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Während der Leser im ersten Band der Reihe „Lese-Adventskalender“ eine zarte Liebesgeschichte zur Weihnachtszeit miterleben durfte, so wird er hier in die verschneiten Berge geführt und erlebt drei junge Menschen, die an einem Scheideweg in ihrem Leben stehen.
Vier Freunde, jeder erfüllt mit jugendlichem Elan und der Zuversicht, dass das Leben viel zu bieten hat, verabredeten sich nach Beendigung der Schulzeit. Und tatsächlich kommt es nach den vereinbarten zehn Jahren zu einem Wiedersehen auf der Alm, wo sie damals gemeinsam Weihnachten feierten.
Haben sich ihre Träume und Hoffnungen erfüllt?
Joachim, Kuno und Anna verbringen die Weihnachtstage zusammen, Manuel fehlt.
In dramatischen Winternächten offenbaren sich Geheimnisse und wie es scheint, sind sie nicht wirklich allein auf dem Berg.
24 Kapitel für 24 Tage des Advents.
Eine besinnliche Geschichte über Träume und Hoffnungen.
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
Vorwort
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Lese-Adventskalender 2015
Folge dem Licht!
©2015 Marlies Lüer
Esslinger Str. 22, 70736 Fellbach
Cover: Isabell Schmitt-Egner
Während der Leser im ersten Band der Reihe „Lese-Adventskalender“ noch eine zarte Liebesgeschichte zur Weihnachtszeit miterleben durfte, so wird er hier in verschneite Berge geführt und erlebt drei junge Menschen, die an einem Scheideweg in ihrem Leben stehen.
Vier Freunde, jeder erfüllt mit jugendlichem Elan und der Zuversicht, dass das Leben viel zu bieten hat, verabredeten sich nach Beendigung der Schulzeit. Und tatsächlich kommt es nach den vereinbarten zehn Jahren zu einem Wiedersehen auf der Alm, wo sie damals gemeinsam Weihnachten feierten.
Haben sich ihre Träume und Hoffnungen erfüllt?
Joachim, Kuno und Anna verbringen die Weihnachtstage zusammen, Manuel fehlt.
In dramatischen Winternächten offenbaren sich Geheimnisse und wie es scheint, sind sie nicht wirklich allein auf dem Berg.
Joachim starrte auf den Absender der E-Mail aus dem firmeninternen Netzwerk. Er hatte das kommen sehen. Frustriert ballte er seine linke Hand zu einer Faust und hieb auf den Tisch, dass der Kaffeebecher überschwappte. Die braune Flüssigkeit verteilte sich auf dem Ausdruck und verlieh dem Papier eine unschöne Farbe.
Tarek, sein Büropartner und bester Kumpel, zog es vor zu schweigen. Diese mühsam gezügelten Wutausbrüche waren keine Seltenheit.
Joachim knüllte das verdorbene Papier zusammen und warf es in den Papierkorb. „War sowieso nur Mist.“
„Das ist heute schon der vierte Becher Kaffee. Und du bist erst seit knapp zwei Stunden im Büro. Wie wäre es mal mit einem Glas Milch?“
„Du kannst mich mal.“
Im selben Moment tat ihm die barsche Antwort leid. Tarek war der einzige Ingenieur in der Firma, der noch zu ihm hielt. Und es war Tarek gewesen, der ihm den Arsch gerettet hatte, als der Satellit wegen einer Fehlfunktion keine Daten mehr sandte. Er stand auf, prüfte mit einem kritischen Blick seine Kleidung auf Vorzeigbarkeit und legte die Hand entschuldigend auf die Schulter des Anderen. „Sorry, Mann. War nicht so gemeint. Muss zum Häuptling.“
Wenig später saß er dem Chef gegenüber, der für seine Härte in Geschäftsdingen berüchtigt war. Eine Weile lang schwieg dieser, schaute Joachim nur an, als würde er an ihm etwas suchen oder auf etwas warten. Dann starrte er zum Fenster hinaus auf den firmeneigenen Golfplatz. Er hatte die Angewohnheit, seine Favoriten unter den Ingenieuren gelegentlich zu einem Spiel aufzufordern. Joachim gehörte längst nicht mehr dazu. Schließlich brach er sein Schweigen.
„Wie ich hörte, häufen sich die Probleme in ihrer Abteilung, deren Leiter Sie sind.“
Wieder Pause.
Joachim wusste nicht, sollte er nun etwas entgegnen oder besser abwarten. Die Betonung seiner Führungsposition machte ihn nervös. Es war ja keine neue Erkenntnis, mit der der Chef das ‚Ich-hab-dich-in-meiner-Hand-Spiel‘ eröffnet hatte. Gerade als er tief Luft holte, um doch zu antworten, fuhr sein Vorgesetzter fort.
„Wie ich ebenfalls hörte, waren Sie neulich beim Arzt. Gibt es etwas, wovon ich wissen sollte?“
Verdammt. Woher weiß der das? Ich habe niemandem davon was gesagt. Hat die Firma etwa einen Detektiv auf mich angesetzt?, dachte Joachim alarmiert.
„Nein, reine Routine. Außerdem ist das Privatsache und gehört nicht hierher.“
„Ist das so? Sie sind auffallend aufbrausend in letzter Zeit. Und Sie machen Fehler, die für einen Mann in Ihrer Position unentschuldbar sind.“
Der Chef knallte eine Ledermappe auf den Tisch. Nacheinander entnahm er mehrere Blätter und las seinem Untergebenen vor, was alles schief gegangen war im letzten Jahr, und wieviel sein Versagen die Firma gekostet hatte.
Wenn du wüsstest, dass das längst nicht alles ist … Joachim begriff eigentlich erst jetzt so richtig, dass er längst gefeuert wäre, hätte er nicht Tarek an seiner Seite. Womit hatte er eigentlich dessen Loyalität verdient? Und warum hatte er diese seltsamen Konzentrationsstörungen, diese abgrundtiefe Erschöpfung, den Widerwillen? An manchen Tagen musste er sich sogar nach dem Aufstehen übergeben, nur beim Gedanken an einen weiteren Tag in dieser Tretmühle.
Zahlen, Fakten, Berechnungen … immer alles unter Zeitdruck. Früher hatte ihm die Arbeit so viel Spaß gemacht.
„Haben Sie nicht gehört, was ich eben sagte?“
Joachim schreckte auf. Verdammt. Schon wieder war er weggedriftet. Ausgerechnet jetzt!
„Verzeihen Sie bitte, was genau sagten Sie eben?“
„Dass ich Ihnen eine Abmahnung schreiben muss. Aber angesichts früherer Verdienste für den Konzern warte ich damit. Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Machen Sie mal Urlaub. Nehmen Sie sich eine Woche frei über die Weihnachtstage und kommen Sie mit neuen Kräften wieder zurück. Sie wissen, bis Jahresende muss der Bauplan für das neue Modul fertiggestellt sein, damit es in Fertigung gehen kann. Der Zeitplan ist unzulässig weit überschritten worden. Doch ich gebe Ihnen diese letzte Chance. Ich bin ja kein Unmensch. Im Januar sprechen wir uns wieder. Dann entscheide ich, ob diese mündliche Abmahnung in Schriftform fixiert wird, oder nicht. Enttäuschen Sie mich nicht. Von Ihrer Abteilung hängt vieles ab. Sollten Sie nicht länger in der Lage sein, Ihren Job zu machen, werde ich Tarek zum Leiter ernennen. Wir können nur leistungsfähige Mitarbeiter gebrauchen. Haben Sie mich verstanden?“
„Ja. Ich danke Ihnen“, stammelte Joachim. Mit dieser Deutlichkeit hatte er nicht gerechnet. Im Grunde kam das einer Kündigung gleich. Fast. Immerhin nur fast.
Der Chef nickte herablassend. „Sie sehen blass aus. Gehen Sie jetzt gleich nach Hause und packen Sie Ihre Koffer. Wie wäre es mit den Kanaren?“
Joachim informierte Tarek und stieg wenig später in seinen SUV. Er war immer noch verblüfft. Wie hatte er es soweit kommen lassen können? Sein Arzt hatte ihn schon vor Wochen gewarnt, dass er auf dem besten Wege in eine Erschöpfungsdepression sei. Aber er hatte ja nicht hören wollen. Er doch nicht! Er war ein Kerl wie ein Bär, wie eine Eiche! Ein echtes Kind der Berge, und kein Weichei. Er hatte keine verdammte Depression! Missmutig startete er den Motor. Ein Blick auf die Anzeige verriet ihm, dass er heute Morgen vergessen hatte zu tanken. Der Ölwechsel war auch überfällig. Und ja, wenn er schon dabei war, seine Versäumnisse aufzuzählen – der TÜV war auch abgelaufen.
Auf dem Beifahrersitz lag eine Keksdose. Seine Mutter hatte ihm seine Lieblingsweihnachtskekse gebacken und zugeschickt. Er nahm sich drei Vanillekipferl auf einmal in die Hand. In der Blechkiste waren dieselben Kekssorten wie damals, als er mit seinen besten Schulfreunden auf der Alm ein letztes gemeinsames Weihnachten gefeiert hatte, bevor sie sich in alle Winde verstreuten.
Als er den letzten Keks aufgegessen hatte, wusste er Dank des Vanillearomas ganz genau, wo er Weihnachten verbringen würde.
Mit Sicherheit nicht auf den Kanaren.
Die letzten Meter vor der Hütte waren immer die schwersten. Steil ging es auf dem felsigen Untergrund aufwärts, ehe der Wanderer über den schmalen Steig an sein Ziel gelangen konnte. Joachim blieb eine Weile stehen, um zu verschnaufen. Er ließ seinen Blick über das Bergpanorama schweifen. Jedes Mal aufs Neue war er von der wilden Schönheit seiner Heimat überwältigt. Er wünschte sich plötzlich mit Inbrunst, er hätte sein Dorf nie verlassen, denn er liebte diese Berge und deren majestätische Ruhe. Angesichts ihres unglaublichen Alters fühlte Joachim sich unbedeutend, und daher frei. Sein Atem ging schwer. Weiße Wölkchen bildeten sich vor seinem Mund und lösten sich in der Winterluft wieder auf. Der Aufstieg war doch kräftezehrender, als er es in Erinnerung gehabt hatte. Andererseits mochte es auch an der Last liegen, die er trug. Kurz erwog er, den schweren Rucksack abzusetzen und sich ein Weilchen auf einem Felsen auszuruhen, bevor er dem schmalen, steilen Pfad weiter folgen würde, der zur Anhöhe führte. Doch dafür war dieser Dezembertag zu kalt.
Der Bewuchs des Waldes war spärlich. Die Alm lag in etwa auf der Waldgrenze, mehr schon in der Krummholzzone. Früher wurden hier Ziegenherden gehütet. Die Trutzburg seiner Kindheit. Seine Eltern hatten die Almhütte noch bewirtschaftet, als er ein kleiner Junge war.
Joachim setzte konzentriert einen Schritt vor den anderen, während der Wind zunehmend kälter wurde. Eine letzte Biegung noch voraus, dann würde er sein Ziel sehen können. Gerade als die Sonne hinter den Gipfeln versank und die Welt für wenige Momente in ein fantastisch schönes Licht tauchte, schloss Joachim die Tür auf.
Daheim!
Erleichtert ließ er den Rucksack mit der kostbaren Last langsam zu Boden gleiten. Joachim atmete tief durch und fühlte, wie der Stress der letzten Zeit von ihm abfiel und gleichsam zwischen den Ritzen der Holzbohlen verschwand. Eine ganze, wundervolle Woche lag vor ihm. Dann begann er das alte Ritual: Fensterläden öffnen, durchlüften, Holzscheite im Kamin aufschichten und anzünden, den Küchenherd ebenfalls befeuern. Ein Blick in die gefüllten Vorratsschränke verriet ihm, dass sein alter Kumpel Alois Wort gehalten hatte. Nun ja, ich bezahle ihn auch gut dafür, dachte er. Mit Freude sah er zwölf Tetra-Paks Glühwein. Den ersten würde er sich schon heute Abend genehmigen.
Es war der 20. Dezember. Wenn Freundschaft etwas wert war und Bestand hatte, dann würde er den Heiligabend hier nicht alleine verbringen. Zehn Jahre war es her …
Joachim rang mit sich, ob es klug gewesen war, sich bei den alten Freunden nicht in Erinnerung gebracht zu haben. Am Ende saß er hier doch allein. Andererseits – so ausgebrannt, wie er sich fühlte, wäre es nicht das Verkehrteste. Ganz tief im Inneren hörte er ein Stimmchen, seins, etwas kläglich, das verlauten ließ, das Beste wäre es, alles, wirklich alles, hinzuschmeißen und einen auf Alm-Öhi zu machen. Er wusste, der Arzt hatte recht, die Blutwerte ließen auch kein Freudentänzchen zu. Letztens hatte er ihm eine Liste überreicht von Dingen, die er besser nicht mehr essen sollte und eine von denen, die er bevorzugt zu sich nehmen sollte. ‚Geben Sie baldmöglichst das Rauchen auf‘, hatte er gesagt, ‚und beim Feierabendbier liegt die Betonung auf ein Bierchen. Wenn überhaupt! Versuchen Sie es doch mal mit Kräutertee zur Entspannung.“
Er und Kräutertee! Da würden die Kollegen ihn ja auslachen. Alle außer Tarek. Der würde ihn ja gern mit Milch füttern. Nein, danke. Wenn das so weiterging mit den Konzentrationsschwierigkeiten, was dann? Im neuen Jahr mache ich alles anders. Ich gebe das Rauchen gleich Morgen auf. Und die blöde Ernährungsumstellung mache ich ab Januar. Bis dahin wird nochmal geschlemmt und gefeiert. Erschöpft setzte sich Joachim auf die Küchenbank und starrte Löcher in die Luft. Ich muss mein ganzes Leben ändern. Aber wie?
Verdrossen saß Kuno in der Bahnhofswirtschaft. Er hätte nie damit gerechnet, dass Sonja so kurz vor Weihnachten die Verlobung lösen würde. Hysterische Ziege! Einen Streit vom Zaun brechen, nur weil es ihm völlig egal war, was sie für die Disco-Nacht anziehen wollte? Allein, dass er eingewilligt hatte, die Silvesternacht mit ihr in so einem nervigen Tanzschuppen zu verbringen, hätte ihr reichen müssen als Liebesbeweis. Überhaupt … sie immer mit ihren Forderungen! Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie sich in ein schönes, kleines Hotel eingemietet. Sektfrühstück am Morgen, ein paar Runden im Hallenbad schwimmen, danach eine DVD schauen oder Musik hören, dann im Restaurant zu Mittag essen. Vor dem Dessert wollte er ihr ganz romantisch das Geschenk überreichen. Am Nachmittag hätten Sonja und er dann einen schönen Spaziergang machen können. Beileibe keine Wanderung! Denn: Dafür hätte sie ja vernünftige Schuhe anziehen müssen. Das wäre der perfekte Silvestertag für ihn gewesen. Von der Nacht hatte er sich auch gewisse und sehr genaue Vorstellungen gemacht. Bei diesem Gedanken glitt unwillkürlich seine Hand in die Jackentasche. Die Schatulle mit dem teuren Armband war noch da.
Aber es war ja nie nach ihm gegangen. Wenn er ehrlich war, verspürte er nicht nur Trauer, da war auch ein Hauch Erleichterung. Darüber, dass es vorbei war. Ja. Doch! Das fühlte sich gut an. Aber gleich neben diesem Gefühl lauerte ein anderes, größeres: Nämlich Leere. Totale Leere. Vielleicht war er einfach unfähig, eine Frau so zu lieben, wie sie es will. Nach der dritten gescheiterten Beziehung lag so ein Gedanke nahe.
Trübsinnig starrte er in sein Bierglas. Eine Fliege lag tot im Schaum. Fast tot. Hin und wieder zuckte noch ein Beinchen, bewegte sich schwach ein Flügel. Angewidert schob er das Glas weit von sich, bekleckerte dabei die rotweißkarierte Tischdecke, die etliche Brandlöcher aufwies. Scheiß Kneipe. Scheiß Tag. Was tun mit all der freien Zeit? Zurück in die eigene Wohnung fahren und dort die zehn Urlaubstage verbringen? Allein mit sich selbst und schlechter Laune – kein berauschender Gedanke. Kuno legte das Geld für Bier und Schinkenbrot auf den Tisch und verließ grußlos die Wirtschaft.
Dem Bahnsteig gegenüber lag eine Reihe von Einfamilienhäusern, weihnachtlich geschmückt. Die obligatorische Tanne im Garten mit Lichterkette fehlte ebenso wenig wie grell blinkende Foliensterne, die einen hypnotischen Sog ausübten, wenn man sie zu lange ansah. Von innen illuminierte Schneemänner buhlten mit pastellfarbenen Christkindern und rotnasigen Rentieren um Aufmerksamkeit. Oh du kitschig-verlogene Weihnachtszeit …
Wann war Weihnachten zuletzt ein echtes Weihnachten gewesen? Kuno grübelte. Klar, damals, als Mutter noch lebte. Das war schön mit den selbstgebackenen Keksen, mit Gottesdienst am Abend, dem immer schiefen aber liebevoll geschmückten Weihnachtsbaum, der in der Zimmerecke neben dem Aquarium stand. Jedes Jahr rieselten seine Nadeln ins Wasser hinein. Lametta wickelte sich um den Wasserfilter. Und jedes Jahr sagte Vater aufs Neue „Der Baum gehört woanders hingestellt“ und dennoch behielt er seinen angestammten Platz. Jahr für Jahr. Einfach, weil er dort am schönsten aussah. Nach Mutters Tod gab es keinen Baum mehr und nur gekaufte Kekse. Wenn überhaupt. Vater wollte bald nicht mehr. Nicht mehr feiern, nicht mehr leben. Bis er eine neue Frau fand und beschloss, sein Leben und später die Rente mit ihr in Spanien zu genießen. Danach hatte es nur noch ein wirklich schönes, authentisches Weihnachten für Kuno gegeben: Die Berg-Weihnacht in Joachims Almhütte. Ein Lächeln zog über sein Gesicht, ohne dass er es merkte. Sein Blick ging nach innen und wurde weich. Sie waren zu viert gewesen: Joachim, Manuel, Annabell – genannt Anna – und er. Das Kleeblatt, die Unzertrennlichen – so wurden sie seit der 8. Klasse genannt. Dennoch trennten sich ihre Wege nach der Schulzeit, vor allem aus beruflichen Gründen und sie hörten im Lauf der Jahre immer seltener voneinander. Kuno rechnete nach. An die acht oder neun Jahre ist das her. Nein, schon zehn Jahre! Unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht. Mehr und mehr öffnete sich sein Gedächtnis für diese unglaublich stimmungsvolle Nacht. Sie hatten Weihnachtslieder aus aller Welt gesungen. Manuel spielte klassische Gitarre dazu. Über dem Kaminfeuer rösteten sie in einer Eisenpfanne Maronen. Aßen Brot mit geschmolzenem Käse. Sie tranken viel zu viel selbstgemischten Glühwein und machten vor der Hütte eine Schneeballschlacht unter dem Sternenhimmel. Einen geschmückten Baum hatten sie nicht gehabt. Aber eine fantastische, antike Krippe. Kunstvoll geschnitzte Figuren, die Krippe aus massivem Holz. Einzigartig. Der Großvater von Joe, wie Joachim von allen genannt wurde, hatte sie selber angefertigt. Er hatte über ein Jahr daran gearbeitet. Kuno erinnerte sich, wie Joes Augen gestrahlt hatten, wie ein warmes Licht, als er von seinem Opa erzählte und von den Weihnachtsfeiern in der Almhütte. Schlicht, aber feierlich. Ernst im Glauben, aber fröhlich beim Singen und Speisen. Joe war der einzige der Freunde, der die Texte mit mehreren Strophen singen konnte. Er, Kuno, brummte und summte nach der ersten oder zweiten Strophe nur noch mit. Mit einem fiesen, kratzigen Gefühl über dem Herzen erinnerte sich Kuno auch daran, wie sehr er damals von Neid auf Joes Familienidylle geplagt war. Was Joe in seiner Kindheit gehabt hatte, war weitaus mehr als Lametta im Aquarium.
Sicherlich war der längst glücklich verheiratet, hatte einen Haufen gesunder Kinder und vermutlich auch einen riesigen Hund, der alle mit Leidenschaft beschützte und bei Regenwetter große schwarze Tapsen auf weißen Fliesen im Eigenheim hinterließ. Und was hatte er, Kuno, aufzuweisen? Einen öden Job in einer Kanzlei und drei gescheiterte Beziehungen. Manche hatten eben Glück im Leben, manche hatten Pech. So war das nun mal.
Das Kaminfeuer loderte und Joachim berauschte sich am Duft, der so typisch für ein offenes Feuer war. In der Hand hielt er einen Tonbecher, gefüllt mit Glühwein. Nelken, Zimt, Orange … der Duft von Weihnachten. Fehlte nur noch der Ziegenbraten, den es an Heiligabend immer gegeben hatte, gewürzt mit Thymian und Rosmarin, abgelöscht mit Portwein und Weißwein. Seine Eltern hatten es heuer geschafft, ihn zu überraschen. Und zwar mit der Tatsache, dass sie über Weihnachten und Neujahr hinaus eine Kreuzfahrt gebucht hatten. Mamsch und Papsch in der Karibik! Nicht zu fassen. Auf ihre alten Tage wurden die beiden noch unternehmungslustig. Allerdings, so alt waren sie nun auch wieder nicht. Mitte Fünfzig ist nicht alt. Joachim verspürte so etwas wie neuen Respekt für seine Eltern, die im Grunde nichts anderes kannten als die Berge und das Dorf, und ihr geregeltes Leben als Almbauer und Hebamme. Sein Vater hatte zehn Jahre auf diese Reise gespart, das hatte er ihm im Vertrauen erzählt. Einmal im Leben wollte er seiner Frau etwas Unvergessliches bieten. Joachim hob den Glühweinbecher an und prostete seinem Vater im Geiste zu.
Der anstrengende Aufstieg und die Kälte hatten ihm zugesetzt. Offenbar verweichliche ich wirklich, dachte Joachim und grinste. Er trank den Becher leer, stellte ihn in der Küche ins Spülbecken und ging schlafen. Das Federbett umhüllte ihn mit Behaglichkeit. Bald schon sank er in den Schlaf und sein Körper entspannte sich, wie seit langer Zeit nicht mehr. Am nächsten Morgen reckte und streckte er sich ausgiebig, bevor er sich einer Katzenwäsche unterzog. Schließlich war er allein. Wer sollte sich daran stören, wenn er müffelte? Er zog sich zwei paar dicke Socken und Hüttenschuhe an und eins seiner geliebten ‚Holzfällerhemden‘, brühte sich Kaffee auf und briet Eier mit Speck, schnitt sich drei dicke Scheiben Weißbrot ab. Er liebte diesen alten Holzofen. Während er das nahrhafte Mahl zu sich nahm, schaute er auf den Rucksack. Lohnte es sich auszupacken? Er spielte mit dem Gedanken, seine alten Freunde nacheinander anzurufen, um unauffällig zu erkunden, ob sie noch an das Versprechen dachten, das sie sich vor zehn Jahren mit Handschwur gegeben hatten. Aber ob die alten Nummern noch aktuell waren? Er hörte im Geiste wie die lustige Anna, die immer ihre Wortführerin gewesen war, in einem Anflug von Ernsthaftigkeit sagte: Heute in zehn Jahren treffen wir uns wieder hier und feiern das Leben und unsere Freundschaft. Bis dahin haben wir gefälligst mindestens einen Lebenstraum verwirklicht, Jungs. Jeder nimmt sich eine Krippenfigur mit, als Eintrittskarte und Beweis. Wer weiß, ob wir uns in zehn Jahren nicht total verändert haben.“, fügte sie kichernd hinzu. „Vielleicht bin ich fett und ihr kahlköpfig!“
Anna nahm sich Maria und das Jesuskind, Manuel griff nach Josef, Kuno wählte den Hirten, und er selbst steckte sich den Engel ein, der oben auf dem Dach der Krippe thronte und den Mund weit geöffnet hatte für sein ewiges Halleluja und Gloria. Ihm war nicht ganz wohl dabei gewesen. Und in der Tat gab es später ein gewaltiges Donnerwetter seitens der Eltern, weil er das zugelassen hatte. Seinem Vater war fast die Hand ausgerutscht, obwohl er schon neunzehn Jahre alt gewesen war. In seinen Augen hatte er Wut und Verletztheit gesehen. Erst in diesem Moment wurde ihm, dem Jungen an der Schwelle zum Mann-Sein, klar, wie viel seinem Papsch die Arbeit seines eigenen Vaters bedeutet hatte, wie einmalig und unwiederbringlich jede einzelne Figur war, jedes Brettchen und Steinchen und jeder Strohhalm, die alle zusammen erst die Krippe vollständig machten und den Geist des Großvaters verkörperten. Er hatte sich sehr geschämt und es tat ihm von Herzen leid, aber, jung und störrisch wie er damals war, hatte er für seinen eigenen Vater nur ein trotziges Schweigen gehabt. Und Zorn über die erhobene Hand, ja, echten, heißen Zorn. Wochenlang gingen sie einander aus dem Weg und sprachen nicht mehr miteinander. Die Mutter litt unter dem gestörten Hausfrieden, wohl mehr, als sie zugeben wollte.
Joachim kaute lustlos auf der dritten Brotscheibe herum. Er nahm einen Schluck Kaffee und stellte fest, dass er nur noch lauwarm war. Nachdenklich schenkte er sich heißen Kaffee aus der Thermoskanne nach. Die Almhütte schien ein Katalysator für ihn zu sein; immer mehr Erinnerungen aus seiner Jugend stiegen auf: In einer stürmischen Nacht musste seine Mutter als Hebamme zu einem Einsatz auf die Bächli-Alm. Die Bäuerin bekam ihr fünftes Kind und es schien Probleme zu geben, die Wehen dauerten schon achtzehn Stunden an. Zu lang für eine mehrfache Mutter. Joachims Vater lag mit hohem Fieber im Bett, also musste er selbst seine Mutter begleiten. Er nahm ihr den Rucksack ab, in dem ihre Hebammen-Utensilien säuberlich verpackt waren. Im Handscheinwerfer waren frische Batterien, aber zur Sicherheit nahm er Ersatz mit. Joachim hielt inne und überlegte, wie alt er damals gewesen war. Fünfzehn oder sechzehn, so ganz genau wusste er es nicht mehr. Was für eine Nacht! In der Tat gab es Probleme, das Kind lag falsch.
Mutter schickte den Bauern ins Dorf hinab, den Arzt zu holen oder besser noch die Bergrettung, die die Frau ins nächstgelegene Krankenhaus hätte bringen können. Sie fluchte ihm hinterher, weil er so lange zugewartet hatte, Hilfe zu holen. Sie verfluchte auch das Funkloch in den Bergen und überhaupt … nie wieder hatte er seine Mamsch derart schimpfen hören. Ja, was für eine Nacht! Seine Mutter wies ihn an, sich um die vier Geschwister zu kümmern und sie wieder ins Bett zu schicken.