hecken sie einen Plan aus, verstricken sich in die wildesten Lügengeschichten und rufen, sozusagen als letzten Ausweg, Noahs Vater, Mamis gut aussehenden Noch-Ehemann, auf den Plan. Damit ist das Chaos endgültig perfekt ...

Leseprobe

Inhalt

Cover

Wir sind keine Alltagsfamilie

Vorschau

Impressum

Wir sind keine Alltagsfamilie

Es ist das reinste Chaos – aber es ist wunderbar

Von Sabine Stephan

Igitt! Unerträglich! Der kleine Noah Menrath starrt seinen Erzfeind Emil Gillich schockiert an. Wenn seine Mami und Emils Vater wirklich heiraten, werden sie beide ja Geschwister! Dann werden sie zusammen wohnen, müssen sich jeden Tag begegnen und sind gezwungen, »heile Familie« zu spielen.

Das muss verhindert werden – um jeden Preis! In diesem Punkt sind sich die beiden Jungen – sonst spinnefeind – ausnahmsweise einmal einig.

Zusammen hecken sie einen Plan aus, verstricken sich in die wildesten Lügengeschichten und rufen, sozusagen als letzten Ausweg, Noahs Vater, Mamis gut aussehenden Noch-Ehemann, auf den Plan. Damit ist das Chaos endgültig perfekt ...

»Meine liebe Kerstin!« Der ältere Mann nickte der Zweiunddreißigjährigen zu und hob ein gefülltes Sektglas in ihre Richtung. »Wir sind zusammengekommen, um Abschied zu nehmen ...«

»Stopp!« Die Angesprochene prustete los. Sie hatte an diesem Vormittag schon so manches Glas geleert. Eine Vielzahl der Kollegen, die es Kerstin gleichgetan hatten, fielen in ihr herzliches Lachen mit ein. »Das klingt wie auf einer Beerdigung. Dabei ziehe ich nur in eine andere Stadt.«

»Die werden wir so leicht nicht los!«, rief die Sekretärin des Direktors dazwischen.

Dieser legte den Zeigefinger auf den Mund und machte ein strenges Gesicht, so als habe er es mit einer Schulklasse ungezogener Kinder zu tun und nicht mit ausgebildeten Pädagogen.

Kerstin bekam Schluckauf und errötete – was ihr ausgezeichnet stand.

»Nun, geschätzte Kollegin«, nahm der Rektor den Faden wieder auf, »wir haben in den letzten fünf Jahren schon viel miteinander gelacht, und nicht zuletzt Ihre ansteckende Heiterkeit hat dazu beigetragen, dass wir hier, an diesem sonst so tristen Ort ...«

Buhrufe wurden laut. Kerstin vergaß ihren Schluckauf und brach erneut in Gelächter aus.

Der Konrektor ergriff das Wort: »Wir lassen dich nicht gerne gehen, Kerstin – das wolltest du doch sagen, oder?«, fragte er den verstummten Schulleiter. »Du warst ein guter Kamerad. Die Kinder haben dich geliebt und trotzdem ernst genommen. Du bist immer ganz bei der Sache gewesen, obwohl wir alle sehr wohl wissen, dass du es in den fünf Jahren, die wir mit dir zusammenarbeiten durften, nicht immer leicht hattest.« Er machte eine Kunstpause und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Dein Mann hat dir das Leben schwer gemacht, das ist leider kein Geheimnis. Doch du hast uns gezeigt, dass man auch als alleinerziehende, berufstätige Mutter quasi seinen Mann stehen kann.«

Die junge Lehrerin war schlagartig ernst geworden. Ihr war die Ansprache des Konrektors spürbar peinlich.

Sicher, sie waren ein kleines Lehrerkollegium, das über den Beruf hinaus auch freundschaftlich verbunden war. Aber das war kein Grund, ihr Privatleben öffentlich auszubreiten. Sie wussten sowieso alle Bescheid.

♥♥♥

Kerstin hatte gleich nach ihrer Referendarzeit zur Grundschullehrerin den Mann geheiratet, auf den der Konrektor gerade anspielte. Dieser Mann war ihr Tanzlehrer gewesen.

Als junge Teenagerin hatte Kerstin nie einen Tanzkurs absolviert. Sie hätte sich damals geschämt, wenn sie statt über süße Jungs und Partys über Walzer und Cha-Cha-Cha gesprochen hätte. Nach dem ersten Weihnachtsball im Kollegium hatte die Lehrerin aber beschlossen, nie mehr wie ein Mauerblümchen am Rande sitzen zu bleiben, während die anderen ihre raffinierten Tanzschritte zum Besten gaben und sich amüsierten.

Sie hatte sich zu einem Tanzkurs angemeldet – und Christian kennengelernt. Er war fünf Jahre älter als Kerstin gewesen und in ihren Augen ein Traummann durch und durch. Als Tanzlehrer war er redegewandt, charmant und sah ungemein gut aus. Er hatte es verstanden, den Unterricht locker und abwechslungsreich zu gestalten.

Kerstin hatte sich nicht nur für den Fortgeschrittenenkurs angemeldet, sondern auch noch für weiterführende Medaillenkurse. Sie war musikalisch und auch tänzerisch ein Naturtalent. Es hatte deshalb nicht lange gedauert, und Christian Menrath war auf sie aufmerksam geworden.

Es war nicht Liebe auf den ersten Blick gewesen – wenigstens nicht von seiner Seite aus ... Christian war anderweitig »beschäftigt« gewesen. Nie hatte man ihn ohne weibliche Begleitung gesehen. Während des Unterrichts war er stets von einem Schwarm junger Schönheiten umgeben gewesen, die er mit Komplimenten und Versprechungen verwöhnt hatte – und trotzdem hatte Kerstin sich in ihn verliebt.

Während eines Tanzwettbewerbs war es dann passiert. Christians Partnerin hatte sich den Fuß verstaucht und an den Ausscheidungskämpfen nicht teilnehmen können. Kerstin hatte – schüchtern aber entschieden – angeboten einzuspringen.

Sie hatte sich selbst gewundert, dass Christian genickt und gesagt hatte: »Warum eigentlich nicht? Mehr als rausfliegen können wir schließlich nicht.«

Sie waren nicht rausgeflogen. Sie hatten zwar auch keinen Preis gewonnen, aber dafür hatte Kerstin sein Herz im Sturm erobert.

»Warum bist du mir früher nie aufgefallen?«, hatte der ehrlich verliebte Mann gefragt.

»Du warst zu beschäftigt«, hatte die glückliche Kerstin geflüstert, die bereit gewesen war, Christian Menraths sämtliche Abenteuer der Vorzeit zu vergessen, wenn er nur ihrer Liebe eine Chance geben würde.

Er war bereit gewesen – aber nicht standhaft. Kerstins Eltern hatten ihre Tochter gewarnt, nichts zu überstürzen.

»Wir überstürzen auch nichts!« Kerstin hatte lachend abgewinkt. »Wir heiraten erst in drei Monaten ...«

Das erste Mal hatte Christian seine hübsche Frau betrogen, als diese den kleinen Noah erwartet hatte. Damals hatte sie noch nichts von den außerehelichen Eskapaden ihres Mannes gemerkt. Auch nicht, als der kleine Wonneproppen Noah, der das gute Aussehen seines Vaters und die Zartheit seiner Mutter geerbt hatte, geboren worden war. Kerstin hatte das Baby vergöttert und Christian nur selten vermisst.

»Halt die Augen offen«, hatte eines Tages Christians eigene Mutter die arglose Schwiegertochter gewarnt. »Ich kenne meinen Sohn länger als du. Er will verwöhnt werden, bewundert, angebetet. Christian braucht Publikum. Wenn er es zu Hause nicht findet, sucht er es sich anderswo.«

Die ältere Frau hatte natürlich recht behalten. Kerstin hatte viele Nächte geweint. Christian, der seine Frau nicht hatte leiden sehen können, war reumütig zu ihr zurückgekommen. Dasselbe Spiel hatte sich noch viele Male wiederholt.

Als Noah zwei Jahre alt geworden war, hatte Kerstin beschlossen zu handeln. Sie hatte ihre alte Stelle als Grundschullehrerin angenommen, eine Nanny engagiert, die vormittags auf Noah aufpasste und das Mittagessen kochte. Nachmittags war sie ausschließlich für ihren kleinen Sohn da gewesen. Sie war fest entschlossen gewesen, wegen Christian nicht mehr zu leiden. Er war freundlich empfangen worden, wenn er gekommen war, aber sie hatte ihm auch keine Träne nachgeweint, wenn er gegangen war.

»Wie hältst du so ein Leben aus?«, war sie oft gefragt worden.

Die Antwort lautete bis heute immer gleich: »Ich liebe meinen Sohn – mehr brauch ich nicht zum Glücklichsein. Und meine Kollegen sind wie eine große Familie für mich.«

Und diese »große Familie« war sie gerade im Begriff zu verlassen ...

♥♥♥

Der Konrektor hatte seine Ansprache beendet. Stimmen schwirrten im Konferenzzimmer wie ein ganzer Bienenschwarm.

»Ach, Kerstin«, wandte sich die einzige Lehrerin für Musik und Kunst an sie. »Ich werde dich vermissen! Was die anderen so reden, ist doch alles Quatsch. Sicher, sie mögen dich alle, aber ich verliere meine beste Freundin!«

»Jetzt werde bitte nicht sentimental«, entrüstete Kerstin sich. »Du warst es doch, die mir schon vor Jahren in den Ohren gelegen hat, dass ich mich von Christian scheiden lassen soll.«

»Schon«, räumte sie ein, »aber du musst ja nicht gleich auch all deine Freunde und Bekannte verlassen und so weit fortziehen.«

»Erstens verlasse ich euch nicht für immer – dich schon gar nicht, obwohl du es verdient hättest –, zweitens besitzt ihr alle meine Handynummer und ein Auto. Ihr könnt mich also immer besuchen, und drittens ...«

Hier holte Kerstin tief Luft und blickte nachdenklich über die Schulter ihrer Kollegin ins Leere.

»Und drittens?«, schaltete sich der Konrektor ein.

»Und drittens werde ich Christian erst richtig los, wenn ich weit fortziehe – eben über die Grenzen unseres Bundeslandes hinaus.«

»Er kann dir nachreisen, wenn ihn gerade mal eine neue Eroberung sitzen gelassen hat und er wieder Lust auf Nestwärme bekommt.«

»Er wird mir nicht nachreisen«, entgegnete Kerstin bestimmt.

»Wir haben beschlossen, uns ein ganzes Jahr nicht zu sehen. Wenn er die Scheidung dann immer noch nicht will, werde ich kämpfen. Aber er wird sie wollen – aus den Augen aus dem Sinn. Ihr versteht, was ich meine?«

Die Kunstlehrerin nickte ernst. Der Konrektor nickte auch, aber er wandte sich ab. Das Gespräch wurde ihm zu intim.

»Und Noah? Freut er sich auf den Umzug?«

»Also, er wird seinen Vater nicht sehr vermissen. Der Nanny wird er ein paar Tränchen nachweinen. Zum Glück verlässt er aber keinen großen Freundeskreis. Eigentlich spielt er ja sowieso nicht mit Kindern seines Alters, er ist immer nur mit uns Großen zusammen«, räumte sie ein. »Ja, Manuela, er freut sich auf den Umzug, aber vor allen Dingen freut er sich auf Johannes.«

Johannes Martin war Kerstins großer Bruder. Früher hatten sie wie Kletten aneinandergehangen. Dann hatte Kerstin geheiratet, und bald darauf war Johannes fortgezogen. Er war ein lustiges Kerlchen – trotz seiner vierunddreißig Jahre konnte man ihn noch als solchen bezeichnen. Der überzeugte Single war sprunghaft und abenteuerlustig.

»Ich binde mich doch nicht!«, hatte er einmal gesagt. »Ich liebe das Leben und nicht die Frauen!«

Kerstin wusste es besser. Und doch konnte sie sich nicht vorstellen, dass Johannes tatsächlich eines Tages in den Hafen der Ehe einlaufen würde. Als liebevoller Vater war er da schon eher geeignet.

Darum war sie auch sofort bereit gewesen, als Johannes ihr angeboten hatte: »Warum ziehst du mit Noah nicht einfach zu mir? Das Haus ist groß genug, dass es zwanzig von eurer Sorte aufnehmen könnte. Du bist von Christian einige hundert Kilometer getrennt, und du musst dich nicht nach einer neuen Nanny umschauen.«

Das stimmte. Johannes konnte sie ihren kleinen Noah unbesorgt anvertrauen. Der freischaffende Illustrator arbeitete meistens zu Hause und würde seine Besorgungen und Dienstreisen auf den Nachmittag legen. Der stille Noah störte ihn an arbeitsreichen Vormittagen bestimmt nicht.

Manuela, die Lehrerin für Musik und Kunst, lachte.

»Ich habe deinen Bruder ja auf deinem Geburtstag kennengelernt. Mit dem würde ich auch gern unter einem Dach leben ...«

Kerstin machte eine einladende Handbewegung.

»Nichts lieber als das, beste Freundin. Du müsstest deine Familie allerdings zu Hause lassen. Denn vom richtigen Familienleben habe ich im Moment genug.«

»Ich kann dich gut verstehen. Noch etwas anderes, Kerstin«, sagte Manuela. »Wann soll ich zu dir kommen, um beim Umzug zu helfen?«

Kerstin nahm sie beim Wort, sah auf die Uhr und meinte: »Sofort. Wir verdrücken uns hier einfach und gehen zu mir. Der Möbelwagen steht seit gestern Abend in der Einfahrt, Johannes wollte um die Mittagszeit kommen, und ich denke, wenn wir wirklich gleich loslegen, sind wir noch vor dem Dunkelwerden fertig. Morgen früh fahren wir dann. Johannes wird den Möbelwagen fahren, Noah und ich nehmen sein Auto.«

Die Kunstlehrerin warf einen skeptischen Blick in die Runde und war sicher, dass das aufgekratzte Lehrerkollegium in spätestens einer halben Stunde sowieso nicht mehr wusste, was man eigentlich gerade feierte. Da heute gleichzeitig der letzte Schultag vor den Sommerferien war, konnte man sich mit dem Aufräumen auch Zeit lassen.

Manuela nickte. »Gut, Kerstin, gehen wir.«

Kerstin zwang sich, nicht noch einmal zurückzublicken, als sie leise die Tür zum Konferenzzimmer hinter sich zuzog.

Wer weiß, vielleicht würde dann doch noch der Abschiedsschmerz kommen?

♥♥♥

Die ersten Sonnenstrahlen lugten durch einen winzigen Spalt zwischen den gelben Gardinen. Der kleine Junge räkelte sich und blinzelte ins warme Licht. Seine Mami schlief noch tief und fest.

Noah wusste, dass sie immer dann, wenn sie so gleichmäßig atmete, nichts, aber auch gar nichts wecken konnte. Versuchsweise stupste er trotzdem mit dem Zeigefinger an ihre Nase. Kerstin rührte sich nicht.

Was jetzt? Noah schmiegte sich fest an seine Mutter und legte den Kopf an ihre Schulter. Fünf Sekunden hielt er das aus, dann streckte er sich wieder.

Wenn er wach war, dann war er eben wach – egal, ob es erst fünf Uhr war und sie bis spät in die Nacht Möbel und Kisten geräumt hatten.

Die große Luftmatratze bewegte sich und machte ein knatschendes Geräusch, als der kleine Junge vorsichtig aufstand. Er stopfte das dünne Laken, unter dem er mit seiner Mutter gelegen hatte, unter Kerstin fest.

»Träum schön, Mami«, flüsterte er, als er sich auf bloßen Füßen aus dem Wohnzimmer davonstahl.

Das Matratzenlager war das einzige »Möbelstück« in ihrer alten Wohnung. Sie hatten am Vortag wirklich ganze Arbeit geleistet, Mami, Johannes, Manuela und er.

Den Erwachsenen war gar nicht aufgefallen, dass er, Noah, auch noch auf war, als sie um dreiundzwanzig Uhr die Türen des Umzugswagens verschlossen hatten.

»Wo sollen wir schlafen, Liebling?«, hatte die Mami ihn gefragt, die schlaffe Luftmatratze in der einen, die Pumpe in der anderen Hand.

Und Noah hatte sofort gewusst, dass er im leer geräumten Wohnzimmer schlafen wollte.

»Damit ich beim Aufwachen gleich den Garten sehen kann«, hatte er gesagt.

Kerstin hatte dann doch die Vorhänge zugezogen. Über den Protest, das Fenster doch bitte aufzulassen, war Noah eingeschlafen.

Jetzt huschte er in seinen geliebten Garten. Vom Wohnzimmer aus konnte man gleich dort hingelangen, ohne erst den Weg über Flur, Haustür und Gartenweg nehmen zu müssen.