Die Welt der Hedwig Courths-Mahler 650 - Sabine Stephan - E-Book

Die Welt der Hedwig Courths-Mahler 650 E-Book

Sabine Stephan

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Beschreibung

Nach der großen Verlobungsfeier muss Oswald Werner noch in der Nacht zurück nach England fliegen. Seine Verlobte, Marie von Herder, begleitet ihn zum Flughafen. Plötzlich taucht wie aus dem Nichts ein Mensch auf, prallt mit voller Wucht auf die Kühlerhaube und fliegt dann in hohem Bogen durch die Luft. Trotz Maries Flehen anzuhalten, fährt Oswald weiter. Seine Karriere ist ihm heilig. Man erwartet den Diplomaten bereits in London. Seiner Verlobten schärft er ein, auf der Rückfahrt schnell an der Unfallstelle vorbeizufahren. Das aber verhindert Maries menschliche Güte. Nun steht sie dem Inspektor am Unfallort gegenüber und behauptet, vorhin selbst am Steuer gesessen zu haben, um ihren Verlobten, den sie über alles liebt, zu schützen. Doch so selbstlos ihr Verhalten auch ist, es fordert einen hohen Preis!


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Inhalt

Cover

Im Schatten des Schicksals

Vorschau

Impressum

Im Schatten des Schicksals

Meisterwerk um die unwandelbare Liebe einer Frau

Nach der großen Verlobungsfeier muss Oswald Werner noch in der Nacht zurück nach England fliegen. Seine Verlobte, Marie von Herder, begleitet ihn zum Flughafen. Plötzlich taucht wie aus dem Nichts ein Mensch auf, prallt mit voller Wucht auf die Kühlerhaube und fliegt dann in hohem Bogen durch die Luft. Trotz Maries Flehen anzuhalten, fährt Oswald weiter. Seine Karriere ist ihm heilig. Man erwartet den Diplomaten bereits in London. Seiner Verlobten schärft er ein, auf der Rückfahrt schnell an der Unfallstelle vorbeizufahren. Das aber verhindert Maries menschliche Güte. Nun steht sie dem Inspektor am Unfallort gegenüber und behauptet, vorhin selbst am Steuer gesessen zu haben, um ihren Verlobten, den sie über alles liebt, zu schützen. Doch so selbstlos ihr Verhalten auch ist, es fordert einen hohen Preis!

Mitternacht war schon lange vorbei. Ein klarer Sternenhimmel überspannte die blühende Frühlingslandschaft. Das Rittergut des Barons von Herder war hell erleuchtet. Durch die weit geöffneten Fenster drangen fröhliche junge Stimmen, Gläsergeklirr und Musik in die Nacht hinaus.

So eine ausgelassene Fröhlichkeit war Seltenheit in diesem Hause, das seit dem frühen Tod der schönen Baronin nur noch vom Baron und seiner hübschen Tochter Marie bewohnt wurde.

Heute jedoch gab es Grund zum Feiern: Zugleich mit ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag hatte sich Marie mit dem gut aussehenden Botschaftssekretär Dr. Oswald Werner verlobt. Er war für drei Tage eigens aus London gekommen, wo er an der Deutschen Botschaft wirkte.

Die eleganten Gesellschaftsräume im ersten Stock des Herrenhauses waren aufgeschlossen worden und erstrahlten in ihrer alten Pracht. Überall in schweren Bodenvasen verströmten vielfarbige Blumen ihren zarten Duft. Die lange Festtafel im Speisezimmer war mit kostbarem Porzellan, antikem Silber und weißem Damast gedeckt.

August Baron von Herder, ein rüstiger Sechziger, hatte sich nach dem Festmahl mit einigen Freunden ins Herrenzimmer zurückgezogen. Während er durch die halb geöffnete Tür einen Blick in den Salon warf, in dem die Jugend tanzte, zündete er sich bedächtig seine Zigarre an.

»Wie schön deine Tochter ist«, bemerkte einer der Gutsnachbarn des Barons. Er war ein dicklicher, gemütlicher Herr, schönen Frauen ebenso zugetan wie einem guten Tropfen. »Sie wird deiner verstorbenen Frau immer ähnlicher.«

»Nun, der zukünftige Schwiegersohn ist ja auch nicht ohne«, mischte sich ein anderer ein.

»Eine glänzende Erscheinung, das muss man ihm lassen«, gab ein Dritter zu. »Und er soll ja auch sehr tüchtig und talentiert sein, nicht wahr?«

Der weißhaarige Baron nickte. »Es ist wirklich zu schade, dass meine verstorbene Frau diesen Tag nicht mehr erleben konnte«, erwiderte er ein wenig wehmütig. »Wie glücklich wäre sie über diese Wahl unserer Tochter gewesen.«

»Stimmt es, dass Sie Ihren künftigen Schwiegersohn schon von Jugend auf kennen?«

»Ja, wir kannten Oswald schon als kleinen Jungen«, bestätigte Baron von Herder. »Schon damals waren wir vernarrt in ihn. Er war ein so kluger kleiner Kerl, aufgeweckt und von reizendem Aussehen. Dass Oswald allerdings einmal unser Schwiegersohn werden würde, ahnten wir nicht.«

Einer der Herren, der noch nicht lange in der Gegend wohnte, räusperte sich.

»Ich möchte ja nicht indiskret sein, lieber Baron. Aber stimmt es, dass Sie es waren, der den jungen Mann studieren ließ?«

»Das ist durchaus kein Geheimnis«, meinte der Baron lächelnd. »Oswald ist der Sohn eines ehemaligen Regimentskameraden von mir. Der hatte sich im Krieg ein Leiden geholt, an dessen Folgen er leider bald gestorben ist. Da auch keine Mutter mehr da war, nahm ich den elternlosen Jungen in meinem Hause auf, wo er wie ein Sohn aufgewachsen ist.«

»Oh! Die jungen Leute kennen sich folglich so gut wie vom ersten Tage an?«

»Stimmt. Sie wuchsen wie Geschwister auf. Geschwister, die sich reichlich viel zankten und prügelten. Dass sie einander liebten, ging ihnen erst viel später auf. Nun, gut Ding will eben Weile haben. Ich glaube, die beiden sind füreinander geschaffen.«

»Wann soll die Hochzeit gefeiert werden?«

»Sobald Oswald Legationsrat geworden und nach Deutschland zurückgekehrt ist.«

»Das junge Paar wird also nicht im Ausland leben?«

»Ich möchte, dass meine Kinder hier auf dem Gut wohnen, wo sie hingehören!« Der alte Herr zwinkerte vergnügt. »Um ehrlich zu sein, möchte ich ein wenig teilhaben an dem jungen Glück. Ich glaube auch, ich würde mich recht gut als Großpapa ausnehmen, nicht wahr?«

In diesem Augenblick unterbrach Marie das Gespräch. Glücklich lächelnd und ein wenig erhitzt vom Tanz war sie ins Zimmer hereingewirbelt. Aller Augen richteten sich auf das junge Mädchen.

Marie von Herder war eine auffallende Erscheinung. Sie war hochgewachsen und schlank. Mit ihren graziösen Bewegungen und ihrem stolzen, ebenmäßig geschnittenen Gesicht, das von üppigem blondem Haar umrahmt war, vereinte sie die Süße eines alten Gemäldes mit der Frische und Aufgeschlossenheit eines modernen Mädchens.

»Verzeih die Störung, Papa«, sagte sie mit einem Seitenblick auf die anwesenden Herren. »Aber Oswald möchte sich verabschieden. Es ist höchste Zeit, dass ich ihn in die Stadt bringe. Sein Flugzeug geht in einer Stunde.«

Der alte Herr warf einen Blick auf seine Uhr.

»Tatsächlich, gleich vier! Da müsst ihr euch aber beeilen, Kinder.«

»Ach, wir schaffen es schon, Papa. Wir haben ja einen schnellen Wagen.«

Es war Oswald Werner, der das sagte. Unbemerkt von den anderen hatte er sich zu der Gesellschaft gesellt. Oswald war in der Tat eine blendende Erscheinung.

Er wirkte vielleicht etwas älter als dreißig Jahre. Dazu mochte seine übergroße Gewandtheit ebenso beitragen wie sein übermäßiger Ehrgeiz, der seine Züge bereits geprägt hatte. Sein kräftiges Kinn und seine schmalen Lippen gaben seinem Antlitz etwas Kühles. Seine Augen strahlten eine Entschlossenheit aus, wie man sie sonst nur bei reiferen Menschen findet.

»Fahre bloß nicht zu schnell, Marie«, warnte der Baron seine Tochter. »Du bist noch nicht an den Wagen gewöhnt. Du weißt ja, mir persönlich wäre es lieber gewesen, wenn du weiterhin mit unserem gemütlichen, schon etwas klapprigen Wagen gefahren wärest.«

Marie beugte sich zu ihrem Vater nieder und schlang ihre Arme liebevoll um seinen Hals.

»Aber weil du ein guter Papa bist, hast du mir zum Geburtstag dieses hübsche Auto geschenkt. Mach dir keine Sorgen, ich passe schon auf.«

Dr. Oswald Werner hatte sich inzwischen von den Gästen des Barons verabschiedet. Nun reichte er auch seinem zukünftigen Schwiegervater die Hand.

»Dass du auch mitten in der Nacht wegmusst«, protestierte der Baron. »Hättest du denn deinen Urlaub nicht wenigstens noch um einen Tag verlängern können?«

Oswald schüttelte bedauernd den Kopf.

»Du weißt doch, Papa, dass ich morgen früh unbedingt wieder in der Botschaft sein muss. Familienangelegenheiten sind gut und schön, aber man darf darüber nicht seine Karriere vernachlässigen. Ich bin nur froh, dass Marie dafür Verständnis hat. Sie wird einmal eine prächtige Diplomatenfrau abgeben.«

Marie zupfte ihren Verlobten am Ärmel.

»Besten Dank für das Kompliment, Liebster. Aber beeile dich. Jetzt müssen wir wirklich gehen.«

An seiner Seite kehrte sie in den Salon zurück, wo sich die jungen Leute trinkend und diskutierend um den Plattenspieler versammelt hatten.

»Wiedersehen, Kinder«, rief sie ihren Freunden vergnügt zu. »Ich bringe Oswald rasch zum Flughafen. Ich hoffe, ihr seid noch da, wenn ich zurückkomme.«

»Ehrensache«, erwiderte ein blonder junger Mann. »Sollen wir euch in unserem Wagen begleiten?«

Marie wehrte lächelnd ab.

»Ihr bleibt schön hier, sonst kriegen wir noch Ärger mit der Polizei. Ich habe so das Gefühl, als hättet ihr alle ganz schön getankt.«

»Du etwa nicht?«

»Nein, ich nicht. In Hinblick auf meine verantwortungsvolle Aufgabe habe ich den ganzen Abend nur Saft getrunken.« Lachend schob sie ihren Verlobten zur Tür hinaus. »Bis bald. Unterhaltet euch inzwischen gut.«

Die Tür schloss sich hinter den beiden. Ein hübsches dunkelhaariges Mädchen wandte sich mit spöttischem Lächeln an den blonden jungen Mann.

»Wie kannst du einem Liebespaar das Angebot machen, es zu begleiten? Du hast wirklich keinen Sinn für Romantik und große Liebe!«

Das Mädchen trank einen langen Schluck aus ihrem Champagnerglas. Dabei warf sie dem jungen Mann einen sarkastischen Blick aus ihren schönen dunklen Augen zu. Im Gegensatz zu ihrer etwas stillen Freundin Marie war sie ungeheuer temperamentvoll. Als einzige Tochter des Großindustriellen Dornwald hatte sie keine andere Sorge als die, das Geld des Herrn Papa so amüsant wie möglich auszugeben. Sie liebte schöne Kleider, Schmuck und mondäne Badeorte.

Der blonde Hüne zuckte die Achseln.

»Du bist ja bloß eifersüchtig, Claudia.«

»Ich und eifersüchtig?« Sie lachte ein wenig zu schrill. »Du machst wohl Witze! Du kannst doch nicht ernstlich glauben, dass Oswald mich interessiert. Er ist ein kalter Karrieremacher, sonst nichts.«

Der Blonde verzog spöttisch den Mund. So ganz nahm er Claudia nicht ab, dass Oswald ihr vollkommen gleichgültig sein sollte.

♥♥♥

Inzwischen standen Oswald und Marie draußen auf dem Hof vor Maries neuem Auto.

»Ich bin nicht so ganz sicher auf den Beinen«, gestand sie. »Das mit dem Saft war geschwindelt. Ich fürchte, auch ich habe ein bisschen zu viel vom Champagner erwischt.«

Oswald nahm ihr den Wagenschlüssel aus der Hand.

»Gib her, mein Schatz, dann fahre eben ich. Auf der Rückfahrt kannst du dir ja Zeit lassen.«

»Außerdem werde ich auf dem Flughafen eine starke Tasse Kaffee trinken«, erwiderte sie.

Oswald Werner warf seinen Koffer auf den Rücksitz und öffnete Marie den Wagenschlag. Dann beugte er sich zu ihr nieder, drückte einen flüchtigen Kuss auf ihre Stirn und wollte die Tür schließen. Doch sie schlang in einer impulsiven Aufwallung beide Arme um seinen Nacken und zog ihn erneut zu sich nieder.

»Liebst du mich, Oswald?«

»Natürlich, mein Liebling. Das weißt du doch, nicht wahr? Hätte ich mich sonst mit dir verlobt?«

»Ich weiß es, aber ich will es immer wieder hören. Du musst wissen, dass ich dich über alles liebe. Mehr als meinen Vater, mehr als mich selbst. Mehr als alles auf der Welt. Ich würde alles für dich tun, hörst du? Alles! Ich wünschte, ich könnte dir meine Liebe einmal beweisen.«

Er löste sich vorsichtig aus ihren Armen.

»Das ist doch gar nicht nötig, Marie. Ich weiß auch so, was ich dir bedeute. Aber jetzt müssen wir uns beeilen, Liebste. Sonst fliegt die Maschine wirklich ohne mich ab.«

Marie gab ihn nur widerwillig frei. Es war, als ahnte sie, dass die Süße dieses Augenblicks nie wiederkehren würde.

Oswald setzte sich neben sie auf den Fahrersitz, startete den Wagen und lenkte ihn aus dem Gutshof auf die Landstraße hinaus. Nach wenigen Hundert Metern führte sie zur Autobahn hinauf.

»Ein Segen, dass wir eine so gute Verbindung zum Flughafen haben«, bemerkte er mit einem flüchtigen Blick auf die Uhr. »Sonst wäre es überhaupt nicht zu ertragen in dieser Einöde. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie du als junger Mensch es Jahr für Jahr hier draußen aushältst.«

»Aber Oswald«, erwiderte Marie verwundert. »Ich dachte immer, du liebst unser Gut genauso wie ich. Schließlich hast du deine Jugend hier verbracht. Und Papa hofft so sehr, dass wir später, wenn wir verheiratet sind, unsere Wohnung auf dem Gut nehmen.«

Oswald Werner trat noch etwas fester auf den Gashebel. Die Tachonadel kletterte zitternd höher. Vor ihnen, im blassen Mondlicht, lag die Autobahn wie ein lang gestrecktes Band.

»Ich weiß, dass dein Vater sich das so vorstellt. Aber ich glaube kaum, dass sich das einrichten lässt. Wenn ich erst einmal Legationsrat bin, werde ich so viele berufliche und gesellschaftliche Verpflichtungen haben, dass ich es mir kaum leisten kann, mich auf dem Lande zu vergraben.«

Marie legte ihren Kopf an seine Schulter.

»Es wird schwer sein, Papa das begreiflich zu machen.«

Ein wegwerfendes Lächeln huschte um seine Lippen, das sie zum Glück nicht bemerkte.

»Überlasse das nur mir. Ich werde mit Papa reden. So alte Herrschaften sind manchmal etwas schwierig, aber wenn man versteht, mit ihnen umzugehen, kommt man schon irgendwie mit ihnen zurecht. Claudia hat mir auch vorhin ihr Leid geklagt. Ihr alter Herr hat absolut kein Verständnis für ihre Eskapaden.« Sein Lächeln wurde herzlicher. »Aber sie schert sich nicht darum. Ein Teufelsmädel!«

Marie rückte unwillkürlich ein wenig von ihrem Verlobten ab.

»Gefällt dir Claudia?«, erkundigte sie sich, bemüht, ihrer Stimme einen gleichgültigen Ton zu verleihen.

Sie liebte Oswald über alles in der Welt, und sie vertraute ihm. Dennoch konnte sie einer kleinen dummen Eifersucht nicht ganz Herr werden. Hatte Oswald heute Abend nicht auffallend oft mit ihrer kapriziösen, um drei Jahre jüngeren Freundin getanzt? Beinahe bedauerte sie, dass Claudia vor zwei Monaten aus ihrem Schweizer Internat nach Hause zurückgekehrt war.

Oswald Werner blickte weiterhin gleichmütig geradeaus.

»Natürlich gefällt sie mir, mein Kleines. Wem gefiele Claudia nicht? Aber sie ist mir gleichgültig. Ich liebe dich. Du wirst doch nicht eifersüchtig sein?«

Marie schüttelte heftig den Kopf.

»Natürlich nicht, Liebster. Ich habe dich einfach so furchtbar lieb.«

Er nickte abwesend. Seine Braut war wirklich reizend, das musste man ihr lassen. Außerdem schmeichelten Maries guter Name und ihr Reichtum seiner Eitelkeit.

Aber auch Claudia hatte ihre Reize. Und mit ihrem Vermögen konnte sich die Wohlhabenheit der Herderschen Familie längst nicht messen. Eine Frau wie sie vermochte einem ehrgeizigen, talentierten Mann noch eine ganz andere Karriere zu öffnen, als Marie und ihr Vater es vermochten, dachte er.

Oswald Werner, der aus einfachen Verhältnissen stammte, hatte Blut geleckt und die Macht von Geld und Einfluss schätzen gelernt. Verband sich mit dem Namen derer von Herder der Begriff von grundsolider alter Tradition, so bedeutete der Name Dornwald Millionen und schier grenzenlose Macht.

»Woran denkst du, Liebster?«, unterbrach Marie seine Gedankengänge.

Oswald Werner zuckte ein wenig zusammen, als wäre er auf böser Tat ertappt worden.

»Ach, an nichts Besonderes, mein Kleines. Höchstens, dass ich etwas schneller fahren muss, wenn ich es noch schaffen will.«

Wieder trat er auf den Gashebel. Der Wagen raste über die Autobahn. Dichter Morgennebel war aufgestiegen.

Marie hatte die Augen geschlossen und sich in die Polster zurückgelehnt.

»Fahr nicht zu schnell«, murmelte sie, »dieser Nebel nimmt die ganze Sicht.«

»Ich kenne die Strecke wie meine Westentasche.«

Als Marie spürte, dass Oswald noch mehr beschleunigte, bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie öffnete die Augen, warf einen besorgten Blick auf die Tachonadel und erschrak. Ihr Verlobter fuhr viel zu schnell.

Der Nebel war inzwischen so dicht geworden, dass man keine fünfzig Meter weit sehen konnte. Wie eine dicke weiße Wand stand er vor den Scheiben des Autos. Oswald Werner schaltete die Nebelscheinwerfer ein, aber sie halfen nicht viel.

Marie erschauerte. Erst jetzt merkte sie, wie kalt es im Wagen war. Es konnte aber auch ihre Müdigkeit sein, die sie erzittern ließ.

Da! Eine schemenhafte Silhouette tauchte dicht neben dem Wagen auf. Es konnte ein Mensch sein oder ein Tier, das war nicht auszumachen in dem brodelnden Dunst.

Marie schrie auf. In panischer Angst griff sie mit beiden Händen ins Steuer, um den Wagen mehr nach links zu reißen. Zu spät. Ein dumpfer Aufprall auf dem rechten Kotflügel, der Schrei einer menschlichen Stimme. Ein Körper wurde hochgerissen und wie von unsichtbaren Fäusten irgendwohin geschleudert, hinaus aus dem Lichtkegel, hinein in das Halbdunkel der ersten Morgendämmerung.

Oswald Werner presste die Lippen aufeinander und trat noch fester auf das Gas. Marie klammerte sich zitternd an ihn.

»Um Gottes willen, Oswald! Hast du es nicht bemerkt? Wir hatten einen Unfall. Du hast jemanden angefahren! Wir müssen sofort anhalten und nachsehen, was passiert ist.«

Er schüttelte ihre Hände wütend ab.

»Sei still, ich bin doch nicht wahnsinnig.«

»Aber ...«

»Kein Aber! Was glaubst du, was geschieht, wenn herauskommt, dass ich jemanden angefahren habe? Meine Karriere wäre auf ewige Zeiten vernichtet.«

Oswald Werner war schneeweiß geworden. Seine Hände, die das Steuerrad umklammerten, zitterten unmerklich.

»Du kannst in einem solchen Augenblick doch nicht an dich denken!«, begehrte Marie auf. »Vielleicht ist dieser Mensch nur verletzt, vielleicht können wir ihm noch helfen. Wir dürfen ihn nicht einfach liegen lassen!«

Marie wandte sich um und versuchte einen Blick nach rückwärts auf die Straße zu werfen. Doch die weißen Nebelschleier nahmen ihr die Sicht. Außerdem mussten sie sich bereits weit von der Unfallstelle entfernt haben.

Oswald warf seiner Braut einen flüchtigen Blick zu.

»Hör gut zu, Marie«, sagte er mit kalter Stimme. »Ich kenne dein gutes Herz und dein weiches Gemüt und weiß diese Eigenschaften wohl zu schätzen. Es gibt jedoch Augenblicke im Leben, wo man an sich selbst denken muss.«

»Ich begreife nicht.«