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Schifferstochter Rilka soll Königin werden! Dem Orakel widersetzt man sich nicht, und so knüpft der Kronprinz zarte Bande mit dem Mädchen. Seine Stiefmutter, die amtierende Königin, lässt keine Gelegenheit aus, ihrer künftigen Schwiegertochter das Leben schwer zu machen.
Doch ist sie wirklich so skrupellos oder sind dunkle Mächte aus einer anderen Welt am Werk?
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Inhaltsverzeichnis
Schneegeboren
Impressum
-1- Ob ich will oder nicht …
-2- Keine Fanfaren für mich
-3- Abendessen mit dem Prinzen
-4- Amandus und Aprikosenlikör
-5- Ich muss lernen, lernen, lernen
-6- Honigbernstein
-7- Das Blatt wendet sich
-8- Schmerz, aus Lust geboren
-9- Das Meer, so kalt …
-10- Warum nur?
-11- Ohnmacht
-12- Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit …
-13- Gespräche im Pavillon
-14- Todesurteile, und wie man sie umgeht …
-15- Von Heringen und Walen
-16- Von Schnee und Blut
-17- Im Tempel
-18- Hoher Besuch
-19- Nicht, wie ich es mir vorgestellt hatte …
-20- Schneekind
-21- Kind zweier Welten
-22- Auf der Wiese
-23- Auf der Flucht
-24- Die Steinschürfer
-25- „Fünfe folgen dem Kinde …“
-26- Aufstieg, Abstieg … wer vermag es zu sagen?
-27- Im Zentrum Fardalons
-28- Die Kammern der Heilung
-29- Das Fest unter dem schlafenden Baum
-30- Kalte, leere Worte
-31- Schnaps für die Königin
-32- Federn im Mondlicht
Epilog
Danksagung
Märchenroman
Von Marlies Lüer
Autor: Marlies Lüer
Cover: Eva Baumann Design
(Cover unter Verwendung eines Fotos der Burg Eltz mit freundlicher
Genehmigung)
Lektorat: Eva Baumann
Erstveröffentlichung ©2019
Marlies Lüer, Esslinger Str. 22, 70736 Fellbach
Kontaktmöglichkeit: [email protected]
„Sie kommen!“
Vor diesen Worten hatte ich mich gefürchtet. Ich hörte wie durch dicken Nebel Mutters Stimme und ihre leichtfüßigen Schritte. Sie eilte die Dachbodenleiter herab, dann die Stiege ins untere Geschoss, wo ich in der Wohnküche stand und am ganzen Leibe zitterte. Aufgewühlt kam sie mir entgegen und schloss mich in ihre starken Arme. Hätte ich eine Wahl gehabt, so wäre ich geblieben. In unserer Küche, die stets nach Kräutern und sauer eingelegten Heringen duftete und nach frischem Brot. Ich wäre geblieben in der mütterlichen Umarmung. Doch mir blieb keine Wahl. Niemand stellte sich gegen das Orakel, gegen die Traditionen des Reiches. Nicht einmal ein König. Und schon gar nicht, wie in diesem Fall, ein Prinz. Niemand zweifelte die Weisheit des Orakels an. Ich roch den Duft von Mutters Haaren, die sie stets mit Wiesenschaumkraut wusch und mit Kamillensud spülte. Ihr blonder Zopf reichte bis zu den Kniekehlen, wenn sie ihn nicht zu einer Art Schaukel hochband. Vereinzelte hellgraue Strähnen verrieten ihr Alter, aber nicht ihr Gesicht. Es war faltenfrei und wunderschön. Selbst die Tränen, die ihre Augen eilends verließen, als fürchteten sie, von der Hitze ihrer mütterlichen Liebe zu mir ausgetrocknet zu werden, konnten ihrer Schönheit nichts anhaben. Mutter sei makellos, hatte Vater immer gesagt, und er wüsste nicht, womit er sie verdient habe. Ich wünschte, er wäre hier. Doch er war von seiner letzten Seereise nicht mehr zurückgekehrt, der zu frühe Wintersturm hatte das Schiff mit Mann und Maus untergehen lassen.
„Sie sind da!“, sagte Mutter überflüssigerweise, denn das Klopfen an der Tür war nun wirklich nicht zu überhören.
„Warum ich?“, fragte ich ein letztes Mal. „Das Orakel muss sich geirrt haben“, fügte ich flüsternd hinzu. Ich war nur ein einfaches Mädchen, eine Schifferstochter, und doch sollte ich nun die Königin des Landes werden.
„Das Orakel irrt nie, Rilka. Es ist deine Bestimmung.“
„Was, wenn er mich nicht mag? Ich ihm nicht schön genug bin?“ Meine Hand fuhr über die wulstige Narbe, die sich über den linken Jochbogen zog.
„Er wird dich sicher noch viel mehr lieben als du dir vorstellen kannst. Du bist ein gutes Mädchen. Mach ihn glücklich und schenke ihm Söhne und Töchter. Ich werde jeden Tag für dich beten.“
Wieder hämmerten sie gegen die Tür.
„Im Namen des Königshauses! Mach auf, Witwe, und gib deine Tochter her! Die Kutsche steht für die künftige Königin bereit“, rief ein Mann. In seiner Stimme glaubte ich ein gewisses Maß an Nachsicht zu erkennen.
„Ich komme!“, rief ich durch die geschlossene Tür. Noch trennte sie mich von der neuen Welt, die mich erwartete, von dem neuen Leben, das mir aufgezwungen wurde.
„Ich wünschte, du würdest mitkommen, Mutter.“
„Du weißt, dass das nicht geht. Ich bin nur eine einfache Frau. Aber mach dir keine Sorgen. Der Prinz wird mir eine Leibrente zahlen. Er hat es versprochen.“
Mutter atmete tief ein, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und hob ihren Kopf an. Mit geradem Rücken öffnete sie die Tür und schaute dem Herold stolz in die Augen.
„Achtet gut auf sie, sie ist nicht nur Eure künftige Königin, sie ist auch meine einzige Tochter!“
Der Mann nickte ernst. „Sorge dich nicht, gutes Weib. Bei uns ist sie sicherer als in dieser windschiefen Hütte.“
Er streckte seinen Arm aus und deutete zur königlichen Kutsche. Der Verschlag stand offen, davor stand ein junges Mädchen in einem tiefblauen Kleid, scheinbar in meinem Alter. Sie schaute demütig zu Boden. Eine Zofe? Jetzt schon? Ich folgte Mutters Beispiel und trat mit erhobenem Haupt vor das Haus. Die Möwen kreischten in der Ferne, es klang, als würden sie mich auslachen: Rilka, das dumme Ding, wird Königin! Ich roch das Salz im Wind, der die Dünen sachte wandern ließ. Heimat! Ich verließ sie nun für immer.
Die Nachbarn hatten sich in sicherer Entfernung versammelt und glotzten mich an. Mich, die Eskorte, die Kutsche mit zwei rabenschwarzen Pferden, deren Fell schimmerte wie schwarze Muscheln in mondheller Nacht. Ja, das war ein echtes Schauspiel, das ich ihnen bot, ohne Zweifel! Ich lächelte Mutter an, doch mein Herz schmerzte unsagbar. Vielleicht würde ich sie niemals wiedersehen. In diesem Moment hasste ich das Orakel und die Götter. Hätten sie mich nicht eine halbe Stunde später in diese Welt werfen können? Oder eine viertel Stunde früher? Dann müsste ich jetzt nicht Abschied nehmen und mich der Willkür eines Fremden unterwerfen. Denn nicht mehr war er für mich, der Prinz: Ein Fremder. Unsere Geburtsmomente harmonierten in absoluter Perfektion, hieß es. Ich müsse mich fügen, sagten sie. Es sei eine große Ehre.
Mutter nickte mir zu und neigte den Kopf ein wenig in Richtung Kutsche. Es waren keine Worte des Abschieds mehr nötig. Wir hatten alles gesagt, unsere Herzen waren gefüllt mit der Liebe der anderen, mit ihrem Segen und ihren besten Wünschen.
Festen Schrittes ging ich zur Kutsche und stieg ein. Der Herold setzte sich neben den Kutscher. Er beugte sich zu Mutter herunter und warf ihr etwas zu. Sie war aber zu aufgeregt, um richtig zuzupacken und ließ den kleinen Beutel in den Sand fallen. Während sie sich danach bückte, blies der Herold ins Horn und der Kutscher brachte die Pferde zum Antraben. Die Zofe wollte das Fenster schließen, aber ich verwehrte es ihr und beugte mich hinaus, um Mutter zuzuwinken und unser in der Tat windschiefes Haus noch einmal zu sehen. Ich hatte dort die ersten siebzehn Jahre meines Lebens verbracht und kannte jeden Winkel, jedes Astloch und alle Mauselöcher. Schatten, unser alter Kater, hatte sich nicht blicken lassen zum Abschied. Wahrscheinlich er schlief auf dem Dachboden. Oder er hatte sich im Kellerloch verkrochen. Ich vermisste ihn jetzt schon fürchterlich, diesen meist schlecht gelaunten, schwarzen Fellsack auf vier Beinen. Als die Kutsche rumpelnd auf den breiten Trampelpfad auffuhr, der uns der Stadt und somit dem Schloss näherbringen würde, gab ich das Winken auf und lehnte mich ins Polster zurück. Die Zofe schob energisch das Glasfenster hoch. Sie sprach kein Wort zu mir. Ich brauchte lange, um zu begreifen, dass sie nicht mundfaul war, sondern die Hierarchie achtete. Etikette! Daran würde ich mich gewöhnen müssen. Es gab so viel zu lernen.
„Wie ist dein Name?“, fragte ich sie schließlich.
„Bihla, meine Herrin.“
Ich betrachtete neidisch ihr Kleid. Es war viel schöner als meins, dabei trug ich mein Festtagskleid. Verunsichert strich ich eine Falte glatt.
„Ihr habt gar kein Gepäck, meine Herrin?“
„Man sagte mir, ich würde alles, was ich brauche, im Schloss bekommen.“
„Sicherlich. Die Schneiderin und ihre Gehilfinnen warten schon auf Euch, meine Herrin. Ich dachte mehr an persönliche Dinge.“
„Ich habe keine“, antwortete ich und schlug für einen Moment die Augen nieder, weil ich mich meiner Armut schämte. Ich hatte ja nicht mal Schuhe. Die groben Winterstiefel zum Kleid tragen? Niemals!
„Sei so gut und tu mir einen Gefallen, ja?“
„Jeden, meine Herrin. Ich diene Euch.“
„Bis wir beim Schloss sind, hör auf mit ‚meine Herrin‘ und so. Noch bin ich es nicht. Erzähl mir lieber, was mich alles erwartet.“
Bihla schaute mich mit großen Augen an, machte den Mund auf, um etwas zu sagen, und schloss ihn wieder. Sichtlich überlegte sie, ob sie meiner Bitte Folge leisten sollte. Dann nickte sie.
„Gut. Ich verstehe das. Du möchtest noch eine Weile ganz du selbst sein, nicht wahr? Denn wenn wir erst mal durch das Tor gefahren sind, wird das ein Ende haben. Du wirst standesgemäße Kleidung bekommen, eine Erziehung und viele Diener. Seit das Orakel dich erwählt hat, sind alle im Schloss in heller Aufregung. Was sage ich? In Aufruhr! Die Tochter eines Schiffers! Das hat es noch nie gegeben, immer sind in den Kreisen der Adligen die Ehepartner gefunden worden.“
Ich grinste breit, weil ich an unser Fischerdorf denken musste. Genauer gesagt: An die dummen Gesichter, als sich die Neuigkeit herumsprach. Alle hielten es für einen Scherz. Mein Herz klopfte wieder schneller, als ich an mein Zuhause dachte. Prompt ließ ich die Schultern hängen. Würde ich mein Heimatdorf je wiedersehen dürfen? Ich vertraute Bihla meine Gedanken an. Doch sie winkte ab.
„Wenn du Königin bist, kannst du fast alles tun, was du willst. Vorausgesetzt, es schadet nicht dem Reich oder der königlichen Familie. Aber an deiner Stelle würde ich damit warten. Du darfst nicht den Eindruck erwecken, du würdest das Leben bei Hofe fliehen …“
„Wie sieht er aus?“, fragte ich gespannt.
Bihla lächelte mich an. Sie hatte sofort verstanden, von wem ich sprach. Wir waren zwei Mädchen, die über einen Jungen tuschelten, mehr nicht. Weder Herrin noch Dienerin. So verging die Zeit und plötzlich beschleunigte die Kutsche das Tempo. Wir fuhren jetzt auf einer breiten, befestigten Straße, und um ganz ehrlich zu sein: Ich hatte noch nie zuvor eine solche gesehen. Bald schon fuhren wir durch eine Stadt, durch noch eine und noch eine … sie wurden immer größer. Schließlich sah ich in der Ferne das Schloss auf einer Anhöhe. Es war riesig und schien teilweise aus dem Berg geradezu herausgehauen zu sein. Mir wurde flau im Magen. Sehr flau. Ich hatte heute Morgen nichts herunterbekommen. Bihla muss mir das angesehen haben, denn sie bot mir einen Becher Wein an. Jetzt erst fiel mir der Korb auf, der neben ihr auf der Bank stand. Ich griff dankbar zu und trank einen Schluck. Meine Augen weiteten sich.
„Gut?“, fragte Bihla lächelnd.
„Sehr gut! Ich kenne das, das ist Rotwein“, sagte ich selbstsicher. „Vater hat vor einigen Jahren eine Flasche vom Kapitän geschenkt bekommen, weil er seinem Sohn das Leben gerettet hat. Er brachte den Wein mit nach Hause und Mutter und ich durften auch einen Schluck trinken.“
Bihla lächelte milde ob meiner enormen Kenntnisse. Sie bot mir noch ein Gebäck an, das so fluffig und süß war, dass ich mich im Schlaraffenland wähnte. Meine Stimmung hob sich. Meine Ängste wurden verdrängt von einer vorsichtigen Freude auf mein neues Leben. Sicher gab es im Schloss noch mehr davon.
„Wie heißt du eigentlich, du meine künftige Herrin?“, fragte sie keck lächelnd.
„Rilka.“
„Oje.“
„Was soll das heißen, oje? Was stimmt nicht mit meinem Namen?“
„Der ist so gewöhnlich. Entschuldige bitte, wenn ich das so offen sage. Es gibt bei uns mindestens drei Küchenmädchen namens Rilka. Und die eine Hündin des Hirten heißt auch so. Ich schätze, sie werden dir einen neuen Namen verpassen.“
„Das werde ich nicht zulassen!“, trotzte ich.
Bihla lächelte nur milde.
Wir fuhren jetzt spürbar bergauf. Ich hörte, wie die Hufe der Pferde einen langsameren Rhythmus einnahmen.
„Sobald wir ausgestiegen sind, Rilka, werde ich dich wieder mit ‚meine Herrin‘ ansprechen müssen. Es darf zwischen uns keine Vertrautheit mehr geben.“
„Aber du bleibst doch in meiner Nähe?“
„Ja, sicher. Ich bin doch deine Leibzofe, die ‚Erste Zofe‘.“
„Was heißt das?“
„Es ist meine Aufgabe, dich zu waschen, an- und auszukleiden, dich ins Bett zu bringen, für deine Mahlzeiten zu sorgen und dafür, dass du es immer hübsch warm hast und …“
Ich unterbrach ihren Redeschwall mit einer energischen Handbewegung.
„Du wirst mich auf gar keinen Fall waschen! Ich bin keine lahme Großmutter und auch kein Kleinkind.“
Bihla lächelte erneut milde.
Gewaschen werden! Wie peinlich.
Dann rollten wir unter Fanfarenklängen durchs Tor. Die Eskorte hatte sicher und erfolgreich die neue Königin ins Schloss gebracht. Hastig aß ich das Gebäck auf und wischte mir die Krümel vom Kleid.
Die Kutsche wurde langsamer und ich machte mich bereit auszusteigen. Der Schlossvorhof war riesig, hier hätte mein halbes Heimatdorf Platz gehabt! Alles war so sauber und wohlgeordnet. Mein Herz schlug heftig; Freude und leise Panik mischten sich in mir zu einem Kribbeln im Bauch. Plötzlich lief ein Bediensteter auf uns zu, rief dem Kutscher etwas zu, was ich durch die geschlossene Tür nicht verstehen konnte. Es ruckelte und die Pferde trabten wieder an, unter weiteren Fanfarenklängen. Bihla schaute mich auf seltsame Art an, so als würde sie sich für etwas entschuldigen wollen. Wenig später bog die Kutsche um die Ecke und fuhr, wieder langsamer werdend, am linken Schlossflügel entlang und hielt letztlich an. Bihla atmete tief durch und öffnete den Verschlag. Ein Diener eilte uns entgegen und klappte die drei Stufen aus, so dass wir bequem der Kutsche entsteigen konnten.
„Fanfarenklänge für mich! Das war aufregend“, plapperte ich drauflos.
„Die galten nicht Euch, Herrin“, antwortete sie und sah kurz zu Boden, bevor sie fortfuhr, mich auf den Boden der Tatsachen zu bringen. „Direkt hinter uns ist die Kutsche der Königinmutter eingefahren. Ihr stehen neun Fanfaren zu, einem König im Amt zwölf, dem Prinzen zehn, einer Königsgemahlin acht.“
Ich begriff, mir standen – noch? – keine Fanfaren zu.
„Ich will sie sehen!“, rief ich und rannte los bis zur Ecke und etwas weiter noch. Atemlos blieb ich stehen und traute meinen Augen nicht. Diese Kutsche hatte eine goldene Pracht, für die mir die Worte fehlten. Ich stand nur da, staunte mit offenem Munde. Sage und schreibe acht geschmückte Schimmel hatten das Gefährt gezogen! Ich warf einen Blick zurück auf meine Kutsche mit zwei schönen, aber schmucklosen Pferden und wäre gern im Boden versunken. Was ich für wertvoll und überwältigend schön gehalten hatte, sah plötzlich ziemlich schlicht und gewöhnlich aus. Auch meine Eskorte hatte sich inzwischen verkrümelt, ebenso die Kutsche ruckelte davon. Der Korb mit Wein und Kuchen stand verloren auf dem Weg. Bihla, die mir hinterhergelaufen war, legte mitfühlend ihre Hand auf meine Schulter.
„Kommt mit mir, Herrin. Ich denke, ich sollte Euch etwas erklären. Aber zuerst bringe ich Euch auf Euer Zimmer.“
Sie führte mich durch den Dienstboteneingang ins Schloss; den Korb nahm sie mit und drückte ihn bei der nächstbesten Gelegenheit einem Küchenmädchen in die Hand. Sie war noch ein Kind, vielleicht zehn Sommer alt. Bihla trug ihr auf, eine Platte mit kaltem, gebratenem Huhn und Obst auf mein Zimmer zu bringen, dazu verdünnten Weißwein und Kuchen. Das Mädchen starrte mich ungeniert an, womit sie sich eine Kopfnuss von Bihla einhandelte. Ich hörte noch, wie sie im Weggehen murmelte „nackte Füße“ … und mir wurde schlagartig bewusst, dass ich wie eine Bettlerin wirkte und nicht mit den mir zustehenden Ehren empfangen wurde. Andererseits … was wusste ich schon über Königshäuser? Noch gab es keine Ehe, also auch keine Ehre, noch gehörte ich nicht dazu. Aber eins wusste ich ganz genau: In jeder Fischerhütte, in jeder Bauernkate, wurde eine Braut mit Respekt und Freundlichkeit empfangen. Wenn Mutter das wüsste … Meine gute Laune verflog.
Ich folgte Bihla schweigend und vermied es, überall hinzuschauen wie ein Dorftrampel. Der Reichtum allein des Dienstbotentraktes lastete schwer auf mir. Ich hatte ja keine Ahnung gehabt, wie man auch anders leben konnte! Wie mochte erst der Bereich aussehen, der die königliche Familie beherbergte? Meine Füße waren inzwischen richtig kalt, obwohl schon Mai war. Dieser Steinboden strahlte eine Eiseskälte aus wie der Winterbringer höchstpersönlich. Nicht, dass ich noch an Märchen glaubte, aber der Vergleich passte perfekt. Missmutig stieg ich eine Treppe hoch, dann noch eine … und noch eine.
Bihla öffnete die dritte Tür im Gang und bedeutete mir einzutreten. Direkt gegenüber der Tür war eines von vier großen Fenstern im Gang, die einen Ausblick auf einen weitläufigen Garten boten. Am Ende des Ganges stand ein junger Mann. Er hatte blonde Locken und sah gut aus. Ich hätte nicht sagen können, ob er wie aus dem Nichts erschienen war, oder ob ich ihn einfach nur übersehen hatte. Er starrte mich an, wie vorhin die kleine Magd es getan hatte, nur mit dem Unterschied, dass er nicht mit offenem Maul glotzte, sondern eine Augenbraue spöttisch hochzog und mir ein schiefes Grinsen zeigte. Verärgert zog ich meine Nase kraus und parierte mit einer Fratze. Was fiel dem Kerl ein!?
„Herrin, lasst das, um Himmels willen!“, zischelte Bihla und zog mich ins Zimmer, schlug die Tür zu.
Endlich stand ich auf Teppichboden! Ich hatte schon davon gehört, dass es so etwas gibt. Genussvoll grub ich meine Zehen in den Flor. Zuhause hatten wir nur geflochtene Schilfmatten auf gestampftem Boden, um uns vor Kälte zu schützen.
„Warum, wenn der mir doch blöd kommt?“
Dann dämmerte es mir, weil sie mich so streng ansah.
„Oh nein. Ist er etwa der Prinz?“
„Sei nicht so du…“, begann sie und fuhr dann, leicht errötet, fort mit den Worten: „du selbst. Das muss aufhören. Nein, das war nicht dein künftiger Gatte, sondern der Waffenmeister. Der jüngste, den das Reich je hatte. Er ist ein begnadeter Schwertkämpfer und Bogenschütze, keiner vermag ihn zu besiegen. Nicht einmal der Prinz. Der übrigens mit ihm eng befreundet ist, sie wurden als Knaben zusammen unterrichtet und aufgezogen. Bis zu einem gewissen Punkt natürlich.“
Ich konnte mich nicht des Eindrucks erwehren, dass sie eigentlich hatte sagen wollen: Sei nicht so dumm. Wenigstens hatte sie mich nicht Herrin genannt, sobald wir allein waren.
***
Geraume Zeit später war ich frisch gebadet und so sauber wie noch nie. Auch meine Fingernägel waren weiß! Ich hatte zarte Strümpfe und Schuhe an meinen Füßen, trug ein Unterkleid aus weißem Linnen und darüber ein geliehenes, zartgrünes Kleid aus einem Stoff, den Bihla Seide nannte. Die Schneiderinnen waren gekommen und hatten Maß genommen. Zwei Haarpflegerinnen kümmerten sich um meine leicht verfilzte Haarpracht. Mit unendlicher Geduld und Vorsicht bürsteten sie mein schwarzes Haar, bis es glänzte. Ich hatte es von meinem Vater geerbt. Früher, als ich noch ein kleines Mädchen war, hatte er manchmal meinen Zopf zwischen seine Finger genommen und zufrieden gesagt: Schwarz wie Ebenholz. Aber ich kannte nur Treibholz und die braunen Holzscheite, die wir zu Beginn des Winters am Stadtrand für teuer Geld kauften. Ich hätte ihn fragen sollen, wo die schwarzen Eben-Bäume wuchsen, denn ich hätte gern diese Bäume gesehen, die mussten wohl etwas Besonderes sein. Doch dann war es zu spät, Vater nahm sein Wissen mit ins Meer, das ich seit der Nachricht vom Untergang der ‚Abalonia‘ scheute. Ich war nie mehr an den Strand gegangen und mied auch den Hafen.
Dieser ganze Trubel um meine Person heute hatte mich hungrig gemacht. Wenn ich nervös war, aß ich. Und ich hatte nicht vor, das zu ändern, nur weil ich Königin werden sollte. Ungeniert hielt ich die Platte mit kaltem Fleisch und Obst auf meinem Schoß, die das Küchenmädchen inzwischen gebracht hatte, und verschlang nach und nach ein ganzes, gebratenes Hühnchen. Ich hatte – meine Mutter hatte mich schließlich gut erzogen – auch den Schneiderinnen, Haarkämmerinnen und Bihla etwas angeboten, aber sie hatten peinlich berührt abgelehnt. Unbegreiflich. Es konnte wohl kaum etwas Besseres geben als dieses Essen! Bihla legte mir ein großes Tuch über den Rock, für den Fall, dass ich kleckerte. Oder etwa, dass ich Trampel mir die fettigen Finger am Kleid abwischen würde? Ich hoffte für sie, dass das nicht der Grund für ihre Fürsorge war, sonst hätte ich sie weniger mögen müssen. So unmöglich war ich nun auch nicht, dass ich ein Kleid ruinieren würde! Schon gar nicht so ein traumhaftes.
Letztlich waren wir gleichzeitig fertig. Ich mit dem Essen, die Frauen mit meiner Frisur. Die ältere der beiden sagte mit Bedauern, dass sie mir leider keinen Spiegel würden reichen können, aber ich sähe wunderschön aus. Das Kleid war in der Tat unfassbar schön, wie junges Gras im Frühling. Und meine Haare waren zu einem komplizierten Ährenzopf geflochten, in dem zwölf Perlen schimmerten. „Haare schwarz wie Ebenholz, Perlen weiß wie Schnee, Lippen rot wie Mohnblumen – unser Herr kann sich glücklich schätzen“, meinte die Frau. Ich wusste aber, dass die hässliche Narbe unter meinem Auge den Anblick verdarb.
„Die Mutter des Prinzen erwartet Euch nun, meine Herrin.“
Seit wir nicht mehr allein im Raum waren, hatte Bihla mich stets mit ‚Herrin‘ angesprochen. Die Frauen zogen sich zurück, und an ihre Stelle traten zwei Lakaien in schicken Uniformen, die uns zum Gemach der Adelsfrau führten. Und ich hatte recht gehabt mit meiner Vermutung: Der Wohnbereich der königlichen Familie war überwältigend schön. Überall Teppiche auf dem Boden, sogar auf den Gängen und an den Wänden. Lebensgroße Statuen, riesige Vasen, Dinge, die ich nicht benennen konnte, und Gemälde. Deren Darstellungen waren so lebensecht, dass ich fast erwartete, die abgebildeten Menschen könnten sich im nächsten Moment bewegen und mir zuwinken. Die Türen waren kunstvoll geschnitzt, sowohl der Rahmen als auch das Türblatt, die Fenster hatten sogar buntes Glas. Ich konnte nicht anders, als mit meinen Fingerkuppen darüberzustreichen. Das Licht der Nachmittagssonne fiel farbig auf meine Hand. Wie schade, dass ich das Licht nicht einfach greifen und mitnehmen konnte. Als hätte das Licht die Enge in meinem Kopf geweitet, wurde mir mit einem Mal klar, dass all dies eines Tages auch mir gehören würde. Ich war reich! In diesem Moment schwor ich mir, dass meine Mutter und sogar das ganze Dorf nie wieder hungern oder frieren müsste. Denn ich würde Königin sein! Ich konnte ihnen helfen, für sie sorgen. Dieser Gedanke erfüllte mich mit tiefer Freude und Zuversicht. Nun war ich dem Orakel dankbar, dass es mich aus meinem gewohnten Leben gerissen hatte.
Königin Rilka … so langsam fühlte es sich wahr an.
Einer der Lakaien klopfte an die Tür, die auch sogleich von innen geöffnet wurde. Noch mehr Lakaien! Aber diese in roter Kleidung. Wie viele Menschen wohl im ganzen Schloss arbeiteten? Wir betraten den Raum, aber es war nur ein Vorzimmer zum Gemach der Königinmutter. Meine Lakaien übergaben mich ihren Lakaien. Herrje. Ob der Prinz auch im Vorzimmer warten musste, wenn er seine Mutter sprechen wollte? Meine war immer für mich da gewesen, da hatte ich nicht erst groß bitten müssen.
„Herrin, denkt an das, was ich Euch gesagt habe. Sprecht nur, wenn Ihr aufgefordert werdet zu sprechen, macht einen tiefen Knicks und schaut zu Boden, nicht ihr in die Augen. Auf gar keinen Fall dürft Ihr Mharlyze direkt ins Gesicht sehen.“
Ich nickte fügsam, auch wenn ich das albern fand. Aber gut, Königliche waren eben anders.
Dann öffnete sich die nächste Tür. Bihla bedeutete mir mit einer Geste voranzugehen. Ich schritt, so vornehm ich nur konnte in diesen drückenden Schuhen, der Königinmutter entgegen, die in einem breiten Lehnsessel saß, und knickste tief. Nach einer Weile, als meine Beine anfingen zu zittern in dieser unnatürlichen Haltung, sprach sie mich zu meiner Erleichterung an.
„Erhebe dich, mein Kind. Zofe, lass uns allein!“
Bihla entfernte sich geräuschlos. Ich schaffte es, meinen Blick nicht zu erheben. Das lag auch daran, dass der Teppich meinen Augen ein berauschendes Farbenmeer bot. Ich sah Vögel und Schmetterlinge zwischen Blüten und Blättern und Farnen. Hier und da ein Hase, ein Reh … wie lange es wohl dauerte, ein solches Kunstwerk zu erschaffen?
„Da bist du also.“
Ja. Da war ich. Sollte ich etwa diese Offensichtlichkeit bestätigen? Zur Vorsicht schwieg ich und hielt meinen Blick weiterhin gesenkt.
„Sieh‘ mich an“, befahl sie schroff.
Überrascht schaute ich ihr direkt in die Augen, aber nur für einen winzigen Moment. Was, wenn das nur ein Test war? Ich fühlte mich so hilflos wie das Rehkitz im Teppich, das nach seiner Mutter rief. Ich zuckte etwas zusammen. Die Frau war unglaublich fett.
„Haben sie dir gesagt, du dürftest mir nicht ins Gesicht sehen?“
„Ja, Majestät.“
„Ich erlaube es dir. Schließlich hat das Orakel dich zu meiner Schwiegertochter bestimmt. Ich werde versuchen, in dir mehr zu sehen als das, was du bist.“
Hatte sie mich eben etwa beleidigt?
„Kannst du lesen und schreiben?“
„Nein, Majestät.“
„Kannst du anmutig tanzen?“
„Nein, Majestät.“
Die traditionelle Fischerpolka zu tanzen in der letzten Nacht des Jahres, hatte mit Sicherheit nichts mit Anmut zu tun, aber mit mächtig viel Spaß und, wenn das Jahr ein gutes gewesen war, mit ordentlich viel Rum aus Übersee.
„Sprichst du eine fremde Sprache?“
„Nein. Aber in meinen Träumen singe ich mit den Walen und sie verstehen mich.“
Rechts hinter mir ertönte ein Kichern. Ich fuhr herum – und sah einen Zwerg! Davon hatte ich schon gehört. Ein Nachbar, der auf Überseeschiffen fuhr und nur alle paar Jahre heimkam, wusste davon zu berichten. Ich konnte nicht glauben, dass es Männer in Kinderkörpern gab und hatte es für Seemannsgarn gehalten. Nun war ich eines Besseren belehrt. Dieses Mannkind zwinkerte mir zu und machte einen Handstand, wackelte mit pluderbehosten Beinen, bis er umkippte und einen Purzelbaum schlug. Zweifellos der Hofnarr.
„Pruti, benimm dich!“, wurde er von seiner Majestät zurechtgewiesen, aber ihre Stimme klang gar nicht wirklich verärgert. Dennoch wurde er eine Spur blasser und zog sich still in die Ecke des Raumes zurück, um dort mit drei Bällen zu jonglieren.
„Was kannst du denn, mein Kind?“
Ich bin nicht dein Kind …
„Heringe braten und sauer einlegen, Netze flicken, Kräuter und Algen sammeln und trocknen. Und ich kann schwimmen.“ Auf Letzteres war ich stolz. Denn so seltsam es anmuten mochte, die meisten Schiffer und Fischer konnten nicht schwimmen. Ich aber hatte es mir selber beigebracht, schon als Fünfjährige.
Die königliche Augenbraue, die linke, wurde gekonnt hochgezogen – noch etwas, was ich nicht konnte – und die Königinmutter hob ihren Fächer vor Mund und Nase, fächerte sich hektisch Luft zu. Dennoch hatte ich noch gesehen, dass ihre Mundwinkel verächtlich nach unten gezogen waren. Bei den Göttern! Ich würde eine schlechte Schwiegermutter haben! So wie Trudi aus dem Unterdorf, die sich jeden Tag lautstark mit der Alten stritt und in ihren Gebeten das Meer beschwor, sie von der schwiegermütterlichen Plage zu befreien. Ich hoffte inständig, dass der künftige König mehr nach seinem Vater kam. Warum war er nicht hier? Wollte er mich denn gar nicht kennenlernen?
„Also kannst du nichts. Dachte ich mir. Ich habe verschiedene Lehrer für dich einbestellt. Du wirst täglich Lektionen erhalten, damit du für uns erträglich bist. Was das Orakel in dir sieht, ist mir ein Rätsel. Dennoch wirst du meinen Sohn heiraten müssen. Das Orakel irrt nie.“
„Wann werde ich ihn sehen?“
Der Zwerg pfiff leise durch die Zähne. Ach ja, ich durfte ja nichts fragen, nur antworten. Tja, zu spät! Schließlich ‚konnte ich nichts‘. Nichts! Dass sie es wagte …!
Mit ausdrucksloser Miene schaute sie mich an.
„Du darfst dich entfernen.“
Rückwärts gehend verließ ich den Raum, mich dabei verneigend. Wie von Zauberhand wurde die Tür rechtzeitig von dem Lakaien geöffnet, der während der ganzen Zeit wie ein Gegenstand anwesend war, der bei Bedarf zum Leben erwachte. Im Vorzimmer wartete Bihla auf mich. Ich war so froh, in ihr eine freundliche Begleiterin zu haben. Meine Hände waren ganz kalt und in meiner Kehle saß ein Kloß namens Schwiegermutter. Wie sollte ich nur eine solche Frau jemals zufriedenstellen können? Ich wollte keinen Unfrieden in meinem Haus. Meinem Schloss … aber – wäre es nicht nach wie vor ihr Schloss? Sie hatte die älteren Rechte. Ich konnte nur hoffen, ihr so oft wie möglich aus dem Wege gehen zu können. Ich wollte nicht wie Trudi werden. Laut und verbittert. Um keinen Preis!
Bihla legte warnend den Zeigefinger über ihre Lippen. Schweigend gingen wir in Begleitung der blaugewandeten Lakaien zurück zu meinem Zimmer. Oder sollte ich sagen unter Bewachung? Mir kam das Ganze komisch vor. Dachten die, ich würde etwas stehlen, weil ich unter armen Leuten aufgewachsen war, oder – auch denkbar – mir würde unterwegs etwas zustoßen? Verlaufen würde ich mich sicherlich, ginge ich alleine durch das Schloss, das ja, aber man kann doch nach dem Weg fragen! Nach einigen Treppen und Gängen gelangten wir wieder in den anderen Trakt, der weniger prunkvoll war. Hier atmete ich auf. Etwas war mir sonnenklar: Ich brauchte tatsächlich Lehrer, um mich in dieser Welt zurechtzufinden und mir meine Stellung zu sichern. Mir kam ein verwegener Gedanke: Ob ich wohl mit dem Orakel sprechen konnte? Ihn oder sie fragen, was zum verschrumpelten Hering er-sie-es sich dabei gedacht hatte? War das Orakel überhaupt ein Mensch? Oder vielleicht nur ein Buch, das man zu Rate zog?
Wir bogen nun in den Gang ein, wo mein Zimmer lag. Von dieser Seite kommend, die fünfte Tür. Ich musste mir unbedingt die Wege einprägen, damit ich nicht immerzu auf andere angewiesen war. Bihla öffnete mir die Tür. Ich nahm jetzt erst wahr, dass auch diese eine Schnitzerei aufwies, aber nur über einen breiten Streifen in der Mitte des Türblatts. Interessanterweise war ein Wal auf ihr abgebildet. War das ein Omen? Ich fragte Bihla danach, und sie erklärte mir, dass die acht Zimmer auf dieser Etage für hochrangige Kaufleute und andere Reisende vorgesehen waren, die für das Königshaus Handel und anderes mehr trieben, und manchmal vor Ort anwesend sein mussten, um dem Kämmerer oder anderen Personen Bericht zu erstatten. Der Wal stand für alles, was über das Meer ins Land kam, zum Beispiel auch die Seide, aus der mein Kleid genäht war, auch die Perlen in meinem Haar. Auch die anderen Zimmertüren waren mit Symbolen verziert: für Waldwirtschaft – ein Hirsch, für Bergwerke – eine Spitzhacke, und so weiter.
„Die Frau mag mich nicht“, platzte ich heraus.
„Die Königinmutter mag niemanden.“
Bihla schaute mich aufmunternd an. „Ihr werdet nicht oft mit Eurer Majestät zu tun haben.“
Ich atmete erleichtert auf. „Du, ich hatte unterwegs einen Gedanken. Meinst du, ich …“
In diesem Moment hörten wir die Fanfaren erschallen. Ich zählte mit. Elf mal. Der Prinz! Neugierig lief ich zum Fenster, musste aber zu meiner Enttäuschung feststellen, dass ich von hier nicht auf den Vorplatz blicken konnte, sondern auf einen Innenhof schaute.
„Wartet ein wenig, meine Herrin“, sagte Bihla. „Da ist eine Durchfahrt. Wir werden die Kutsche sogleich sehen können. Die königliche Familie steigt grundsätzlich im Innenhof aus, wo es ruhiger ist.“
Atemlos starrte ich hinab. Dann fuhr die Kutsche ein. Leider stieg er zur anderen Seite aus und verschwand sofort im Schloss. Ich konnte nur sehen, dass er wie ich dunkelhaarig war und ein stattlicher Mann, kein Hänfling. Wenigstens das.
„Wie geht es nun weiter?“
Bihla zuckte mit den Schultern. „Ihr könnt Euch ausruhen.“
„Wovon ausruhen? Ich habe nicht gearbeitet. Und könntest du bitte aufhören mit diesem ‚meine Herrin, Ihr und Euch’? Das halte ich nicht aus.“
Bihla schaute mich ernst an. „Ich muss das tun. Ihr spielt mit meinem Leben, wenn Ihr von mir eine vertrauliche Anrede verlangt, und ich das aus Versehen öffentlich tue“, flüsterte sie. „Hier haben selbst die Zimmer Ohren. Die Königinmutter ist unerbittlich, was die Hofetikette angeht. Selbst das dürfte ich Euch nicht sagen.“
Wo war ich nur hineingeraten?
***
Als die Dämmerung einsetzte, wurde mir eine Botschaft überbracht. Mein künftiger Gatte erwartete mich zu einem Abendessen in seinen Gemächern. Dieses Mal übergaben mich die blauen Lakaien ihren violetten Amtsbrüdern. Meine Zofe begleitete mich natürlich auch. Sie hatte dafür gesorgt, dass ich ein anderes, noch besseres Kleid trug. Und größere Schuhe, weich und wärmend, dazu einen breiten Schal über die Schultern. Er war wunderschön mit Frühlingsblumen bestickt. Ich war ihr so dankbar. Ihre Nähe wirkte auf mich beruhigend. Dennoch waren meine Hände eiskalt.
Als ich das Zimmer des Prinzen betrat, konnte ich ihn auf den ersten Blick gar nicht finden. Es war riesig, mehr wie ein Schlossflügel. Zimmer war einfach nicht das richtige Wort. Wofür brauchte ein einzelner Mensch so viel Platz? Meine innere Stimme raunte mir zu, dass es hier um Status ging, nicht um benötigte Fläche. Mehrere große, goldene Kerzenleuchter erhellten den Raum mit sanftem Licht. Ein leises Rascheln verriet mir, ich war nicht alleine. Er trat aus dem Schatten und ging auf mich zu. Im letzten Moment fiel mir ein, dass ich mich auch vor ihm zu verneigen hatte. Bihla hatte mit mir den Hofknicks geübt, bis ich protestierte, weil meine Beinmuskeln brannten. Aber nun war ich dankbar, dass ich ihn beherrschte.
„Ich heiße dich willkommen, Rilka“, waren seine ersten Worte an mich, begleitet von einem verhaltenen Lächeln.
„Habt Dank, Majestät“, entgegnete ich und verstummte dann.
Ein Weilchen standen wir voreinander, schweigend, reglos. Fasziniert betrachtete ich seine halblangen, dunkelbraunen Haare. In ihnen schimmerten im Kerzenlicht rotgoldene, dünne Strähnchen, was wunderschön war. An der Stirn war eine Strähne schneeweiß. Ob das echt war?
„Bitte, nimm Platz“, sagte er schließlich und deutete auf einen Tisch, der wunderschön eingedeckt war. Er bot mir sogar seinen Arm, obwohl es ja nur ein paar Schritte bis dorthin waren. Ich legte meine Hand leicht wie eine Feder auf seinen Unterarm und ließ mich zur Tafel geleiten. Zwei Diener erschienen, sie schälten sich sozusagen aus der Tapete heraus, die im selben Farbton gehalten war wie deren Livree. Auch so ein Wort, das ich heute von Bihla gelernt hatte. Wie ein Mensch so still stehen konnte, dass man ihn nicht sah, war mir ein Rätsel. Sie schoben uns die Stühle unter und schenkten Wein ein. Ich nahm meinen Schal ab, denn ich fürchtete, ihn beim Essen zu bekleckern. Ein Diener legte ihn beiseite. Ich bedankte mich höflich, sah aber, dass der Prinz eine Augenbraue leicht anhob. Aha. Bedanken bei Bediensteten war also nicht angebracht. Uns wurde eine Platte mit kalten und warmen Fischspezialitäten gereicht, kleine Häppchen. Dazu gab es lauwarmes Fenchelgemüse. Und Preiselbeersoße! Überrascht und gerührt blickte ich auf. Das war meine Lieblingsspeise! Er lächelte mich an und gab den Dienern ein Zeichen, sich zurückzuziehen.
„Ich habe vorab Erkundigungen eingezogen.“
„Das … das ist …“, stammelte ich. „Das ist sehr freundlich von Euch, Hoheit.“
„Mein Name ist Amandus. Wenn wir allein sind, darfst du mich so ansprechen.“
Amandus … das war ein klangvoller Name. Ich nickte zum Zeichen, dass ich ihn ab jetzt so anreden würde, und widmete mich dann dem Essen. Es war eine Verlegenheitshandlung. Hungrig war ich nicht, sondern von der Situation überwältigt. Ich, die einfache Schifferstochter, speiste mit einem Prinzen. Und würde seine Frau werden! Vor mir lagen mehrere Bestecke zu beiden Seiten des Tellers. Und ich wusste nicht im Geringsten, was davon die richtige Wahl war. Was hatte Bihla noch gesagt? Von innen nach außen, oder doch umgekehrt? Teller leer essen, oder nicht? Verunsichert griff ich zum Glas, wollte einen Schluck Wein nehmen, in der Hoffnung, er würde mir etwas Ruhe schenken. Doch ich war zu fahrig. Anstatt das im Kerzenlicht funkelnde Glas zu greifen, stieß ich es ungeschickt um. Meine Hände begannen plötzlich zu zittern, und ich konnte es nicht verhindern: Ich heulte. Es war einfach alles zu viel.
Amandus war bestürzt. Und genauso hilflos wie ich. Er griff nach einer kleinen Glocke und ließ meine Zofe holen.
„Bitte, entschuldige. Amandus, das tut mir so leid. Es ist alles so neu.“
Bihla näherte sich rasch, knickste vor dem Prinzen und nahm meine Hand. „Was kann ich für Euch tun, meine Herrin?“ Sie reichte mir ein weißes, kleines Tuch an. Erst wusste ich nicht, was ich damit tun sollte, wischte ungelenk über das ruinierte Tischtuch, dann begriff ich, dass man hier nicht irgendwelche Fetzen zum Nase schnauben benutzte. Ich war eben doch nur ein Dorftrampel.
„Zofe, bring deine Herrin auf ihr Zimmer, damit sie sich ausruhen kann. Mir scheint, es ist heute nicht der rechte Augenblick für ein erstes gemeinsames Essen.“
Amandus zog sich brüsk zurück und überließ mich meiner Zofe.
Meine Wangen glühten vor Scham.
Aber er sah nicht weniger unglücklich aus als ich.
Unglücklich hockte ich in meinem Zimmer, das sich so gar nicht nach ‚meinem‘ Zimmer anfühlen wollte, und starrte aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen. Ich trug einen Morgenmantel über dem Nachthemd. Mein leerer Teller stand noch auf dem Tisch, drei Erbsen lagen mittlerweile verschrumpelt unter der Gabel. Bihla war so aufmerksam gewesen, mir noch ein Mahl aus der Küche zu besorgen, denn beim Prinzen war ich ja nicht über ein verschüttetes Glas Rotwein hinausgekommen. Sie saß mit einer Stickarbeit am Tisch im Schein von drei Kerzenstumpen. Sie versuchte nicht, mich mit Gewalt aufzuheitern, wofür ich ihr dankbar war. Was Mutter wohl gerade machte? Und Schatten, mein geliebter, fetter, alter Kater? Ob auch sie trübsinnig waren? Der Tag war lang und hart gewesen; ich beschloss, für heute war es genug.
„Bihla, ich will jetzt schlafen gehen. Für einen Tag habe ich reichlich in den Sand gesetzt.“
„Ja, Herrin, Ihr solltet Euch wirklich zur Ruhe begeben. Wenn Ihr etwas braucht in der Nacht, benutzt den Klingelzug neben der Tür. Ich höre Euch. Scheut Euch nicht, mich zu rufen.“
Sie wickelte ihre Stickarbeit in ein wollenes Tuch, knickste vor mir und öffnete die Tür. Zu meiner Überraschung stieß sie einen kleinen Laut des Erschreckens aus.
„Hoheit!“, rief sie fassungslos und verbeugte sich, trat sofort beiseite. „Bitte sehr, tretet ein.“
Ich fuhr herum. Amandus? Hier?
Sein Arm war noch erhoben, er hatte eben anklopfen wollen, wie es aussah.
„Du darfst gehen“, sagte er zu ihr, nicht unfreundlich. In seinen Händen hielt er eine Karaffe und zwei zierliche Gläser. „Darf ich hereinkommen?“, fragte er mich.
„Selbstverständlich. Kommt nur, Hoheit, äh, komm nur herein, Amandus. Ich bin überrascht, dich hier zu sehen.“
„Ich habe ein schlechtes Gewissen, Rilka. Wie geht es dir jetzt? Magst du einen Schluck Aprikosenlikör?“ Er hob Gläser und Karaffe etwas an und grinste. „Nervenmedizin. Für uns beide. Und in meiner Hosentasche habe ich etwas Marzipangebäck. Ich musste meine ganze königliche Autorität in die Waagschale legen, damit die Köchin noch heute Abend für uns etwas backt“, sagte er augenzwinkernd.
Ich lächelte ihn an und sah zu, wie er die Gläser vollschenkte. Seine Hand berührte meine, als er mir das Glas anreichte. Ich bemerkte, dass seine Haut eine angenehme Temperatur hatte, wenngleich sie, für einen Adligen, erstaunlich rau war.
„Auf unser Wohl! Tun wir einfach so, als würden wir uns jetzt in diesem Moment zum ersten Mal begegnen“, schlug er vor.
Ich hob mein Glas und nippte von der goldgelben Flüssigkeit. Sie war süß und brannte ein wenig auf meinen Lippen. Ehe ich mich versah, war das Glas leer und der Likör rann wärmend in meinen Magen, der sich sofort entspannte.
„Noch eins?“, fragte er.
Ich nickte und hielt ihm mein Glas entgegen. „Es tut mir so leid …“, begann ich, aber Amandus winkte energisch ab.
„Ich freue mich, meine Braut auf meinem Schloss begrüßen zu dürfen“, sagt er betont deutlich.
Ach ja, wir spielten, dies wäre unsere erste Begegnung. Warum nicht.
„Und ich freue mich, meinem künftigen Gatten erstmals zu begegnen. Auch wenn dies meinerseits in Nachtkleidung geschieht.“
Amandus nickte zufrieden und setzte sich auf den Rand meines Bettes. Er klopfte mit der flachen Hand neben sich. Gehorsam setzte ich mich dazu.
„Hier ist es weicher als auf dem Stuhl. Bin heute den halben Tag geritten“, erklärte er beiläufig. Dann zog er aus seiner Hosentasche ein Tuch aus feinstem Linnen und wickelte es auf. Ein himmlischer Duft entstieg dem Gebäck. So etwas hatte ich noch nie gerochen. „Magst du Marzipan?“
„Ich weiß es nicht. Das ist nichts, was armen Fischern und Schiffern zur Verfügung steht.“
„Dann probiere!“
Ich biss hinein und war im Paradies. Meine Augen fielen wie von alleine zu und ich stöhnte leise auf. Wie war es möglich, dass etwas dermaßen köstlich war?
„Man nennt es Makrone. Mehr?“
„Sehr gern.“
Amandus hielt mir ein zweites entgegen und ich wollte es nehmen, aber er wich meiner Hand aus und hielt es mir vor die Lippen. Ich konnte nicht anders als zu lächeln und mich von ihm füttern zu lassen. Einem beliebigen Kerl hätte ich das nicht erlaubt, schon gar nicht am ersten Tag. Aber schließlich saß ich hier mit meinem Bräutigam.
„Darf ich ehrlich zu dir sein?“, fragte er.
„Aber ja.“
„Als das Orakel seine Wahl verkündete, hätte ich ihn fast mit Schimpf und Schande davongejagt.“
Ihn … also war das Orakel tatsächlich ein Mensch.
„Ich dachte, er sei von Sinnen oder wolle mich verhöhnen. Noch nie hat es das gegeben, dass ein Adliger, gar ein Kronprinz, eine Frau aus dem einfachen Volk heiratet. Wir sind seit vielen Jahrhunderten unter uns geblieben, haben so Bündnisse geschmiedet, Kriege verhindert. Ich hatte mich auf eine echte Prinzessin eingestellt. Eine Frau mit ähnlicher Bildung, mit Sinn für die Hofetikette. Eine fähige Gefährtin, die mich politisch unterstützt und die repräsentieren kann. Aber dann fiel die Wahl auf dich. Die Tochter einer Schifferswitwe.“
Je länger er sprach, umso unwohler wurde mir. Was wollte er mir damit sagen?
„Aber, als ich dich dann sah und deine Stimme zum ersten Mal hörte … Also, beim echten ersten Mal … da wurde mein Herz weit. Das ist mir noch nie passiert! Ich mag dich. Deine Nähe tut mir irgendwie gut.“
Die Worte ich mag dich klangen sehr verwundert, so als wäre es etwas noch nie Dagewesenes, dass sich Menschen auf Anhieb gut leiden konnten. Er nahm meine Haarsträhne, die sich aus der Frisur gelöst hatte, und schnupperte daran. „Und dein Haar duftet so schön nach reifen Äpfeln. Ich habe noch nie einen Menschen auf Anhieb gemocht. Vielleicht hast du mich ja verzaubert?“, scherzte er. Dann fuhr er mit seinem Daumen über meine Narbe, fast schon zärtlich. „Woher hast du das? Du bist wohl kaum als Krieger in die Schlacht gezogen“, scherzte er unbeholfen.
„Es war ein Unfall. Ein Angelhaken hat mich erwischt, als ich vierzehn war.“
„Die Narbe verleiht dir eine gewisse Wildheit. Denke nicht, sie würde mich stören.“
Erleichtert atmete ich auf.
Amandus schenkte noch einmal nach. Er schien das goldgelbe Zeug genauso zu brauchen, wie ich. Aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein.
„Und, ist das nicht das bessere Schicksal? Dass ich einen Menschen an meiner Seite habe, der nicht einfach nur, ja – einfach nur nützlich ist, standesgemäß, sondern möglicherweise auch ein echter Freund, gar eine Seelengefährtin?“
Ich starrte ihn an.
„Was sagst du denn? Was sagt dir dein Herz? Spürst du es nicht auch, Rilka?“
„Doch, Amandus, das tue ich. Es ist schön, neben dir zu sitzen, deine Stimme zu hören. Hier, in diesem schlichten Raum, im Gegensatz zu deinem Thronsaal da oben. Dort warst du ein Herrscher, weit über mir stehend. Aber jetzt kann ich dich auch als Mensch, als Mann sehen. Ich mag dich auch, ja.“ Meine Worte kamen tatsächlich aus der Tiefe meines Herzens, sie schwappten einfach nach oben und sprachen sich selbst, frei von Angst. Doch mein Verstand fuhr mir sogleich dazwischen. „Aber du kennst mich doch gar nicht. Wir haben nur wenige Minuten miteinander verbracht.“
„Ich weiß, Rilka. Es ist total verrückt! Nachdem deine Zofe dich weggebracht hatte, habe ich dich vermisst. Wer weiß, vielleicht können wir eines Tages auch einander aufrichtig lieben. Bis dahin will ich dir dein bester Freund sein, ein Gefährte.“ Er nahm meine Hand in seine und schaute mir in die Augen. „Ich habe versucht, mich in deine Lage zu versetzen. Wir müssen dich völlig überfordert haben. Wie ich hörte, hat die Regentin dich schon zu sich zitiert. Hoffentlich war sie nicht allzu garstig.“
„Wie man’s nimmt. Jedenfalls teilt sie nicht deine Zuneigung zu mir. So viel kann ich sagen.“
„Sie ist verbittert und krank. Bitte vergib ihr. Seit mein Vater vor zwei Jahren ermordet wurde, ist sie nicht mehr sie selbst.“
„Es war auch für das Volk ein Schock. Wir haben König Dagomar geliebt.“
„Das freut mich zu hören. Er war ein guter König, ein guter Vater. Mein Vorbild in Vielem. Das Volk war ihm immer wichtig. Er klagte oft darüber, dass er zu wenig Zeit für die einfachen Menschen habe, sie gerne besser kennen würde.“
Amandus sah zur Seite und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Ganz kurz nur, aber ich hatte es doch gesehen. Weinen galt als äußerst unmännlich. Wie dumm! Gefühle sind doch Teil des Lebens. Es gab keinen einzigen guten Grund, sich ihrer zu schämen. Wie schwer musste es erst für einen so jungen König sein? Kronprinz, verbesserte ich mich.
Jetzt war ich es, die den Likör nachschenkte. Er nickte dankbar und nippte daran.
„Weißt du, eigentlich wollte ich dich persönlich abholen. Übermorgen. Ich habe aber die Rechnung ohne die Regentin gemacht. Sie hat einfach die Kutsche vor der Zeit losgeschickt, ohne mich zu informieren. Ihre Handlungen sind manchmal etwas … unbedacht. Und ich muss es dann hinterher ausbügeln. Das habe ich satt!“
Unerwarteterweise sprang er vom Bettrand auf und ging vor der Fensterfront auf und ab, stellte sein Glas hin. Mit zu viel Wucht. Es zerbrach. Ich sah, wie sein Gesicht grimmig wurde, wie er mit sich kämpfte. Amandus ballte eine Faust und hielt sie vor seinen Mund, als wolle er verhindern, dass Worte ihn verließen. Worte, die er nicht mehr würde zurücknehmen können. Er wandte sich wieder mir zu, kniete vor mir nieder und nahm meine Hände in seine.
„Ich kann nur dann regieren, wenn ich verheiratet bin. Ohne dich bin ich machtlos. Es mag unklug sein, dir das zu verraten. Aber ich sehe in dir einen aufrechten Menschen. Normalerweise heiraten die Männer in unserer Linie nicht vor dem 30. Lebensjahr. Aber ich kann nicht tatenlos zusehen, wie sie weiterhin regiert und alles zerstört, was Vater aufgebaut hat. Sie ist krank, an Körper und Seele. Ihr Meerleute würdet sagen: Der Fisch stinkt immer vom Kopf her.“
„Ja.“ Ich nickte zustimmend. „Da sitzt das leicht verderbliche Hirn. In ihrem Fall wäre es aber eher ein Walross als ein Fisch“, sagte ich ohne zu überlegen.
Amandus starrte mich an. Seine Augen funkelten mit den Kerzen um die Wette.
Oh nein! Was hatte ich nur gesagt! Ich hatte seine Mutter und somit die Regentin des Reiches beleidigt. Jetzt war alles aus. Oh nein …
Plötzlich prustete Amandus los. Und lachte dann lauthals, bis seine Schultern bebten.
Mir fiel ein Stein vom Herzen.
Nachdem Amandus sich verabschiedet hatte, fühlte ich mich nicht mehr trübsinnig. Ich malte mir im Bett liegend aus, wie es wohl sein würde, an seiner Seite zu leben. In dieser Nacht träumte ich helle Träume künftigen Glücks.
Die Königinmutter hatte es ernst gemeint, als sie von Lektionen und Lehrern sprach. Meine Tage waren nun erfüllt von Unterrichtsstunden. Das Schreiben fiel mir unglaublich schwer. Es handelte sich hier um eine recht neue Kunst der Höhergestellten. Niemand aus meinem Dorf konnte das, selbst viele Städter konnten nur die wichtigsten Wörter lesen und ihren Namen schreiben. Das einfache Volk nutzte für Mitteilungen kleine, weiche Steintafeln, in die die alten Symbole geritzt wurden, die auch die Altvorderen gekannt und genutzt hatten. Oder wir knoteten Schnüre. Im Dorf bei uns hatte jede Familie ihren eigenen unverwechselbaren Knoten. Wir nutzten mehrere, die zusammen den einen ergaben. Jede Ausfahrt aufs Meer wurde so dokumentiert und es wurde auch festgehalten, ob man mit einem großen Fang heimgekommen war, oder leer ausging. Die Schnüre wurden am Ende des Jahres in der Scheune an die Haken gehängt und ausgerollt. Der Wassermeister errechnete damit die Anteile, die jeder Familie zustanden. Wobei ‚Familie‘ nicht immer wörtlich zu verstehen war, auch Einzelpersonen wie unser Rupert galten als Familie, oder die drei Alten, die sich zu einer Wohngemeinschaft zusammengeschlossen hatten. Vom Gewinn eines Wirtschaftsjahres wurde das Getreide gekauft, gelagert und über den Winter hinweg zugeteilt. Jeder bekam die Mindestmenge zum Überleben, und wer besonders fleißig gewesen war, oder eben das größte Fischerglück gehabt hatte, bekam etwas mehr. Bei uns war noch nie einer verhungert, wenn, dann hungerte das ganze Dorf. Also, zählen und rechnen konnte ich ganz gut, das hatte mein Vater mir beigebracht.
Er war auf der ‚Abalonia‘ der Quartiermeister gewesen. Eines Tages hatte er uns von einer seiner Reisen ein Buch mitgebracht. Ein mitfahrender Mönch hatte es an Bord verloren. Leider hatte es unter der Feuchtigkeit sehr gelitten, es hatte wohl tagelang an Deck hinter einer Kiste gelegen. Einige Seiten waren aber noch lesbar gewesen, und Vater, der zwar etwas unter nachlassender Sehkraft gelitten hatte, konnte uns sagen, dass das Buch medizinische Rezepturen enthielt und Ratschläge zur Lebensführung und Gesundheitspflege. Das hatte der Kapitän, der tatsächlich gut lesen konnte, ihm gesagt. Er hatte Vater erlaubt, es mit von Bord zu nehmen, denn es war mehr als unwahrscheinlich, dass der Mönch jemals wieder auf demselben Schiff reisen würde. Wir hatten es immer wie einen kleinen Schatz gehütet, doch auch Vaters Kenntnisse reichten nur für die einfachen Wörter, die meisten Begriffe darin waren in einer anderen Sprache verfasst. Und so blieb Mutter und mir nur, es von Zeit zu Zeit durchzublättern, wenn nichts zu tun war, und die feingezeichneten Bilder darin zu bewundern, die Kräuter und Wurzeln zeigten und, so vermuteten wir, astrologische Berechnungen. Es ist schließlich allgemein bekannt, dass die Sterne günstig stehen müssen, damit eine Medizin ihre volle Wirkung entfalten kann.
Und nun saß ich hier am Tisch mit einem Kreidestift in der Hand und einer Schiefertafel vor mir. Für Papier war es noch zu früh, hatte die Regentin entschieden, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, meine Ausbildung zu überwachen. Sie saß mir gegenüber, rechts und links von mir standen zwei Lehrer. Obwohl es ein kühler Maitag war, schwitzte ich vor Anstrengung. Mein Griff war viel zu fest, ich wusste das, aber ich konnte nicht anders. Von unten links nach oben rechts – Stopp – dann wieder runter nach unten rechts – dann auf halber Höhe ein querer Strich. Fertig. A. Ein großes A. Ich atmete hörbar aus. Sah gar nicht so schlecht aus, oder?
„Gut so“, ermutigte mich der Lehrer zur Linken, der mit der Hakennase. Er sah irgendwie etwas gruselig aus. Seine Augen standen hervor wie die eines Frosches. „Und nun gleich hinterher das kleine a. Ihr wisst doch, junge Herrin, das lustige kleine Ding mit dem Bauch.“
Ich nickte ergeben und mühte mich. Meine Hand war inzwischen schweißnass. Wir übten das Alphabet seit zwei Stunden. War ich am Z angelangt, begann die Tortur wieder von vorn beim A. Ich verzieh ihm großmütig, dass er mich wie ein Kind behandelte. Schließlich war ich auch eines in Sachen Schreiben lernen. Ich musste wieder an das Buch des Mönchs denken. Welch Mühe und Arbeit in dem kleinen Buch steckten – bewundernswert, nun konnte ich es ansatzweise nachempfinden. Die Schrift im Buch war nicht nur ebenmäßig gewesen, sondern auch formschön und klein. Auch die religiöse Gilde gehörte zu den Höhergestellten. Ja, die hatten ihre Diener und Zeit, Schönes zu erschaffen. Nicht so wie wir vom einfachen Volk. Wir mussten arbeiten.
Die Regentin hatte seit einer Stunde etwa kein Wort mehr gesprochen. Ich hatte den Eindruck, dass sie in Schadenfreude und Abscheu förmlich badete. Was hatte ich ihr nur getan? Knacks – das Geräusch hasste ich inzwischen. Schon wieder war ein Kreidestift unter meinen Fingern zerbrochen. Ein leises, verächtliches Schnauben aus der königlichen Nase folgte unmittelbar. Auch dieses Geräusch hasste ich. Ach, verdammt, es reichte!
„Nein. Kein neuer Stift. Mir reicht es jetzt.“
„So schnell gibst du auf, mein Kind?“, säuselte die Regentin.
Ich bin nicht dein Kind, dachte ich wütend. Damit musste sie aufhören, sonst würde ich für nichts garantieren können.
„Das Reich hat vermutlich genug Schreiber. Ich mache jetzt eine Pause. Ohnehin ist es viel wichtiger, dass ich Tanzen lerne bis zur Hochzeit, meint Ihr nicht auch, Tanzmeister?“
Der Lehrer zur Rechten nickte eifrig. „Die Musiker sind stets zu Diensten, meine Herrin. Wir können sofort beginnen. Alles ist bereitet. Sobald Meister Mohladi Euch aus seinem Unterricht entlässt, führe ich Euch in den Tanzsaal, Herrin.“
Ich strahlte ihn an. Ihn hatte ich von Anfang an gemocht. Man sah es ihm wirklich nicht an, weil er für einen Mann recht klein war. Sein Bauch drückte Gemütlichkeit und Essfreude aus – aber er war ein wahrer Gott auf der Tanzfläche. Mit Leichtigkeit hatte er mir beim ersten Unterricht gleich zwei Tänze beigebracht. Amandus hatte ein Weilchen zugeschaut und dann mit mir eine Runde auf dem Parkett gedreht. Und ich war unglaublich glücklich gewesen, fühlte mich beschwingt und leicht. Auch wenn die Schifferpolka mehr zu mir und meinem Temperament passte, so hatte ich doch meine helle Freude an den eher feingeistigen Tänzen der Adligen. Eine ganz neue Welt des Klangs und der Bewegung tat sich für mich auf.
„Fürs Erste ist es genug, Meister Rottker, Ihr könnt die junge Herrin jetzt unter Eure Obhut nehmen.“
Die Regentin schaute für einen Moment, einen ganz kurzen Moment, finster drein. Aber ich hatte es gesehen. Mir lief ein kühler Schauer über den Rücken. Sie gönnte mir anscheinend nicht den kleinsten Spaß. Nervös massierte ich meine schmerzende rechte Hand.
„Nach dem Tanzunterricht gehen die Studien hier weiter, meine Teuerste“, säuselte die Königinmutter. „Etikette, und danach erste Einblicke in Diplomatie und Politik. Keine Bange, nur die allergrundlegendsten Grundlagen, mehr nicht. Wir wollen die Verlobte meines Sohnes ja nicht überanstrengen. Haben Sie gehört, Lehrmeister? Nehmen Sie auf ihre zarte Natur etwas mehr Rücksicht.“
Ich kochte innerlich. Zarte Natur? Ich? Wohl kaum. Ich war schwere Arbeit gewohnt. Amandus hatte mir ans Herz gelegt, mich nie von ihr aus der Fassung bringen zu lassen, denn das würde sie nur anstacheln. Als hätte er gespürt, dass ich mich nach seiner Gesellschaft sehnte, betrat er den Raum. Es war mir nicht möglich, meine Erleichterung zu verbergen. Ich strahlte ihn an, als wäre er ein direkter Gesandter des Sonnengottes. Er zwinkerte mir zu und verneigte sich dann vor der Regentin.
„Verehrte Mutter, Ihr solltet Euch nicht von Euren Pflichten oder Zerstreuungen abhalten lassen. Es ist nicht nötig, die Ausbildung meiner Verlobten zu begleiten. Ihr habt doch sicher Wichtigeres zu tun.“
„Gewiss. Aber für Euch tu ich alles, das wisst Ihr doch, mein Sohn“, entgegnete sie pikiert.
„Ich bin mir dessen bewusst und danke es Euch. Doch nun zieht Euch getrost zurück in Euren Flügel des Schlosses. Ich habe von der Küche etwas Exquisites allein für Euch zubereiten lassen, damit Ihr Euch von den Strapazen erholen könnt.“
Amandus schnippte mit den Fingern und prompt erschien ein Diener mit einer Art Schubkarre für Menschen. Ich staunte nicht schlecht.
„Hektor bringt Euch mit dem Rollstuhl hinüber, Ihr solltet Eure Beine schonen. Schließlich gehört meiner Stiefmutter der zweite Tanz an meiner Hochzeit“, schmeichelte er und zeigte ihr das, was ich insgeheim sein ‚Königslächeln‘ nannte. Mich jedenfalls lächelte er ganz anders an, nicht nur mit seinen Lippen, auch mit seinen Augen und seinem Herzen.
Er wandte sich nun mir zu, gab mir einen Handkuss.
„Meine liebe Rilka, heute Abend gehen wir beide zum Orakel. Ich habe eben seine Nachricht erhalten. Während der Mond aufgeht, werden wir Zeuge seiner Weissagung des glückverheißenden Tages für unsere Hochzeit sein.“
***
Während der Tanzstunden war ich unaufmerksam, erst recht bei den Lektionen für Etikette und Diplomatie. Alles sehr verwirrend. Meine Gedanken schweiften immerzu ab und ich malte mir lieber die Gestalt und die Weissagung des Orakels aus, tappte dabei aber völlig im Dunkeln. Als ich es nicht mehr aushielt, fragte ich den neuen Lehrer danach, aber er konnte mir nicht weiterhelfen. Ich erfuhr nur, dass das Orakel unerkannt durch die Lande zog und immer dort auftauchte, wo es gebraucht wurde. Es mochte sein, dass man mit ihm gesprochen hatte, ohne zu wissen, dass das Gegenüber die am meisten geheimnisumwitterte Person des Reiches war. Er offenbarte sich nur den Adligen. Es ging das Gerücht um, dass er ein übernatürliches Wesen sei, vielleicht sogar ein Unsterblicher! Diese Auskunft regte meine Fantasie an, und die Lektionen waren für die Katz. Was meinem Lehrer nicht verborgen blieb. Er entließ mich vor der Zeit. Seinen Namen hatte ich mir durch die Aufregung nicht merken können, irgendwas mit Blumen oder Daunen … Ich nahm mir vor, für mich eine Liste der Namen aller wichtigen Persönlichkeiten im Schloss anzulegen, mit kurzer Erläuterung ihrer Aufgaben und ob sie zu mir nett waren oder nicht. Ein Grund mehr für mich, Lesen und Schreiben gründlich zu lernen.
Ungeduldig wartete ich in meinem Gästezimmer auf die Nacht. Vor der Fensterreihe ging ich auf und ab, öffnete meinen Zopf ein Stück weit und flocht ihn gleich wieder zu, öffnete ihn, flocht ihn ... Das war eine Angewohnheit aus Kindertagen. Amandus war leider noch beschäftigt, so leistete mir nur Bihla Gesellschaft.
„Meine Herrin, Ihr seid so unruhig. Wie wäre es, wenn ich Euch etwas Schönes zeigen würde? Es dauert auch nicht lang. Wir werden rechtzeitig wieder zurück sein.“
„Ganz sicher?“
„Ja.“
Sie grinste mich an. Ihre Wangen wiesen eine leichte Röte auf und ihre Augen glänzten freudig.
„Einverstanden. Wohin gehen wir?“
„Überraschung! Folgt mir einfach.“
Kichernd wie zwei kleine Mädchen rannten wir die Treppen hinab, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Es tat gut, mal wieder ausgelassen zu sein. Vor einer unscheinbaren Tür machte Bihla Halt. Da der Gang unbeleuchtet war, erkannte ich das faustgroße, geschnitzte Symbol nicht sofort, aber als Bihla sie öffnete, wusste ich, wo wir waren: In der Schneiderei! Der Raum war gut ausgeleuchtet und auch sehr warm durch die vielen Kerzen.
„Sie arbeiten Tag und Nacht daran“, wisperte Bihla ehrfürchtig.
Und auch ich erstarrte für einen Moment in Ehrfurcht, denn ich begriff, dass dieser Traum von Kleid, dieses unfassbar göttlich schöne Kleid dort – meins war.
Mein Brautkleid!
Darin würde ich schön wie die Mondgöttin selbst sein. Ich konnte es nicht verhindern, dass mir Freudentränen aus den Augen rannen, ich musste schluchzen. Barfuß war ich ins Schloss gekommen, in einem Kleid, in das man hier vielleicht die Aschenmädchen stecken würde. Und jetzt stand ich vor dem schönsten Kleid der Welt, das genau meine Maße hatte. Meine! Ich ging näher heran. Die Näherinnen verneigten sich vor mir und traten zurück. Meine Finger wollten über den weißen, glänzenden Stoff streichen – aber sie wagten es nicht, blieben darüber schweben.
„Sind das wirklich Agathi-Schuppen am Kragen?“, hauchte ich.
„Ja, meine Herrin“, Bihla nickte eifrig. „Sie sind eine Referenz an Eure Herkunft. Prinz Amandus hat darauf bestanden.“
„Aber die sind unfassbar teuer! Diese Fische sind sehr selten. Und Schuppen in dieser Größe … sind ein Vermögen wert.“
„Hoheit haben offenbar ebenso große Wertschätzung für seine Braut.“
Bihla winkte eine Näherin heran und befahl ihr, den Schleier zu bringen. Mein Herz schlug inzwischen gar nicht mehr, glaube ich. Ich konnte nur gestorben sein, denn ich war im Himmel der Frauen! Wie betäubt und dennoch hellwach, nahm ich die Welt durch einen nebelhaften Schleier wahr, gleichzeitig aber war ich auch wie vom Zitteraal gebissen. Der Schleier, den sie zu viert nun vor mir ausbreiteten, war lang und breit. Der Saum wies zahlreiche Stickereien auf, die alten Symbole für Sonne und Mond, Mann und Frau. Ich wusste nicht, ob es wirklich Gold- und Silberfaden war, was ihn zum Glänzen brachte, oder gefärbtes Garn.
Wenn doch nur Mutter hier wäre! Ich hätte so gern diesen Moment mit ihr geteilt.
„Herrin, wenn Ihr erlaubt, wir würden jetzt gern weiterarbeiten“, sagte die älteste der Näherinnen. „Wir wissen nicht, wann genau Eure Vermählung sein wird, daher müssen wir uns beeilen.“
„Selbstverständlich. Macht nur weiter. Ihr leistet wunderbare Arbeit. Heute Abend erfahren wir den Termin.“
„Heute schon?“ Die Näherinnen sahen alle erschrocken aus. „Dann kann es jetzt jeden Tag soweit sein und wir sind noch lange nicht fertig.“
„Ich finde es schön. So, wie es ist. Wann darf ich es anprobieren?“
„Jederzeit, Herrin. Das Kleid an sich ist genäht, aber es fehlen noch die Perlen auf dem Rockteil und all das Zubehör.“
„Dann lasst euch nicht länger von mir stören.“ Eilig verließ ich den Raum. Ich war schon fast aus der Tür, als mir noch etwas einfiel. „Aber der Prinz hat es doch noch nicht zu sehen bekommen, oder?“
Ein Sturm der Entrüstung schwallte mir entgegen. Gut. Also wurde auch in Adelskreisen das Brauchtum bewahrt, dass der Bräutigam erst im letzten Moment das Kleid zu sehen bekam.
Alles andere hätte auch nur Unglück gebracht.