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Hart, schnell und ohrenbetäubend laut hämmern die Techno-Rhythmen über die Tanzfläche. Der DJ heizt die Jugendlichen schon seit Stunden an - und die Party ist noch lange nicht zu Ende.
Einige Tänzer bewegen sich wie in Ekstase, die Augen glänzen unnatürlich, und um den Mund spielt ein entrücktes Lächeln. So feiert man heute! Und wer das Gefühl hat, schlappzumachen, weil die Müdigkeit und die körperliche Anstrengung zu groß werden, der schluckt schnell eine von diesen Wunderpillen: Ecstasy. Angeblich völlig harmlos. Mit dieser Masche ködern die skrupellosen Dealer auch Mia, gerade 13 geworden. Einmal will das Mädchen, das zu Hause alles bekommt, auch dazugehören und sich glücklich fühlen. Ein harmloser Wunsch - und der Beginn eines Teufelskreises ...
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Seitenzahl: 115
Cover
Mia, 13 Jahre, süchtig
Vorschau
Impressum
Mia, 13 Jahre, süchtig
Sie wollte nur einmal probieren – allen Warnungen zum Trotz
Von Sabine Stephan
Hart, schnell und ohrenbetäubend laut hämmern die Techno-Rhythmen über die Tanzfläche. Der DJ heizt die Jugendlichen schon seit Stunden an – und die Party ist noch lange nicht zu Ende.
Einige Tänzer bewegen sich wie in Ekstase, die Augen glänzen unnatürlich, und um den Mund spielt ein entrücktes Lächeln. So feiert man heute! Und wer das Gefühl hat schlappzumachen, weil die Müdigkeit und die körperliche Anstrengung zu groß werden, der schluckt schnell eine von diesen Wunderpillen: Ecstasy. Angeblich völlig harmlos. Mit dieser Masche ködern die skrupellosen Dealer auch Mia, gerade 13 geworden. Einmal will das Mädchen, das zu Hause alles bekommt, auch dazugehören und sich glücklich fühlen. Ein harmloser Wunsch – und der Beginn eines Teufelskreises ...
»Morgen, Steffi. Na, ein schönes Wochenende gehabt?«
Die junge Frau mit dem blonden Pagenkopf und den ausdrucksvollen, braunen Augen betrat das kleine Vorzimmer ihrer Praxis und lachte ihrer Sekretärin fröhlich zu.
»Wie kann man nur am Montagmorgen so fröhlich sein?«, seufzte die Angesprochene.
Christina Anders lächelte. »Ich hatte eben ein schönes Wochenende!«
Sie ging hinüber in ihr Behandlungszimmer, hängte den dicken Wintermantel an den Kleiderständer und ließ sich dann hinter ihrem hellen Holzschreibtisch nieder.
Tina war Psychotherapeutin und beschäftigte sich in der Hauptsache mit Drogenabhängigen. Sie hatte Psychologie studiert und sich danach selbstständig gemacht, dank eines großzügigen Darlehens ihres Vaters, das sie allerdings mittlerweile auf den Cent genau zurückgezahlt hatte.
Tina war freiheitsliebend und musste einfach auf eigenen Füßen stehen. Sie hatte sich aus den noblen Kreisen ihres Elternhauses befreit und sich das Leben so eingerichtet, wie sie es für richtig hielt.
Nun engagierte sie sich für soziale Randgruppen. Den Kids, die heute immer früher an Drogen herankamen, deren Dasein durch Einsamkeit geprägt wurde, galt ihre Fürsorge und ihr Engagement.
»Die Gruppe kommt heute etwas später, du hast noch einen Einzeltermin dazwischen«, meldete sich nun Stefanie, die ihrer Chefin die Post auf den Schreibtisch legte.
Die Sorgenfalte auf der Stirn der Brünetten war nicht zu übersehen.
Tina bedankte sich. »Was ist los? Liebeskummer?«, wollte sie dann wissen.
Stefanie winkte ab. »Das alte Lied. Juan kann nicht treu sein.«
Tina schüttelte den Kopf.
»Du solltest ihm einen Tritt verpassen. Der Mann ist nicht gut für dich.«
»Ich weiß. Aber meinst du, dass das so einfach ist?«
»Das sicher nicht. Aber auf lange Sicht hin ist es sinnvoller, diesen Schritt zu tun«, gab sie zu bedenken.
Stefanie hob die Schultern.
»Sinnvoller vielleicht«, seufzte sie. »Sag das mal meinem Herzen.«
Sie verließ abwinkend den Raum, und Tina wandte sich der Post zu ...
♥♥♥
Tina hatte eben alle Briefe und E-Mails durchgesehen, als das Telefon läutete.
»Hallo, Liebling, ich bin's«, vernahm sie die wohlvertraute Stimme von Robin Hansmann. »Na, schon wieder im Einsatz für die Geschlagenen dieser Welt?«
»Sicher. Und du, schon wieder am Geldscheffeln in Papas Firma?«
Er lachte. »Du hast mich durchschaut. Hast du über Mittag Zeit? Ich würde dich gerne zum Essen einladen.«
Tina schaute ihre Termine durch.
»Gegen eins kann ich«, verriet sie. »Wohin gehen wir?«
»Geheimnis und Überraschung!«, rief er gut gelaunt, dann klickte es in der Leitung.
Tina legte auf. Seit einem halben Jahr war sie nun mit Robin verlobt. Obwohl sie diesen Heiratsritus etwas überholt fand, hatte sie doch nachgegeben, weil Robin so darauf gedrängt hatte.
Sie warf einen Blick auf den schmalen Diamantring, der an ihrem linken Ringfinger steckte und lächelte versonnen.
Tina hatte Robin an der Uni kennengelernt, fünf Jahre war das nun schon her. Am Anfang ihrer Bekanntschaft hatte sie ihm die kalte Schulter gezeigt, denn für sie war er das typische, verwöhnte Söhnchen aus gutem Hause gewesen. Und von dieser Sorte kannte sie schon zu viele. Aber Robin hatte es verstanden, sie davon zu überzeugen, dass er alles andere als ein verwöhnter Spross der Druckerei Hansmann war. Seine spontane, engagierte Art, sein gesunder Menschenverstand und seine unkomplizierte Sicht auf die Dinge hatten ihn ihr schnell sympathisch gemacht.
Die Unizeit war im Nachhinein die schönste, die sie zusammen verbracht hatten, da war Tina sicher. Ihre Beziehung hatte sich in der Zwischenzeit gefestigt und vertieft. Trotzdem schlich sich immer wieder ein leiser Zweifel in ihr Herz, wenn sie an ein zukünftiges gemeinsames Leben mit Robin dachte.
Das Studium war abgeschlossen, seit einem Jahr arbeitete der junge Mann nun als Juniorchef im Werk des Vaters. Allmählich hatte er seine spontane Art abgelegt, zugunsten des kühlen Abwägens. Oft waren sie nun in sozialen Dingen anderer Meinung, wo sie früher übereingestimmt hatten.
Tina hatte den Verdacht, dass Robin sich nach und nach ganz dem Vorbild seines Vaters anpasste. Und sie konnte nicht behaupten, dass ihr das gefiel.
Ihre Einstellungen und Ziele hatten sich im Gegensatz dazu nicht geändert. Sie glaubte noch an das, was sie sich einst vorgenommen hatte: nämlich daran, dass man die Welt im Kleinen verändern und verbessern konnte. Und dass diese Veränderung hauptsächlich durch die Hilfe für Benachteiligte stattfand.
Bisher hatte Tina die Differenzen zwischen ihnen abgetan, und auch jetzt dachte sie nicht länger darüber nach, sondern widmete sich der ersten Akte. Sie musste noch einmal das letzte Gesprächsprotokoll durchgehen, bevor der Patient in einer Stunde seinen Termin hatte.
Tina vertiefte sich in ihre Arbeit. In ihrem Herzen war noch der Nachklang des schönen Wochenendes, das sie und Robin beim Skilaufen verbracht hatten.
Die leisen Zweifel tief in ihrem Inneren überhörte sie geflissentlich ...
♥♥♥
Es wurde halb zwei, bis Tina sich aus der Praxis loseisen konnte.
Die Gesprächstherapie mit fünf heroinabhängigen Jugendlichen hatte sich länger als erwartet hingezogen. Robin saß schon eine halbe Stunde im Vorzimmer, als Tina ihre Patienten verabschiedete. Beim ersten Blick in sein Gesicht erkannte sie den Ausdruck von Unmut in seinen meerblauen Augen.
»Es tut mir leid, aber diese Dinge sind nicht immer so berechenbar«, sagte sie schnell und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
Stefanie befand sich schon in ihrer Mittagspause, weshalb das junge Paar nun allein in der Praxis war.
Robin erhob sich von seinem Platz und griff nach seinem Mantel. Er war ein sportlicher Typ mit lockigen, braunen Haaren und hellen Augen, die allerdings hinter den Gläsern einer Brille steckten.
»Ich habe kaum noch genügend Zeit für ein Essen«, meinte er missmutig. »Das ist wirklich ärgerlich.«
Tina hängte sich an seinen Arm und schaute ihn aufmunternd an.
»Jetzt motz nicht herum. Wir gehen zum Italiener um die Ecke. Da hat es uns bisher immer geschmeckt.«
Als Robin ihren Blick erwiderte, war der Unmut aus seinen Zügen schon fast ganz verschwunden.
»Ich wollte dir das tolle neue Restaurant am Ku'damm zeigen«, murrte er. »Jetzt ist die Überraschung hin.«
»Wir holen es nach«, versprach Tina. »Und jetzt komm, sonst ist die Mittagspause wirklich zu Ende. Mein Magen knurrt wie ein Wolf.«
Er lachte und zog seine Verlobte an sich.
»Du bist ein Schatz, Tina«, sagte er und gab ihr einen zarten Kuss.
Sie stimmte in sein Lachen ein.
♥♥♥
Wenig später saßen Robin und Tina sich an einem kleinen Tisch auf der Terrasse von Luigis Pizzeria gegenüber und teilten sich eingerahmt von zwei Wärmepilzen eine Pizza Funghi. Dazu aß jeder einen gemischten Salat.
Robin schien ganz in Gedanken versunken und war recht einsilbig. Tina beobachtete sein Verhalten eine Weile, schließlich fragte sie nach dem Grund.
»Ich habe um drei Uhr eine wichtige Verabredung, es geht um einen großen Exportauftrag«, verriet er. »Es tut mir leid, wenn ich unaufmerksam bin, aber diese Sache geht mir nicht aus dem Kopf.«
Sie lächelte fein. »Weißt du noch, an der Uni haben wir uns oft drei Pizzen gekauft und sie zu Hause verdrückt.«
Robin nickte. »Mit einer Flasche billigem Rotwein.«
»Mir hat er geschmeckt«, wandte Tina ein.
»Sicher. Damals hatte man noch keine richtigen Ansprüche. In der Beziehung hat sich das Leben schon geändert.«
Sie senkte den Blick und legte ihr Besteck beiseite.
»Nicht nur in der Beziehung.«
Der Ton, in dem sie die letzten Worte gesagt hatte, ließ ihn aufhorchen.
»Ist was, Tina? Hast du Sorgen?«
Sie schüttelte den Kopf und zündete sich eine Zigarette an.
Ein vernichtender Blick traf die junge Psychotherapeutin.
»Musst du unbedingt rauchen? Ich bitte dich schon seit Jahren, damit aufzuhören.«
Tina hob die Schultern und drückte die Kippe aus.
Als sie ihn wieder ansah, sagte er belehrend: »Das ist auch eine Sucht, Tina. Und nicht unbedingt nötig, oder?«
»Sicher nicht.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Musst du nicht los?«
»Ein bisschen Zeit habe ich noch. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass du dich über irgendetwas geärgert hast.«
»Du irrst dich«, behauptete Tina fest. »Ich wundere mich nur manchmal, wie sehr sich seit der Unizeit alles verändert hat.«
Robin lachte. »Schatz, du bist süß. Es ist doch selbstverständlich, dass die Dinge sich ändern. Wir sind keine Studenten mehr, wir haben unseren Platz in der Gesellschaft gefunden. Oder doch zumindest das, was wir dafür halten ...«
Sie betrachtete ihn fragend.
»Was willst du damit sagen?«
»Nichts Bestimmtes«, erklärte der Juniorchef ausweichend. »Aber du hast recht, ich muss los. Wir sehen uns heute Abend, ich hole dich um acht Uhr zum Essen ab, okay?«
Seine Verlobte nickte mechanisch. Nachdem er gegangen war, blieb sie noch eine Weile sitzen, rauchte in Ruhe eine Zigarette und dachte über seine Worte nach ...
Was hatte er wohl damit ausdrücken wollen?
Tina kam zu keinem Schluss.
♥♥♥
Am Nachmittag fuhr Tina mit ihrem Kleinwagen zu einigen Treffs von Jugendlichen in verschiedenen Stadtteilen Berlins. Der Winter hatte die Stadt völlig in seiner Gewalt.
Nachdem am Vormittag zeitweise die Sonne durch die Wolken gebrochen war, schneite es nun wieder unablässig. Die Straßen versanken in den weißen Massen, die Räumfahrzeuge kamen kaum nach, und Tina ärgerte sich, dass sie nicht die U-Bahn genommen hatte. Das hätte zwar einige Umwege bedeutet, doch die Staus waren auch nicht besser. Das strenge Winterwetter verschärfte die Verkehrssituation in der Stadt, die beinahe eine einzige große Baustelle mit hunderten von Umleitungen geworden war, noch mehr.
Entnervt und durchgefroren kam die junge Frau schließlich beim Café Hundert an. Das war ein Treffpunkt von Fixern aus dem Stadtteil Wedding. Die Jugendlichen, die auf die Droge gekommen waren, stammten zum größten Teil aus Arbeiterfamilien. Oft waren sie durch Scheidungen, Gewalt in der Familie oder die trostlose Situation bei Arbeitslosigkeit und Alkoholismus auf die Straße getrieben worden.
Niemand kümmerte sich mehr um sie. Sie verwahrlosten, gingen nicht mehr zur Schule und rutschten schnell in die Kriminalität ab.
Zwar gab es Sozialarbeiter, die sich dieser Kids annehmen sollten, doch sie waren völlig überlastet und oft auch überfordert. Es war schwierig, zu diesen Jugendlichen Zugang zu finden. Mit Erwachsenen hatten sie fast nur schlechte Erfahrungen gemacht.
Tina hatte es in mühevoller Kleinarbeit geschafft, dass ihre Anwesenheit in den Treffs akzeptiert wurde. Sie drängte sich nie auf, war einfach da. Bald hatte sich herumgesprochen, dass sie unkompliziert half und man ihr trauen konnte.
Als die junge Frau an diesem kalten Winternachmittag das Café Hundert betrat, herrschte reger Betrieb. Im Winter waren die Treffs zum Aufwärmen sehr gefragt.
Tina begrüßte einige Jugendliche, die sie kannte, und verzog sich dann in einen kleinen Raum hinter dem Café. Hier hatte der Wirt ihr einen Tisch und zwei Stühle hingestellt; hier konnten die Kids, die Probleme hatten, mit ihr reden.
An diesem Tag dauerte es nicht lange, bis der Vorhang, der den Raum vom Café trennte, aufgezogen wurde.
Das Mädchen, das ins Hinterzimmer kam, kannte Tina. Es hieß Leyla und war fünfzehn. Seit zwei Jahren hing sie an der Nadel. Zwei Entziehungskuren hatte sie bereits hinter sich, doch nichts hatte geholfen. Sie wurde immer wieder rückfällig. Leyla hatte eine alkoholkranke Mutter und war völlig auf sich gestellt. Hinzu kam die Beschaffungskriminalität bei ihr. Sie war schon einige Male beim Stehlen erwischt worden.
Leyla war ein schwieriger Fall für Tina. Aber sie mochte das Mädchen und wollte deshalb helfen.
»Hi«, grüßte Leyla und ließ sich auf dem zweiten Stuhl nieder.
Sie war in keinem guten Zustand, das sah Tina gleich.
Die Psychotherapeutin bot dem Mädchen eine Zigarette an und sah zu, wie Leyla gierig rauchte. Nach einer Weile hatte sie sich so weit in der Gewalt, dass sie sprechen konnte.
»Ich möchte das Methadonprogramm machen«, erklärte sie leise, ohne Tina anzusehen.
Der fiel ein Stein vom Herzen. Seit Wochen hatte sie versucht, Leyla dazu zu überreden. Aber Tina wusste auch, dass es Leyla erst wieder richtig schlecht gehen musste, bevor sie sich dazu entschließen würde.
»Willst du es wirklich?«, fragte die Therapeutin noch einmal eindringlich nach.
Der Teenager nickte heftig.
»Ich halte es nicht mehr aus. Ständig diese Angst, dass ich kein Geld für den nächsten Schuss habe. Ich will nicht anschaffen. Ich habe einfach Angst, dass ich nie mehr rauskomme aus diesem elenden Mist.«
»Das ist der erste Schritt heraus«, bestätigte Tina. »Ich werde mich sofort mit einem Arzt in Verbindung setzen, der das Programm anbietet. Ich denke, morgen kann ich dir schon Bescheid geben.«
Leyla nickte, aber sie stand noch nicht auf.
»Ist noch was?«, wollte Tina deshalb wissen.
»Morgen ... Wie soll ich über die Nacht kommen?«
Tina biss sich auf die Lippen.
Das war stets ein Punkt, den sie fürchtete. Sie konnte Leyla kein Geld für Heroin geben. Aber sie wusste auch, wie sehr das Mädchen in den kommenden Stunden leiden musste.
»Hier.« Sie griff in ihre Tasche und gab Leyla einige Schmerztabletten. »Aber nimm nicht zu viele. Es tut mir leid. Das ist alles, was ich im Moment tun kann.«
Das Mädchen stand auf und nickte. »Danke.«
»Du kannst morgen früh in meine Praxis kommen. Wenn du willst, fahren wir zusammen zum Arzt«, bot Tina noch an.
Leyla lächelte schwach. »Ich bin morgen Ihr erster Patient.« Dann ging sie.
Tina schaute ihr bedrückt nach.
In solchen Augenblicken erschien es ihr einfach lächerlich wenig, was sie für die Kinder tun konnte.