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"Sie halten sich aus den Familienangelegenheiten heraus - oder Sie fliegen!"
So hat sich Marlis ihre neue Stelle auf dem idyllischen "Gut Schöntal" nicht vorgestellt. Elisabeth von Rath, die alte Dame, für deren Pflege sie eingestellt wurde, verhält sich ihr gegenüber herrisch und unverschämt. Dabei lässt sich die gelernte Krankenschwester nichts zu Schulden kommen. Im Gegenteil, sie kümmert sich nicht nur rührend um die alte Frau, sondern auch um deren achtjährigen Enkelsohn Marcel - weil sein Vater sie darum inständig gebeten hat.
Seit die Mutter des kleinen Marcels gestorben ist, scheint der Junge alle Lebensfreude verloren zu haben. Doch Marlis ist sich sicher, dass neben der tiefen Traurigkeit noch eine andere Sorge den Kleinen beschäftigt. Irgendetwas muss seine Seele tief verletzt haben, aber um das zu erkennen, muss man einen zweiten intensiven Blick riskieren ...
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Seitenzahl: 112
Cover
Denn er weinte nur im Dunkeln
Vorschau
Impressum
Denn er weinte nur im Dunkeln
Dramatischer Roman um Kindertränen, die niemand sehen durfte
Von Sabine Stephan
»Sie halten sich aus den Familienangelegenheiten heraus – oder Sie fliegen!«
So hat sich Marlis ihre neue Stelle auf dem idyllischen »Gut Schöntal« nicht vorgestellt. Elisabeth von Rath, die alte Dame, für deren Pflege sie eingestellt wurde, verhält sich ihr gegenüber herrisch und unverschämt. Dabei lässt sich die gelernte Krankenschwester nichts zu Schulden kommen. Im Gegenteil, sie kümmert sich nicht nur rührend um die alte Frau, sondern auch um deren achtjährigen Enkelsohn Marcel – weil sein Vater sie darum inständig gebeten hat.
Seit die Mutter des kleinen Marcels gestorben ist, scheint der Junge alle Lebensfreude verloren zu haben. Doch Marlis ist sich sicher, dass neben der tiefen Traurigkeit noch eine andere Sorge den Kleinen beschäftigt. Irgendetwas muss seine Seele tief verletzt haben, aber um das zu erkennen, muss man einen zweiten intensiven Blick riskieren ...
»Morgen ihr beiden, na, ausgeschlafen?«
Die junge Krankenschwester Marlis Hofmann betrat die geräumige Küche der Wohngemeinschaft, in der sie seit zwei Jahren lebte, und lächelte ihren beiden Mitbewohnerinnen zu.
»Du bist viel zu gut gelaunt für diese Uhrzeit«, urteilte Katrin Stein, ebenfalls Krankenschwester und beste Freundin von Marlis.
Sie kannten sich von der Schwesternschule her und verstanden sich prächtig.
Die Dritte im Bunde, Daniela Hausner, war ein ausgesprochener Morgenmuffel. Sie zog es vor, sich hinter ihrer Zeitung zu verschanzen.
Marlis ließ sich am Tisch nieder, goss Kaffee in ihre Tasse und schmierte sich ein Brötchen mit Quark und Brombeermarmelade.
»Und, wie war's gestern auf dem Arbeitsamt?«, wollte Katrin wissen.
Sie kannte die Misere, in der Marlis steckte. Nach der Ausbildung war sie nicht von der Klinik übernommen worden und hatte daraufhin bei der Drogenberatungsstelle angefangen.
Die Arbeit machte der engagierten jungen Frau mit den blonden Locken und den meerblauen Augen viel Spaß, aber sie hatte einen Haken: Sie war zeitlich begrenzt. Und diese Zeit lief nun unbarmherzig ab, ohne dass Marlis einen Ersatz gefunden hätte.
»Ich war noch mal beim zuständigen Dezernenten im Jugendamt«, gab sie zur Antwort. »Ich hatte die vage Hoffnung, dass er sich zu einer Verlängerung erweichen lässt, aber daraus wird nichts. Im Sozialbereich wird überall gespart.«
Daniela stimmte ihr zu, sie hatte die Zeitung beiseitegelegt und rührte in einem Mango-Joghurt. »In der Waldklinik werden die Portionen fürs Personal immer kleiner.«
Katrin warf ihr einen schrägen Blick zu. »Das ist ja auch das Wichtigste, nicht wahr?«
Daniela machte ein überraschtes Gesicht. »Haltet ihr mich vielleicht für gefräßig?«
Katrin enthielt sich eines Kommentars, stattdessen fragte sie Marlis: »Und was willst du jetzt machen?«
Diese hob die Schultern und seufzte. »Wenn ich das wüsste! Auf dem freien Arbeitsmarkt ist kaum eine passende Stelle zu finden. In ein paar Tagen werde ich auf der Straße sitzen.«
Daniela, die bisher über Katrins Bemerkung geschmollt hatte, meldete sich nun zu Wort. »Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich gestern einen interessanten Anschlag am schwarzen Brett gesehen. Da wird eine private Pflegerin gesucht. Wäre das was für dich?«
Marlis überlegte nicht lange. »Bewerben schadet nichts. Wenn du dich erkundigen könntest, wäre das sehr nett von dir.«
Daniela versprach, sich darum zu kümmern. Für Marlis war das zumindest ein kleiner Lichtblick am allzu düsteren Horizont. Zwar hatte sie noch etwas auf der hohen Kante, doch auf Dauer ohne Arbeit zu sein, stellte sich die junge Frau schrecklich vor.
Nach dem Frühstück machte Marlis sich auf den Weg zur Drogenberatungsstelle. Außer ihr waren dort noch ein Arzt und eine Psychologin tätig. Als Marlis das Büro betrat, war dort schon die Hölle los. Wieder einmal hatte die Polizei eine Kneipe geschlossen, in der Junkies verkehrten, und diese beschwerten sich nun lautstark bei Dr. Brandner, die an diesem Morgen Dienst tat.
»Was soll ich denn machen?«, meinte die Psychologin mit einem resignierten Schulterzucken in Marlis Richtung. »Wir haben mit der Kneipenschließung doch nichts zu tun.«
Marlis nickte, überlegte einen Moment und verschwand dann im angrenzenden Raum.
»Wo sollen wir denn noch hin? Steckt uns doch gleich in die Mülltonne!«, rief ein Mädchen mit grün gefärbtem Haar aufgebracht. Die Drogen hatten schon ihre Spuren in dem noch sehr jungen Gesicht hinterlassen.
»Nun mal ganz ruhig. Wir werden schon einen Ausweg finden«, meinte Dr. Brandner.
Aber ihre Worte konnten die jungen Leute nicht überzeugen. Sie fühlten sich sowieso von allem ausgeschlossen und reagierten deshalb umso empfindlicher auf jeden Eingriff von Seiten der Behörden.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis Marlis wieder erschien. Sie hatte einen guten Ruf bei den Abhängigen, denn sie half, wenn es nötig war, drängte sich aber nie auf.
»Ich habe erfahren, dass die Kneipenschließung nur eine vorübergehende Maßnahme ist. In ein paar Tagen wird das Lokal wieder aufgemacht. Und bei dem schönen Frühlingswetter könnt ihr auch in den Park gehen.«
»Bis die Bullen uns festnehmen, weil sich irgend 'ne Oma beschwert hat«, warf ein Junge in schwarzer Lederjacke provokant ein.
»Das kann natürlich passieren. Aber man kann sich doch auch mit den Leuten arrangieren, oder?«
Ein kurzes Schweigen entstand, dann ergriff Dr. Brandner das Wort.
»Wer medizinische Versorgung braucht, kann sich an Marlis wenden, alles andere wäre wohl geklärt.«
Die Jugendlichen nahmen die Gelegenheit wahr, sich abzusetzen. Das Mädchen mit dem grünen Haar nahm noch ein paar Einwegspritzen mit. Marlis setzte sich zu Dr. Brandner und bedankte sich für den Kaffee, den die Psychologin ihr hinschob.
»Manchmal macht es mich ganz krank, dass ich nicht mehr tun kann«, meinte sie niedergeschlagen.
»Sie müssten die Gesellschaft ändern, Marlis. Und das wird weder Ihnen noch mir gelingen. Übrigens, wie haben Sie denn schon wieder so schnell erfahren, wann die Kneipe wieder aufgemacht wird?«
Sie hob die Schultern. »Der Freund meiner WG-Mitbewohnerin ist Polizist.«
Dr. Brandner seufzte. »Was werden wir nur ohne Sie machen, Marlis? Es ist wirklich unbegreiflich, wie man Ihre Stelle hat streichen können, trotz all der Proteste.«
Der Rest des Tages verlief recht ruhig. Marlis versorgte einen Jungen mit einer infizierten Wunde und kümmerte sich um die hartnäckige Halsentzündung einer Vierzehnjährigen, die seit einem Jahr auf der Straße lebte.
Gegen neunzehn Uhr machte die Krankenschwester dann Feierabend. Ihr vorletzter Tag in der Beratungsstelle war zu Ende.
Als Marlis heimkam, waren ihre beiden Mitbewohnerinnen ausgeflogen. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel von Daniela:
Wir sind im Kino. Im Herd steht ein Auflauf von Katrin, guten Appetit.
Darunter hatte Daniela noch den Wortlaut und die Adresse notiert, die sie von der Stellenanzeige am schwarzen Brett abgeschrieben hatte. Marlis aß mit Genuss den Auflauf und schrieb dann eine Bewerbung.
Als sie den Umschlag zum nächsten Briefkasten brachte, dachte sie: Ein bisschen Glück wäre nicht schlecht ...
♥♥♥
»Hast du das notiert?«
Christoph von Rath schaute von seinen Unterlagen auf und warf seiner Frau einen ungeduldigen Blick zu. Diese stand mit ihrem Notizblock neben dem Bürofenster und spähte angestrengt nach draußen.
»Helena? Hörst du mir überhaupt zu?«
Sie wandte sich widerwillig zu ihm um, in ihren grünen Augen spiegelte sich Ungeduld. »Ja, was ist denn?«
»Ich dachte, wir arbeiten. Wenn du allerdings lieber aus dem Fenster schaust ...« Er rückte seine Brille zurecht und strich sich über das schon etwas gelichtete braune Haar. »Du warst es schließlich, die sich als Urlaubsvertretung für Frau Haslinger angeboten hat.«
»Ja, ja, ich bin ganz Ohr. Aber entschuldige, Liebling, der neue Hengst unten auf dem Hof interessiert mich einfach mehr als deine langweilige Korrespondenz.«
»Gut, ich werde bei der Stellenvermittlung anrufen, sie sollen mir eine versierte Kraft schicken.«
Helena hob nur nachlässig die Schultern. »Wenn du meinst, bitte. Aber dann wirst du mich jetzt auch entschuldigen, nicht wahr?« Sie legte den Block auf seinen Schreibtisch, schüttelte die lange, rote Lockenmähne und schenkte ihm noch ein herablassendes Lächeln. »Hier drin versauert man ja, ich kann nicht begreifen, wie du das jeden Tag aushältst. Ich werde jetzt einen Ritt durchs Gelände machen.«
Er wollte widersprechen, aber sie ließ ihm keine Gelegenheit dazu, zog kurzerhand die Tür hinter sich ins Schloss und ließ ihn allein.
Mit einem resignierten Seufzer stand Christoph von Rath von seinem Schreibtischsessel auf, durchquerte den Raum und blieb dann vor dem Fenster stehen.
Sein Blick schweifte über das Gestüt, das sich seit vielen Generationen im Familienbesitz befand, über den weitläufigen Hof, die Stallungen und die beiden anderen Gebäudeteile, deren roter Sandstein sich in einem langgestreckten U in die norddeutsche Landschaft einpasste. Wenn man die schöne Lage des Anwesens inmitten der Natur betrachtete, die weiten Heideflächen, unterbrochen nur von dem saftigen Grün der Ginster- und Wacholdersträucher, dann konnte man den Eindruck gewinnen, als sei auf »Gut Schöntal« die Zeit stehengeblieben.
Aber der äußere Schein trog – wie so oft. Das Gestüt hatte einige Krisen hinter sich, man hatte sich immer wieder der Marktlage anpassen und vieles umstellen müssen.
Heute aber warf der Betrieb mit dem Verkauf von Zuchttieren auf Auktionen und der Rennpferdezucht einen guten Gewinn ab. So war es dem alten Ehepaar von Rath vergönnt, einen sorgenfreien Lebensabend zu verbringen, während ihre Söhne auf dem Gut tätig waren.
Christoph, der immer eher ein zurückhaltender und stiller Mensch gewesen war, stand der Verwaltung vor, und alle schriftlichen Angelegenheiten, von Futterbestellungen bis hin zur Buchhaltung, gingen durch seine Hände.
Johann von Rath, sein Vater, konnte mit dem in sich gekehrten Sohn nicht viel anfangen, aber er wusste, was er an ihm hatte. Auch wenn Christophs Bruder Hannes ihm immer der Liebere von beiden gewesen war.
Hannes war Tierarzt, bis vor einem Jahr hatte er auf dem Gut die Pferde betreut, doch nun war er beinahe ständig unterwegs und beaufsichtigte Pferderennen und Auktionen. Sein verändertes Verhalten hing, das vermutete Christoph, mit dem Tod seiner Frau zusammen. Ein tragischer Reitunfall hatte das Liebste, was Hannes im Leben hatte, von ihm genommen. Seither suchte er in seinem unsteten Lebenswandel Vergessen.
Seinen achtjährigen Sohn Marcel hatte er vor einigen Monaten in einem Internat untergebracht. Der Junge litt sehr unter dem Verlust der Mutter. Früher war Marcel ein lustiger Lausbub gewesen, doch wenn er nun übers Wochenende heimkam, erkannte Christoph ihn kaum wieder. Der Junge war blass und dünn und ließ niemanden außer seinem Großvater an sich heran.
Christoph hoffte inständig, dass sein Neffe sich mit der Zeit fangen würde.
Kinder vergessen schnell, dachte er und wollte sich vom Fenster abwenden, als er eine schwarze Limousine bemerkte, die langsam auf den Hof gefahren kam. Christoph kannte diesen Wagen, er gehörte seinem Bruder. Er beobachtete, wie das Auto geparkt wurde und wenig später ein hochgewachsener, schlanker Mann mit dunklem Haar in Cordhose und Wetterjacke ausstieg.
Im gleichen Moment verließ Helena das Haus. Sie hatte sich umgezogen, trug nun eine schwarze Reithose und Stiefel sowie ein Tweedjackett. Das brandrote Haar verschwand zum Teil unter der Reitkappe.
Christoph sah, wie seine Frau auf Hannes zueilte, ihm ein Küsschen auf die Wange gab, was Hannes nur widerwillig zuließ, und dann noch einige Worte mit ihm wechselte. Das Ganze dauerte ein paar Minuten, in denen Hannes sein Gepäck auslud und danach zum Haus trug. Helena strebte auf den Pferdestall zu.
Christoph wandte sich vom Fenster ab. Er konnte sich nicht erklären, warum, aber er verspürte unvermittelt ein Gefühl von Misstrauen, das ihn schon oft befallen hatte, sobald Helena und Hannes zusammen waren. Er hatte immer den Eindruck, als sei etwas zwischen ihnen, wovon er nichts wusste, und er konnte nicht behaupten, dass ihm diese Vorstellung gefiel.
Das Telefon riss Christoph aus seinen düsteren Gedanken. Am anderen Ende der Leitung meldete sich sein Vater.
»Würdest du bitte auf einen Sprung in den Salon kommen?«, bat Johann von Rath seinen Sohn in der üblichen, etwas distanzierten Art. »Hannes ist eben angekommen und hat ein paar interessante Neuigkeiten mitgebracht.«
»Ich komme«, sagte Christoph, legte auf und ärgerte sich gleich wieder.
Warum musste er immer springen, wenn Hannes pfiff?
♥♥♥
»›High Spirit‹ hat uns einen sehr ansehnlichen Gewinn verschafft«, berichtete Hannes eben, als sein Bruder den ganz in Blau gehaltenen Salon betrat.
Johann von Rath nickte zufrieden. Die beiden Männer waren einander recht ähnlich, mit dem Unterschied, dass Johanns Haar bereits ergraut war. Der alte Herr saß in einem der verspielten Barocksessel, während Hannes auf dem Zweisitzer Platz genommen hatte. Christoph grüßte kurz und lehnte sich gegen das Fenster.
»Du warst wieder einmal erfolgreich?«, fragte er lapidar.
Johann warf ihm einen tadelnden Blick zu, während Hannes nicht auf den Ton seines Bruders einging, sondern ihm stattdessen einige Unterlagen reichte.
»Bis jetzt können wir mit dem Jahr zufrieden sein«, resümierte der alte von Rath.
»Dem kann ich mich nur anschließen«, meinte Christoph.
Hannes musterte den Bruder. »Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«, fragte er geradeheraus.
Christoph machte ein unschuldiges Gesicht. »Nichts.«
Hannes schien mit dieser Antwort nicht zufrieden zu sein, aber er fragte nicht weiter, denn er kannte seinen Bruder und dessen Gefühl von Unterlegenheit ihm gegenüber. Es war noch ein Relikt aus der Kinderzeit, aber anscheinend unausrottbar. Deshalb schnitt Hannes ein anderes Thema an.
»Wie geht es Mama? Kommt sie mit der neuen Pflegerin zurecht?«
Johann winkte mit einer kurzen Handbewegung ab. »Nicht die Spur, die Frau hat uns vor zwei Tagen bereits wieder verlassen. Es ist ein Kreuz, deine Mutter schafft sie alle.«
Hannes konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Elisabeth von Rath war eine sehr distinguierte und vornehme Dame, aber seit sie wegen einer leichten Gehbehinderung auf Pflege angewiesen war, erwies sie sich als unleidlich.