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Diese sieben Märchen wurden aufgeschrieben von der siebten Tochter einer siebten Tochter. Jedes der sieben Märchen hat sieben Kapitel. Daher ist dieses Buch durch und durch magisch.
Rosen! Was wäre die Welt ohne ihre Schönheit? In jedem Märchen spielt eine Rose eine tragende Rolle. Sei es als Teichrose, als Herberge eines schlafenden Elfenkönigs oder als stechender Dorn.
INHALT:
Träger der Rose, Seerosenzauber, Salzrose, Siebensohn, Lavendelpferd und Roseneinhorn, Dornenprinz, Rosenfeuer
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Inhaltsverzeichnis
Sammelband
Impressum
Träger der Rose
Seerosenzauber
Salzrose
Siebensohn
Lavendelpferd und Roseneinhorn
Dornenprinz
Rosenfeuer
Über die Autorin
Rosenmärchen
Diese sieben Märchen wurden aufgeschrieben von der siebten Tochter einer siebten Tochter.
Jedes der sieben Märchen hat sieben Kapitel.
Daher ist dieses Buch durch und durch magisch.
Rosen! Was wäre die Welt ohne ihre Schönheit? In jedem Märchen spielt eine Rose eine tragende Rolle. Sei es als blühende Teichrose, als Herberge eines schlafenden Elfenkönigs oder als stechender Dorn.
Erstveröffentlichung der Sammlung April 2018
Neuauflage September 2021 für Tolino
© Marlies Lüer, Esslinger Str. 22, 70736 Fellbach
Cover: Isabell Schmitt-Egner
1
Hans rannte so schnell er nur konnte. Im Nacken fühlte er den heißen, stinkenden Atem des Bergbären, dessen Reißzähne so scharf waren, dass sie sogar Granitfels zerschneiden konnten. Sein Ende stand unmittelbar bevor, doch wenigstens war er als Held gestorben, denn er besaß den Mut, dem sicheren Tod ins Auge zu sehen. Vor Wut schreiend, stoppte er und drehte sich um, die Faust zum Schlag erhoben, dem Ungeheuer ins triefende Auge blickend – aber … sie waren zu fünft, er hatte keine Chance. Leb wohl, liebe Welt …
„Ich habe ihn!“, schrie der Rädelsführer der Dorfjungen. Seine Augen glänzten vor lauter Vorfreude. Er hatte Hans gepackt und zu Boden geschmissen. Seine Kumpels griffen nun ebenfalls zu. An Armen und Beinen haltend, schwangen sie ihr Opfer hin und her.
„Du stinkst, Gerbersohn! Du brauchst ein Bad!“
Und schon lag Hans im Teich, immer noch vor Angst schreiend und ruderte mit den Armen, um nicht zu ertrinken und versetzte die Entenschar in helle Aufregung. Das Wasser hatte ihn aus seiner Fantasiewelt geholt. Von wegen heldenhaft … Ihm war zum Heulen zumute, aber diese Genugtuung gönnte er dem Fleischersohn Karel und seiner Bande nicht. Zutiefst in seiner Ehre verletzt, starrte er seine Peiniger an, die ihn seit zwei Jahren drangsalierten, eben seit er der Gerbersohn geworden war. Auf der gesellschaftlichen Leiter dieses Dorfes standen er und der Gerber unten. Ganz weit unten.
Die Jungen grölten und fühlten sich stark, klopften sich gegenseitig auf die Schulter, als hätten sie gerade sonst was vollbracht. Dabei war der Junge im Teich viel dünner und auch kleiner als sie.
„Wärest du mal schneller gelaufen, Hans Hinkebein!“
Na toll.
Schon wieder ein neuer Spottname. Neulich hatte er noch Schlotterbein geheißen. Hans wusste, er war klüger und besser als alle Dorfjungen zusammen, aber ein schwaches Bein hatte er wirklich. Er sah der Bande hinterher, die jetzt zurück ins Dorf trabte. Ihr Gelächter machte ihn wütend. Eines Tages würde er sich rächen. Egal wie. Eines Tages … wenn er groß und stark war. Und sobald er wüsste wie. Schleppenden Ganges überließ er den Enten ihren Teich, seine Schultern hingen herab und sein Blick war auf seine Füße gerichtet. Unwirsch wischte er Entengrütze aus seinen Haaren und von den Schultern.
Ein Bild des Jammers.
Er, Hans Hinkebein.
Als er sich wiederaufrichtete und seine Blicke schweifen ließ, war er allein.
Allein sein war gut für einen wie ihn.
Er zog sein zerschlissenes Hemd vom Körper und wrang das Wasser aus. Die Sonnenstrahlen waren sehr warm und so konnte er hoffen, dass es, auf einem Busch zum Trocknen ausgebreitet, bald schon wieder tragbar sein würde. Seine Hose behielt er lieber an, sicher war sicher. Er breitete die Ärmel ganz sorgfältig über die Blätter und Zweige aus und strich den Rest des Hemdes glatt. Dann fiel sein Blick auf ein kleines Bündel, das ein paar Schritt weiter im Staub lag. Hans bückte sich danach und wickelte den Stoff auf – ein Wurstbrot! Karel musste es im Jagdeifer verloren haben. Wurst! Er hatte die letzte gegessen – ja, wann? Das war so lang her, dass er es gar nicht wirklich wusste. Ihm floss das Wasser im Munde zusammen. Sein Magen knurrte. Sollte er, oder sollte er nicht? Sein Mund öffnete sich wie von ganz allein und er hob die Arme hoch, führte die Wurststulle vor seine Nase und schnupperte genüsslich. Dann biss er hinein. In genau diesem Moment machte es „plopp“.
„Das würde ich an deiner Stelle besser nicht tun.“
Hans erschrak und drehte sich langsam um. Auf dem großen Baumstumpf neben ihm saß ein alter Mann. Ein sehr merkwürdiger, kleiner Mann. Neben ihm lehnte eine Geige am Holz, der Bogen lag daneben. Der Alte trug Lederpantoffel und eine goldene Brille mit runden Gläsern. Eine spitz zulaufende, lederne Mütze vervollständigte das Bild. Die Pfeife, die er paffte, verströmte einen überaus angenehmen, aromatischen Duft.
„Der Fleischer hat den räudigen Hund vom Schreiner verwurstet. Nur, dass du es weißt.“
Hans spuckte sofort aus. Angeekelt wischte er sich über den Mund und warf das Brotmahl zu Boden.
„Wer bist denn du? Dich kenne ich nicht.“
„Oh, wer ich bin, willst du wissen? Nun, es reicht, dass ich weiß, wer du bist. Wer du sein könntest.“
Wie war der so schnell hergekommen, ohne, dass er ihn gesehen oder gehört hatte? Das war, bei Tageslicht und bei vollem Verstand betrachtet, praktisch unmöglich. Misstrauisch beäugte Hans den Pfeifenraucher.
„Woher weißt du das mit der Wurst?“
Der Angesprochene zuckte nur mit den Schultern und paffte weiter. Der Tabakrauch nahm langsam die Gestalt eines schwanzwedelnden Hundes an.
„Ich weiß so manches. Komm, mein Junge, setz dich zu mir.“ Auffordernd klopfte er mit der flachen Hand neben sich auf das Holz.
Hans schüttelte seinen Kopf. Das war ein Fremder.
Fremde sind gefährlich, hatte Vater immer gesagt.
Und er hatte recht behalten. Fremde hatten ihn und Mama erschlagen. Gewissenlose Räuber. Das halbe Dorf hatten sie entvölkert, um sich Münzen und Winternahrung zu holen. Vielleicht aber hatten sie auch nur ihre verquere Art von Spaß haben wollen. Er hinkte seitdem, denn sie hatten auch auf ihn eingeschlagen und dann für tot oder nutzlos liegenlassen. Seit damals fristete er sein Dasein bei seinem Paten, dem Gerber.
„Na komm schon. Dir muss doch das Bein wehtun. Ich tu dir nichts. Oder setz dich einfach in den Sand. Ich meine es nur gut mit dir.“
Seine Augen waren wirklich freundlich, befand Hans. Und auch sein Lächeln. Der Alte hatte unglaublich viele Falten und Fältchen im Gesicht, die sich vertieften, wenn er lächelte. Hans ließ sich in den Sand nieder und streckte sein schmerzendes Bein vorsichtig lang aus. Der Duft des Tabaks war betörend. Süßlich und doch irgendwie herzhaft, appetitanregend, entspannend, Vertrauen einflößend. All dies lag im Rauch. Die Gestalt des Hundes begann zu laufen und verflüchtigte sich so schnell, dass Hans sich nicht sicher war, ob er sich das vielleicht nur eingebildet hatte.
„Nun sag schon, wer du bist. Ich bin der Hans. Wie ist dein Name? Bist du im Dorf zu Besuch? Und warum weißt du das von der Wurst?“
Der Alte lachte laut auf und warf seinen Kopf in den Nacken.
„So viele Fragen hat er! Und stellt doch nicht die eine, alles entscheidende Frage.“
Amüsiert schaute er den Jungen an, der Stirn und Nase krauszog, während er offensichtlich angestrengt nachdachte.
„Ich will mal nicht so sein. Ist immer dasselbe! Die Leute erwarten ein zartes Stimmchen, ein buntes Röckchen, goldene Löckchen und einen Glitzerstab.“
Er machte es spannend und schwieg ein Weilchen.
„Mein Junge, ich bin deine Wunsch-Fee“, sagte er mit bedeutungsschwangerer Stimme.
„Hä?“
Hans sah in diesem Moment nicht besonders klug aus.
„Es gibt Feen wirklich?“
„Sitze ich leibhaftig vor dir, oder nicht?“
„Beweise es mir!“
Hans verschränkte seine Arme vor der Brust und hob herausfordernd sein Kinn an. Der Alte sollte mal lieber nicht denken, er könnte ihn, den klugen Hans, veralbern und für dumm verkaufen.
„Junge, was ist es, das du dir am meisten wünschst? Wofür brennt dein ganzes Herz? Was ist es?“, fragte er eindringlich und lehnte sich vor. Seine Augen wurden ganz dunkel und auf seltsame Art tief. Hans hatte das Empfinden, unter einem Bann zu stehen. Selbst wenn er es gewollt hätte, so wäre es ihm jetzt nicht möglich gewesen, seinen Kopf wegzudrehen, den Blickkontakt zu unterbinden. Und … er wollte es auch gar nicht. Der Alte hatte so viel Liebe und Zuneigung in seinem Blick, dass Hans sich wünschte, er würde nie wieder aufhören, ihn so anzuschauen. Es war ihm, als würden die Seelen seiner Eltern aus diesen Augen herausschauen, in ihn hinein, sein schweres Herz anhebend. Für einen kostbaren Moment lang fühlte er warme Hände in seinem Brustkorb und die Last der Vergangenheit wurde leichter. Er wünschte sich – ja, was? Hans machte gerade den Mund auf, um zu antworten, aber dann zögerte er zu seiner eigenen Überraschung. Er hatte sagen wollen, er wünsche sich, wieder Zuhause zu sein mit Mama und Papa. Das war auch so. Aber ihm wurde klar, dass das nicht alles war. Sein Herz schlug schneller. Da war ein Gedanke, ein Wunsch, der sich ihm förmlich ins Herz gebrannt hatte, bevor er damals in eine gnädige Ohnmacht sank.
Er hatte sich gewünscht, er wäre ein Held, groß und stark. Dann hätte er, der Hans, seine Eltern und die anderen im Dorf vor den Räubern retten können. Ja, er hätte diese bösen Männer Richtung Norden gejagt und ihnen Angst gemacht, so viel Angst, dass sie lieber bei den Schwarzen Schlangen des Dunklen Königs Zuflucht gesucht hätten als in ihrer eignen Räuberhöhle. Und fortan hätten sie seine Heimat gemieden, weil er, der Hans, Wache hielt.
Der Alte nickte.
„Siehst du, das ist dein größter Wunsch, Heldenmut. Nun kennst du ihn.“
„Wie kannst du das wissen?“, flüsterte Hans.
Der Alte lächelte liebevoll; sein Mitgefühl für dieses Kind war groß.
„Ich bin deine Wunsch-Fee, schon vergessen? Meinen Namen sollst du nun erfahren, aber versprich mir bitte, nicht zu lachen.“
Er holte tief Luft, setzte sich aufrecht hin und sagte: „Ich heiße Thaddäus-Tiberius-Ambrosius-Spekulatius. Und ich wünschte, ich hätte einen so schlichten und hübschen Namen wie du. Leider haben Wunsch-Feen keine Wunsch-Feen“, und zwinkerte ihm zu.
Hans schaute ihn ungläubig an. Dann begann er zu lachen, bis er sich den Bauch halten musste.
„Du hattest mir doch versprochen, nicht zu lachen!“
„Nein, habe ich nicht“, quietschte Hans. „Du hast mir dafür gar keine Zeit gelassen. Bist gleich mit deinem Namen herausgeplatzt.“
Es machte wieder leise „plopp“ und neben der Geige erschien wie aus dem Nichts ein Rucksack. Das alte Männlein rückte seine Brille höher auf die Nase und warf ihn Hans zu.
„Iss dich mal ordentlich satt, mein Junge.“
Hans öffnete das Lederband, welches den Sack verschloss, und spähte hinein. Äpfel, Birnen, mehrere Käsebrote, dazu eine tönerne Trinkflasche.
„Alles für mich?“
„All das und noch mehr. Genug Beweise?“, fragte Thaddäus-Tiberius-Ambrosius-Spekulatius. Eine ganze Weile sah er dem schmächtigen Jungen zu wie er hungrig aß. Dessen Wangen wurden hübsch rot und seine Augen glänzten, so gut tat ihm die kräftige Mahlzeit.
„Ja. Jetzt glaube ich dir, dass du eine Fee bist. Ein Fee … Ein Feerich? Meine Mama hat mir von euch erzählt, als ich noch klein war. Aber Papa glaubt nicht an Feen. Nur an Zauberer. Er sagte immer, er wüsste, dass der König selbst sich welche hält.“
Ein Windstoß fuhr über den Teich hinweg und streifte das ungleiche Paar. Der Alte griff besorgt zu seiner Geige und spielte ein paar Töne, ließ die Melodie mit einem schleifenden, hohen Ton enden. Dann lauschte er. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen.
„Jetzt schon?“, fragte er leise. „Hans!“
Der Junge blickte auf und ließ seine Hand sinken, in der er das dritte Käsebrot hielt. Er hatte eben abbeißen wollen.
„Sie kommen! Du musst los.“
„Was? Wer kommt?“
Besorgt blickte er über seine Schulter, Karel und seine Kumpane erwartend.
„Schau mich an. Hör jetzt gut zu. Heute beginnt deine Reise.“
„Was für’ne Reise?“
„Dein Schicksal, Junge, du musst dein Schicksal erfüllen. Das Königreich ist in großer Gefahr, du bist in Gefahr – alle sind es. Lauf in den Wald! Nimm den Rucksack, er ist dein. Du darfst ihn nicht verlieren, hörst du?“
Eine weitere Geigenmelodie erfüllte die Luft, in aller Eile gefiedelt. Dann riss eine Saite.
„Bei allen guten Geistern! So nah schon?“, rief der Alte entsetzt. „Hans, lauf in den Wald. Die Schwarzen Schlangen kommen. Du wirst im Wald gebraucht. Folge deinem Herzen und bleibe dir treu.“
Gebieterisch zeigte der Alte mit seinem knorrigen Zeigefinger auf den Waldrand hinter dem Dorfteich.
„Da lang, lauf! Lauf!“
Blass wie Sternchenmoos schulterte Hans den Rucksack und humpelte eilig Richtung Wald. In seinen Augen stand blanke Angst. Sein Großvater hatte ihm immer mit den bösen Schlangen des Dunklen Königs gedroht, wenn er unartig war. Bis schließlich Mama es ihm verbot, weil er davon fürchterliche Träume bekam.
Als Hans zwischen den Bäumen verschwand, huschten die ersten langen Schatten über den Boden. Die Wunsch-Fee blickte zum Himmel auf.
Die Späher!
Der Dunkle König war erwacht …
2
Hans lief und lief … wohl eine ganze Stunde lang; er verstand gar nicht, was gerade passierte und warum er von einem friedlichen Moment auf dem anderen auf der Flucht war. Doch das Entsetzen in den Augen der Wunsch-Fee war echt gewesen. Warum werde ich im Wald gebraucht? Ich muss doch nach Hause zum Paten. Hans hob jetzt beide Arme vors Gesicht, um sich vor den tiefhängenden Zweigen zu schützen. Es war nicht nur der Lauf, die ihn schwitzen ließ, sondern auch pure, beißende Angst. Sein Herz pochte hart und schnell. Für den Moment war er froh, dass er kein Hemd trug. Trotz aller Angst, machte ein Teil von ihm sich aberwitziger Weise Sorgen um den alten Fetzen, der immer noch auf dem Busch zum Trocknen lag. Er vermisste ihn jetzt schon, den er besaß nur zwei Hemden. Eins für Herbst und Winter, und das löchrige für Frühling und Sommer. Hans musste kurz innehalten. Sein Atem ging keuchend und die Hüfte schmerzte. Er stützte seine Hände über den Knien ab und konzentrierte sich darauf, seine Lungen mit Luft zu versorgen. Nach einer Weile konnte er den Mund schließen und Spucke sammeln, um seine Schleimhäute wieder zu befeuchten. Er dachte an alles Mögliche und Nebensächliche, damit er Angst und Schmerz nicht so stark spüren musste. Für einen Moment überlegte er zurückzugehen und dem alten Männlein Fragen zu stellen. Vielleicht war das Ganze alles nur ein blöder Witz! War der Alte etwa ein Verwandter von Karel und alle lachten jetzt über ihn, den gutgläubigen Hans? Aber dann wurde er gewahr, dass er von dem Alten reich beschenkt worden war, dass er ganz offensichtlich Magie beherrschte. Der Rucksack auf seiner nackten Haut fühlte sich gut an. Ein wertvolles Geschenk! Für einen bettelarmen Gerberpatensohn war so ein Lederteil purer Luxus. Hans ließ ihn über die Schultern nach unten gleiten und setzte sich auf einen Moosteppich. Wasser, er brauchte etwas zu trinken! Mit zittrigen Fingern entkorkte er den Krug und trank. Es war angenehm kühl und erfrischend, nach wenigen Schlucken war sein Bedürfnis gestillt. Als er die Tonflasche wieder zurücktat, sah er vier sauber eingewickelte, belegte Brote. Wo kamen die denn her? Er war sich sicher, drei gegessen zu haben und ein viertes hatte auf den Äpfeln und Birnen gelegen. Mit einem Schulterzucken tat er dieses Rätsel schließlich ab. Die Brote mussten wohl unter dem Obst gelegen haben und waren durch die Rüttelei beim Rennen nach oben gewandert.
Gerade als er eines auswickelte, hörte er ein Stöhnen. Es war nicht weit weg, schätzungsweise zwanzig, höchstens dreißig Schritte, und klang schmerzerfüllt, geradezu steinerweichend kläglich. Ich werde im Wald gebraucht … Das musste es sein. Eine tiefe innere Ruhe erfüllte ihn unerwartet. Hans schulterte den Rucksack und stand auf. Die ersten Schritte humpelte er stark, aber dann wurde es besser und er konnte auch seinen Rücken wieder durchstrecken. Als er über eine vom Blitz gespaltene Eiche hinwegstieg, war ihm, als ginge er durch ein großes Spinnennetz. Hans wischte sich unwillkürlich übers Gesicht und die Hände, aber da war nichts. Leise näherte er sich. Dann sah er ihn. Ein älterer Mann in Uniform lag zusammengekrümmt am Fuße einer mächtigen Eiche und rang nach Luft.
Hans eilte zu ihm. Der Mann öffnete seine Augen und starrte ihn eine Weile an, blinzelte. Unter großer Anstrengung streckte er eine Hand aus und sagte etwas, doch Hans verstand ihn nicht.
„Sag es nochmal“, bat er und kniete sich an die Seite des Sterbenden. Er sah keine Wunden oder andere Verletzungen, doch es war offensichtlich, dass dieser Mann bald seinen letzten Atemzug machen würde. Er war sehr blass, grau um Nase und Mund herum, auf der Stirn standen Schweißperlen und das Atmen fiel ihm schwer. Hans näherte sich ihm noch weiter und lauschte seinen letzten Worten.
„Bring sie für mich zum König. Das Land … Gefahr … der Dunkle ist erwacht. Versprich … mir …“
„Wen soll ich zum König bringen, wen? Wo ist sie, was ist sie?“, fragte Hans, doch der Soldat schwieg. Er rüttelte aufgeregt an seiner Schulter, aber dann sah er, dass das Licht in den Augen gebrochen war. Die Seele dieses Mannes weilte nun an einem anderen Ort. Hans saß erschüttert neben der Leiche. Für einen schrecklichen Moment sah er seinen Vater dort liegen und die Sehnsucht nach seinen Eltern überwältigte ihn. Er atmete tief durch und wischte sich seine Tränen vom Gesicht. Jetzt war nicht die Zeit für Angst und Trauer. Jetzt musste er handeln. Während er respektvoll die Taschen des Soldaten durchwühlte, murmelte er das traditionelle Gebet für die Seelenreise:
Folge dem Licht, du meine Seele, am Tage meines Todes. Nimm mit, was das Leben dir an Freude und Weisheit schenkte, und tauche ein in den Lebensquell. Werde Licht, sei Freude und Segen, werde zu neuem Leben, wenn die Götter es wünschen.
Plötzlich stach ihn etwas in den Finger. Hastig zog er seine Hand zurück und nahm seinen blutenden Mittelfinger zwischen Zeigefinger und Daumen der linken Hand, betrachtete die Bescherung. Ein dicker Tropfen Blut quoll hervor, der träge ins Moos tropfte. Seufzend setzte Hans die Durchsuchung der Jackentasche fort und fand eine Rose. Ein Blatt war mit seinem Blut benetzt. Nachdenklich betrachtete er sie. Wunderschön. So eine hatte er noch nie im Leben gesehen. Sie war von einem dunklen Rosa, hatte in der Mitte ein blaues und ein gelbes Blütenblatt. Ein ungewöhnlicher Schimmer umgab sie. Sie war weder Knospe noch voll erblüht. Warum hatte der Mann sie bei sich gehabt? Hans legte sie behutsam auf die Herzgegend des Verstorbenen und richtete sich auf. Wo war sie? Wen sollte er zum König bringen? Als ob er den Weg wüsste! Was hatte der Mann bloß gemeint? Ein Mädchen, eine Botschaft, eine wertvolle Brosche? Hans sah nichts und niemand, auch konnte er nichts hören, was im Wald ungewöhnlich wäre. Er war ganz allein. Allein mit einem Toten. Hans erschauerte. Er konnte nicht mit bloßen Händen ein Grab ausheben. Zurück ins Dorf zu gehen, um Hilfe zu holen, war das einzig Richtige, daher wendete er sich ab und schlug den Heimweg ein. Die Wunsch-Fee hatte dies sicherlich gemeint, als sie von Hilfe im Wald sprach: Einer armen Seele zu einem anständigen Begräbnis zu verhelfen …
3
Kaum hatte er einige Schritte getan, hörte er ein zartes Stimmchen rufen:
„Wo willst du denn hin?“
Hans fuhr herum, seine Augen weit aufgerissen.
„Wer spricht da? Zeige dich!“, rief er mit klopfendem Herzen.
„Hier bin ich doch, sieh mal genauer hin, du dummer Tropf. Hihiier! Du hast mich doch selber auf der Brust des Toten abgelegt.“
Hans stierte auf die Rose. Eine sprechende Rose! Und nun wackelte sie auch noch, genauer gesagt: Sie öffnete ihre Blüte. Und aus der Mitte entstieg ein … ja, ein was? Ein rosiges, jungenhaftes, winziges Männlein, das ausgestreckt auf seiner Handfläche liegen könnte und noch Platz hätte nach oben und unten. Dies war wirklich der merkwürdigste Tag seines Lebens. Er näherte sich mit Vorsicht, rieb seine Augen und als er wieder hinschaute, war das Wesen immer noch da.
Na gut, es gab Wunsch-Feen. Warum sollte es nicht noch mehr magische Wesen geben? Mama hatte die Abendgeschichten immer Märchen genannt, wenn er fragte, ob sich das wirklich alles so zugetragen hätte. Aber sie hatte dann auch immer mit dem linken Auge verschwörerisch gezwinkert und ganz leicht den Kopf zum Vater hin geneigt, so als wollte sie andeuten, sie sage nur deshalb Märchen, weil der Vater nicht an Elfen, Feen und Zwerge glaube. Oder Riesen.
„Du musst mich zu deinem König bringen. Bitte halte dein Versprechen.“
„Dich?“
„Beim heiligen Rosenbusch, jaaa, mich!“
Hans zuckte leicht zusammen. Wirklich freundlich war der Winzling aber nicht. Er nahm vorsichtig die Rose am Stiel auf. Zu seiner Überraschung hatte sie gar keine Dornen.
„Wer bist du denn? Oder, was?“
„Ich bin Rosario, König der Rosen-Elfen. Bring mich zu deinem eigenen König, so wie es der wackere Soldat tat, bis sein altes Herz ihm den Dienst versagte. Jetzt! Los, los! Wir dürfen keine Zeit verlieren.“
Plötzlich wurde es kühler und dunkler. Ein Rauschen über den Baumkronen verhieß nichts Gutes; es klang sehr fremd und bedrohlich.
„Sie kommen! Das sind die Schwarzen Schlangen. Die Vorhut des Dunklen Königs. Sie suchen nach mir. Schnell, wir müssen hier weg.“
Hans zögerte einen Moment. Welche Richtung sollte er einschlagen? Der Elf deutete seine Unschlüssigkeit falsch.
„Junge, du bist an mich durch dein Blut gebunden, also gehorche auch!“
„Mein Blut?“, fragte Hans und betrachtete die wehe Mittelfingerkuppe. „Aber die Rose hat keine Dornen. In der Jackentasche muss noch etwas …“
„Nein, vergiss die Jackentasche und alles, was darin sein mag. Ich habe dich gebissen.“
„Du hast was?“, empörte sich der Junge.
„Gebissen. Mit meinen Zähnen. Ja!“ Rosario fletschte seine Zähnchen. Die Eckzähne waren spitz geschliffen. „Damit wurde der magische Bund besiegelt und nur deswegen kannst du mich sehen und hören. Der Soldat ist ja tot, also musste ich einen neuen Boten wählen. Und bevor du noch mehr unnütze Fragen stellst … lauf los! Unterwegs erkläre ich dir alles.“
„Ich weiß doch aber gar nicht, wo es langgeht. Ich war nie beim König. Unsereiner tut so etwas nicht.“
Hans fühlte sich überfordert. Er kannte die Welt nicht. Nur sein Heimatdorf und das Dorf seines Paten. Und natürlich den Weg dazwischen. Aber sonst? Die Felder der Bauern waren ihm bekannt bis hin zum breiten Fluss, der eine natürliche Grenze war. Dahinter endete seine Welt. Es gab keine Brücke, keine Boote. Und diesen Wald hatte er auch noch nicht betreten. Also, nicht allein, genau gesagt. Er hatte mit seinem Paten letzten Herbst Pilze und Esskastanien gesammelt, aber die wuchsen mehr so am Rande.
„Beim rosigen Rosenblatt! Ich fasse es nicht, so viel Unwissenheit. Folge deinem Herzen, was sonst? Wir sind hier im magischen Wald, wo das Wünschen noch hilft. Hast du nicht gemerkt, dass du die Grenze überschritten hast?“
Hans schüttelte nur den Kopf. Er sah nach oben zu den dräuenden Schatten und fürchtete sich sehr. Sie zogen ihre Kreise und kamen immer näher. Diese Ungeheuer mussten riesig sein. Ob sie das Dorf angreifen würden? Hans dachte an seinen Paten, der ahnungslos vor dem Haus Felle gerbte. Möglicherweise schlug heute sein letztes Stündlein. Nicht, wenn ich es verhindern kann. Sie suchen den Rosen-Elfenkönig, also werde ich ihn weit wegbringen. Das bin ich dem Paten schuldig. Seinen ganzen Mut zusammennehmend, traf er eine Entscheidung. Er schaute dem Elfenkönig in die winzigen Augen und sagte laut: „Ich wünsche mir, den Weg zum König der Menschen zu finden.“ Der Elf jubelte und warf seine Ärmchen hoch. Dabei verrutschte ihm ein wenig seine Krone. Konsterniert rückte er sie wieder gerade und verkündete Hans, dass er sich nun wieder zurückziehen würde. Er möge ihn spätestens dann wecken, wenn er vor dem Schloss stünde. Sprach’s und die Blütenblätter schlossen sich über ihm. Hans legte nach kurzer Überlegung die Rose in seinen Rucksack auf die Äpfel und Birnen. Der Soldat hatte sie schließlich auch in einer dunklen Jackentasche durch die Gegend getragen. Er warf noch einen Blick auf den Verstorbenen. Sein Gesicht sah jetzt sehr friedlich aus. In Gedanken bat Hans ihn um Vergebung, weil er nicht für ein Begräbnis sorgte, doch der Soldat wusste ja um die Dringlichkeit der Mission, daher würde er ihm sicherlich vergeben.
Hans schloss die Augen, drehte sich im Kreise, bis er einen Sog fühlte. In diese Richtung humpelte er zügig voran, darauf vertrauend, dass am Ende des Weges das Königsschloss lag. Je länger er unterwegs war, umso mehr sank sein Mut. Die Richtung mochte stimmen, aber, würde er rechtzeitig ankommen? Würde er überhaupt ankommen oder enden wie der erste Bote? War der Soldat denn der allererste Träger der Rose gewesen? Oder hatte es noch andere vor ihm gegeben?
Fragen über Fragen.
Und keine Antwort.
4
Es war höchst merkwürdig. Seinem Gefühl nach müsste längst die Dämmerung Einzug halten. So lang war kein Tag, dass er nicht doch irgendwann zur Nacht wurde. Hans saß auf einem umgestürzten Baumstamm und stärkte sich mit Obst und weiteren Käsebroten. Mittags – also zumindest als er meinte, es wäre Mittagszeit – hatte er sogar ein Schinkenbrot im Rucksack vorgefunden. Wacholdergeräuchert, gut mit Fett durchzogen. Etwas, was es früher zuhause nur zu hohen Feiertagen gegeben hatte. Der Rucksack war magisch. Kein Zweifel. So viel Hans auch aß und trank, er füllte sich immer wieder auf.
Gedankenverloren kaute er mit vollen Backen und gönnte sich etwas Muße, seine Umgebung genauer zu betrachten. Dieser Wald schien sich in nichts von einem normalen Wald zu unterscheiden. Er sah Laubbäume und Nadelbäume. Farne, Moos und auch mal ein paar Gräser und Pilze. Da hinten, zwischen zwei jungen Eichen residierte ein Ameisenvolk. Der Bau war beeindruckend groß. Hans beschloss, nicht in seine Nähe zu gehen. Vogelgezwitscher gab es, flinke Eichhörnchen, röhrende Hirsche und er hörte auch in der Ferne das Grunzen von Wildschweinen. Denen wollte er auch nicht begegnen. So weit so gut und alles normal. Dennoch. Die Sache mit dem Licht war komisch. Aber möglicherweise irrte er sich einfach und es war noch nicht so viel Zeit vergangen, seit sein Tag diese erstaunliche Wendung genommen hatte. Hans kratzte sich an der Stirn und rieb dann nervös seinen Hinterkopf. Was hieß hier sein Tag, wohl eher sein Leben! Hans streckte seinen Rücken, hob sein Kinn an. Er war nun kein Kind mehr, nein, er war auf sich allein gestellt und hatte eine Mission zu erfüllen; das Wohl des ganzen Reiches hing davon ab. Und das Schicksal hatte jetzt ihn, Hans, auserwählt, ihn und keinen anderen! Mochten die anderen Jungen ihn auch als Hinkebein verspotten. Das war ab jetzt völlig egal. Er war jetzt Hans, Träger der königlichen Rose …
Oh, die Rose! Die hatte er ja ganz vergessen. Ob die Wasser brauchte?
Hans nahm sie vorsichtig aus dem Rucksack heraus und betrachtete sie. Die Blätter waren so frisch wie zuvor. Behutsam zupfte er daran, klopfte leis mit dem Fingernagel dagegen.
„Rosenkönig? Hörst du mich?“
Ein dumpfes, langgezogenes ‚Jaaa‘ ertönte. Offenbar erwachte er aus tiefem Schlummer. Hans hoffte, dass er den Elf nicht verärgert hatte.
„Sag mal, lieber Elf, braucht deine Rose eigentlich Wasser und hast du vielleicht Hunger?“
Blatt für Blatt öffnete sich die Blume. Erst das bläuliche, dann das gelbe und schließlich die rosigen. In ihrer Mitte erhob sich verschlafen der kleine König. Seine Krone war wieder verrutscht. Gemächlich schob er sie zurecht und öffnete spaltbreit seine Augenlider. Einen seltsamen Moment lang starrte er Hans mit leerem Blick an. Plötzlich holte er tief Luft und war hellwach.
„Beim heiligen Blütenpollen! Ich habe so tief geschlafen. Sind wir schon da?“
„Wo da?“
„Frag nicht so dumm. Da da!“
„Hä?“
„Schloss! König der Menschen! Dort da. Schon vergessen, dass wir ihm den Schlüssel zur Rettung des Landes bringen?“
Hans verzog missmutig das Gesicht. Wie könnte ein so hübsches, magisches Geschöpf so unfreundlich und hochmütig sein?
„Nein. Und nein.“
„Wie jetzt?“
„Nein, wir sind noch im Wald. Und nein, ich habe das nicht vergessen.“
„Warum weckst du mich dann?“
„Weil ich mir Sorgen gemacht habe, ob deine Rose Wasser braucht. Und vielleicht hast du ja auch Hunger und Durst. Außerdem, das fällt mir gerade ein, hast du mir versprochen, unterwegs alles zu erklären.“
Der Rosen-Elf sah nun ein klein winzig wenig beschämt aus. Wie fürsorglich der Menschenjunge doch war. Wenn schon ein so geringer Untertan guten Charakters war, dann musste der Menschen-könig erst recht ein Juwel unter der Sonne sein. Wie sehr freute er sich auf die Begegnung.
„Hab Dank. Meine Rose ist so magisch wie ich. Sie benötigt kein Wasser und mir ist ihr Duft Speis und Trank genug. Sorge nur für dich selbst und eile zum Schloss.“
Hans nickte zustimmend, aber auch leicht vergrätzt. Er hatte keine Lust auf schwierige Persönchen.
„Du hattest versprochen, mir alles zu erklären. Was sind die Schwarzen Schlangen zum Beispiel? Mir scheint, die gibt es wirklich.“
„Ja. Die sind leider Wirklichkeit und nicht nur ein Symbol für unfassbaren Schrecken, mit denen man unartigen Kindern Angst macht, um sie zu erziehen. Lange Zeit haben sie geschlafen, wie der Dunkle auch. Nun ist ihre Zeit gekommen, ein hoffentlich letztes Aufbäumen des Bösen. Sie wissen noch vom vorherigen Versuch, an die Macht zu gelangen, dass wir Rosenelfen ihren Untergang in uns tragen. Darum suchen sie nach mir und kreisen über dem Wald. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mich finden. Uns finden. Sollte dies geschehen, so lass mich zurück, ich lenke sie von dir ab. Aber nimm meine Krone mit und bringe sie zu deinem König. Er sollte wissen, was er zu tun hat.“
„Wie sehen diese Schlangen denn aus? Wie kommt es, dass sie fliegen können?“
„Es sind keine richtigen Schlangen, wie du sie kennen magst. Sie haben einen Kopf ähnlich dem eines Raben, und auch der lange Körper ist teils von Gefieder bedeckt. Aber sie haben keine echten Flügel, sie fliegen mittels schwarzer Magie. Aus ihren Nüstern raucht es, weil sie innerlich ständig vor Bosheit und Hass brennen und sie stinken so entsetzlich, dass man tot umfallen könnte. Nachts singen sie schaurige Lieder, die dir die schrecklichsten Alpträume machen! Und sie …“
Der Elf untermalte seine Beschreibung mit wilden Grimassen und dramatischer Gestik.
„Äh, verzeih, dass ich dich unterbreche, mein kleiner König, aber hast du sie je mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört?“
Ertappt senkte Rosario seinen Blick und kratzte sich verlegen an der linken Schulter.
„Nun ja, öhm, genau gesagt, und ehrlich gesprochen, um bei der Wahrheit zu bleiben …, wie soll ich sagen?“
„Lass mich raten. Du kennst sie ebenso wenig wie ich und erzählst hier Schauermärchen.“
„Manchmal geht es mit mir durch. Verzeih bitte. Aber gefährlich sind sie doch. Sie schützen den Dunklen. Aber lass nicht deine Schultern hängen, Kind. Es gibt diese eine Chance, und die werden wir ergreifen. Die Schwarzen Schlangen können nicht in diesen Wald eindringen, denn die Baumkronen geben Schutz. Ein magisches Netz liegt verborgen zwischen ihnen.“
„Dann ist es ja gut!“, rief Hans erleichtert aus.
„Nun ja.“
„Was heißt jetzt wieder ‚nun ja‘? Weißt du etwas, was ich nicht weiß?“
„Etwas?“, rief der Elf aus und kicherte. „Etwas??“ Dann riss er sich zusammen und antwortete ernst. „Sobald der Herbst die Blätter fallen lässt, werden wir schutzlos sein.“
„Aber der Herbst ist noch Wochen entfernt! Die Ernte ist noch nicht eingebracht.“
„Der Herbst in deiner Welt, ja. Aber du hast die magische Welt betreten und hier ist jede Jahreszeit, auch der Herbst, sagen wir mal, etwas launisch. Wir wissen nicht, wann das erste Blatt fällt. Und wenn das passiert, dann bleiben uns nur noch Stunden.“
Hans dachte nach. Der Appetit war ihm vergangen. Er wickelte sorgsam den Rest des köstlichen Brotes wieder ein und legte das kleine Bündel in den Rucksack, dessen Leder so herrlich weich und anschmiegsam war.
„Dann sollten wir keine Zeit verlieren. Lass uns weitergehen.“
„Zeit ist hier eine Sache für sich. Die Tage können hier Wochen andauern oder nur wenige Stunden. Eine Nacht mag für ein Jahr Dunkelheit sorgen, oder für zwei Minuten tiefste Finsternis. Alles ist hier willkürlich.“
„Großartig.“
Der Rosenkönig zuckte mit seinen kleinen Schultern. Er hatte den Wald nicht gemacht. Er war nur einer seiner zahlreichen Bewohner. König hin, König her …
„Willst du wieder in den Rucksack und weiterschlafen?“
„Nein, bitte trage mich. Ich möchte dir ab jetzt zur Seite stehen. Man kann hier den seltsamsten Geschöpfen begegnen, die ihren Schabernack treiben wollen. Und da sich nicht gerade oft echte Menschen hierher verirren, dürften sie gelangweilt sein.“
Wortlos setzte Hans den Weg fort. Obwohl er oft quer durchs Unterholz stapfte und manches Mal die Richtung abrupt wechselte, war er sich sicher, stets die Richtung zum Schloss zu wissen. Er verließ sich ganz auf sein inneres Gefühl und spürte dem Sog nach. Als die Gegend steiniger wurde und es bergan ging, begegneten sie dem ersten echten Hindernis. Auf einer kleinen Lichtung stand mittig ein Fels, der ein Gesicht hatte. Und nicht nur das. Er sprach.
„Halte ein, Wanderer! Passieren verboten. Du musst bezahlen, wenn du deinen Weg fortsetzen willst.“
Hans entschied, es zuerst mit Höflichkeit und Schmeichelei zu versuchen.
„Sei gegrüßt, Stein aller Steine, Fels aller Felsen. Leider habe ich keine Münzen dabei. Den Weg muss ich dennoch fortsetzen, da ich auf einer Mission bin. Gehab dich wohl.“
Er deutete noch eine Verbeugung an und ging seitlich vorbei. Doch prallte er nach drei Schritten schon gegen eine unsichtbare Wand. Auch auf der anderen Seite des Steines, der ihm belustigt zusah.
„Du kommst hier nicht vorbei“, sagte er gelassen. „Erst musst du den Wegzoll begleichen.“
„Ich sagte doch schon, ich besitze kein Geld.“
„Was sollte ich wohl mit Geld? Nein. Ich will etwas Besseres. Kurzweil! Ich sage dir ein Rätsel. Oder zwei, oder drei. Und weißt du die Antwort, so lasse ich dich passieren.“
Der Rosenkönig, der mittlerweile auf Hansens Schulter saß, wisperte ihm zu, dass er sich darauf einlassen solle.
„Nun gut, stell dein Rätsel, Herr Stein.“
Hans erschrak im selben Moment ein wenig und hoffte, dass er keine Frau Stein vor sich hatte. Woher sollte er das auch wissen? Er beäugte das Steinwesen genauer und wurde aber auch nicht schlauer dadurch.
Vor Eifer und Freude kullerten einige lose Steinchen von der Oberfläche des Felsens. Endlich wieder Spaß!
„So höre er gut zu, hier kommt das erste Rätsel. Wie viele Eicheln genau passen in einen leeren Korb?“
„Viele oder wenige eben. Hängt davon ab, wie groß oder klein der Korb ist.“
„Falsch. Du kommst hier immer noch nicht vorbei! Aber ich will mich großzügig zeigen. Denk nochmal nach.“
Der Rosen-Elf wisperte in Hansens Ohr, er solle das Wort leer bedenken.
„Sag du mir doch die Antwort, wenn du sie weißt, kleiner König“, wisperte Hans zurück.
„Das geht leider nicht. Er hat ja dich gefragt. Magisches Gesetz! Du musst selber draufkommen.“
Sein Hirn war vor Schreck ebenso leer wie der rätselhafte Korb. Da hörte er in seinem Inneren eine fröhliche Stimme zwischen seinen Ohren. Lass uns ein wenig schummeln … Staunend sah er wie hinter dem Steinhindernis zwischen den Wurzeln einer Eiche ein Eichhörnchen geschwind ein Körbchen aus Gras flocht. Es hob es an und der Baum ließ eine seiner Eicheln hineinfallen. Das Eichhörnchen legte mit bedeutsamem Blick seine Pfote darüber und schüttelte den Kopf.
Da begriff er!
„Die Antwort lautet: Eine. Denn sobald nur eine einzige Eichel im Korb liegt, ist er nicht mehr leer, egal wie groß oder klein er sein mag.“
Der Rätselstein zog seine Mundwinkel nach unten.
„Richtig.“
„Dann werden wir jetzt weitergehen.“
„Nein, nein. Ich stelle ein zweites Rätsel. Das war viel zu leicht.“
Hans runzelte seine Stirn und tastete mit der Hand, ob das unsichtbare Hindernis immer noch da war. Tatsächlich. Er konnte nicht weiterziehen. Verdammt noch mal.
„So höre er gut zu. Hier kommt das zweite Rätsel. Wer hört alles und sagt nichts?“
Der Stein war sehr zufrieden mit sich. Er konnte das Spielchen treiben bis zum Sankt Nimmerleinstag.
„Hm.“
Hans kam die Frage irgendwie bekannt vor. Sein Vater hatte mit ihm auch Rätselraten gespielt, wenn die Winterabende lang und dunkel waren und Hans nicht schlafen konnte, weil ein Schnupfen ihn plagte oder der Tag ihn nicht genug ermüdet hatte. Er kratzte sich wieder an der Stirn, wie immer, wenn er scharf nachdachte.
„Ich weiß! Das ist das Ohr! Es hört, aber es spricht nicht.“
Hans strahlte über sein ganzes Gesicht.
Der Stein hingegen nicht, sein felsiges Antlitz verdunkelte sich. Dieser Bursche war einfach zu schlau. Unerhört.
„Nun lass mich gehen, mach die Hürde weg und sei ein guter Stein.“
„Nein, nein, ein drittes Rätsel noch, und ein viertes, fünftes, hundertstes. Ich lasse dich nicht gehen, mir ist so langweilig.“
Der Stein räusperte sich und kramte im Geiste in seinem Rätselfundus. Der Mensch kannte sich wohl in eigenen Dingen aus – aber auch mit der Tierwelt? Er traf seine Wahl für das dritte Rätsel.
„Welcher König regiert kein Land?“
Eine Fangfrage! Jetzt würde der Bursche über seine eigenen Könige nachdenken, ha!
Doch Hans lachte nur auf.
„Das habe ich schon als kleiner Bub gewusst. Der Zaunkönig, wer sonst? Du sprichst von einem Vogel. Und wie ein Vogel werde ich jetzt frei meiner Wege gehen. Senke die Barriere, Stein.“
„Nein, nein, nein, ich will nicht!“
Hätte der Stein Füße gehabt, so hätte er jetzt trotzig mit selbigem aufgestampft.
Der Rosenkönig zupfte an Hansens Ohrläppchen und wisperte ihm seine Idee zu. Hans grinste breit. Ja, so konnten sie es schaffen. Der Stein hatte Langeweile? Dem konnte er Abhilfe leisten.
„Pass auf, Stein. Ich fordere dich heraus. Ich stelle dir ein Rätsel, und wenn du es nicht lösen kannst, lässt du uns gehen.“
„Pah! Ich bin der König aller Rätsel! Ich weiß alles. Du aber wirst bis zum letzten Atemzug vor mir stehen und meine Rätselfragen beantworten.“
„Wir werden sehen. Höre gut zu. Falls du dich traust?“
„Natürlich traue ich mich, du armer Tropf. Lass hören.“
„Etwas, das alles verschlingt,
rauschenden Baum
und Vogel, der singt,
frisst Eisen, frisst Stein,
zerstört heil‘gen Schrein,
ringt Könige nieder
und nichts kommt je wieder,
ist Schall und Rauch,
zerstört letztlich dich auch.“
Der Stein klappte seinen Mund knirschend zu. Eben noch siegesgewiss und hochmütig, so war er jetzt still und verunsichert. Nach einer Weile knirschte es förmlich im Steingefüge, so sehr strengte er sich beim Nachdenken an. Hans ging scheinbar gelassen auf und ab und pfiff leise eine Melodie vor sich hin. Dabei näherte er sich der unsichtbaren Barriere und streckte mehrmals prüfend seine Hand aus, ob sie noch vorhanden sei. Es dauerte quälend lange, ehe sie zusammenbrach, weil der Stein ganz und gar auf das Rätsel konzentriert war. Unauffällig schlichen sich Hans und Rosen-Elf davon. Als sie die Eichen passierten, winkte das Eichhörnchen ihnen fröhlich zu und sprang von Ast zu Ast, von Baum zu Baum und begleitete sie eine Weile auf ihrem Weg. Der Stein indes zerbrach sich beim Nachdenken so sehr seinen Kopf, dass er anfing zu bröseln. Seine letzten Worte waren: „Die Zeit!“, aber da war es für ihn schon zu spät und er war zu Steinstaub geworden.
5
Der Rosenkönig krabbelte von Hansens Schulter auf dessen Hand, damit er ihm besser ins Gesicht sehen konnte.
„Das hast du großartig gemacht, du hast ihn überlistet!“
„Wir haben ihn gemeinsam überlistet, kleiner König“, entgegnete Hans großmütig. Und es war ja auch so. Alleine stünde er jetzt immer noch vor der Barriere und würde Rätsel raten. Es war sehr schön, einen Gefährten zu haben und sei er noch so klein. Wobei, Hans schaute zwei, drei Mal genauer hin – der König schien gewachsen zu sein und sah etwas älter aus. Nicht mehr wie ein Halbwüchsiger, dem die Krone zu groß war. Nein, da saß jetzt ein junger Mann auf seiner Handfläche, der Selbstsicherheit und Männlichkeit ausstrahlte.
„Sag, hast du schon mal etwas derart Merkwürdiges gesehen wie ein Körbe flechtendes Eichhörnchen? Es sah so niedlich und eifrig aus. Als König deines Rosenvolkes hast du doch sicher schon viel gesehen. Könige sind klug und weitgereist und wissen alles.“
Rosario starrte ihn an. Wollte der Menschenjunge ihn veräppeln? Da fiel ihm ein, dass der ja gar nicht Bescheid wissen konnte.
„Hör mal, da muss ich dir was erklären. Ich bin nicht anders als die anderen Rosen-Elfen. Wir sind alle gleich in unserem Volk. König bin ich deswegen, weil ich eines Morgens aufwachte und mein Rücken weh tat. Ich hatte nämlich auf der Krone geschlafen. Keine Ahnung, wie die in meine Blüte hineingekommen ist. Sobald ich sie deinem König überbracht habe, bin ich wieder ein ganz gewöhnlicher Rosen-Elf, und das ist auch gut so.“
„Ach“, machte Hans.
„Wir magischen Wesen wissen um die Gefahr des schlafenden Dunklen Königs. Für euch sind das ja nur Märchen und keine echten Erinnerungen. Unser Gedächtnis reicht bis an die Zeit des Anfangs zurück. Da staunst du, was?“
„Allerdings. Wie kann das sein, dass in einen so kleinen Kopf wie deinem so viel Erinnerung reinpasst?“
Rosario verdrehte die Augen und patschte sich die Hand vor die Stirn. Für einen Moment verharrte er in dieser Stellung, um seine Fassung zu wahren. Bleib ruhig und habe Geduld, der Junge kann es nicht wissen, dachte er und atmete ein paar Mal tief durch.
„Ich werde es dir erklären, aber bitte gehe immer weiter, wir dürfen keine Zeit verlieren.“
Ohne Umschweife kletterte er den Arm hoch und setzte sich auf den Schulterriemen des Rucksacks.
„Hier oben muss ich nicht so schreien, damit du mich verstehen kannst. Also, es ist so: Die Erinnerungen sind nicht in unseren Köpfen, sie sind um uns herum! Wir müssen uns nur auf eine Frage oder ein Problem konzentrieren und dann bekommen wir die Antwort, sie wird uns eingehaucht. Die ganze Mutter Erde und die Sterne und überhaupt – alles ist Gedächtnis. Und manchmal, wenn etwas sehr wichtig ist, dann kommt die Erinnerung ohne Frage zu uns. So wie diese Krone. Nach der habe ich auch nicht gefragt, das kannst du mir glauben. Ich hätte lieber meine Ruhe behalten.“
„Ich auch!“, rief Hans. „Soll ich dir erzählen, wie ich dich gefunden habe? Mich hat die Wunsch-Fee in den Wald geschickt. Sie sagte, naja, er sagte, ich würde im Wald gebraucht und müsse eine Reise machen.“
„Tatsächlich? Und ich dachte, du wärst zufällig des Wegs gekommen. Ich hatte furchtbare Angst, dass niemand mich findet. Auf eigenen Beinen wäre ich mit Sicherheit zu spät gekommen. Die Weissagung sprach von einem Träger der Rose, einem Helden, aber meiner starb und du bist die zweite Wahl. Ein Held bist du nun nicht gerade, aber es wird reichen müssen.“
„So ist das also“, staunte Hans. „Es gibt also eine Weissagung über einen Helden. Ein Jammer, dass der Soldat gestorben ist.“
Eine Weile ging er schweigend und etwas trübsinnig durch den Wald, der jetzt etwas lichter wurde. Das Unterholz war längst nicht mehr so dicht. Im Vorbeigehen pflückte er einige Brombeeren. Er grämte sich, dass er kein Held war. Die Worte des Elfen waren wie Salz in seiner Wunde, doch er verbarg seinen Schmerz.
„Sag, bist du gewachsen oder täusche ich mich?“
„Natürlich wachse ich. Genau wie du. Das tun doch alle.“ Der Elf rieb sich die Augen, das Abenteuer mit dem Rätselstein hatte ihn ermüdet. „Ich lege mich jetzt wieder in meine Blüte, ich muss schlafen. Du solltest auch mal Pause machen, du humpelst so arg.“
Hans nickte nur, sein Bein tat wirklich weh. Aber das kannte er ja nicht anders.
„Ein Stückchen noch.“
Er holte die Rose aus dem Rucksack, legte sie, die geschmeidig ihre Blütenblätter nun wieder um den Rosen-Elf gewickelt hatte, behutsam zurück. Sie sah ein wenig welk aus. Vielleicht brauchte auch sie selbst etwas Schlaf. Wer wusste schon, was magische Rosen brauchen … Hans nahm sich eine saftige Birne und genoss sie. Mit großen Augen betrachtete er die Umgebung. Der Wald sah hier ganz anders aus. Von Zeit zu Zeit schaute er nach oben und suchte über den Baumwipfeln nach Schatten. Doch die Schwarzen Schlangen schienen die Spur verloren zu haben. Wie sie wohl aus der Nähe aussehen mochten? Hans schüttelte sich. Was für ein Gedanke! Das wollte er doch gar nicht wirklich wissen. Er spürte erneut dem Sog nach, weil er das Gefühl hatte, die Richtung zu verlieren. Und tatsächlich. Nach links, mehr nach links zog es ihn. Seufzend humpelte er weiter. Nicht mehr lange, dann würde auch er schlafen müssen. Es war immer noch taghell, doch musste es eigentlich längst Nacht sein, wenn sein Zeitgefühl ihn nicht trog. Hans gähnte herzhaft, warf das Birnengehäuse in die Büsche und ging weiter. Seine Lederschuhe waren immer noch feucht von seinem unfreiwilligen Bad im Ententeich. Er fasste den Entschluss, nach seiner Heimkehr den Mistkerlen es heimzuzahlen. Und zwar gründlich. Wie auch immer.
Als er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte und fast mit offenen Augen schlief, stand er plötzlich vor einem Haus. Mitten im Wald. Oder, stand das Haus plötzlich vor ihm?
Die Tür öffnete sich wie von Geisterhand. Ein Duft zog in seine Nase. Er kannte ihn. Der Tabak der Wunsch-Fee hatte genauso gerochen. Das nehme ich als gutes Omen, dachte Hans. Nichts wünschte er sich mehr als ein Bett und etwas Geborgenheit. Ich will es wagen. Wie in Trance humpelte er über die Türschwelle. Seine Sicht verengte sich zunehmend, aber das Bett sah er noch. Mitsamt Schuhen und Rucksack ließ er sich darauf fallen und schlief umgehend ein. Ihm war, als hätte er jemanden in der Zimmerecke gesehen. Egal. Schlafen … nur schlafen dürfen …
Als Hans erwachte, hörte er das Klappern von Stricknadeln. Sein Herz fing an zu klopfen. Denn was er sah, war noch merkwürdiger als alles, was er bisher auf seiner unverhofften Reise gesehen und erlebt hatte. Ja, das hier ging ein wenig zu weit. Schließlich war er nur der Hans Hinkebein, ein einfacher Junge vom Dorfe, und kein Weltenretter, der alles hinnehmen konnte an Erscheinungen und dergleichen, ohne halb in Ohnmacht zu fallen. Möglicherweise war es doch keine gute Idee gewesen, einfach so in ein fremdes Haus zu marschieren, ins Bett zu fallen und … kurz und gut – was seine Augen sahen, er aber nicht wahrhaben wollte, waren Stricknadeln, die einfach so über einem äußerst eleganten und fremdartigen Stuhl schwebten und eigenhändig – nein, eigennadelig – Wolle zu einem Tuch verstrickten. Was aber noch schlimmer war, das war das Behältnis, in dem das Wollknäuel lag. Ein riesiger, hässlicher Totenschädel, ohne Schädeldach, barg die Wolle in sich. Anscheinend waren die Erzählungen seiner Mutter über Bergtrolle und Riesen nicht ausschließlich ihrer Fantasie entsprungen. Der Faden wurde durch ein Nasenloch geführt. Und wenn er sich nicht täuschte – was er aber inständig hoffte – der Faden wurde von … Trollrotz? … benetzt. Nein, nicht benetzt. Das würde ja bedeuten: ein klein wenig Feuchtigkeit. Das war aber schon eine ordentliche Portion Schnodder. Angewidert wandte Hans sich ab. Leise erhob er sich aus dem Bett und schlich Richtung Tür.
„Oh, du willst uns schon verlassen? Du bist doch gerade erst angekommen.“
Hans fuhr herum, der Rucksack schlackerte von einer Seite zur anderen, dass dem Elf ganz schwindelig wurde. Er brummelte verärgert vor sich hin und schlief wieder ein. Das merkte und wusste Hans nicht; es wird auch nur der Ordnung halber erwähnt.
„Ach, wie dumm von mir. Entschuldige bitte!“, sagte die helle Stimme.
Es machte „plopp“ und dann saß eine Frau im Stuhl. Ihre Hände führten die Stricknadeln, was Hans ein wenig beruhigte. Doch seine Verblüffung ließ ihn seine gute Erziehung vergessen. Mit offenem Munde starrte er die Frau an. Ihr Kleid war dunkelgrün mit goldenem Farnblattmuster, ganz lang und bauschig. Er strengte sich und seine Augen wirklich an, aber er konnte nicht erkennen, ob vor ihm eine alte oder eine junge Frau saß. Sie war beides und nichts, sie war hier und doch nicht da.
Was soll’s. In einem magischen Wald ist offenbar alles möglich, dachte Hans. Er räusperte sich, einmal, zweimal. Seine Stimme wollte ihm nicht auf Anhieb gehorchen.
„Jetzt kannst du mich aber sehen, oder?“
„Ja.“
Mehr brachte Hans nicht heraus.
„Hast du gut geschlafen?“
„Ja.“
Der Duft, der ihn angelockt hatte, entstieg einer Räucherschale, die auf einem Kaminsims ihren Platz hatte. Unwillkürlich sah er das freundliche Gesicht seiner Wunsch-Fee vor seinem geistigen Auge. Thaddäus-Dingsbums nickte ihm freundlich zu und zwinkerte ihn warmherzig an. Dann löste sich das Bild auf …
„Bist heute einsilbig, was?“
„Ja.“
„Nun, setz dich erstmal wieder, mein Junge. Dir geschieht hier nichts. Ich bin gekommen, um dir zu helfen. Denn, helfe ich dir, helfe ich der Welt, helfe ich mir. So einfach ist das!“
„Wer sind Sie denn?“
Die Frau legte ihre Hände in den Schoß und sah ihren Gast mit ehrlichem Bedauern an.
„Oh, wie unhöflich von mir. Ich vergaß, mich bei dir vorzustellen. Mein Name ist Walburga. Ich bin die durch ihr Tun und Walten Schützende.“
„Ich bin der Hans.“
„Ich weiß. Der Wald hat dich angekündigt. Du bist auf dem Weg zum König. Nur wirst du bei deinem Tempo dort nicht rechtzeitig ankommen.“
Hans rutschte das Herz förmlich in die Hose. Das durfte doch nicht wahr sein! Seine Beine gaben unter ihm nach und sein Herz krampfte sich zusammen. Er ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen und nahm seinen Rucksack ab, der plötzlich viel zu schwer wog.
War alles umsonst gewesen?
„Darum brauchst du Hilfe. Meine Hilfe.“
„Danke, Frau Walburga. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ehe ich mich versah, war ich der Träger der Rose. Glaubt mir, ich bin so schnell gelaufen, wie ich konnte. Ich habe ein wehes Bein. Und der Rätselstein hat uns aufgehalten.“
„Auch das weiß ich. Hast die alte Nervensäge dazu gebracht, sich den Schädel zu zerbrechen. Geschieht ihm recht.“ Ungeniert kicherte Walburga. „Aber keine Bange, mit der Zeit wächst er wieder nach. Hier im magischen Wald ist alles unsterblich.“
Der Stuhl, auf dem Walburga saß – sie nahm eben jetzt wieder ihre Strickarbeit auf – faszinierte Hans. Sowohl auf den Enden der Armlehnen als auch auf der Stuhllehne, waren je zwei leuchtende Glaskugeln befestigt. In ihnen tanzten mal Schneeflocken, mal kleine Sternchen oder auch Schmetterlinge. Und im nächsten Moment schwommen kleine Fische in allen Kugeln. Hans sah sich genauer im Raum um. Überall waren brennende Kerzen aufgestellt. Auf riesigen, geschnitzten Ständern aus Eiche, auf Tischen aus Vogelbeerholz, auf dem Sims neben der Räucherschale. Auf dem Fensterbrett stand eine tickende Sanduhr. Sand rieselte unaufhörlich und jedes Körnchen machte ein leises „Tick“, manche allerdings machten auch „Tack“. Hans überkam die unangenehme Gewissheit, dass das Rieseln mit ihm selbst zu tun hatte.
„Seien wir mal ehrlich, Junge. Mit deinem kaputten Bein wirst du nicht rechtzeitig beim König sein können. Die Schwarzen Schlangen konnte ich verwirren mit einem Trugbild, doch die sind nicht dumm, die kommen wieder. Du bekommst von mir zwei Geschenke. Das eine fertige ich gerade an, das andere steht da hinten in der dunklen Ecke. Geh mal und hol den alten Teppich her. Er ist etwas schüchtern.“
Hans suchte alle Ecken ab. Es waren ja nur vier, und so fand er schnell die Teppichrolle und trug sie in die Mitte des Raumes, legte sie dort ab. Walburga schnipste mit den Fingern und der Teppich entrollte sich.
„Schönes Muster, was? Geschenk vom einem Dschinn, den ich von einem chronischen Husten geheilt habe.“
Vertraulich beugte sie sich vor und sagte grinsend: „Der dumme Dschinn hatte Teppich-Flöhe in der Lunge … zumindest habe ich das ihm eingeredet. Daraufhin war er froh, den Teppich loszuwerden. In Wahrheit war er auf die Ölreste in seiner Wunderlampe allergisch. Die habe ich gründlich geputzt und schon war er wieder gesund. Der Teppich allerdings redet seitdem nicht mehr. Ich fürchte, er ist beleidigt und eingeschnappt wie eine Leberwurst. Ich hätte das mit den Flöhen nicht in seiner Gegenwart sagen sollen.“
Sie zeigte energisch mit den Stricknadeln auf den Boden.
„Jedenfalls gehört er jetzt dir. Ich wusste doch, eines Tages würde er nützlich sein! Und außerdem bekommst du dieses Hemd von mir.“
Hans schaute entsetzt auf das verschnodderte Machwerk in ihren Händen. Wie durch Zauberei war inzwischen ein fertiges Hemd entstanden.
Walburga strahlte ihn an.
„Hier, probier mal über. Will sehen, ob es passt.“
Mit spitzen Fingern nahm Hans es entgegen und murmelte was von zu klein für ihn und lieber nicht aber schönen Dank …
„Papperlapapp. Das sitzt wie angegossen.“
Walburga schnipste mit den Fingern und das Hemd flog ihm an den Leib und passte perfekt. Hans spreizte angeekelt Arme und Finger ab. Der Schnodderrrrrrrr!
Entgeistert schaute die Frau ihn an. Was hatte der Junge denn? Kratzte die Wolle etwa auf der Haut? Sie beobachtete, wie der Blick des Jungen hin und her flog zwischen dem Wollspender, ihr und dem Hemd an seinem Leib. Da begriff sie und fing an, lauthals zu lachen.
„Ach herrjemine! Du denkst doch nicht etwa …? Nein, nein, das ist nur mein spezieller Humor. Das ist kein Trollrotz, das sieht nur so aus. Nichts hier ist das, wonach es aussieht. Na, sagen wir mal: fast nichts. Was du da am Leib hast, ist ein feuerfestes Hemd. Mit Kapuze! Für den Fall, dass die Schwarzen Schlangen dich zwischen Schloss und Wald aufspüren. Da ist nämlich freies Gelände. Im Schloss selbst wirst du wieder geschützt sein. Es heißt, eine der Schlangen kann Feuer spucken. Du musst es nur schaffen, dort lebend anzukommen, weiter nichts.“
„Weiter nichts? Dann ist es ja gut. Ich dachte schon, es könnte irgendwann noch richtig schwierig werden“, brummelte Hans.
„Nimm den Teppich, es wird Zeit für den Abschied. Komm und lass dich einmal richtig umarmen.“
Walburga stand auf und drückte ihn mütterlich an ihren wogenden Busen.
„Ich hätte dich gern noch besser kennengelernt und so, aber die Zeit drängt. Folge deinem Herzen und bleibe dir treu!“
Mit diesen Abschiedsworten deutete sie auf die Sanduhr und entließ ihn aus der Umarmung. Der Haufen im unteren Teil war in der Tat angewachsen. Ein Viertel Sand war noch oberhalb der Engstelle. Während Hans die Sandkörner zählte, machte es wieder „plopp“ und Frau Walburga, die im Wald schützend waltete und schaltete, war verschwunden. Ebenso erloschen die Kerzen und lösten sich in Wohlgefallen auf. Und einen weiteren Moment später war auch das Haus verschwunden und Hans stand mit einem Teppich unterm Arm mitten im Walde. Der Rucksack lag neben ihm. Zarte Schnarchgeräusche drangen durch das Leder. Eine Weile stand Hans unschlüssig zwischen den Bäumen und ordnete seine Gedanken. Was zum Geier war ein Dschinn? Und was sollte er nun mit dem Teppich? Nun ja, immerhin konnte er auf ihm schlafen, falls doch noch eine Nacht im Walde hereinbrechen sollte. Der Pate würde sich bestimmt über ein Geschenk freuen; die Schlepperei lohnte sich also allemal. Hans schulterte den Rucksack und ging mit frischer Kraft voran. An das neue Hemd gewöhnte er sich schnell. Die folgende Zeit verging ereignislos. Irgendwann war der Rosenkönig erwacht und ganz allein aus dem Rucksack auf seine Schulter gekrabbelt. Er hatte jetzt einen Bart und sah aus, als würde er bald seinen Vierzigsten feiern. Hans wunderte sich über gar nichts mehr.
„Die Krone macht mich total müde, das schwere Ding“, grantelte Rosario. „Aber, man ist ja nur einmal im Leben König, also mache ich das Beste daraus und genieße es. Was schleppst du denn da mit dir?“
„Ein Geschenk. Der Teppich ist von Walburga.“
„Von der Walburga?“
„Ich weiß ja nicht, wie viele Walburgas du kennst, aber ja, vermutlich von der Walburga. Die scheint mir einmalig zu sein.“
„Bei der heiligen Hagebutte! Da habe ich ja was verpasst. Was für ein Jammer.“
Der Rosenkönig zupfte an Hansens Ohrläppchen.
„Geh mal schneller, Träger der Rose und Träger des Teppichs, ich spüre, dass die Zeit knapp wird. Du bist die reinste Schnecke.“
„Ich kann nicht schneller. Lauf du doch mal mit einem schlimmen Bein durch einen riesigen, verwunschenen Wald. Alles Mögliche muss ich schleppen und jeder will was von mir. Du kannst ein richtiges Ekel sein, weißt du das?“
„Und du bist schwer von Begriff“, raunte eine tiefe Stimme.
Abrupt blieb Hans stehen. Fast wäre Rosario von seiner Schulter gefallen, aber er konnte sich im letzten Moment noch am Ohrläppchen festhalten.
„Aua!“, beklagte sich der von der fremden Stimme Gescholtene und rieb sich das schmerzende Ohr. „Wer spricht hier und zeigt sich nicht? Tritt hervor, damit ich dir den Hintern versohlen kann. Ich habe es echt satt, dass alle mich umherschubsen. Einer muss das jetzt ausbaden.“
„Ein Hervortreten ist nicht nötig, lass mich einfach fallen, junger Herr.“
Hans ließ den Teppich fallen wie eine heiße Kartoffel und sprang aus dem Stand einen Meter beiseite. Die Stimme war eben eindeutig aus der Teppichrolle gekommen. Wer zum Geier steckte in der Rolle drin? Noch ein winziger König? Staunend sah er, wie der Teppich sich zur ganzen Größe ausrollte und dann zwei Handbreit über dem Boden schwebte. Seine Fransen bedeuteten ihm mit einladenden Gesten, Platz zu nehmen.
„Ähm.“
Hans kratzte sich verlegen hinter dem rechten Ohr. Dann hinter dem linken.
„Hast du vielleicht Flöhe?“, fragte Rosario frech. „Das ist ein Fliegender Teppich, mein Junge. Lernt ihr denn gar nichts in der Schule?“
„Ich war nie in der Schule. Das ist nichts für arme Leute.“
„Bedauerlich. Aber nun nimm das Angebot des Teppichs endlich an. Wir werden mit seiner Hilfe viel schneller ans Ziel kommen.“
Hans zögerte weiterhin. Ihm war nicht wohl dabei.
„Du hast doch gesagt, er wäre ein Geschenk von der Walburga? Der kannst du vertrauen, glaub mir ruhig. Sie meint es gut mit uns.“
„Na schön. Wenn du das sagst.“
Ungeschickt hielt er einen Fuß über den Teppich, aber der Schuh war schmuddelig. Das gehörte sich nicht. Dann versuchte er, sich daraufzuknien, kam dabei aber ins Schwanken wegen seiner verletzten Hüfte. Letztlich ließ er sich mit dem Hintern zuerst darauf fallen, wobei der Rosen-Elf ihm von der Schulter purzelte.
„Nichts passiert! Bin weich gefallen“, rief er atemlos.
Der Teppich schwebte nun ein klein wenig höher und vibrierte erwartungsvoll mit den Fransen. Endlich wieder frische Luft unter der Wolle!
„Wohin soll’s gehen, junger Herr?“
Der Teppich formte sich unter seinem neuen Besitzer wie ein Sattel mit Rückenlehne. Hans entspannte sich mehr und mehr. Wie weich und angenehm!
„Zum König. Also, zum König der Menschen. Außerhalb des magischen Waldes. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht genau, wo sein Schloss steht. Bisher folgte ich meinem Gefühl.“
„Und was sagt dein Gefühl jetzt?“
„Immer der Nase nach!“, rief Hans.
„Ich sehe deine Nase aber nicht. Du musst dich in die Richtung lehnen, die du einschlagen willst. Halt dich an meinen vorderen Fransen fest und lenke mich. Aber zieh nicht so doll, hörst du? Sonst habe ich am Ende nicht mehr alle Fransen am Saum und das wäre doch schade.“
„Du meinst so wie nicht mehr alle Tassen im Schrank?“
„Ja. So in der Art. Halte deinen kleinen Freund lieber gut fest. Ich bin schnell.“
Hans öffnete geschwind seinen Rucksack und legte Rosario, der schon wieder sehr müde war, behutsam in seine Rose, die sofort ihre Blätter um den Elf und seine Krone wickelte. Er steckte die Blume zwischen Äpfeln und Birnen fest, die sich gewohnt wundersam vermehrt hatten, und nahm für sich ein dickes Butterbrot heraus. Vom Teppich umschmiegt und in Sicherheit, genoss er den Flug. Was sollte ihm jetzt noch groß passieren, so geborgen? Er trug ein feuerfestes Hemd und bewegte sich, falls der Teppich das wirklich hergab, schnell wie der Wind. Die Strecke vom Waldrand bis zum Schloss dürfte kein Problem darstellen.
Oh.
Wie weit war es wohl von da nach dort? Und was war mit dem Teppich? Der würde lichterloh brennen, der Ärmste. Falls die bösen Schlangen auftauchten. Falls. Und falls wirklich eine feuerspeiende darunter war. Er durfte nicht so schwarzsehen. Möglicherweise tauchten sie gar nicht auf. Außerdem würde er es nicht übers Herz bringen, den kleinen Rosenkönig zurückzulassen, damit er für Ablenkung sorgt. Nein, das durfte er nicht. Er nahm sich fest vor, zu dritt anzukommen. Er selbst, der kleine König und der Fliegende Teppich. Hans wischte beiläufig einige trockene Blätter vom Teppich hinunter. Sie hatten eine wunderschöne Herbstfärbung, die Hans an Maronen denken ließ, die nun zur Reife kommen würden. Sein Lieblingsessen in der kalten Jahreszeit. Vor allem in geschmortem Rotkohl.
Oh.
Die Blätter fielen? Hatte Rosario nicht von einem magischen Netz in den Baumkronen gesprochen, welches so lange vorhalten würde, wie es Blätter an den Zweigen gab?
„Teppich! Flieg schneller. Der Herbst ist da. Das ist nicht gut für uns.“