Feuerträne und Drachenperle - Marlies Lüer - E-Book

Feuerträne und Drachenperle E-Book

Marlies Lüer

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Beschreibung

„Du hast die Macht zu heilen und zu segnen, aber auch die Macht zu töten. Das ist die Wahrheit über dich. Du bist Teil einer sehr alten Prophezeiung. Aber hüte dich vor dem dunklen Weg der Macht. Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten.“

Ein Junge erwacht wie ein Neugeborenes unter einem uralten Baum, nackt und unwissend, erbärmlich frierend. Rettung findet er in der Hütte von Madox, dem Eremiten, der aufgrund einer Prophezeiung seit langem wartend im Wald verharrt.
Einst war dies ein blühendes Land. Nun liegt es begraben unter Eis und Schnee. Madox erwartet einen Krieger – doch was er bekommt, ist dieser schmächtige Knabe ohne Gedächtnis.

Hoch im Erlöserbaum, die Asche träumt ihren Feuertraum …

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Inhaltsverzeichnis

Feuerträne und Drachenperle

Impressum

-Kapitel 1- Im Land der Taikianer

-Kapitel 2- Die Macht des Fluches

-Kapitel 3- Auf der Donn‘aid

-Kapitel 4- Im Haus der Ältesten

-Kapitel 5- die Makelprüfung

-Kapitel 6- Wolfswald

-Kapitel 7- Der blinde Seher

-Kapitel 8- Nachricht aus Neusalzhausen

-Kapitel 9- In den Fängen der Horde

-Kapitel 10- Horizont

-Kapitel 11- Der Fürst von Hestqua

-Kapitel 12- Wahre Freiheit

-Kapitel 13- Epilog

Feuerträne und Drachenperle

Fantasyroman

Marlies Lüer

Impressum

© 2014 Erstauflage

Marlies Lüer

Fuhrberger Str. 95, 29225 Celle

Neuauflage in 2021

Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sind für Bild und Text untersagt.

Ähnlichkeiten von Romanfiguren mit realen Personen sind rein zufällig.

Cover: Isabell Schmitt-Egner

-Kapitel 1- Im Land der Taikianer

Das Letzte, was der Junge in seiner Not fühlte, war ein durchdringender Schmerz, begleitet von einem grellen Lichtblitz im Inneren seines Kopfes. Er schlug hart auf. Der Sandboden dämpfte den Aufprall ein wenig. Er hörte noch Hufgetrappel, dann umfing ihn die samtene Schwärze der tiefen Bewusstlosigkeit.

Als seine Wahrnehmung zögerlich wiedereinsetzte, erregte ein ihm unbekannter Blumenduft seine Aufmerksamkeit. Der Duft war intensiv, doch gleichzeitig unaufdringlich und verheißungsvoll. Eine silbrig weiße Eleganz lag darin. Fast meinte der Junge eine Heiterkeit im Duft zu spüren. Dieser Gedanke zog noch mehr Aufmerksamkeit nach sich. Er bemerkte einen Widerspruch. Kann ein Duft lebendig sein? Während er über dieses unerwartete Rätsel nachsann, kehrten ganz langsam, Schritt für Schritt, weitere Sinne zurück. Er roch nicht nur, er lauschte in die Stille, er fühlte einen äußerst unangenehmen Druck unter seinem Rücken, spürte eine beißende Kälte auf der Haut und schmeckte Blut auf seiner Zunge. Blut? Verängstigt riss der Junge seine Augen auf und keuchte vor Schreck.

„Was ist passiert? Wo bin ich?“

Mit einem Schlag war er hellwach und sah einen tief verschneiten Wald um sich herum. Eine Art Glühwürmchen tanzte vor seinem Gesicht. Ungeduldig schlug er es weg und versuchte aufzustehen, fiel aber gleich wieder hin und fühlte erneut diesen gemeinen Druck im Rücken. Unter ihm lag ein Stein. Er rollte sich stöhnend zur Seite und hatte sofort wieder das funkelnde Flatterding vor Augen. Als er seine Hand erhob, um das lästige Ding weg zu wedeln, hörte er zuerst ein Kichern und dann eine piepsige Stimme.

„Bist du dir sicher, dass du deine einzige Rettung aus dem Wald des ewigen Frostes verscheuchen willst?“

Vor Anstrengung ächzend kam er wankend hoch und stützte sich an einem Baum ab, dessen unglaubliche Größe er zunächst nicht wahrnahm. Der Junge blickte sich suchend um und zitterte vor Kälte. Wer sprach da zu ihm?

„Na ich, du kleiner Narr auf zwei Beinen. Du siehst mich doch vor deinen Augen flirren, kannst mich hören und sogar riechen. Erinnerst du dich?“

Ein erneuter Schwall des blumigen Duftes überwältigte seine Sinne und er erinnerte sich an seine erste Wahrnehmung, gleich nachdem er aus der samtschwarzen Stille und Geborgenheit aufgetaucht war, gleichsam herausgelockt worden war. Da war doch ein Rätsel gewesen? Sein Kopf tat ihm weh. Er wollte nicht über Rätsel nachsinnen, er wollte seine Ruhe haben. Außerdem war ihm übel. Und es war so entsetzlich kalt!

„Wie heißt du, Zweibeiner?“

„Ich heiße, ich heiße … ähm?“

„Ja? Ich warte! Würdest du bitte so höflich sein, und dich mir vorstellen?“

Der Junge runzelte angestrengt seine Stirn und blickte zu Boden, als hoffte er, sein Name würde dort geschrieben stehen. Doch leider sah er nichts außer einer Menge Schnee und seine Füße, die unglücklicherweise nicht in warmen Stiefeln steckten, sondern nackt und bloß waren! Schnee? Im Frühjahr? Er wurde noch blasser, als er es ohnehin schon war, und rief verzweifelt der goldgelb flirrenden Erscheinung zu:

„Ich weiß es nicht! Ich weiß nicht, wie ich heiße. Ich weiß gar nichts mehr!“, und wurde wieder ohnmächtig.

Im Wald des Ewigen Frostes stand eine windschiefe Hütte. Sie beherbergte den einzigen Bewohner, der der Kälte des unnatürlichen Winters, der über diesen Teil des Landes gekommen war, beharrlich trotzte. Einer hielt die Stellung. Einer wartete getreu und voller Hoffnung auf den Erlöser aus der Prophezeiung. Es war der Eremit. Seit langer Zeit lebte er in dieser kleinen Hütte, die einzige, die noch erhalten war vom Dorf des Waldvolkes. Alle anderen Behausungen in der näheren Umgebung waren aufgegeben worden, vom Frost und seinen zornigen Stürmen nach und nach zerstört. Allein das letzte der Irrlichter und die Heilerin Darorah und ihre Kinder hielten noch Kontakt zu ihm. Sie versorgten ihn mit Nahrung, Brennholz, Kleidung.

Das Irrlicht war es gewesen, das ihm den Jungen gebracht hatte. Den Jungen mit dem Zeichen des Erlösers! Der Alte konnte sein Glück nicht fassen, dass dieser nun tatsächlich bei ihm in der Hütte lag, dort auf seiner eigenen Lagerstatt, eingehüllt in Pelzdecken. Der Jüngling lag in einem beunruhigend tiefen Schlaf. Der Eremit hatte auf der Schulter des Jungen das rote Mal in Form einer Lilie vorgefunden, daneben schienen zwei kleine Flammen zu züngeln, aber er war sich nicht ganz sicher. Vielleicht war es mehr Wunschdenken? Die närrische Hoffnung eines Einzelgängers, der einer alten Prophezeiung mehr Bedeutung zumaß, als ihr möglicherweise gebührte? Denn er konnte sich nicht sicher sein, weil es keine bildlichen Aufzeichnungen gab, nur Worte, nur knappe Beschreibungen und einige prophetische Verse, deren tiefere Bedeutung sich ihm nicht erschlossen hatte. Außer dem Eremiten und der Heilerin glaubte ohnehin keiner mehr an die alte Prophezeiung der Erweckung. Das Volk der Taikianer hatte sich mit den Gegebenheiten abgefunden. Sie siedelten nicht länger im Zentrum des Waldes, ihrem angestammten Lebensraum. Diese schreckliche Eiszeit hatte sie an den Rand des Waldes getrieben und darüber hinaus. Hart und öde war fortan ihr Leben.

Während er auf den schlafenden, sichtlich erschöpften Jungen blickte, gingen ihm viele Gedanken durch den Kopf. So jung! Er hatte nicht erwartet, dass der Erlöser so jung und verletzlich sein würde. Wie konnte er dieses Kind auf die Suche schicken?

Zu früh, er war zu früh gekommen, vor seiner Reife. Oder doch nicht? Er hatte einen Helden erwartet, einen Krieger! Nachdenklich strich er mit seinen knorrigen Fingern über sein Kinn und zupfte an seinem Bart, weil es ihn beruhigte. Wenn Darorah ihn jetzt so zweifelnd sehen würde, käme ihr sicher wieder eine ihrer spöttischen Bemerkungen über die Lippen. Ob der Junge wirklich in der Lage war, den verschollenen Tempel des Taiki zu entdecken? Der Eremit vergegenwärtigte sich alle prophetischen Sprüche und suchte darin Stärke und Zuversicht. Er durfte keine Fehler machen, sobald er die Ereigniskette in Gang gesetzt hatte. Gedankenverloren behielt er den Schlafenden im Auge und flehte den Schöpfer Taiki innerlich um Beistand an.

Als der Junge erneut erwachte, fühlte er überrascht eine angenehme Wärme. Erleichtert öffnete er seine Augen. Ein Herdfeuer strahlte sie aus und erleuchtete auch den Raum, in dem er sich jetzt unerklärlicherweise befand. Die Lagerstatt war weich und sehr angenehm. Sie duftete nach Holz und Pelz. Jemand hatte ihn sorgfältig zugedeckt.

„Du fragst dich sicher, wo du bist und wie du herkamst?“

Die volltönende Stimme kam aus der Ecke gegenüber. Der Junge sah einen hageren, alten Mann mit langem, weißem Bart und geflochtenem Haupthaar. Sein Gesicht war voller Runzeln. Die eisblauen Augen wirkten trotz des offensichtlichen Alters eher jung und frisch. Er saß in einem grob gezimmerten Lehnstuhl und blickte ihn wohlwollend an.

„Ja“, antwortete der Junge zögerlich mit leiser Stimme und nickte vorsichtig, denn sein Kopf schmerzte immer noch. „Und ich frage mich noch viel mehr. Vor allem, wer ich bin? Ich habe das Gefühl, ich weiß gar nichts. Das macht mir Angst.“

„Das ist verständlich, mein Lieber. Ich werde dir jetzt erzählen, was ich über dich weiß und dir sagen, wo du bist und wer ich bin, aber ich fürchte, das wird dir nicht viel helfen. Also: Ich weiß, dass du wie ein Neugeborenes splitterfasernackt unter dem Erlöser-Baum gelegen hast, als Kimkimdraorkim dich fand. Als du wieder ohnmächtig wurdest, hat sie dich zu mir gebracht, sonst wärest du den Kältetod gestorben. Zum Glück hast du keine Erfrierungen erlitten. Du kannst noch nicht lange im Wald des Ewigen Frostes gelegen haben.“

„Kimkim-okkim? Wer soll das sein? Da war niemand, kein Mensch außer mir. Ich weiß noch, dass ich verwirrt war und eine Stimme mich narrte, und es war so furchtbar kalt.“

„Kimkimdraorkim würde ich nicht als ‚Niemand‘ bezeichnen. Wie gut, dass ich sie vorhin ausgeschickt habe, einen Botengang zu erledigen. Sonst wäre sie jetzt vermutlich arg beleidigt. Die Gute ist recht empfindsam, musst du wissen, auch wenn sie etwas vorlaut ist. Ach ja, ich habe mich dir noch nicht vorgestellt. Entschuldige bitte meinen Mangel an Manieren, aber ich habe so selten Gäste. Mein Name ist Madox. Ich bin der Eremit und lebe und wache im Wald im Lande des Taiki. Ich bin also ein Taikianer.“

Der Mann, der eine große Würde ausstrahlte, verbeugte sich leicht vor seinem Gast, was seine zahlreichen kleinen Zöpfe in Bewegung versetzte. Dann erhob sich aus seinem Lehnstuhl, um zum Herdfeuer zu gehen. Er füllte etwas heißen, duftenden Tee in einen hölzernen Becher.

„Trink mein Junge, das wird dir guttun. Kräutertee mit Honig. Ist dir denn inzwischen warm geworden?“

Prüfend schaute der Eremit die Haut des Jungen an, sie war inzwischen wieder besser durchblutet. Madox schätzte sein Alter auf vierzehn, höchstens fünfzehn Jahre, war sich aber nicht ganz sicher. Er war blass und schien unterernährt zu sein. Dennoch waren Muskeln und Sehnen kräftig. Ein zäher kleiner Bursche, dachte Madox bei sich.

„Wir sollten gemeinsam überlegen, wie wir dich nennen werden. Oder wir warten, bis Darorah kommt. Sie ist die Heilerin des Volkes. Ich habe Kimkimdraorkim ausgesandt, sie zu holen. Schließlich brauchst du auch etwas zum Anziehen.“

Der Junge blickte an sich herunter, wurde puterrot und zog die Felldecke etwas höher.

„Na, na, du brauchst dich doch nicht vor einem alten Mann wie mir schämen. Ich würde dir mein zweites Gewand geben, aber ich bin viel größer als du, und du würdest nur über den Saum stolpern. Besser, wir warten auf die Heilerin. Sie hat Söhne und bringt dir Kleidung.“

„Wie bin ich nun wirklich hierhergekommen? Ich kann mich an nichts erinnern.“

„Wie ich schon sagte, Kimkimdraorkim hat dich gefunden und zu mir gebracht. Kannst du dich vielleicht an ein flirrendes Irrlicht erinnern? Naseweis, stark duftend, piepsige Stimme? Ah! An deinem ungläubigen Blick erkenne ich, dass du doch schon Kimkimdraorkim kennengelernt hast.“ Der Einsiedler bemühte sich, nicht allzu amüsiert dreinzuschauen. Die Kulleraugen, die der Junge machte, waren aber auch zu drollig.

„Ihr meint dieses Glühwürmchen? Ist das euer Ernst, Ehrwürdiger? Und dieses winzige Flatterlicht soll mich hergebracht haben? Wie denn?“

„Oh, unterschätze niemals die Kraft eines taikianischen Irrlichtes! In der Tat ist sie das stärkste Wesen im Wald des Ewigen Frostes. Alles, was sie in ihr Licht hüllt, kann sie fortbewegen. Nur eines kann sie nicht - den Frost enden lassen, dafür reicht auch ihre enorme Kraft nicht aus.“ Madox ließ seine Schultern hängen und sah plötzlich noch älter aus, so, als lastete ein schweres Gewicht auf seiner Seele.

Der Junge trank den Becher leer. „Kann ich bitte mehr haben?“

Der Alte straffte seine Schultern. „Natürlich mein Junge. Auf dem Feuer köchelt auch ein Abendessen für uns. Du bekommst so viel Tee wie du willst, und du wirst bald deinen Hunger stillen können.“ Er ging zur Feuerstelle und füllte erneut den Becher. Die Gelegenheit ergreifend, rührte der Eremit den Getreidebrei sorgfältig um und gab noch zwei Handvoll in Honig eingelegte Taglilienknospen hinzu, die in der Nähe der neuen Siedlung wuchsen. „Sag mal, Junge, diese Narbe auf deiner Schulter, seit wann hast du sie?“

Hätte sein Gast auf ihn geachtet, hätte er bemerkt, dass der alte Mann mit betont ausdruckslosem Gesicht auf die Antwort lauschte und dabei doch erwartungsvoll den Atem anhielt. Aber der Junge sah sich in der Hütte um, soweit das Licht aus dem Herdfeuer und der Laterne, die neben der Tür hing, die Umgebung erhellte und somit Einblick gewährte. Alles war sehr ordentlich und sauber, zweckmäßig und schlicht. Es gab außer der Feuerstelle zwei große Regale an der Wand gegenüber, mit den verschiedensten Utensilien und Bücher. Ein Tisch und vier Hocker standen in der Mitte des Raumes. Neben dem Bett stand eine große Deckeltruhe, die schöne Schnitzereien aufwies. Auf der anderen Seite des Bettes stand ein kleiner, etwas schief geratener Tisch mit einer dicken Kerze darauf. Beiläufig antwortete er: „Ach, das ist keine Narbe, das ist ein Muttermal. Ich habe es seit meiner Geburt.“

Madox stieß scharf die Luft aus und kniff die Augen zusammen. Großer Schöpfer, er ist es! Er ist es wahrhaftig!

Just in diesem Moment polterte es vor der Tür, und eine Frauenstimme schimpfte vor sich hin. Der Eremit wandte sich um, drückte dem Jungen den dampfenden Teebecher in die Hand und ging mit langen Schritten zur Tür, um sie zu öffnen. Ein Schwall bitterer Kälte drang in die Hütte.

„Darorah! Endlich bist du da. Was liegst du dort im Schnee? Steh auf, lass dir helfen. Kommt rein, alle beide!“

Er reichte ihr die Hand und zog die vor sich hin schimpfende Frau hoch.

„Issyrle! Steh nicht rum und halte Maulaffen feil. Hebe lieber die Sachen auf, die deine Mutter hat fallen lassen!“

Die kräftige Frau und das eher zierliche Mädchen klopften sich den Schnee von Jacken und Stiefeln und schlüpften erleichtert in die warme Hütte. Madox schloss flink die dicke Holztür, um so wenig Wärme wie möglich zu verlieren. Brennstoff war wertvoll und knapp.

Die Heilerin hatte lockige rote Haare, die wegen ihrer enormen Masse geflochten, zusammengebunden und zu einer kompliziert wirkenden Frisur hochgesteckt waren. Sie bewegte sich flink mit gezügelter Kraft. Ihr Körper war klein und gedrungen, doch sie wirkte größer, weil sie Selbstsicherheit ausstrahlte und eine feste Stimme hatte.

„Madox, mein alter Freund, es ist höchste Zeit, dass du endlich mal die Stufen reparierst. Oder willst du, dass ich mir eines Tages sämtliche Knochen breche?“

Darorah spielte gekonnt die Strenge. Aber ihre leuchtenden Augen verrieten, dass sie freudig erregt war. Die Frau und ihre rotblonde Tochter zogen sich die dicken Jacken, Mützen und Handschuhe aus und hingen sie neben dem Feuer zum Trocknen auf.

„Wo ist er, Madox, ich sehe ihn nirgends?“

Der Eremit deutete mit seinem arthritischen Finger auf seine Lagerstatt, wo die Pelzdecken sich häuften, doch der Junge war nicht zu sehen. Madox zupfte suchend an den Decken, bis verschüchterte grüne Augen zwischen den Pelzen hervorlugten.

„Darf ich dir unseren namenlosen Freund vorstellen, Darorah?“

„Ih had Öhne ahd!“

Irritiert fragte Madox: „Was hast du gesagt, Junge? Komm unter den Fellen hervor, wir verstehen dich nicht!“ Er zupfte wieder an den Decken, aber der Junge hielt sie energisch fest.

„Niiin, Öhne ahd!!!!“

„Ich verliere gleich die Geduld mit dir! Sprich laut und deutlich!“

Mit einem heftigen Ruck gewann der Alte das Fellziehen und legte ihn zur Hälfte frei. Wutentbrannt schnappte sich sein Gast das nächstbeste Fell, bedeckte mit hochrotem Kopf seinen nackten Oberkörper bis zum Hals und brüllte: „Ihr habt SÖHNE gesagt!“

Jetzt war es an Madox, rot zu werden. „Oh, Junge, entschuldige bitte, ich vergaß, dass ein Mädchen im Raum ist, tut mir wirklich leid. Und eine Frau. Entschuldige bitte meine Gedankenlosigkeit.“

Issyrle, die bisher zurückhaltend die Szene beobachtet hatte, kicherte nun ungeniert und sagte keck: „Du wirst auch nicht anders als meine elf Brüder aussehen.“

Darorah drehte sich zu ihr um und sagte energisch: „Issyrle, geh zum Kessel und rühre den Brei. Solange, bis ich dir erlaube, dich wieder umzudrehen, weil er dann angezogen ist!“

Sie verkniff sich mit einiger Mühe ein breites Grinsen. „Hier. Da hast du.“ Die Frau warf ein Bündel Kleidung aufs Bett und setzte sich dann an den Tisch, mit dem Rücken zum Jungen. Madox gesellte sich zu ihr. Er strich mit fahrigen Händen über die Tischplatte, schnippte nicht vorhandene Krümel vom Tisch und konnte seine Erregung kaum noch zügeln.

„Er ist es, Darorah“, flüsterte er. „Ich bin mir so sicher, dass er es ist, aber ich brauche deine Bestätigung. Er trägt das Mal der Lilie auf seiner linken Schulter!“

Alsbald kam der Junge warmgekleidet an den Tisch. Die geliehene Kleidung passte ihm gut, auch die warmen Stiefel. Darorah griff nach seinen Händen und zog ihn mit prüfendem Blick zu sich heran. „Lass dir in die Augen schauen. Wir sind hier, um dir zu helfen, deine Wahrheit zu finden. Vertraue uns bitte.“ Sie zog ihn auf den nächsten Hocker herunter und hielt den Augenkontakt. Ihre feinen Heilerinnensinne erbebten, als sie klar erkannte, dass der Junge nicht von dieser Welt war. Gleichwohl war er spürbar auch ein Teil dieser Welt, da war eine Resonanz. Sie fühlte eine große Ruhe über sich kommen, eine Gewissheit. Darorah ließ leise aufatmend seine Hände los, als ihre Tochter Issyrle Teller verteilte und den kleinen Kupferkessel mit dem dampfenden Getreidebrei auf den Tisch stellte.

„Jetzt lasst uns essen, und dann reden wir.“

Madox griff zum Schöpflöffel und häufte jedem eine wohlbemessene Portion gekochtes Getreide mit süßen Lilienknospen auf den Teller. Alle hatten Hunger, und so aßen sie zügig, bis der Kessel geleert war.

„Kochen kannst du, Madox, das muss man dir lassen.“ Darorah zollte ihm gerne Anerkennung, denn sie selbst war eine bemerkenswert unfähige Köchin und gab das unumwunden zu.

Der Junge schob gesättigt seinen leeren Teller von sich weg und wusste nicht, wo er hinschauen sollte. Diese Menschen waren gut zu ihm gewesen, aber er war dennoch völlig verunsichert. Was sollte er hier bloß? Warum war diese Leere in seinem Kopf?

Darorah schaute zu Madox rüber. „Er kann es wirklich sein, ich fühle seine Andersartigkeit. Ich muss nur noch das Zeichen auf seiner Haut sehen.

„Darf ich?“ Sie blickte den Jungen bittend an.

„Was denn?“

„Das Zeichen auf deiner Schulter sehen.“

Issyrle fing an, den Tisch abzuräumen und hielt sich mit einer Hand grinsend die Augen zu.

„Tochter, sei nicht albern und mache dich ja nicht über ihn lustig! Geh zum Zuber und reinige den Kessel und das Geschirr, verstanden?“

Das Mädchen zuckte mit den Schultern und schlurfte betont langsam und aufsässig zum Zuber hinüber, beladen mit klebrigen Tellern, Löffeln und dem geleerten Kessel.

„Was wollt ihr alle bloß von mir? Wieso ist mein Muttermal für euch ein Zeichen und so wichtig, dass ihr mir am liebsten das Hemd vom Leibe reißen wollt? Ich kann es euch ansehen, wie begierig ihr darauf seid.“

„Weil wir glauben, dass du der Erlöser bist!“, platzte Madox heraus und kassierte dafür einen strengen Blick von der Heilerin.

„Das hättest du auch feinfühliger machen können, mein Lieber, mein ach so weiser Eremit!“ Sie schüttelte konsterniert den Kopf.

„Dass ich wer bin? Der Erlöser? Was für ein Erlöser? Ich bin, ich bin doch nur … Ach, lasst mich in Ruhe, alle beide, mein Kopf tut wieder weh. Ich weiß nicht, wer ich bin.“ Seine Augen füllten sich mit heißen Tränen.

„Bitte, zeige mir das Mal. Wir werden dir alles erklären. Es ist immens wichtig. Es steht die Existenz des Landes auf dem Spiel und das Leben aller Taikianer, denn der unheilvolle Frost breitet sich immer weiter aus. Danach gebe ich dir eine Medizin gegen deine Kopfschmerzen. Ich bin Heilerin.“

„Na schön“, willigte der Junge genervt ein und entblößte seine Schulter.

Darorahs Herz klopfte wild. Da war es! Da war das Zeichen der Lilie in der Flamme.

Madox ergriff feierlich das Wort. „Ich bin der Hüter der Prophezeiung. Ich harre aus, inmitten von Eis und Schnee. Ich trotze dem Frost, der einst über den Wald kam. Es gibt seit Beginn des Frostes die Legende von ‚einem Helden voll der Macht, doch hilflos wie ein neugeborenes Kind, ein Zeichen auf seiner Schulter wir find‘. Madox schaute dem Jungen aufmerksam in seine grünen Augen. Dessen Blick war nicht stumpf, sondern verriet vielmehr ein erwachendes Interesse. „Du musst wissen, der Wald war nicht immer im ewigen Winter gefangen. Es gab eine grüne Zeit davor, und es war wunderschön. Jahr für Jahr dehnt sich der Frost nun aus, viel zu lange schon. Er begräbt das Land unter einer weißen Decke der Angst und der Verzweiflung. Der Lebensraum für die Taikianer wird immer kleiner. Das Volk hungert, es sehnt sich nach Wärme und noch mehr nach Hoffnung. Viele haben schon die Hoffnung ganz aufgegeben, wir aber nicht! Darorah, die Heilerin, und ich, der Eremit, wir stehen treu und fest im Glauben an einen Erlöser, der kommen wird. Und dann findet der Frost sein Ende.“

„Ihr habt jemanden vergessen.“ Issyrle unterbrach ihre Arbeit am Zuber. „Auch ich habe immer gewusst, dass er kommen würde. Ich habe im Traum gesehen, dass der verschollene Tempel gefunden wird.“

„Ein Tempel?“, fragte der Junge überrascht.

Darorah nickte. „Ja, aber bevor wir weiterreden, sollten wir dir einen Namen verleihen. Wie wäre es mit Kabbin? Oder Biluc? Talac? Kodosane?“

„Nein, sein Name sei Makoto!“, sagte Issyrle leise.

Madox, Darorah und auch der Junge wandten sich gleichzeitig zu Issyrle um, die den Spüllappen nun achtlos fortwarf und zum Tisch zurückkehrte.

„Makoto? Das bedeutet so viel wie Wahrhaftigkeit. Warum Makoto?“ Madox zog nachdenklich seine buschigen Augenbrauen zusammen und schaute interessiert das Mädchen an, das vor wenigen Minuten noch keck und aufsässig gewesen war, jetzt aber mit beachtlichem Ernst sprach.

„Ich hörte im Tempeltraum diesen Namen erklingen. Er ist ein gutes Omen für die Suche. Und wahrhaftig muss er sein, der Sucher, er muss reinen Herzens sein.“

„Was meinst du, Junge, sollen wir dich Makoto nennen?“, fragte Darorah.

„Makoto.“ Er spürte dem Klang des Namens nach. „Ja, es ist ein guter Name. Ich bin einverstanden. Ich werde Makoto sein, bis ich die Wahrheit über mich wiedererlangt habe. Eine Frage habe ich aber noch.“

„Ja, mein Jun …, nein, Makoto. Entschuldige bitte. Stelle deine Frage. Frage alles, was du willst! Viele Fragen müssen noch ihre Antwort finden, bevor die Rettung kommt“, ermunterte Madox sein Findelkind.

Makoto holte tief Luft: „Hat sie wirklich elf Brüder?“

Madox stöhnte leise auf und legte seine Handflächen auf die Stirn. Hatte der Junge denn gar nichts begriffen?

Die Äste der Laub- und Nadelbäume bogen sich unter der Schneelast. Viele hatten ihr nicht länger standhalten können und waren abgebrochen, stapelten sich übereinander. Sie erschwerten dem Wanderer den Weg. Seit Stunden schon stapfte Makoto im fahlen Licht des Wintertages durch den Schnee. Er ließ sich die Gespräche der letzten Tage immer wieder durch den Kopf gehen. Makoto hatte sich nur zögerlich durch Madox von seiner Mission überzeugen lassen und weigerte sich anfangs schlicht, die warme Hütte zu verlassen, was den Eremiten in helle Aufregung versetzt hatte. Aber dann sah er ein, dass er nur außerhalb der schützenden Wände einen Ausweg aus seiner misslichen Lage finden konnte.

Sein leiser keuchender Atem hinterließ weiße Wölkchen in der frostigen Luft. Jeder seiner Schritte verursachte ein stumpfes Knirschen in der Schneedecke. Außer diesen Geräuschen war nichts zu hören. Keine Menschen, keine Vögel oder andere Tiere weit und breit. Es war eine unheimliche Stille hier zuhause. Friedhofsstille. Stillstand. Unter Eis und Schnee begrabene Zukunft der Taikianer. Der Junge blieb kurz stehen um zu verschnaufen. Ein messerscharfer Eiszapfen, so lang wie sein Arm, sauste plötzlich herab und bohrte sich vor seinen Füßen in den Boden. Sein Herz klopfte wild ob dieser unerwarteten Gefahr. Ein plötzlich aufkommender Windstoß riss ihm fast die Pelzmütze vom Kopf, der vom vielen Denken innerlich glühte. Eigentlich müsste mir längst Rauch aus den Ohren kommen, dachte Makoto. Darorah und Madox haben gut reden! Erzählen mir was von Heldentaten und Abenteuern und der Rettung ihrer Welt. Nur weil ich dieses Muttermal auf der Schulter trage, bin ich noch lange kein Erlöser. Ich brauche doch selbst Hilfe! Sie glauben, dass, wenn ich diesen ominösen Tempel finde, den Issyrle im Traum gesehen hat – und wohlgemerkt nur sie, nur das kichernde Mädchen und niemand sonst hat ihn je gesehen - dass ich also die Macht des Winters brechen werde und der Wald wieder bewohnbar wird. Das ist doch absurd!

Makoto steigerte sich in seine Abwehrhaltung hinein und bekam wieder Kopfweh. Obwohl das wenige Licht, das durch die dichtstehenden Bäume drang, ein fahles Licht war, verursachte es ihm doch eine leichte Übelkeit. Er war, seit er diese Kopfschmerzen hatte, ungewöhnlich lichtempfindlich geworden. Wäre er doch nur in der warmen, schummerigen Hütte des Eremiten geblieben!

Er war bisher an zwei verlassenen, völlig in Kälte erstarrten Dörfern vorbeigekommen, die wie bizarre Skulpturen wirkten. Makoto fühlte sich ihnen seltsam nahe. Auch er war auf seine Art einsam und erstarrt, lebte ein bizarres Leben, das für ihn erst vor wenigen Tagen begonnen hatte. Seine Erinnerung reichte nicht weiter zurück. Da waren ein scharfer Schmerz, ein Lichtblitz, das Gefühl zu fallen und dann ein Duft. Das war der ‚Beginn‘ seines bewussten Lebens. Danach die Hütte des Ehrwürdigen. Gleichwohl fühlte Makoto, dass sein wahres Leben im Verborgenen lag, dass es existierte und zum Greifen nah war. Und er war fest entschlossen, Zugang zu finden.

Doch zuerst musste er wohl oder übel diesen Tempel finden. Darorah und Madox hatten ihm leider nicht sagen können, was er tun sollte, sobald er den Tempel gefunden hatte. Im Grunde, das hatte er schnell gemerkt, wussten beide nicht viel mehr als er selbst. Nur einige alberne Sprüche und Reime wie ‚Hoch im Erlöserbaum, die Asche träumt ihren Feuertraum‘ und dann noch etwas von einem Spiegel und einem Schöpfer und einem Duft, den er hören soll. Wie war das noch gleich gewesen? Ach ja: ‚Im Tempel der Spiegel, im Spiegel der Schöpfer, im Schöpfer die Wahrheit‘. Und noch seltsamer: ‚Heilung erfährt, wer den Duft erhört‘.

Seine Laune näherte sich einem weiteren Tiefpunkt. Er griff in seine Umhängetasche nach der kleinen Medizinflasche und nahm eine Dosis ein. Erstaunlich, was eine Heilerin alles so mit sich herumschleppte. Sie hatte doch nicht wissen können, dass er Kopfweh haben würde? Vielleicht waren es aber auch ihre eigenen Tropfen. Madox und sie waren der Überzeugung, dass er sich einfach nur auf den Weg machen müsse, alles Weitere würde sich von allein ergeben. Auf Zeichen solle er achten. Zeichen! Welcher Art die sein würden, konnten sie ihm auch nicht sagen. Was um alles in der Welt tat er hier eigentlich?

„Du tust das, was zu tun du gekommen bist“, zwitscherte ihm eine piepsige Stimme ins linke Ohr.

Makoto verlor vor Schreck das Gleichgewicht, rutschte mit den Armen rudernd auf einer vereisten Stelle aus und landete hart auf seinem Hintern. Da war schon wieder dieses grelle Flatterding!

„Aua! Bist du von allen guten Geistern verlassen, mich dermaßen zu erschrecken?“

Makoto rappelte sich wieder auf und schlug wütend nach dem Irrlicht. „Hau ab! Hau bloß ab, ich kann dich nicht gebrauchen.“

„Du und mich nicht brauchen? Mach dich nicht lächerlich. Wäre ich nicht gewesen, hätte der Frostwald inzwischen einen Schneemann mehr zu bieten. Aber nein, entschuldige! Ein Schneemännchen mehr“, kicherte vergnügt das freche Irrlicht.

„Na warte, wenn ich dich kriege!“ Makoto nahm seine Mütze ab und fuhr heftig damit durch die Luft, doch zu seinem Ärger traf er das Lichtwesen nicht. Dafür wurde ihm ordentlich warm. Kimkimdraorkim wich geschickt und flink aus und hatte sichtlich ihren Spaß. Sie funkelte und sprühte wie eine Wunderkerze. Schließlich ließ Makoto sich keuchend auf einer Baumwurzel nieder.

„Ich habe gewonnen!“, jubelte das Irrlicht.

„Meinetwegen. Du sag mal, stimmt das, was Madox über dich sagt? Dass du große Lasten in deinem Lichtschein tragen kannst?“

„Soll ich es dir zeigen? Pass mal auf!“

Kimkimdraorkim dehnte ihr Licht kegelförmig aus, bis es einen Felsen vollständig umschloss. Dann flog sie mit ihm mehrere Meter weit, umkreiste den Baum, auf dessen Wurzel Makoto sich von der kleinen Jagd erholte, und ließ den Fels schließlich unweit fallen, was zur Folge hatte, dass die Erschütterung Schnee von den Ästen rieseln ließ.

Makoto sprang auf und klopfte sich genervt die Kleidung ab.

„Wie ich schon sagte: Schneemännchen“, kicherte das Irrlicht. „Aber jetzt mal ernsthaft, Junge. Du brauchst mich. Ich folge dir schon eine ganze Zeitlang und habe, im krassen Gegensatz zu dir, sehr wohl bemerkt, dass du im Kreis läufst. Nicht mehr lange, und du kommst wieder bei der Hütte an.“

„Echt? Oh.“

„Nur ein Oh? Wie wäre es mit: Danke, dass du da bist?“

Makoto deutete spöttisch eine Verbeugung an und sagte geziert: „Danke vielmals. Dass du da bist. Und mir den letzten Nerv geraubt hast.“

„Nicht der Rede wert. Und nun folge mir, damit du mal vorankommst und heute noch aus dem Frostwald heraus.“

Ohne auf seine Reaktion zu warten, schlingerte das Irrlicht zwischen den Bäumen umher, und Makoto beeilte sich hinterherzukommen.

„Warte mal bitte! Ich kann mir deinen Namen nicht merken, irgendwas mit Kimdrokkim oder so, aber Madox warnte mich, du seiest sehr empfindlich. Darum möchte ich dich korrekt anreden können, zumal du jetzt wohl mein Wanderführer bist.“

Das Irrlicht hielt inne und sein leichtes Flackern verriet sein Entzücken über den veränderten Tonfall seines Schützlings. „Kim-kim-dra-or-kim. Aber du darfst Kim zu mir sagen.“

„Danke, Kim. Wie mein wahrer Name lautet, weiß ich nicht. Aber Issyrle hat mir den Namen Makoto verliehen. Sie sagen, ich wäre ein Held und der Erlöser des Frostwaldes. Aber mal ehrlich, sieht so ein Held aus? Läuft im Kreis und lässt sich von einem Glühwürmchen erschrecken?“

Makoto war niedergeschlagen und mutlos, darum sah Kimkimdraorkim großmütig über diese kleine Beleidigung hinweg. Als ob ein taikianisches Irrlicht jemals mit der Familie der Glühwürmchen verwandt gewesen wäre! Geradezu lächerlich, diese Vorstellung.

„Kim? Es ist ein furchtbares Gefühl, nicht zu wissen, wer man ist und woher man kommt.“

Voller Mitgefühl strömte das Irrlicht sanft seinen silbrig weißen Duft aus und hüllte den Jungen damit ein, weil ihm die Worte fehlten. Hätte es Hände gehabt, so hätte es jetzt zärtlich seine Wange gestreichelt und seinen Kopf leicht angehoben. Hätte es Augen gehabt, so hätte es ihm in die seinen geschaut, von Seele zu Seele, Trost spendend.

„Ich weiß, dass dich das quält, kleiner Held. Eines kann ich dir versprechen, obwohl ich nicht weiß, woher ich das weiß. Aber wenn du erst den Tempel gefunden hast, dann wirst du wieder wissen, wer du bist und woher du kamst. Ich weiß es einfach, vertraue mir.“

Makoto nickte langsam und nachdenklich. „Dann sollten wir uns jetzt wirklich auf den Weg machen, meinst du nicht auch?“

Je weiter die ungleichen Gefährten vorankamen, umso weniger winterlich wurde der Wald. Gegen Abend sah Makoto das erste Grün, seit er im Land der Taikianer war. Für seine lichtgeplagten Augen war dies eine Wohltat. Seine Kopfschmerzen ließen langsam nach und er entspannte sich. Hier endlich hörte er erstmals Vögel zwitschern, und hin und wieder raschelte es im Unterholz, was auf kleine Tiere schließen ließ. Seine warme Oberbekleidung rollte er sorgfältig zusammen und verstaute sie in dem Beutel aus roter und grüner Wolle, den Darorah ihm gegeben hatte.

„Sag mal Kim, wie kommt es, dass ich dich hören kann? Wie sprichst du eigentlich?“

Das Irrlicht flog auf Makoto zu, funkelte vor seiner Nase herum und fragte: „Wer sagt, dass ich spreche? Es sind meine Gedanken, die ich zu deinen Gedanken schicke. Ich kann machen, dass du sie außerhalb deiner Selbst ‚hörst‘, so, als würde ich direkt in dein Ohr denk-sprechen. Im Grunde haben deine Ohren nichts damit zu tun, es findet alles in deinem Gehirn statt. Sprechen ist: Schallwellen im Außen bewegen. Ich aber kommuniziere mit deinem Inneren. Meine Gedanken sind nicht einmal Sprache im menschlichen Sinne, es sind Bewusstseinsquanten, kleine Informationspakete, wenn du so willst. Sie entfalten sich in deinem Geist, und dieser transformiert sie in menschliche Sprache. Und so hat es für dich den Anschein, als würde dieses kleine Irrlicht mit dir sprechen.“

„Faszinierend. Aber ich glaube, ich habe nicht mal die Hälfte davon verstanden, was du mir eben erklärt hast. Oder noch weniger. Aber ich kann dich seit kurzem in mir fühlen, Kim, also deine Gegenwart, deine Absichten. Zum Beispiel fühle ich jetzt, dass du gehen wirst und mich alleine zurücklässt.“ Makoto schaute das lebende Licht traurig und fragend an.

„Ja, das ist so. Aber ich komme wieder, ich verspreche es. Vorerst brauchst du mich nicht mehr, denn du hast den Frostbereich verlassen und bist nicht mehr in Gefahr, den Weg zu verlieren. Jetzt gehe wohin dein Herz dich trägt, mein Kleiner. Dass du begonnen hast, selbst die Verbindung zwischen uns herzustellen, ist ein gutes Zeichen. Und hat Madox dir nicht gesagt, du sollst auf Zeichen achten? Dies ist also nun das erste. Und es ist an der Zeit, dich an den wichtigsten Orakelspruch zu erinnern. Präge ihn dir gut ein: Hoch im Erlöserbaum, die Asche träumt ihren Feuertraum.“

„Was bedeutet das, Kim? Sag es mir bitte. Geh nicht weg, bleib bei mir!“

Doch das Irrlicht war längst auf und davon. Makoto nahm den prallen Beutel wieder auf und setzte seinen Weg allein fort. Woher wusste das Irrlicht eigentlich, was Madox zu ihm in der Hütte gesagt hatte? Er vermisste Kim jetzt schon. Wohin sollte er sich wenden? Überall sah der Wald gleich aus, nur Bäume, Bäume, Bäume! Sein Herz schwieg sich beharrlich aus. Als er es nicht länger aushielt, einfach nur herumzustehen, schloss er seine Augen, drehte sich im Kreis, bis ihm schwindelte, streckte seinen Arm aus und rief: „Dahin!“

„Hey, nimm deinen Finger aus meinem Auge, Makoto!“

Er zuckte erschrocken zusammen und sprang beidfüßig einen Schritt zurück.

„Issyrle! Wo kommst du denn auf einmal her? Ist das hier so Sitte, dass man immer wieder zu Tode erschreckt wird? Nehmt doch mal ein wenig Rücksicht auf meine Nerven.“

„Du bist wirklich süß, wenn du dich aufregst. Ich war da hinten bei den Shojabeerenbüschen, als ich dich und das Irrlicht sah. Du hättest mich kommen sehen können, wenn du nicht blinder Kreisel gespielt hättest. Eigentlich hättest du mich hören müssen.“

„Ich kann aber nicht so gut hören, schon lange nicht mehr.“

„Schonlange nicht mehr? Woher weißt du das? Kommt deine Erinnerung wieder zurück?“

„Keine Ahnung. Ich wusste das plötzlich wieder. Da war mir mal was geschehen, und seitdem höre ich relativ schlecht auf dem rechten Ohr. Seltsam. Aber hier ist sowieso alles etwas seltsam. Ich gewöhne mich allmählich daran.“

Issyrle führte Makoto zu der Stelle, an der sie ihren Korb mit den blauen Beeren zurückgelassen hatte. „Magst du welche? Sie sind sehr gesund, denn sie stärken deine Abwehrkräfte und sind wohltuend für Magen und Darm. Wirken gegen Durchfallerkrankungen und verbessern deine Sehleistung bei Nacht. Äußerlich wirken sie gegen Entzündungen und tragen zur Wundheilung bei“, dozierte das Mädchen.

„Man merkt, wessen Tochter du bist“, lachte Makoto. „Meinem Bauch geht es gut. Mein Kopf ist es, der manchmal weh tut. Sind dagegen auch diese Beeren gewachsen?“

„Nein, aber Mutter hat dir ja die Weidenrindentropfen gegeben. Helfen sie?“

„Ja, aber die Schmerzen kehren immer wieder zurück“, antwortete er schulterzuckend. „Weißt du, was ich nicht verstehen kann? Wie bin ich in den Frostwald hineingekommen? Wer hat mir meine Kleidung weggenommen? Und warum? Gibt es hier Räuber? Und zu wem gehöre ich? Wo ist mein Platz? Über all das denke ich ständig nach und finde keine Antworten. Mir platzt bald der Kopf. Vermisst mich denn keiner?“

Issyrle wusste keine Antworten darauf. Schweigend aßen sie eine Handvoll süßer Beeren und saßen einträchtig auf einem umgestürzten Baumstamm, der von Moos und Flechten überwuchert war.

„Weißt du, an wen du mich erinnerst? Früher, als ich noch ein ganz kleines Mädchen war, hatte ich einen heimlichen Spielkameraden, ein Waldkind. Der Junge gehörte zu keiner Dorffamilie, hatte keinen Namen. Er tauchte manchmal auf, blieb eine Zeit und verschwand dann wieder, manchmal sogar mitten im Spiel. Er verschwand vor meinen Augen. Kannst du dir das vorstellen? Ich habe niemandem davon erzählt. Er hatte grüne Augen und Haare wie du, so seidig und schwarz wie die Nacht.“ Issyrle strich Makoto sanft über den Kopf und ließ spielerisch seine schulterlangen Haare über ihre Hand fließen. „Aber sie waren kürzer, nicht so lang wie deine. Selbst der Klang deiner Stimme ist ähnlich. Ich habe ihn mindestens seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Irgendwann hatte ich ihn vergessen, hielt ihn für eine kindliche Einbildung, einen unsichtbaren Freund, du weißt schon. Einer meiner Brüder hatte auch so einen ‚Freund‘. Übrigens habe ich nur zwei Brüder, nicht elf.“ Issyrle lächelte keck. „Kleiner Scherz, weißt du? Ich wollte dich necken.“

Je länger das Mädchen über diese längst vergangenen Tage sprach, umso aufgewühlter wurde Makoto. Die Berührung ihrer Hand öffnete etwas in ihm. Er spürte, wie die Barriere, die seine Erinnerungen blockierte, langsam bröckelte, instabiler wurde. Issyrles Worte erweiterten seinen Bewusstseinsraum, schufen Platz für vage Inhalte, die zu ihm gehörten, zu seiner Identität. Er fühlte sich stark zu Issyrle hingezogen, so als wäre sie schon immer ein Teil seines Lebens gewesen. Seine Schultern entkrampften sich und er bekam Lust zu singen. Er hörte wie aus großer Ferne eine kleine Melodie und sang leise ohne Worte mit. Er gab seinen Gefühlen, die lebhaft nach Ausdruck verlangten, mit einer herrlichen, klaren Stimme Raum und Klang.

Issyrle lächelte und summte leise mit. Derart ermutigt, sang Makoto nun lauter und freiherziger. Die Schönheit seiner Stimme verzauberte geradezu den Wald und seine Bewohner. Ein Schwarm kleiner, buntgefiederter Vögel kam herbei und ließ sich bei ihnen vertrauensvoll nieder. Einige flogen um ihre Köpfe und Schultern herum und zwitscherten fröhlich mit. Makoto hielt ihnen lockend seine Handflächen hin und tatsächlich kam einer zu ihm. Sein Beinchen war verletzt, er lag mehr auf der Hand, als dass er stand. Dann geschah etwas sehr Seltsames und völlig Unerwartetes. Makotos Hände strahlten ein sanftes, goldenes Licht aus. Das Vögelchen wurde von diesem Licht vollständig erfasst. Nach kurzer Zeit stand es fest auf beiden Beinen.

„Was passiert hier? Makoto, was geschieht da? Du leuchtest, und der Vogel ist geheilt. Wie hast du das bloß gemacht?“ Issyrle sprang überrascht auf und trat einen Schritt vom Baumstamm zurück. „Wer bist du wirklich? Was bist du?“

„Ich weiß es nicht. Ehrlich, Issy.“ Bedauernd zuckte er mit seinen Schultern.

„Wie hast du mich eben genannt?“, fragte Issyrle atemlos. „So hat mich das Waldkind damals auch immer genannt! Bist du es, nur deutlich älter?“

Das Leuchten der Hände verstärkte sich, und der Vogel flog zwitschernd zu seinem Schwarm zurück. Makoto drehte seine Hände vor seinem Gesicht hin und her und war fasziniert. „Issyrle, es fühlt sich großartig an! Und so vertraut! Ich glaube, das war schon immer in mir. Und jetzt erinnere ich mich auch an diesen Wald hier. Ich kenne die Shojabüsche, und dich auch! Du bist mir jetzt so vertraut, als wärest du ein Teil meines Lebens, fast wie ein Teil von mir. Wir haben früher schon zusammen gesungen, nicht wahr? Ich war immer glücklich, wenn ich zum Spielen herkam, jetzt weiß ich es wieder! Aber – von wo bin ich hierhergekommen?“

Es raschelte unter den Büschen. Ein Feuersalamander kroch flink auf den Baumstamm zu, kletterte auf Makotos Bein, von dort rasch weiter auf seine Hand. Er vollführte einen kleinen Tanz und zog so die volle Aufmerksamkeit auf sich.

„Makoto, er ist giftig, schüttel ihn ab!“

„Nein. Ich glaube, das Licht meiner Hände schützt mich, ich spüre kein Brennen. Sieh nur, wie elegant er sich bewegen kann und wie seine Augen mich ansehen! Fast, als wolle er mir etwas sagen. Das ist hier wirklich eine seltsame Welt.“

Als wäre dies das Stichwort gewesen, stellte der Salamander seine wiegenden Bewegungen ein und fing tatsächlich an zu sprechen! Makoto hielt vor Schreck die Luft an und wäre fast vom Baumstumpf gepurzelt.

„Ich bin ein Bote des Tempels. Ich überbringe dir eine Feuerträne. Dein Gesang rührt mich zu Tränen, ich kann nicht anders, als dir dieses kostbare Geschenk meiner Feuerträne zu machen. Bewahre sie wohl und sicher! Und denke immer daran: Hoch im Erlöserbaum, die Asche träumt ihren Feuertraum!“

Der schwarzgelbe Salamander wechselte nun einem Chamäleon gleich seine Farbe in ein tiefes Rotgold. Winzige Flammen züngelten aus seinen Augen, und schließlich fiel eine Träne, einem tiefroten Edelstein gleich, aus seinem Augenwinkel in Makotos Handfläche hinab. Es war eine eigenartige, wunderliche Situation. Konnte das alles noch Realität sein? Makoto wusste nicht, was er davon halten sollte. Er stammelte Worte des Dankes und starrte schockiert und regungslos auf seine Hand, selbst dann noch, als der Salamander sich längst in die schwarzgelbe, landbewohnende, normale Amphibie zurückverwandelt hatte und wieder unter den Büschen verschwunden war.

Issyrle bestaunte die samenkorngroße Feuerträne, die in seiner Hand lag. „Sieh doch nur, in ihr lodern winzige Flämmchen! Ist die Träne heiß?“

Makoto verneinte. „Das hier muss Teil der Prophezeiung sein. Jetzt glaube ich wirklich, dass ich der Erlöser des Landes bin. Es kann nicht anders sein, meinst du nicht auch?“

Issyrle nickte heftig. „Du weißt, ich sah im Traum, dass der Tempel gefunden wird. Ich nehme jedenfalls an, dass das der Tempel war.“

„Du nimmst an?“

„Nun ja, niemand hat je zuvor den Tempel gesehen, alle haben immer nur davon geredet.“

Makoto stöhnte auf. „Ich jage also einem Phantom hinterher? Weißt du, ihr habt Glück, denn ich habe zufällig gerade nichts Besseres vor. Warum also nicht einen unsichtbaren Tempel suchen, mit nichts als Sprüchen und nunmehr einer Feuerträne im Gepäck. Großartig.“

„Sehr witzig, du Held und Erlöser. Aber ich muss jetzt wirklich nach Hause, meine Mutter wartet sicher längst ungeduldig auf mich und die Beeren. Werden wir uns wiedersehen? Ich möchte nicht noch einmal zehn Jahre warten, vor allem nicht, wo ich jetzt weiß, dass du real bist und keine Spielfantasie aus Kindertagen.“

Makoto legte seine Hand an des Mädchens Wange. „Ich vermisse dich jetzt schon. Aber je eher ich die Bürde, die Madox und das Volk der Taikianer mir auferlegt haben, ablege, indem ich den Tempel finde, umso eher kann ich zu dir zurückkehren. Darum gehe ich jetzt. Wünsch mir Glück, dass ich alle Geheimnisse, die mir noch begegnen mögen, entschlüsseln kann, damit der unheilvolle Frost endgültig euren Lebensraum wieder freigibt.“

„Lebe wohl, mein Freund aus alten Tagen. Ich wünsche dir alles Glück des Taikiwaldes.“ Issyrle wurde sehr traurig, drehte sich jäh um und lief, den Beerenkorb schulternd, nach Hause. Was Mutter wohl zu dem goldenen Licht sagen würde, das aus seinen Händen strömte und Heilung brachte?

Makoto nahm seine Wanderung mit neuer Kraft wieder auf. Er war erfüllt von dem Wunder des heilenden Lichtes und rief sich immer und immer wieder die einmaligen Bilder in Erinnerung. Wie der Vogel im Lichtschein heilte, wie der Salamander tanzte und sprach. Er vibrierte innerlich dabei, war wie elektrisiert. Das alles war von großer Bedeutung. Ja, er selbst war von großer Bedeutung! Makoto steigerte sich in eine Hochstimmung hinein. Er fühlte sich jetzt nicht mehr klein und unsicher, sondern fühlte sich mächtig, wichtig und zuversichtlich. Wo immer der Tempel auch sein mochte, er würde ihn finden, ohne Zweifel! Dann würden ihn alle Taikianer als Helden feiern und ehren, und Issyrle würde mit Bewunderung zu ihm aufschauen! Dass sie gut einen halben Kopf größer war, verdrängte er geflissentlich in seiner großspurig ausgestalteten Heldenvision.

Der Junge gab sich seinen angenehmen Tagträumen hin und kam gut voran. Alle Müdigkeit war fort. Doch je länger er unterwegs war, umso mehr beschlichen ihn dann doch wieder Zweifel. Wie groß war dieser Wald eigentlich? Allein die Strecke durch den Frostwald hatte, grob geschätzt, einen ganzen Tag in Anspruch genommen. Dann war er mit Issyrle zusammen gewesen, danach erhielt er wundersam die Feuerträne, die er in seiner Jackentasche aufbewahrte, und nun hatte er bei seiner jetzigen Wanderung allmählich das Zeitgefühl verloren. In der Tat konnte er kaum noch etwas sehen, es war dunkel geworden. Wo sollte er die Nacht verbringen? Er hatte nur eine Schlafrolle mitbekommen, kein Zelt. Keine Herberge weit und breit. Überhaupt hatte er noch keine bewohnte taikianische Siedlung gesehen. Wie hatte Madox sich das eigentlich vorgestellt? Er hatte noch nie unter freiem Himmel geschlafen! Möglicherweise gab es hier wilde Tiere, die selbst einem berufenen Erlöser gefährlich werden konnten?

Makoto stutzte. Nochnie unter freiem Himmel geschlafen - woher wusste er das? Wo hatte er überhaupt früher geschlafen und gewohnt, und bei wem? Angestrengt suchte er nach Erinnerungen, bis ihm der Kopf wieder wehtat. Er achtete nicht mehr auf seine Schritte, und so kam es, dass er in ein tiefes Loch fiel. Und fiel, und fiel …

Ohnmächtig vor Schreck lag der Junge auf dem Boden der Erdhöhle. Der Sturz war heftig gewesen. Die Ohnmacht wandelte sich alsbald in einen unruhigen Schlaf der Erschöpfung. Makoto träumte.

Er war auf der Flucht, jemand bedrohte ihn. Er lief so schnell er nur konnte, aber sein Verfolger blieb dicht hinter ihm. Gleich würde er ihn erwischen und verprügeln, wie schon oft zuvor. Nur so aus Spaß, aus reiner Freude an der Brutalität. Makoto hörte ihn schäbig lachen. Die Angst vor dem, was unausweichlich war, schmerzte in seinem Bauch. Sein Herz fing an zu flattern. Dann packte ihn eine grobe Männerhand an den Haaren, riss ihn zu Boden und wirbelte ihn herum, sodass Makoto in sein furchterregendes Gesicht blicken musste, aber es war leer, er hatte gar kein Gesicht …

Mit einem Laut des Entsetzens wurde Makoto wach. Sein Herz raste. Er wusste nicht, wo er war. Schon wieder! Ihm war ganz elend, der furchterregende Traum wirkte nach. Angestrengt lauschte er ins Dunkel, ob da noch jemand außer ihm sei. Tatsächlich. Da war ein Atmen. Ein langgezogenes, rhythmisches Atmen. Fast ein leises Grollen. Makoto quiekte vor Angst leise auf. All seine heldenhafte Zuversicht schrumpfte zusammen, bis sie so klein war wie eine Sommersprosse auf Issyrles Gesicht. Er wünschte sich, sie wäre jetzt hier bei ihm.

„Da bist du ja. Ich habe schon so lange auf dich gewartet.“

Makoto hielt die Luft an, um seine Position nicht zu verraten. Als er es nicht länger ohne Atem aushielt, bemühte er sich, ganz flach und leise zu atmen. Er rührte sich nicht, obwohl sein Körper an einigen Stellen schmerzte.

„Oh, ich vergaß“, brummte sanft die dunkle Stimme, die aus der gegenüberliegenden Ecke kam. „Du kannst nicht wie ich im Dunkeln sehen, du bist ja ein Mensch. Verzeih mir bitte.“ Langsam wurde die Umgebung heller. Makoto konnte nun Umrisse erkennen. Offenbar war er in einer unterirdischen Höhle. Das Licht aus unbestimmter Quelle wurde noch heller. Als er erkannte, wem er sich gegenübersah, drohte Makoto erneut in Ohnmacht zu fallen.

Ein Drache!

„Habe keine Angst. Was immer du glaubst, über Drachen zu wissen - auf mich trifft es nicht zu. Ich speie kein Feuer, ich fresse keine Menschen und erst recht keine zarten Jungfrauen, und ich verursache auch keine Erdbeben. Nein, nein. Ich bin der Drache der Weisheit!“

Es dauerte noch ein Weilchen, ehe Makoto seine Stimme wieder gebrauchen konnte, zu sehr war ihm der Schreck in die Knochen gefahren. „Wie bin ich hierhergekommen? Eben war ich noch im Wald, auf der Suche nach dem Tempel. Und dann habe ich geträumt von einem tiefen Fall und …“

Der Drache schüttelte verneinend sein altehrwürdiges Haupt. „Nein, der Fall war echt. Du bist in ein Loch getreten. Übrigens war das ein Glücksfall, auch wenn du dir dabei einige blaue Flecken geholt haben magst. Irgendwie musstest du ja zu mir kommen. Haha, ich mag das kleine Wortspiel. Du verstehst doch? Glücks-Fall! Du bist mir direkt vor Schnauze und Krallen gefallen. ‚Krallen gefallen‘ reimt sich auch. Verzeih bitte mein Amüsement, aber ich habe hier bisher nicht viel zu tun gehabt und erfreue mich daher schon an Kleinigkeiten. Mit der Zeit wird man sehr genügsam. Aber dein Traum, der war echter, als es dir lieb sein kann.“

„Was meint Ihr damit, Ehrwürdiger: Echter, als es mir lieb sein kann? Und wieso wisst Ihr, was ich geträumt habe?“ Makotos Angst wich nun einer gesunden Neugier. Er richtete sich auf und ließ seine Blicke schweifen. Staunend nahm er die enorme Größe der Höhle wahr. Und so schön war sie! Überall funkelten an der Decke und den Wänden Kristalle in verschiedenen Farben und Größen. Der Drache war auch nicht gerade klein. Ein imposantes Geschöpf, fürwahr. Nicht umsonst hatte er ihn spontan Ehrwürdiger genannt. In der Tat fühlte er sich nicht mehr bedroht, sondern eher beschützt. Der Drache mit den violett und smaragdgrün glänzenden Schuppen strahlte Ruhe aus. Er war Makoto freundlich zugewandt und begrüßte sein Erscheinen offenbar, sprach sogar von einem Glücksfall.

„Nun, Makoto. Ich habe dir einiges zu sagen.“

„Ihr wisst meinen Namen?“

„Natürlich, ich kenne dich durch und durch. Ich bin sogar einTeil von dir, aber das wirst du jetzt noch nicht verstehen können. Setz dich. Hier, komm näher zu mir. Du darfst auf meiner Schwanzspitze Platz nehmen. Offensichtlich mangelt es hier an Möbeln für Menschen.“

Der Drache bleckte seine dolchartigen Zähne, aber es schien ein Lächeln zu sein, denn seine goldenen Augen waren freundlich und offen. Makoto humpelte leicht, als er den ihm zugewiesenen Platz einnahm.

„Nun höre gut zu, mein Junge. Merke dir dieses: „Wahrheit, die verleugnet wird, großen Kummer in sich birgt.“ Welches ist deine Wahrheit? Es gibt derer zwei! Und es liegt an dir zu entscheiden, welche Wahrheit die wahre sein soll.“

Makoto runzelte die Stirn. Schon wieder ein Rätsel! Wahrheit, die die wahre sein soll … gab es denn auch unwahre Wahrheiten?

„Nein, sag jetzt nichts. Höre! Dein Traum hat dir nicht von ungefähr Angst und Schrecken bereitet, denn er ist kein Traum, sondern eine Erinnerung! Das Gesicht deines Verfolgers konntest du nicht sehen, weil du es nicht sehen wolltest. So sehr fürchtest du dich vor ihm. Und das zu Recht. Seine Misshandlungen haben bewirkt, dass du dein Gedächtnis verloren hast. Es ist von größter Wichtigkeit, dass du deine Erinnerungen vollständig zurückerlangst! Nur so kannst du im Tempel des Taiki zur Erleuchtung kommen und deine Wahrheit finden. Und wenn du sie gefunden hast, ist es noch nicht zu Ende. Dann musst du eine Entscheidung von großer Tragweite treffen. Für dich selbst, für die Taikianer und für die Welt, aus der du gekommen bist. Es wird schwer für dich werden. Aber damit du es ein wenig leichter hast, ist es mir erlaubt, dir die Perle der Weisheit zu überreichen.“

Der Drache hob langsam seinen Schwanz an, so behutsam, dass Makoto sich nicht einmal festhalten musste. Immer höher wurde er gehoben, bis er auf den Kopf des Drachen schauen konnte. Er trug eine Krone! Und in der Mitte der schlichten Krone war eine schimmernde Perle eingearbeitet.

„Nimm sie! Sie sei dein“, sprach der Drache und seine tiefe Stimme wurde von den Wänden als Echo wiedergegeben.

Makoto reckte sich hinüber und ergriff sie beherzt. Sie war sehr groß, etwa so wie ein Apfel. Schwer lag sie in seiner Hand. Ihre Oberfläche war opak, gleichwohl schien sie darunter zu irisieren und fühlte sich warm an.

„Ich habe sie!“

Langsam senkte sich der Drachenschwanz ab, bis der Junge vor dem Gesicht des Drachen schwebte. Makoto spiegelte sich in den tellergroßen, tiefschwarzen Augen.

„Denke immer daran: Wahrheit, die verleugnet wird, großen Kummer in sich birgt! Hüte die Perle gut, sie birgt einen Schatz für dich, der nicht nur aus Weisheit besteht. Und nun wird es Zeit, dass du weiterziehst.“

„Nein, bitte nicht, ich möchte Euch noch so viel fragen!“

Aber der Drache schleuderte Makoto mit großer Kraft nach oben. Er flog so schnell, dass er seine Umwelt nur noch verwischt wahrnehmen konnte und landete schließlich mit einem leisen ‚Plopp‘ im Wald, neben seinem Beutel, den er beim Sturz verloren hatte. Das Loch im Waldboden verschloss sich wie von Zauberhand. Makoto saß mucksmäuschenstill und starrte vor sich hin. Die Perle hielt er mit beiden Händen fest. Nach geraumer Zeit, seine Muskeln waren schon ganz verkrampft, sagte er leise: „Eins steht fest. Mein Gefühl sagt, das alles hier ist nicht real, auch wenn es sich real anfühlt.“ Er holte aus dem Bündel seine Schlafrolle heraus, verstaute die Perle und rollte sich dann in die Pelzdecke ein. Sofort fiel er in den tiefen, traumlosen Schlaf der Erschöpfung. Und während er schlief, kam ein Tier aus dem Unterholz zu ihm. Es kuschelte sich leise gurrend an seinen Rücken.

Madox, die Heilerin, ihre Tochter und auch Kimkimdraorkim waren in der Hütte des Eremiten zusammengekommen.

„Und? Wie ist euer Eindruck?“

Darorah nickte Issyrle zu. „Berichte du ihm“.

„Das Licht der Heilung konnte aktiviert werden. Er war begeistert von dem Gefühl, das es mit sich brachte. Kein Erschrecken, sondern vollständige Annahme und Freude. Der Bote des Tempels hat ihn nur wenig aus der Fassung gebracht.“

„Sehr gut. Issyrle, du hast deine Rolle gut gespielt. Wir danken dir.“

Das Irrlicht meldete sich nun zu Wort. „Der Junge hat das innere Gespür, er kann mich wahrnehmen. Zurzeit schläft er, die Überreichung der Perle der Weisheit hat ihm einiges abverlangt. Mellon ist jetzt bei ihm und wird ihn zum Tempel führen. Wenn ihr mich fragt, so wird die Inszenierung Früchte tragen.“

„Das hoffen wir alle. Es ist die letzte Chance, seine Erweckung herbeizuführen. Mir erschien er zu jung als er kam, aber das Zeitfenster schließt sich immer schneller.“

„Wir müssen Erfolg haben“, bekräftigte Darorah. „Er ist der Letzte in der Linie der großen Heiler. Er muss einfach zu seinem wahren Selbst erwachen, denn die Alternative wäre bitter.“

Kimkimdraorkim schwebte nun in die Mitte des Tisches und funkelte hell.

„Ich fühle jetzt in der Nähe des Erlösers eine unerwartete weitere Präsenz. Sie mag den Ausschlag geben. Ob zum Guten oder zum Schlechten, kann ich jetzt noch nicht sagen.“

Madox, Darorah und Issyrle waren verblüfft. Wer außer ihnen nahm noch Einfluss auf Makoto?

Als Makotos Schlaf nach Stunden immer flacher wurde, spürte er, wie sich etwas Flauschiges an ihn drückte. Mit geschlossenen Augen streichelte er über den Körper und zog es mit einem wohligen Seufzer in seine Arme. Es war wie früher, als er noch ein kleines Kind gewesen war. Er durfte immer einen Welpen mit auf den Strohsack nehmen, dessen Gegenwart ihn nachts wärmte und tröstete. Die Behaglichkeit wich in dem Maße, wie Makoto wacher wurde. Als ihm die Ereignisse des Vorabends wieder einfielen, öffnete er seine Augen und sein Atem beschleunigte sich. War das alles wirklich geschehen, oder verlor er den Verstand? Er fühlte sich geistig erschöpft und war in einer seltsam aufgewühlten und dennoch apathischen Gefühlslage. Der Junge setzte sich auf und betrachtete regungslos das Wesen, das ihn nun schwanzwedelnd begrüßte.

„Wer bist du denn, kleiner Freund? Dein Anblick zerstreut jeden meiner Zweifel. Das alles hier kann nicht real sein. Und, um alles in der Welt, was für ein putziges, ungewöhnliches Geschöpf du bist!“

Makoto musste breit lächeln und die Apathie wich ein wenig. „Du hast ungefähr das Gesicht eines Esels, die großen Füße einer Ente und den Körper eines kleinen, dickbäuchigen Drachens. Dein Schwanz wackelt wie der eines Hundes, selbst Stummelflügel hast du! Wie kannst du überhaupt existieren? Bist auch du ein Geschöpf des Taiki? So wie alles hier in dieser verrückten Scheinwelt? Ich weiß wohl, dass das alles kein Traum sein kann, dafür fühlt es sich dann doch zu real an. Hier ist nicht die wirkliche Welt, es ist kein Traum, doch vielleicht ein Fiebertraum? Oder wurde ich von Geistern entführt in ein Schattenreich? In eine Welt hinter der Welt? Kannst du mir sagen, wo ich wirklich bin?“

Das Geschöpf, das den Namen Mellon trug, hüpfte ihm vom Schoß und watschelte halb, halb flatterte es voran und bedeutete Makoto, ihm zu folgen.

„Was bleibt mir anderes übrig? Ich vertraue dir einfach die Führung an, da Kim mich verlassen hat.“

Er rollte den Schlafpelz zusammen, nahm seinen Beutel auf und trottete hinter dem Mischwesen her. Seine Kopfschmerzen kamen zurück, und er sehnte sich nach Trinkwasser. Wenn er doch wenigstens einige Shojabeeren finden könnte! Während der Wanderung versuchte Makoto seine wenigen Erinnerungen zu intensivieren. Issyrle kam ihm zuerst in den Sinn und wie sie früher gemeinsam gesungen und gespielt hatten. Hm, aber das bedeutete ja, dass er in seiner Vergangenheit in das Land der Taikianer gekommen und auch wieder gegangen war! Issyrle hatte eindeutig gesagt, er wäre vor ihren Augen verschwunden. Was allein für sich schon ein immenses Rätsel war. Menschen verschwinden nicht einfach. Sie fallen auch nicht nackt von Bäumen, und sie leuchten nicht und reden nicht mit Drachen. Mein Gott, mit Drachen! Das war alles so verwirrend. Makoto schrie gequält auf.

„Ich halte das nicht mehr aus! Ich halte das einfach nicht mehr aus! Kim, wo bist du? Ich brauche dich, komm zu mir!“

Bestürzt watschelte Mellon auf den Jungen zu, als dieser zusammensank und anfing, bitterlich zu weinen. Er stupste ihn tröstend mit seiner dicken Nase an und gab kleine, sanfte Laute von sich.

„Das hast du früher auch schon für mich gemacht“, schluchzte Makoto. „Nicht wahr? Du warst früher auch mein kleiner Freund, ich kann mich schwach erinnern. Ich glaube, dein Name ist Mellon.“

Mellon sprang vor Freude auf und ab und schleckte ihm die Hände mit seiner rauen Zunge.

„Au, mein Kopf, er tut so weh“, jammerte der Junge.

Makoto kam einfach nicht auf die Idee, sich selbst mit dem goldenen Licht zu behandeln.

„Weißt du was? Ich will hier weg, lass uns nach diesem Tempel suchen, vielleicht finde ich dort Hilfe.“

Er raffte sich auf, wischte den Rotz von seiner Nase und schlich hinter Mellon her, der nun wieder die Führung übernahm. Es dauerte lange, aber dann veränderte sich die Landschaft. Sie stießen auf eine Lichtung im Wald, die von weißen Lilien geradezu überwuchert war.

Dieses Blumenmeer hatte etwas Magisches. Sein Duft kroch geradezu unter die Haut. Wie in Trance ging der Junge, der nun für sich selbst nach Erlösung suchte, als wäre auch er ein Frostwald, durch das Feld und streifte mit den Fingerspitzen über die Blüten. Er streichelte sie, und dadurch brachten sie leise Töne hervor. Ihren Duft konnte Makoto auch hören, ja, tatsächlich. Er roch und hörte den Duft, es war ein heiterer Klang, ein heiterer Duft! Zärtlichkeit lag auch darin verborgen. Je mehr er lauschte, umso verlockender wurden die Lilien. Mit Macht kam seine allererste Erinnerung zurück: Ein intensiver Duft nach Blumen, doch gleichzeitig unaufdringlich und verheißungsvoll, mit einer silbrig weißen Eleganz sein Bewusstsein anlockend. Genauso war es jetzt auch. Und er erinnerte sich ebenfalls an die Weissagung: „Heilung erfährt, wer den Duft erhört“. Jetzt machte das Sinn!

Eine weiße Säule schimmernden Lichtes stieg nun aus der Mitte der Lilien auf. Sie waberte einige Sekunden lang und verdichtete sich schließlich zu einer weiblichen Gestalt. Eine Frau, auf dem Höhepunkt ihrer noch jugendlichen Kraft, stolz und schön, zierlich, mit seidigem, schwarzem Haar und grünen Augen erschien vor ihm. Sie lächelte ihn zärtlich an.

„Mein armer Liebling, er hat dir so weh getan. Aber seine Untat versetzt mich nun in die Lage, mit dir zu sprechen. Höre gut zu und glaube mir bitte. Jedes Wort kommt aus meinem tiefsten Herzen und meiner großen Liebe zu dir, mein Sohn“

„Mein Sohn? Du nennst mich deinen Sohn?“

„Ja, du bist mein Kind, mein Einziges. Man hat dich mir weggenommen. Ich starb, bevor du dein erstes Jahr vollendet hattest. Darum kennst du mich nicht. Du hast mich vergessen. Die Götter haben mir nur wenige Minuten gewährt, um mit dir zu sprechen, also höre gut zu! Es ist von größter Wichtigkeit, dass du überlebst und in die reale Welt Goro und ins Land Gorotanien zurückfindest. Ein großes Schicksal erwartet dich und will erfüllt werden! Mein Sohn, du musst wissen, dass dein echter Körper verletzt wurde. Du schwebst jetzt in diesem Moment zwischen Leben und Tod. Dein Geist hat sich in diese magische Welt geflüchtet. Sie ist deine eigene Schöpfung! Als kleines Kind schon, wenn dein Leben dir unerträglich wurde, hast du dich in Tagträumen hierher geflüchtet. Doch du schwebst nun hier und dort in größter Gefahr, denn dein Lebenswille erlahmt. Darum: Finde den Tempel, finde die ganze Wahrheit über dich heraus, triff deine Entscheidung, welche Wahrheit die wahre sein soll und gehe dann den Weg zurück. Bitte, gibt nicht auf! Du musst leben. Du bist der Letzte unserer Art. Du trägst mein Zeichen der Lilie und das deines Vaters, die Flamme, auf deiner Schulter. Nur sehr selten wird ein solch machtvolles Kind geboren, nur alle sieben Generationen ist dies möglich, und auch nur zur Zeit der großen Konjunktion am Sternenhimmel.“

Je länger sie sprach, umso blasser wurde die Erscheinung. Makoto ahnte, dass er seine Mutter gleich ein zweites Mal verlieren würde. Sein Schmerz war groß, seine Verzweiflung noch größer.

„Bitte, bleib doch!“

Doch der Lilienlichtgeist verblasste immer mehr und verschwand mit einem silberhellen Ton in das jenseitige herrliche Reich der Ewigkeit. Makoto streckte seine Hände aus und wollte sie festhalten, aber es war zu spät. Nur noch der Duft der Lilien war auf der Lichtung wahrzunehmen. Und dann, ganz unerwartet, verwelkten alle Blumen auf einmal. Als hätten sie alle gleichzeitig ihre Lebenskraft dem Jungen gespendet, so erstarkte nun seine Tatkraft. Jetzt war nur noch eines von Bedeutung: Ihren letzten Willen zu erfüllen. Mit großer Entschlossenheit griff er nach seinem Beutel, der die Perle der Weisheit barg, tastete auch nach der Feuerträne, um sich zu vergewissern, dass er sie noch in der Kleidung bei sich hatte und rief dann Mellon zu sich.