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Dieser Sammelband umfasst die 5 Folgen der eBook-Serie "Das Juwel von Tanara":
Dara, Gunno, Shondra, Das Wilde Land, Drachenheim
Sie könnten unterschiedlicher nicht sein – und doch sind sie in einem gleich: Sie sind auf der Flucht!
Das feinfühlige Mädchen Dara vor ihrem Vater, dem Clanhüter mit dem dunklen Geheimnis.
Gunno, der Totenbeschwörer, flieht vor der Hexe Zyperra.
Shondra, der Nachtwolf-Jäger, ist beim Erzzauberer in Ungnade gefallen.
Gemeinsam kämpfen sie um ihre Freiheit und ihr Lebensglück – bis einer von ihnen zum Verräter wird.
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Inhaltsverzeichnis
Das Juwel von Tanara
(Sammelband)
Impressum
Dara (Teil 1)
Gunno (Teil 2)
Shondra (Teil 3)
Das Wilde Land (Teil 4)
Drachenheim (Teil 5)
-Epilog-
5-teilige Fantasy-Serie
©2022
Autorin: Marlies Lüer
Cover: Renee Rott, Dream Design
Marlies Lüer, 29225 Celle, Fuhrberger Str. 95
Kontakt: [email protected]
Cover und Bildrechte: Renee Rott, Dream Design
-1-
Es stank zum Himmel. Im Schankraum vermischten sich Alkoholdunst, billiges Parfüm, saurer Männerschweiß und vergorener Pfeifentabak, der Spezialität dieser heruntergekommenen Hafenkneipe. Die junge Person im Gewand eines Tempel-Gelehrten zweiten Grades lauschte dennoch hochkonzentriert und mit leuchtenden Augen den Erzählungen eines alten Seemanns, der ihr am Tisch gegenübersaß. Dieser hatte einen eisgrauen, wahrlich langen Bart, in dem kleine Muscheln und gedörrte Seesterne ungeschickt eingeflochten waren, auch verkrustete Essensreste hingen vermutlich darin. Wie auch immer, es war besser, sich auf seine schönen, meerblauen Augen zu konzentrieren und die Falten im Gesicht zu betrachten, als wären sie eine Landkarte, die von einem langen, harten Leben auf See Kunde gab.
„Die Seeschlangen sind das Fürchterlichste, was das Tanara-Meer beherbergt! Sie hassen uns Menschen. Niemand weiß, warum. Es gibt wohl keinen Seemann, der sie nicht fürchtet. Selten nur kommt einer der Dhrak – so werden die Biester genannt – an Land. Einen Tag und eine Nacht liegen sie am Strand und zittern, stöhnen, ringen nach Luft, schlagen mit ihrem langen, zackenbewehrten Schwanz, sie krümmen sich vor Schmerz. Wenn die erste Lichtschenkerin wieder am Horizont erscheint, können sie endlich unsere Luft leicht atmen. Dann erhebt sich das Ungeheuer zu seiner ganzen Größe, breitet seine Flügel aus, legt den Kopf in den Nacken und … nein, es brüllt nicht, wie du vielleicht denken magst, es will auch nicht angreifen … es fängt an zu singen. Ja! Es singt wie einer der Heiligen aus dem Tempel der Barmherzigen. So etwas Schönes hast du noch nicht gehört, mein großzügiger Spender.“
Bedeutungsvoll nickte der Alte in Richtung Theke und wackelt mit seinem fast leeren Humpen.
„Noch eine Runde!“, rief der bartlose Gelehrte mit mädchenhafter Stimme.
Der Seemann verzog für einen winzigen Moment spöttisch die Lippen. Dafür, dass sein Gegenüber studiert hatte, war der junge Bursche erstaunlich gutgläubig. Ihm sollte es recht sein, benetzte doch dessen Unerfahrenheit seine Kehle und füllte seinen leeren Magen. „Also, ich sage dir Grünschnabel jetzt, warum du dir absolut sicher sein kannst, dass du nie etwas Schöneres im Leben gehört hast. Denn wäre es so, wärest du jetzt tot. Jawoll! Alle, die einen Dhrak haben singen hören, bringen sich danach um, aus Trauer darüber, dass sie nie wieder im Leben etwas derart Wundervolles hören werden. Alle, bis auf einen. Mich! Sieh her!“ Der Alte zog seinen schmuddeligen Kragen vom Hals weg und präsentierte eine wulstige Narbe am Hals, die von einem schnöden Unfall in der Takelage herrührte. „Ich hatte mir die Kehle schon halb durchgeschnitten! Da fiel mir ein, dass es für mich doch etwas gab, was noch schöner ist als Dhrakgesang.“
„Was mag das nur sein?“, wisperte der Jüngling ergriffen.
Diese Frage provozierte raues Gelächter am Nebentisch. „Der Klang deiner Münzen, die du auf die Theke wirfst, Dummkopf! Denn unser alter Borra liebt nichts mehr als seinen Schnaps und das Bier.“
Plötzlich ruhte schwer eine breite, warme Hand auf der Schulter des spendablen Zuhörers, der sich erschrocken die Kapuze tiefer ins Gesicht zog.
„Du kommst jetzt mit“, sagte der Mann leise. „Wusste ich‘s doch, dass du dich hier herumtreibst. Mach keine Zicken. Wenn doch, werfe ich dich wie einen Sack Salzkorngras über meine Schulter.“
„Aber meine Geschichte ist noch nicht …“, empörte sich Borra.
„Verzeiht, Seemann“, unterbrach der Eindringling. „Bindet einem anderen eure Fantasien auf die Nase. Dieser junge Herr muss jetzt gehen.“
Borra zuckte leicht zusammen, weil der Oberste Wächter des Clanhüters ihn direkt ansprach und mit einem harten Blick bedachte. Irritiert schaute er den jungen Gelehrten an. Was mochte dieses Milchgesicht schon verbrochen haben können, was Angelegenheit des Kellantha-Clans war? Doch dieser Gedanke verflüchtigte sich augenblicklich, denn die dralle Schankmaid mit den verfilzten Haaren hatte soeben einen doppelten Branntwein für ihn auf den Tisch neben seinen Bierhumpen gestellt. Leider für heute die letzte Gabe des edlen Spenders. Borra zuckte mit den Schultern und nahm genussvoll mit geschlossenen Augen einen Schluck. Und so sah er nicht, dass eben in diesem Moment schon die Tür zufiel. Der Stuhl ihm gegenüber war wieder frei.
Vor dem Gebäude schob der Wächter grimmig seinen Gefangenen vor sich her.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du dermaßen dreist bist, Kellaritochter. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du ein Vorbild sein musst? Eine Hafenkneipe! Und auch noch Tanaras Stolz, die dreckigste Trinkhalle am Fluss mit den fragwürdigsten Gästen. Schämst du dich nicht?“
Der Wächter war froh, dass er das Mädchen Dara nicht, wie angedroht, in die Mutterhütte tragen musste; sie ging schleppend, aber folgsam, an seiner Seite.
„Warum bist du nicht etwas später gekommen, Wächter Frell? Der Alte war noch nicht fertig. Jetzt weiß ich immer noch nicht alles über die Seeschlangen.“
Genervt stöhnte Frell auf. „Die singenden Dhrak sind ein Mythos! Nichts weiter! Seemannsgarn, und nicht mal besonders gutes. Und wo hast du nur den Umhang eines Gelehrten her? Die kann man nicht auf dem Markt kaufen. Hast du den gestohlen?“
„Nein, den hat mir Rosalla …“
Im selben Moment stockte das Mädchen. Hätte sie doch nur nicht den Namen der Wirtin des anrüchigen Blumenhauses ausgesprochen! Sie war im Clan nicht gerade beliebt, um es vorsichtig auszudrücken.
Unvermittelt blieb der Wächter stehen und starrte das Mädchen an seiner Seite entgeistert an. Wenn der Clan das erführe, wäre er nicht nur seine Sonderstellung los, sondern auch sein Leben.
„Woher kennst du die Blumenmutter? Du hast doch nicht etwa … aus Neugier …?“
„Bei der Göttin, nein! Wofür hältst du mich, Frell? Ich bin eine echte Clantochter, Flussmänner interessieren mich nicht. Rosalla war mir noch etwas schuldig.“ Mutwillig grinste sie ihn frech an. „Weißt du was? Dafür, dass du mein Kindermädchen bist, kennst du mich aber schlecht.“
„Ich bin nicht dein …“. Frell brach ab. Doch. Er war in der Tat ihr Kindermädchen. Nur, dass er ein Kerl war. Und auch der Oberste Wächter des Kellantha-Clans. Welche der beiden Aufgaben ist wohl die schwerere, sinnierte er spöttisch. Zweifellos das Hüten dieses widerspenstigen Mädchens! „Hör zu. Wir beide werden über den heutigen Abend schweigen. Einverstanden? Von mir wird niemand erfahren, wo du warst und welche zweifelhaften Verbindungen du pflegst. Dafür versprichst du mir, dich nie mehr davonzuschleichen. Wirklich nie mehr! Bleib in Kellas Namen auf unserer Insel!“
Dara dachte kurz nach und ein triumphierendes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Ich kann abends einen kleinen Eimer mit rohen Gemüseresten an deine Tür stellen. Sie müsste doch bald Junge werfen?“
Frell schnappte nach Luft. „Woher weißt du …?“, rief er empört. „Spionierst du etwa in meiner Hütte?“
Dara ergötzte sich an seinem Entsetzen. Gut für ihn, dass sie ihr „Kindermädchen“ von Herzen gernhatte. Es war purer Zufall gewesen, dass sie ihn neulich sah, als er in dem Rotthaufen am Rande des Frauendorfes nach Gemüseresten wühlte. Aber, das musste er ja nicht wissen. Sollte er ruhig glauben, dass sie überall Augen und Ohren hätte. Meeris, die perfekten Kuscheltiere zu halten, insbesondere trächtige Tiere, galt im Clan als unmännlich. Fürsorge war alleinige Sache der Frauen. „Das habe ich gar nicht nötig, mein Großer. Ich weiß eben Dinge …“, raunte sie.
Frell ergab sich in sein Schicksal. Das Mädchen war ihm einfach über. Wie immer konnte er ihr nicht lange böse sein, er hatte die Sechzehnjährige im Lauf der letzten Jahre ins Herz geschlossen. Er räusperte sich und sagte: „Wenn es dich wieder nach neuem Wissen und Abenteuern dürstet, werde ich dich fortan begleiten. Ohne, dass der Hüter und Mali davon erfahren. Keine Widerrede! Du bist einfach zu wertvoll. Es darf dir, ebenso wie deiner Schwester, nichts geschehen. Und ja, es wäre schön, wenn du Gemüsereste zurückhältst, bevor sie auf dem Rottplatz landen.“
„Ach, ich bin doch nur die zweite Tochter. Mali als die Ältere ist diejenige, die bald die neue Clanmutter und Kellari sein wird. Ich bin ihm nicht wichtig.“
„Natürlich bist du ihm wichtig. Hätte er dir sonst seinen besten Mann zum Wächter gegeben?“
Dara grinste ihn unverschämt an. „Den besten? Und warum entwische ich dir immer wieder?“
Frell seufzte gewollt theatralisch und legte kurz seine schwieligen Handflächen auf die Augen. „Weil auch ich nur ein Mensch bin? Und du die unvernünftigste Weibliche aller Zeiten?“ Er sah sie nun streng an und zog sie am Arm etwas beiseite, um einem Karren mit Handelsware auszuweichen, der zur Siedlung am Fluss unterwegs war. „Dara, es ist mir ernst. Werde endlich erwachsen. Lerne, Verantwortung zu tragen. Was, wenn Mali, möge es die Göttin Kella verhindern, etwas zustößt? Dann wirst du die nächste Clanmutter aller Kellantha sein. Und du weißt, welch vielfältige Aufgaben die Hohe Frau unseres Clans hat. Du musst Vorbild sein. Stark, gerecht, mitfühlend, weise und gleichzeitig die Füße auf der Erde und deinen Geist in den Wolken haben. Du bist dann die Verbindung zwischen Oben und Unten. Du führst das Volk durch die Zeiten, ob gute oder schlechte. Du bist es, die die Aussaat und Ernte segnet, oder die Herstellung und Verteilung von Heilmitteln überwacht. Frauen sind dafür geschaffen. Ihr gebärt und erhaltet das Leben, seid unsere Lehrerinnen; wir Männer schützen euch und arbeiten, mehr nicht.“
„Ja doch, ich weiß! Ich, ich und nochmals ich muss dann all das tun und machen und überhaupt ...“, sagte sie patzig. „Aber nur vielleicht! Mali ist die Bessere und Klügere von uns beiden. Sie ist kerngesund, abgesehen von ihrem Bein. Die wird uralt. Die Göttin liebt sie. Das Volk liebt sie. Nur mich hassen alle.“
Ein empörter, bitterböser Blick Frells ließ sie ihren Satz ergänzen. „… abgesehen von dir. Du bist der Einzige im Clan, der es mit mir aushält.“
Und dich liebt, auch wenn er nicht sollte, dachte Frell bekümmert. Ihm war nicht entgangen, dass aus dem knabenhaften Wildfang von damals eine schöne junge Frau mit runden Hüften und Brüsten geworden war.
„Und Mali auch!“, hielt er entgegen. „Deine Schwester liebt dich und erträgt deinen unangebrachten Freiheitsdrang.“
„Ja, natürlich, sie ist eine Ausnahme und ich liebe sie. Sie ist mir aber mehr Mutter als Schwester.“
„Gibt es denn keinen Jüngling, der gern deinem Ruf folgen würde und dein Liebhaber wäre?“
Dara errötete angesichts der Offenheit Frells. Eigentlich sprach man in ihrem Clan nicht so offen über dieses Thema. Männer nahm man sich zum Vergnügen ins Bett, und auch in kalten Nächten zum gegenseitigen Warmhalten.
„Zu mir will keiner kommen, weil ich als verflucht gelte. Du weißt doch, was der Clan über mich denkt. Ihre geliebte Priesterin, die Hohe Kellari, starb am Tag meiner Geburt. Sie sagen, sie hätte mich besser mitgenommen in den Tod, ich hätte sie von innen verbrannt.“
Zutiefst traurig hob sie eine Strähne ihres feuerroten Haares hoch.
„Dummes Geschwätz! Abergläubischer Unsinn! Hör nicht auf sie. Die meisten Kellantha sind dumm oder alt und rückwärtsgewandt. Die kennen nur ihr kleines Leben am Fuß des Vulkans und nichts anderes hat für sie Gültigkeit. Dabei ist die Welt so viel größer. Allerdings birgt sie auch Gefahren, mit denen unser Volk nicht sonderlich vertraut ist.“
Frell nahm ihre nun weichere Stimmung wahr und begann, ihr wieder ins Gewissen zu reden, hielt ihr die kulturellen Unterschiede der Siedlung am Fluss oder gar der Hafenstädte im Vergleich zum matriarchalisch geführten Kellantha-Clan vor Augen, insbesondere, was den Respekt vor Frauen anging. Auf ganz Tanarell wurden Weibliche, im Gegensatz zum Rest der Welt, nirgends so hochgeachtet wie in Daras Clan, dessen Wurzeln tief in die Vergangenheit reichten, bis hin zur Vulkangöttin Kella.
„Du hast ja keine Ahnung, was es mit dem Blumenhaus wirklich auf sich hat, Dara. Es ist so schändlich, dass ich es kaum aussprechen kann.“
„Das verstehe ich nicht. Alle Menschen im Reifealter vergnügen sich auf diese Art.“
„Du verstehst nicht. Die Männer aus anderen Völker ehren nicht mit der körperlichen Liebe die Große Mutter allen Lebens stellvertretend durch eine Weibliche. Im Blumenhaus werden die Körper der Frauen und ihre Liebeskunst für Geld verkauft an die Männer. Sie sind nicht mehr als Handelsware und werden dadurch in den Schmutz gezogen.“
Dara lachte hell auf. „Ach, Frell! Was du dir immer ausdenkst! Das ist so absurd, darauf falle ich nicht rein. Deine Späße waren auch schon mal besser.“
„Und doch ist es so, auch wenn du es in deiner naiven Verblendung nicht wahrhaben willst. Genau darum sind die anderen Völker kein Umgang für eine gute Kellantha-Frau. War es nie und wird es auch nie sein. Sie haben männliche Götter, wenn überhaupt welche! Mir erscheinen sie eher gottlos.“
„Ja, der Doron-Clan wird durch Männer geführt, ich weiß. Aber das heißt doch nicht, dass die Doron-Frauen oder die der Flussleute keinerlei Macht oder keinen Wert haben.“
„Doch, es heißt genau das. Doron-Männer glauben, Frauen sind nur dafür da, für sie zu waschen und zu kochen und für Nachwuchs zu sorgen, insbesondere Söhne, die sie zu Kriegern heranziehen, die ihrem immerzu wütenden Blitz- und Donnergott gefallen. Sie haben sogar männliche Heiler und Lehrer. Und über die Gepflogenheiten der Überseevölker höre ich auch nichts Gutes. Darum, bitte ich dich nochmal: Halte dich fern von der Flusssiedlung. Am Ende schleichst du dich, abenteuerlustig wie du bist, auf eins der Ruderboote, die unser Erz zum nächsten Hafen bringen. Das wäre dein Ende, glaub mir. Sie würden dich kalt lächelnd als Sklavin verkaufen.“
„Wie hast du mich eigentlich gefunden, Frell?“
„Das war ehrlich gesagt leicht. Ich sah zufällig deine Fußspuren im Sand. Deine Sandalen haben ein unverkennbares Flechtmuster. Da habe ich eins und eins zusammengezählt. Was hast du denn deiner Schwester gesagt, wo du hinwillst? Ich frage nur, damit wir dasselbe erzählen, falls ich zur Rechenschaft gezogen werde. Was im Übrigen auch etwas ist, was du nie zu Ende gedacht hast. Oder ist es dir wirklich egal, dass ich bestraft werde, wenn du heimlich die Insel verlässt?“
Beschämt schaute Dara zu Boden. „Daran habe ich wirklich nicht gedacht. Tut mir sehr leid. Und meiner Schwester habe ich gar nicht Bescheid gesagt, sie ist heute unterwegs. Mutters Vertrauter ist schon wieder seit Tagen im Bergwerk wegen irgendwelcher Probleme, und Mali besucht die Schwangeren und die Mütter mit den Einjährigen.“
Halbwegs versöhnt tätschelte Frell ihre Schulter. „Wie gesagt, lass dich in Zukunft begleiten, wenn du es zuhause nicht mehr aushältst.“
„Danke, du bist mir ein guter Freund. Ich habe dich gar nicht verdient.“
„Finde ich auch, du kleines Biest“, entgegnete er und lachte leise. Letztlich war Dara trotz ihrer Unberechenbarkeit und Abenteuerlust eine gute Clantochter, was er auch auf seinen Einfluss zurückführte, obwohl er nur ein Mann war.
„Wir gehen jetzt zusammen zurück über die Landbrücke. Lass den Umhang des Gelehrten unterwegs verschwinden, verstanden?“
„Warum kein Boot nehmen? Das geht doch schneller.“
„Weil ich Bewegung brauche. Darum. Außerdem muss ich noch kurz den Handelsmeister der Flussleute aufsuchen. Der Hüter verlangt nach den Tafelmünzen, die man ihm für die letzte Lieferung versprochen hat.“
„Tafelmünzen?“
„Ja. Die sind neu und viel wertvoller als die kleinen Rundmünzen, mit denen du schwatzhafte Seemänner ernährst. Ich frage jetzt besser nicht, wo du die herhast. Die kleinen Tafeln sind in jedem Reich von Tanarell gegen die jeweilige Währung eintauschbar. Sehr praktisch. Ich vermute, dein Vater will in den Fernhandel einsteigen. Wobei ich sagen muss, ich wäre zufrieden, bliebe es beim üblichen Tauschhandel. Mir kommt das alles sehr fremdartig vor.“
Den Rest des Wegs legten sie in einträchtigem Schweigen zurück. Als sie schließlich im Mutterhaus des Clans ankamen, der größten Rundhütte, war die erste Lichtschenkerin schon untergegangen und die zweite Sonne würde bald folgen.
Dara trat ihrer großen Schwester entgegen, die wider Erwarten vor ihr heimgekommen war und sich offensichtlich Sorgen machte. Sie entschuldigte sich dafür, dass sie erst jetzt von ihrem „spontanen Ausflug zum alten Vulkanaltar“ zurückkäme.
Mali schloss Dara in die Arme und drückte sie an sich. „Es ist lobenswert, dass du der Göttin deine Aufwartung machst. Aber wir haben doch hier auch einen Altar im Dorf, wozu machst du dir den weiten Weg? Kella erwartet das nicht mehr von uns.“
„Ähm, ich wollte mir einfach Mühe geben und es auf die alte Art tun, weißt du? Ich bete schon lange dafür, dass du endlich deine erste Vision hast.“
„Ich hoffe, du hast Wächter Frell nicht ganz bis zum Altar mitgenommen? Ich sah ihn eben mit dir. Denk daran, Männer dürfen ihn nur sehen, aber nicht in seine unmittelbare Nähe treten oder ihn gar berühren. Auch wenn im Clan die alten Traditionen weichen, diese eine hat immer noch Gültigkeit.“
„Das weiß ich doch! Was denkst du denn von mir?“
Dara löste sich von ihrer Schwester und ging zur Mitte des Rundhauses, wo der Tisch mit Obst und Salzkornfladenbrot gedeckt war.
„Wasch dich erst!“, verlangte Mali.
Aufstöhnend machte Dara kehrt und suchte den Waschraum auf. Ihre Schwester blickte ihr stirnrunzelnd hinterher, denn sie hatte die Lüge längst durchschaut. Wäre Dara am Altar gewesen, hätte sie Spuren des schwefelgelben Gesteins an ihrer Kleidung und vor allem an den Schuhsohlen gehabt. Den konnte man nicht so leicht loswerden. Auch roch sie eher nach Tabak als nach Vulkanrauch. Doch Mali war müde. Sie hatte heute zwei Entbindungen beigewohnt und eine davon war glücklos. Die amtierende Lichtmutter war machtlos gewesen und auch sie hatte es nicht mit Gebeten verhindern können. Im Geiste hörte sie immer noch die junge Mutter herzzerreißend weinen, die ihr Totgeborenes in den Armen wiegte, bis die Frauen ihrer Hütte es ihr behutsam abnahmen, um es für die Beisetzung im Schoß der Göttin vorzubereiten. Langsam schlurfte sie zum Tisch und nahm sich eins der Brote. Morgen musste sie das Kind in den Krater werfen, es der Göttin zurückgeben mit der Bitte, der Seele einen neuen Körper zu gewähren. Stellvertretend für die Mutter würde sie auch den Totenklagegesang anstimmen. Mali wünschte sich, sie müsste nicht das Amt der Kellari ausfüllen und ihre eigene Mutter ersetzen. Als Dara endlich zurückkam, hielt sie den Fladen immer noch in der Hand, starrte regungslos vor sich hin und hatte nicht mal abgebissen.
Die zweite Sonne, die kleinere von beiden, versank nun hinter dem Horizont. Dunkelheit legte sich behutsam über das Land. Die Schwestern sprachen das Abendgebet und baten die Göttin Kella, sie möge in aller Ruhe weiterschlafen und ihr Feuer zügeln, auf dass das Volk der Kellantha auf ewig gedeihe. Bald darauf legten sie sich zur Ruhe.
-2-
Der Morgen kam und verdrängte die Nacht. Die große Lichtschenkerin schickte in diesem Moment ihre ersten noch zaghaften Strahlen aus. Es war für Mali an der Zeit, die Hütte der trauernden Mutter aufzusuchen und das Kind zu holen, das nie das Licht der Welt erblickt hatte. Sein Körper musste der Göttin zurückgegeben werden, verbunden mit der Bitte um ein Leben in einem neuen, lebensfähigen Körper, bei derselben Mutter. Dara blickte Mali verschlafen und mitfühlend hinterher. Keine leichte Aufgabe. Der Aufstieg zum Krater musste beginnen, bevor die zweite Lichtschenkerin am Himmel erschien und ihre volle Größe erreichte. Auch eine der Traditionen, die bei näherer Betrachtung keinen tieferen Sinn offenbarten. Insbesondere, weil diese spezielle Tradition von der amtierenden Kellari verlangte, den nicht ganz ungefährlichen Aufstieg zum Krater allein zu unternehmen. Und Malis Bein war doch krumm seit dem Unfall, sie hinkte und litt manchmal Schmerzen. Doch solche Gedanken behielt Dara für sich und sprach ihre Schwester auch nicht darauf an, sondern stellte sich schlafend. Sie wusste ja, wie empfindlich Mali reagierte, wenn man sie wegen der alten Verletzung schonen wollte.
Eine Weile blieb sie noch dösend in ihrer Hängematte liegen und genoss die Erinnerung an den Traum von letzter Nacht. Sie war auf einem Segelschiff gewesen, inmitten des tosenden Meeres. Nicht, dass sie wirklich gewusst hätte, wie ein solches Schiff aussieht, oder was es bedeutet, dieses Wort tosend, aber gefühlt hatte sie es. Freiheit! Gefahr! Die prickelnde Leidenschaft, am Leben zu sein! Was gäbe sie darum, könnte sie der geistigen Enge des Clanlebens entfliehen … ob Kella wusste, dass sie solche Gedanken hegte? Konnte die Göttin das wissen? Sie hätte so gern ihre Mutter dazu befragt, die eine wahrhaft große Kellari gewesen war, doch leider war das unmöglich. Die Toten schweigen.
Seufzend drehte sich Dara auf den Rücken, öffnete ihre Augen und starrte die Decke an. Holz. Alles hier war aus Holz oder Hartgras. Immer. Überall. Sie kannte jedes Astloch, jede Maserung. Anderenorts hatte man Häuser aus grauem Stein. Das Blumenhaus zum Beispiel war aus Stein und aus wenig Holz gebaut. Beides zusammen. Warum war das hier nicht möglich, wo doch am Fluss entlang die anderen Menschen in aller Selbstverständlichkeit ihren Ideen nachgingen? Warum nicht hier auf Isla-Kell?
Und das war längst nicht alles. Sie hatte in der Siedlung am Fluss vor wenigen Tagen tatsächlich einem Gelehrten den Umhang gestohlen, damit sie endlich eine richtige Tarnung hatte für ihre heimlichen Ausflüge. Das war eine Gemeinheit, das war ihr bewusst. Denn er hatte ihr freundlich auf ihre Bitte hin sein merkwürdiges, eckiges Ding gezeigt und den Zweck erklärt. Buch hatte er es genannt. Geschichten und Wissen seien darin hineingegeben worden. Buchstaben und Schrift, ja, das waren die Worte, die er benutzt hatte für die schwarzen Fleckchen und kleinen Striche. Wenn man diese lesen konnte – auch so ein seltsames Wort – dann offenbarten sich einem Wunder über Wunder. Eine Fähigkeit, die man erlernen könne.
Dara seufzte nun laut auf und schlug ihre Felldecke zurück. Die zweite Lichtschenkerin sandte mittlerweile ihre Strahlen unmissverständlich durchs Fenster. Zeit aufzustehen! Lesen lernen war auch so ein unerfüllbarer Wunsch. Andererseits, wozu hatte man ein Gedächtnis? Geschichten zu erzählen, das Erbe der Ahnen weiterzugeben an die nächste Generation, das war etwas, das man hier schon als Kind lernte. Sprache und Gestik! Die hatte man schon von Natur aus. Dafür brauchte man doch kein Ding, in das unverständliche Schrift hineingekleckst wurde. Wahrscheinlich hatte der Gelehrte ihr Unsinn erzählt.
Dara schlurfte zum Tisch, wo Mali für sie Frühstück hinterlassen hatte, und setzte sich auf ihr Lederkissen, froh darüber, dass sie keine harten Stühle aus Holz benutzten wie die Flussleute und das Volk der Doron. Sie lauschte, ob Romed schnarchend in Mutters Raum lag. Eigentlich hatte sie keine Lust, ihm jetzt zu begegnen. Da ihr nur Stille entgegenschlug, abgesehen vom Gesang und Gezirpe der Vögel und Insekten, entspannte sie sich und griff zum Löffel, um den Salzkornbrei zu essen, solange er noch lauwarm war. Es war angenehm, dass die Töchter einer Priesterin ihr Essen täglich auf den Tisch gestellt bekamen. Mädchen, die ihren zehnten Sommer erreicht hatten, dienten ihnen zwei Jahre lang. Eine alte Tradition, gegen die Dara nichts einzuwenden hatte. Es galt als Ehre, die Familie der Priesterin zu verköstigen. Was den Mann anging, eher nicht. Der wurde in Kauf genommen. Sharona, ihre Mutter, hatte sicherlich ihre guten Gründe gehabt, ihn als Favoriten bei sich in der Mutterhütte aufzunehmen und ihn mit neuen Aufgaben zu betreuen. Dara wünschte sich heiß und innig, Sharona hätte ihre Geburt überlebt. Doch Kella, Herrin über Tod und Leben aller Kellantha, hatte vermutlich gute Gründe gehabt, ihre Seele so früh zu sich zu holen.
Da Romed, der sich seit damals ‚Hüter des Clans‘ nannte, nicht zugegen war, löffelte Dara auch noch den letzten Rest Brei aus der Schüssel und rülpste dann ungeniert.
Draußen vor der Hütte sammelten sich schon die Frauen. Es war an der Zeit, die gesammelten und getrockneten Kräuter, Pilze und Beeren zu segnen, damit sie zu Heilzwecken verarbeitet werden konnten. Vermutlich würden sie nicht mit ihr vorliebnehmen, sondern lieber auf Mali warten. Sie konnte noch so sehr Sharonas Schoß entsprungen sein – die Leute mieden sie. Genaugenommen war das ein dummes Verhalten, sinnierte Dara. Denn es war durchaus im Bereich des Möglichen, dass sie selbst eine Vision der Göttin haben würde, bevor Mali eine erhielt. Dann bekäme sie, Dara, die rothaarige Ungeliebte, die Kellarikette mit den drei Tränen der Göttin um den Hals gelegt. Drei Steine, der mittlere war der Größte und hatte einen leicht grünlichen Schimmer. Eigentlich hätte Romed auch ihr, der jüngeren Schwester, eine Kette mit den porösen, schwarzen Lavaperlen in ihrem vollendeten 12. Lebenssommer geben müssen, in Erwartung einer endgültigen Berufung zur Kellari. Erst nach der Vision durften die hellen, durchscheinenden Tränen der Kella getragen werden – heilige Steine. Aber er achtete die alten Traditionen gering. Was ihre Mutter wohl in ihm gesehen hatte, dass er ihr Favorit wurde?
Da das Geschwätz vor der Hütte auf dem Versammlungsplatz immer lauter und lebhafter wurde und in Gezeter überging, verdrängte Dara ihre trüben Gedanken, schob die geflochtene Tür beiseite und nahm die Frauen näher in Augenschein. Ah, kein Wunder. Trondla war die Wortführerin. Das plumpe Weib mit den langen Zähnen war schon wieder angetrunken.
„Und ich sage euch, eine visionslose Kellari ist gar keine richtige Priesterin! Warum sollten wir uns von ihr was sagen lassen?“
Dara biss die Zähne zusammen und ballte eine Faust. Einerseits hatte Trondla genaugenommen damit recht, aber sie würde dennoch nicht zulassen, dass dieses Weibsbild in aller Öffentlichkeit schlecht über ihre große Schwester sprach, die nun wirklich alles gab, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Vor allem, wenn sie abwesend war und sich nicht verteidigen konnte, musste sie als jüngere Schwester Stellung beziehen. Sie näherte sich scheinbar gelassen dem Platz, wo einige Frauen die gesammelten Gaben der Natur sortierten. Andere kümmerten sich um das Einlagern der Nüsse, Früchte und Wurzelgemüse. Flüchtig nahm Dara wahr, dass die Mengen immer geringer wurden im Vergleich zu früheren Jahren. Ein Zeichen des Unmuts der Göttin? Doch sie schob den Gedanken beiseite. Das zu deuten, oblag ihrer Schwester. Ihre Aufgabe für den Moment war es, Trondla das freche Maul zu stopfen.
„Guten Morgen, Schwestern in Kella, euer Tag sei gesegnet. Habt Dank für das Sammeln. Möge die Göttin unser aller Arbeit segnen.“
Sie legte eine kleine Pause ein, um den Frauen die Möglichkeit zu geben, den formellen Gruß mit den traditionellen Worten zu erwidern, was aber nur wenige taten. Die meisten nickten nur oder schoben Betriebsamkeit vor. Dara baute sich nun vor der Unruhestifterin auf und starrte ihr herausfordernd in die Augen.
„Ich sehe, du kommst mit leeren Händen zur Gemeinschaftsarbeit, Trondla. Dafür läuft aber dein Herz über, ich hörte dich klagen. Was genau hast du nochmal gesagt? Ich habe es nicht richtig verstanden, glaube ich. Es klang, als würdest du Mali nicht als Kellari-Anwärterin anerkennen. Was doch aber nicht sein kann, denn das wäre ja Lästerung und Missachtung von Kellas Geboten.“
Hasserfüllt starrte Trondla Sharonas Zweitgeborene an. Dara erschauerte innerlich und musste ihre ganze Konzentration aufbieten, um dem Blickduell standhalten zu können.
„Ich sage ja nur, dass Mali noch keine Vision hatte“, nuschelte sie.
Dara nickte. „Oder ich“, entfuhr es ihr. „Dennoch sind wir die Töchter der Priesterin. Die Göttin entscheidet darüber, wann sie eine Vision schickt. Die Weisheit aller Clanmütter von Anbeginn des Stammes ist nur ein winziger Tropfen Feuer in der allmächtigen Glut der Göttin. Was glaubst du, wie groß dein eigener Anteil an Weisheit ist, Trondla, dass du es wagst, hier Klage zu erheben? Du bist weniger als Nichts, denn du berauschst dich an vergorenem Salzkornsaft – am helllichten Tage! Schäm dich! Rauschgetränke sind nur bei hohen Zeremonien erlaubt und werden gemeinsam eingenommen.“
Trondla schwankte etwas, denn ihre benebelten Sinne machten es ihr schwer, ihren Wunsch, Dara den Seeschlangen zum Fraß vorzuwerfen, zu unterdrücken. Sie spuckte ihr ersatzweise vor die Füße und statt in Reue und Demut zu schweigen, legte sie erst recht los: „Die Weisheit der Clanmütter … lachhaft, du Feuerhaar! Ist es weise, Männern Rechte zu geben, die Frauen vorbehalten sind? Die werden doch immer frecher! Neulich hat einer von denen meine Tochter aufgefordert, mit ihm zusammen Kella körperlich zu ehren. Dabei ist es an der Frau, die Wahl zu treffen. Und was ist mit diesem Romed, der sich als Hüter des Clans aufspielt? Nur, weil deine Mutter ihn oft in ihr Bett gelassen hat, heißt das nicht, dass er was Besonderes wäre und was zu sagen hätte! Und das Schlimmste ist ja wohl, dass er die anderen Männer dazu bringt, über Begriffe wie Vaterschaft nachzudenken und daraus Rechte abzuleiten.“
„Ja, genau!“, riefen einige der älteren Frauen. „Vaterschaft gibt es nur bei den unterentwickelten Völkern von Tanarell, die die Göttin nicht verehren und die Gesetze nicht verstehen.“
Dara holte tief Luft, um zu antworten, aber Trondla ließ ihr keine Chance und führte den Wortstreit weiter: „Wir alle wissen doch, dass allein Kella darüber entscheidet, ob Leben in uns heranwächst. Das hat mit den Männern nichts zu tun! Die sind nur dazu da, uns zu beschützen und zu erfreuen. Sei es im Bett oder durch Tanz und Gesang. Und sie arbeiten im Dunkel des Berges, um das Rakonit abzubauen, damit daraus Werkzeuge und Waffen geschmiedet werden. Wir brauchen sie, das gebe ich zu. Kella hat sie uns geschenkt, damit wir Frauen ein gutes, leichtes Leben haben. Gebären ist etwas Heiliges! Männer neiden uns das. Aber sie haben keine Rechte an den Kindern, das lasse ich nicht zu!“
„Ach ja?“, rief Dandri, eine der jüngeren Frauen, die zur Gilde der Schmiedinnen gehörte. „Und wie erklärst du dir die große Ähnlichkeit zwischen meinem Sohn und dem Ersten Jäger? Ich finde, die Menschen von Tanarell denken darüber richtig. Der Mann hat Anteil am Entstehen eines Kindes.“
„Unsinn! Die Göttin hat einfach Freude an seinem Gesicht und seiner Statur und hat deinem Sohn dasselbe gegeben, damit sie noch mehr männliche Schönheit erblickt, wenn sie den Vulkan verlässt, um ihr Volk zu betrachten.“
„Und wie erklärt ihr es euch, dass eine Frau erst dann ein Kind austrägt, nachdem sie begonnen hat, sich Männer ins Bett zu holen? Habt ihr schon mal darüber nachgedacht?“, warf Dandri ein und schaute herausfordernd in die Runde.
Es dauerte nicht lang, und alle redeten durcheinander und bildeten Lager. Dara beschloss, dem Streitgespräch ein Ende zu setzen. Die Arbeit tat sich nicht von allein. Und vor allem wuchs ihr alles über den Kopf. Eine Spaltung der sonst üblichen Einheit der Frauen bedeutete nichts Gutes. Vor allem durften die Männer davon nichts erfahren. Das Männerhaus mochte weit genug entfernt sein von der Priesterinnenhütte, aber einige stromerten immer umher. Was, wenn sie den Streit mit anhörten? Wenn doch nur Mali da wäre!
„Ich will, dass ihr alle euch beruhigt, jetzt sofort“, sagte sie laut. „Die Wirkung der Heilkräuter könnte von dem Gezänk beeinträchtigt werden.“
„Ha!“, Trondla trumpfte auf. Ein Rülpser entfuhr ihr und beleidigte Daras Nase durch den säuerlichen Alkoholdunst. „Daran ist nur Sharona schuld! Erst seitdem Handel mit dem Festland betrieben wird, sind unsere Kräuter schwach geworden. Denkt nur an die Rotfleckenkrankheit, die unsere Kinder damals für Wochen ins Krankenlager gezwungen hat. Das Fieber war gefährlich und nicht alle haben es überlebt. Sogar wir Mütter sind krank geworden, wenn auch nicht ganz so schwer. Vom Festland kommt nichts Gutes! Doch Sharona und Romed haben das Böse aus Gier zu uns eingeladen. Fehlt nur noch, dass er die Tränen der Kella als gewöhnliches Handelsgut einordnet.“
Ein entsetzter Aufschrei entfuhr einigen Frauen.
„Sag sowas nicht, Trondla! Das wäre ein furchtbares Sakrileg und unser Untergang. Die Tränen unserer Göttin sind heilig“, fuhr Dara sie erbost an. „Ich kann Romed auch nicht besonders leiden, aber das würde nicht mal einer wie er tun! Jetzt reicht es mir endgültig. Verschwinde! Geh in deine Hütte und sauf dich zu Tode. Das wäre das Beste für uns alle, du elendes Miststück.“
Im nächsten Moment lag Dara am Boden, niedergestreckt von einem Faustschlag. Trondla grinste sie triumphierend und bösartig an. Doch deren Freude am vermeintlichen Sieg währte nicht lange. Dandri und zwei weitere kräftige Frauen packten die betrunkene Unruhestifterin und zerrten sie davon.
„Ab in die Höhle mit ihr!“, forderten ein paar der Älteren. „Sie hat Strafe verdient“, schlossen sich weitere Frauen an. „Soll Kella sie zu Asche verbrennen!“, schrie sogar eine Greisin.
Dara stand langsam wieder auf. Sie war blass und fühlte sich elend, der Kopf brummte wie ein Insektenschwarm und ihre Wange brannte vor Schmerz. Mit der Zunge tastete sie ihre Zähne ab, doch alle waren an Ort und Stelle und fest im Kiefer verankert.
„Verbrennt die Heilpflanzen und sammelt neue. Sie sind verdorben durch den Streit“, sagte sie. Ihre Stimme zitterte. Sie war noch nie geschlagen worden! Gewalt unter Frauen war bei den Kellantha verboten. Und eine Kellari-Tochter zu schlagen, war pures Sakrileg. Ihr war klar, Trondla hatte heute ihr Leben in der Gemeinschaft verwirkt. Sie konnte nur noch wählen zwischen Tod oder Verbannung.
Das habe ich nicht gewollt, dachte Dara verzweifelt. Mali, wärest du doch hier gewesen! Ich habe alles falsch gemacht.
Dara hielt es im Dorf nicht länger aus, sie musste raus. Der etwa einstündige Weg führte sie zu einem Platz, den sie aufsuchte, wann immer sie unglücklich war. Es gab da diese eine besondere Stelle im Wald, von der aus sie freien Blick auf den Wasserfall und den einzigartigen, tiefblauen See im Tal hatte. An manchen Tagen allerdings trieb der Wind zu viel Feuchte des Ozeans vor sich her, schob sie an den Berghängen hoch und höher. Auch heute war so ein Tag, und Dara wusste, lange konnte sie hier nicht verweilen, denn der Dunst stieg kontinuierlich auf und die wohlige Temperatur würde fallen. Traurig und wütend zugleich saß sie auf ihrem Lieblingsfels, krallte ihre Zehen in das feuchte Sternmoos und starrte vor sich hin. Eine der Frauen ihrer Gemeinschaft würde sterben oder vertrieben werden, was fast dasselbe wie der Tod war. Hatte sie, Dara, Schuld daran? Oder war es der Wille der Göttin und sie war nur ihr Werkzeug gewesen? Trondla war respektlos, faul, streitsüchtig und öfters im Unguten aufgefallen, andererseits sahen in ihr nicht wenige Frauen ein Sprachrohr. Was geschah nur mit der Gemeinschaft der Kellantha? Vielleicht sollte ich Frell nach seiner Meinung fragen. Die Männer sind doch Teil von uns. Ohne sie könnten wir nicht sein, da bin ich mir sicher. Egal, was die Alten sagen.
Plötzlich sprang einige Meter tiefer am Hang ein kleines Rudel Dokdok davon. Scheue Huftiere mit wunderschönem, dreifarbigem Fell und langen, eleganten Beinen. Ihre Augen waren braun, der Blick immer sanft. Aber, was hatte sie aufgeschreckt? Dara staunte nicht schlecht, als sie ihre Schwester auf der Lichtung entdeckte. Müsste Mali jetzt nicht im Dorf sein? Im ersten Moment wollte sie ihr zuwinken, auf sich aufmerksam machen, aber dann bemerkte Dara, dass Mali auf etwas oder jemanden zu warten schien. Immer wieder schaute sie sich suchend um und ging einige Schritte hierhin, dorthin ... Und dann tauchte in der Tat jemand auf. Ein Mann. Mali fiel ihm um den Hals! Auch aus der Entfernung konnte Dara sehen, dass ihre Schwester glücklich war. Sie wurde von dem Mann hochgehoben und er drehte sich mit ihr lachend im Kreis, so dass ihre Beine durch die Luft flogen. Schau an, sie hat einen Liebhaber und hat mir gar nichts davon erzählt. Wer ist das? Dara kniff die Augen etwas zusammen, um besser sehen zu können. Dann schnappte sie nach Luft. Das war ein Doron-Mann! Keiner aus dem eigenen Clan. Kellantha-Männer hatten allenfalls braune Haare, wenn sie nicht schwarzhaarig waren. Dieser Mann aber hatte helle Haare wie Sommergetreide. Oh Mali, was tust du nur?
Dara zuckte zusammen, denn über ihren linken Fuß glitt eine schleimige Purpurschnecke und hinterließ eine brennende Spur auf dem Spann. Hastig riss sie feuchtes Sternmoos aus und wischte die leicht ätzende Flüssigkeit von ihrer Haut, bis die Rötung verschwand und nur noch ein Juckreiz von ihrem Leichtsinn Zeugnis gab. Leise fluchend zog sie ihre Schuhe wieder an. Als sie wieder nach dem Paar Ausschau hielt, sah sie nur zwei Dokdoks, die vorsichtig an ihren Futterplatz zurücktrabten, die langen Nasen hocherhoben, nach störenden Zweibeinern witternd.
-3-
Frell zog die Gefangene unnötig grob hinter sich her. Ihre Fußfesseln verhinderten, dass sie schnell vorankamen. Am liebsten würde er sie die Klippen herunterstoßen oder an einen Baum fesseln als Raubtierfutter. Sie hatte seinen Schützling Dara geschlagen! Allein das erweckte in ihm unbändigen Zorn. Die Tatsache, dass Dara dazu noch eine Kellaritochter war, machte alles noch schlimmer, noch verwerflicher, noch … Frell suchte nach weiteren Worten, doch seine Gedanken waren so schwarz, so giftig und aufbrausend wie Rauch vor einem Vulkanausbruch und ebenso schwer zu fassen. Trondlas Gejammer steigerte sich gleichermaßen. Kurz: Die Situation war unerträglich. Wäre er doch ein einfacher Bergarbeiter geblieben, und nicht Oberster Wächter geworden!
„Warum gehen wir Richtung Bergwerk? Du willst mich doch nicht in die Tiefe stürzen und unter Abraum begraben?“, kreischte Trondla angstvoll.
Frell schnaubte unwillig durch die Nase. „Bring mich nicht auf Ideen, du gestaltgewordene Schande für alle Kellantha.“
Sie marterte ihn mit weiteren Fragen und Wehgeschrei, bat um einen letzten Schluck Salzkornbrand, besser zwei oder drei, und kam immer wieder ins Stolpern. Langsam fragte sich Frell, womit er das verdient hatte und weshalb die Göttin ihn dermaßen auf die Probe stellte. Beherrscht ignorierte er fortan Trondla und war froh, als er endlich am vereinbarten Treffpunkt ankam. Romed wartete schon auf ihn.
„Hüter.“ Frell grüßte ihn mit einem respektvollen Nicken, obwohl er ihn nicht gut leiden konnte.
Trondla sank hinter ihm zu Boden, um zu verschnaufen.
„Ist sie das?“, fragte Romed, was Frell dazu brachte, die Stirn zu runzeln und heftig durch die Nase einzuatmen. Natürlich war sie das! Warum sonst sollte er eine offensichtlich verurteilte Frau mit geschorenen Haaren hinter sich herziehen – zum Spaß? Er konnte Romeds knappes Lächeln nicht recht deuten. Die Mundwinkel drückten gleichermaßen Zynismus und Belustigung aus – und es steckte in seinem Blick noch etwas anderes. Was, wenn er es richtig erkannte, ihm gar nicht gefiel. Denn da war auch Respekt für das Weibsstück und, noch schlimmer, Zufriedenheit. Frell wusste, dass der Hüter des Clans für die jüngere Tochter seiner verstorbenen Gefährtin nicht viel übrighatte, er bevorzugte Mali. Doch, würde er wirklich so weit gehen und Dara eine solche Schmach gönnen? Frell begriff in diesem Moment – ja, er würde! Romed, der Erste Mann des Clans, war tatsächlich so ehrlos. Und, als sei dies nicht schlimm genug, bebte nun die Erde leicht und ein grauenvoller Ton erklang, ganz leise, wie aus weiter Ferne, oder besser gesagt aus der Tiefe, fast so als würde ein Tier einen Klagelaut ausstoßen. Frell schnappte nach Luft. Ihm war, als würde die Insel selbst sich grämen, dass all diese Dinge geschehen waren, all diese Missachtung der guten, alten Sitten.
Trondla, vor Schreck mit neuer Kraft erfüllt, sprang auf die Beine und wollte davonlaufen. Doch Frell hielt das Seil, das um ihre Mitte gebunden war, fest in seiner Faust.
„Hüter, was mag das sein?“, fragte er mit rauer Stimme. „Hast du das auch gehört, diesen Klagelaut? Und ich meine damit nicht diesen Abschaum neben mir.“
„Das war nur Gestein, das sich aneinander reibt und verschiebt“, entgegnete Romed schnell. „Hier, nimm das an dich. Du kennst deinen Auftrag. Er duldet keinen Aufschub! Ich gehe besser ins Bergwerk zurück, um nach dem Rechten schauen.“
Romed drückte dem Wächter ein Säcklein in die Hand, drehte sich um und entfernte sich, ohne noch einmal zurückzublicken. Frell schaute ihm angespannt hinterher. Er kannte doch das Geräusch, wenn sich Stein verschob. Romed log ihn an. Da war noch etwas anderes gewesen! Etwas Fremdartiges. Außerdem hatte er besorgt ausgesehen. Irgendwas Ungutes tat sich unter Tage. Frell nahm sich vor, nach seiner Rückkehr mit den Männern seines alten Arbeitstrupps zu reden und sie zu fragen, ob ihnen etwas Merkwürdiges aufgefallen war, sei es in den Stollen oder im Verhalten ihres Anführers. Frell befühlte nachdenklich mit den Fingerspitzen den Inhalt des Beutels und steckte ihn dann unter sein Hemd.
„Los, weiter geht’s. Ich will dich noch vor der Mittagsstunde loswerden.“ Energisch zog er Trondla wieder hinter sich her.
Folgsam und still ergab sich die Frau in ihr Schicksal. Die Insel verlassen zu müssen, war plötzlich nicht mehr das Schlimmste, was sie sich vorstellen konnte, denn es schien ihr, die Göttin selbst würde das Volk der Kellantha für ihre Verurteilung ermahnen und garstig grollen. Ja, so musste es sein! Vielleicht waren die anderen es ja, die heute noch sterben würden und sie, Trondla, die Aufrechte, Bewahrerin der alten Werte, bliebe verschont, weil sie auf dem Festland ein neues Leben beginnen durfte. Es mochte sein, dass es noch weitere matriarchalische Dörfer gab. Die Göttin hatte einen Plan für sie! Natürlich! Trondla atmete auf und schöpfte neue Hoffnung.
Nach langer Wanderung über die Landbrücke in der Siedlung der Flussleute angekommen, erkannte Trondla in einem furchtbaren Moment der Klarheit diesen Plan. Offenbar hatte sie ihre Lage und das Zeichen der Göttin völlig falsch eingeschätzt.
Ihr war nicht mehr zu helfen.
Frell übergab die erschöpfte Frau einem über die Maßen tätowierten Sklavenhändler, der sein Glück nicht fassen konnte, denn Frell weigerte sich, einen Gegenwert anzunehmen. Nachdem diese unangenehme Pflicht für den Wächter erledigt war, suchte er nach einer Hafenkneipe. Allerdings mied er Tanaras Stolz. Sein Ziel war die Stinkende Auster. Wer dachte sich nur einen solchen Namen für sein Gasthaus aus? Flussleute haben wohl einen sehr speziellen Humor, dachte er bei sich. Frell schlenderte durch die Siedlung und tauschte sich bei erster Gelegenheit ein Fladenbrot mit geräuchertem Fisch und frischen Zwiebeln ein gegen eine Handvoll getrockneter Gora-Beeren, die nur auf der Vulkaninsel wuchsen und bei den Flussleuten sehr begehrt waren, weil sie glaubten, der Genuss der Beeren würde das Leben verlängern. Die Übergabe von Romeds Beutel konnte noch etwas warten. Während Frell seinen Hunger stillte, spürte er dem unguten Gefühl nach, das ihn begleitete, seit er vom Hüter den Beutel übernommen hatte. Irgendwas stimmte nicht damit. Es war, als würde dieser ein fransiges Loch in den Gleichklang seiner Tage brennen. Sogar sein Magen stimmte in dieses Brennen ein, er musste sauer aufstoßen.
Schön und gut, alter Knabe. Du wirst dich jetzt beruhigen. Mit festem Schritt ging Frell flussaufwärts, betrachtete das Treiben der Händler und bewunderte die Ruderer, die mit stoischer Ruhe Fracht und Reisende auf ihren Booten transportierten. Keiner aus dem Volk der Kellantha konnte schwimmen. Es hieß von altersher, Wasser und Feuer würden sich nicht vertragen. Frell überlegte seit langem, ob er es wagen sollte, einmal auf einem Ruderboot mitzufahren. Der Fluss führte direkt zum offenen Meer, wo noch größere Boote ankerten, solche mit Segeln, denn es hieß, der Wind würde die Schiffe übers Meer blasen und Ruder seien nicht nötig. Frell hielt das für Aufschneiderei. Ich weiß so wenig über die Welt, dachte er. Irgendwie kann ich Dara verstehen. Ihre Wissbegier, ihre Abenteuerlust. Wir Kellantha sind wirklich ein langweiliges, eigenbrötlerisches Volk. Aber wir sind nun mal die Kinder der Kella. Warum sollten wir unsere Göttin verlassen?
Frell hielt nun Ausschau nach dem blau angestrichenen Haus, das sein Ziel war. Er müsste es bald sehen können. Außerdem sehnte er sich nach einem kühlen Bier. Das würde nicht nur seinen Durst stillen, sondern auch seine Laune verbessern. Es war viele Jahre her, dass jemand verbannt worden war. Nicht, dass er Trondla hinterhertrauern würde … doch sie waren so wenige Menschen im Vergleich zu den anderen Völkern von Tanarell. Auch waren einige davongelaufen. Die Arbeit im Bergwerk war hart, nicht jeder Mann hielt das durch. Und nicht jeder konnte sich dafür begeistern, nach alter Mütter Sitte zu leben.
Frell atmete auf, als er endlich die Stinkende Auster entdeckte, denn er hasste es, ins Grübeln zu kommen. Den Auftrag abzuwickeln und ein Bier zu trinken, würde ihn ablenken. Entschlossen schob er sich durch die Passanten, von denen einige ihn schief ansahen, manche sogar mit Misstrauen, denn Inselmänner waren ein eher seltener Anblick in der Ortschaft, auch waren sie als „Feueranbeter“ verschrien. Frell betrat die Wirtschaft und hielt nach dem Händler Ausschau, den Romed ihm beschrieben hatte: Ein älterer Mann mit grauen, kurzen Haaren, bartlos, breitschultrig, die Augenbrauen auffallend dicht, auf der rechten Wange eine Narbe vom Jochbein bis zum Kinn.
Es war voll, fast alle Tische waren besetzt und der Geräuschpegel eine Zumutung. Frell beschloss, später woanders ein Bier zu trinken. Eine Schankmaid, beladen mit benutzten Humpen und Tellern, kam auf ihn zu und sagte: „Dort hinten. Der Tisch in der Ecke.“ Frell folgte ihrem Blick und sah den Käufer, der ihn anstarrte und ihm zunickte. Als er sich zwischen den Tischen und Bänken hindurchschlängelte, schien die pure Gier aus dessen Augen heraus.
„Wer schickt dich?“
„Romed. Das solltest du aber wissen.“
„Gut. Wollte nur sichergehen. Setz dich“, sagte er zu Frell, „nun zeig schon her. Hast du sie?“
„Ich habe dieses“, entgegnete der Oberste Wächter und holte den kleinen Beutel aus Dokdok-Leder unter seinem Hemd hervor.
Der Graue griff danach, öffnete die Kordel und schüttete den Inhalt auf seine schwielige Handinnenfläche.
„Wunderschöne Diamanten.“ Hastig verstaute er die Steine wieder und holte seinerseits etwas aus der Hosentasche. „Hier, für Romed, wie vereinbart.“ Er schob einen flachen Stapel Tafelmünzen über den Tisch und konnte kaum seine Freude über die Dummheit dieser hinterwäldlerischen Feueranbeter verbergen. Offenbar ahnten sie nicht im Geringsten, wie wertvoll diese Steine in Übersee waren. „Was ist denn?“, deutete er Frells Blick falsch. „Nicht genug? Da, ich leg noch was drauf, und dann verschwinde. Das Geschäft ist gelaufen.“
Frells Herz raste. Er griff mit zitternder Hand nach dem Geld, das Romed so sehr begehrte und lief so schnell er konnte aus dem Haus. Draußen erbrach er sich mitten auf dem Weg.
„Immer diese Betrunkenen!“, schimpfte ein Passant und sah ihn angewidert an.
Das war Frevel! Ihre hellen Tränen zu stehlen, um diese von der Insel fortzuschaffen, sie gar zu verkaufen, als wären sie nicht mehr als Rakonit-Erz – welch ein unverzeihliches Sakrileg! Und Romed hatte ihn mithineingezogen, ohne mit der Wimper zu zucken. Das würde er ihm büßen. Was sollte er nun tun? Er war verloren. Wie könnte er je wieder der Göttin unter die Augen treten? Frell sah zum Himmel hinauf. Eigentlich erwartete er den Anblick einer gewaltigen Rauchwolke, die einen unmittelbar bevorstehenden Ausbruch des Vulkans ankündigte. Wie könnte es auch anders sein? Kella musste einen Wutausbruch bekommen! Man hatte sie dreist bestohlen. Nur einer Kellari war es erlaubt, die ‚Tränen der Kella‘ als Schmuck und Zeichen ihrer Würde zu tragen.
Romed war kein Hüter, er war ein dreckiger Dieb. Mehr noch – er hatte das größte Tabu des Inselvolkes gebrochen.
Frell atmete tief ein und aus, solange bis sein Herz ruhiger schlug und er wieder einen sinnvollen Gedanken fassen konnte. Er sah nur einen Weg: Er würde jetzt sofort wieder in die Stinkende Auster gehen und die Tränen zurückkaufen. Danach würde er Romed vor allen anderen Männern mit seiner Tat konfrontieren, ihn bloßstellen. Hören, was er zu seiner Verteidigung zu sagen hatte. Der Rat der Männer musste einberufen werden. Auf keinen Fall durften die Frauen davon erfahren. Es würde sie zutiefst verstören. Der Oberste Wächter nickte ein paar Male und ballte seine Fäuste. „Ja, genau so werde ich es machen“, sagte er halblaut zu sich selbst.
Er eilte zurück zum Eingang und schob grob ein paar Leute beiseite, jetzt durfte er keine Zeit verlieren! Wo war der Graue? Frell sah ihn nicht mehr am Tisch sitzen, dort waren jetzt andere Leute. Grob packte er die Schankmaid am Oberarm und fragte, wo der Mann sei, den sie ihm vorhin gezeigt hatte. Doch sie konnte ihm nicht mehr sagen, als dass er durch den Hinterausgang das Wirtshaus verlassen habe, gleich nachdem das Geschäft abgewickelt worden sei.
„Wo wollte er hin? Hat er etwas gesagt?“
„Lass meine Maid los, Feueranbeter!“, mischte sich der Wirt ein. „Die hat zu arbeiten und nicht mit dir zu quatschen. Der Mann, den du suchst, ist runter zum Anlegeplatz. Und jetzt bestell was oder verschwinde aus meinem Lokal. Feueranbeter sind hier nicht sonderlich erwünscht.“
Frell entließ die Frau aus seinem Griff, murmelte ihr eine Entschuldigung zu, im Wissen, dass er zu grob gewesen war, und verließ eilig die Schankstube. Draußen atmete er tief durch, froh, dem Mief entkommen zu sein. Der Anlegeplatz war nicht allzu weit entfernt und er war ein schneller Läufer. Die Chance, den Grauen einzuholen, war groß. Frell war fest entschlossen, nicht ohne die heiligen Tränen der Kella in sein Dorf zurückzugehen. Wenn der Graue sie nicht gegen das Geld zurückgab, dann musste er eben Gewalt anwenden.
Er rannte los und achtete nicht auf die Blicke der anderen. Als er sich richtig warmgelaufen hatte, sah er den Anlegeplatz. Zwei Ruderboote ankerten, eines wurde gerade entladen. Ihm wurde heiß vor Aufregung, denn er konnte den Mann nicht ausfindig machen. Aber, möglicherweise hatte dieser einen Umweg gemacht! So schnell wollte er nicht aufgeben. Schwer atmend und schwitzend blieb er stehen. Die Lichtschenkerinnen standen im Zenit und es war selbst für ihn zu heiß. Einige Bäume boten Schatten und diese Einladung nahm er gerne an. Frell behielt den Weg im Auge, in Erwartung seines Gegners. Ab und zu warf er einen Blick auf die Leute, die das Boot entluden, weil er nicht immer nur in eine Richtung starren wollte. Unter den Männern waren zwei sehr junge, die große Ähnlichkeit hatten mit ... „Das darf doch nicht wahr sein“, murmelte Frell. „Tito! Und auch du, Bakku!“, rief er laut.
In der Tat reagierten die Freunde auf seinen Ruf. Erschrocken blickten sie auf und hielten Ausschau nach demjenigen, der ihre Namen kannte.
„Sofort hierher!“, rief Frell streng.
Dem Wächter verweigerte man nicht den Gehorsam. Schuldbewusst trotteten sie in Richtung Schatten und schauten zu Boden.
Frell verspürte plötzlich ein Rauschen in den Ohren und leichten Schwindel. Ich habe wohl zu lange nichts getrunken, dachte er. Doch das muss warten. „Was macht ihr hier? Es ist euch verboten, allein die Siedlung der Flussleute aufzusuchen.“
Tito, der ältere Junge, schaute ihn an. Eine Mischung aus Trotz und Angst lag in seinen Augen, während Bakku weiterhin zu Boden schaute. „Wir sind freie Menschen. Wir wollen die Hafenstadt sehen. Und wenn sie uns gefällt, bleiben wir dort.“
„Aber warum?“
„Wir wollen nicht länger von Frauen beherrscht werden. Wir wollen die Welt sehen!“
Das Rauschen in Frells Ohren wurde stärker und seine Sicht veränderte sich. Alles sah plötzlich so komisch gebogen und bunt aus! Und dann passierte es. Er sah nur noch Rot und Schwarz, er hatte das Gefühl, mitten in einem Krater zu sein. Zwei riesige Augen erschienen, die ihm bis auf den Grund der Seele sahen. Dann wurden sie kleiner und eine Frauengestalt bildete sich aus, wabernd, flackernd. Sie trug ein Kleid aus züngelnden, rauchenden Flammen. Plötzlich wurde sie riesengroß und tanzte über die Halbinsel. Währenddessen starrte sie ihm ununterbrochen in die Augen. Sie war ehrfurchtgebietend. Frell sank zu Boden und barg wimmernd sein Haupt zwischen den Armen. Kella zürnte ihm! Die Göttin war wütend und tanzte den Tod herbei. Mit einem Fuß stampfte sie nun auf die Landbrücke zwischen Tanarell und seiner Heimat Isla-Kell. Große Teile versanken im Meer Tanara, und als sei das nicht schlimm genug, brach der Vulkan aus, spie seine Lava aus bis weithin ins Meer. Zuletzt sah Frell den Mond zwischen den Lichtschenkerinnen aufsteigen: es war die Zeit der zweiten Tag- und Nachtgleiche, in der sein Volk seit Urzeiten Kella zu Ehren ein großes Fest feierte. Der Mond verdunkelte sich und wurde blutrot, die Lichtschenkerinnen verbargen ihr Gesicht hinter dunklen Wolkenbergen.
So plötzlich die Vision über ihn gekommen war, so unvermittelt verschwand sie. Frell öffnete seine Augen und sah über sich die besorgten Gesichter der Jungen.
„Wächter Frell, wie geht es dir? Du warst bewusstlos.“
„Wir wussten nicht, was wir machen sollen“, ergänzte Bakku. „Ich habe für dich Wasser zum Trinken geholt. Hier.“
Fürsorglich streckte er dem Wächter einen ledernen Wasserschlauch entgegen. Frell richtete sich zum Sitzen auf. Kein Schwindel, kein Rauschen mehr. Vorsichtig erhob er sich und trank durstig. „Wie lange war ich weggetreten?“, fragte er bestürzt. Er fühlte sich etwas zittrig und verwirrt. Männer bekamen keine Visionen. Männer waren es nicht wert, die Göttin mit eigenem Geist zu sehen. Es war schlichtweg nicht möglich. Offenbar doch, sagte eine leise Stimme in ihm, die seiner eigenen glich. Auch ich will nicht länger von Frauen beherrscht werden, schob sich ein zweiter Gedanke hinterher, noch leiser als der erste.
„Nur eine Weile. Aber lang genug, um Schiss zu kriegen, Wächter“, sagte Tito trocken.
Frell räusperte sich, fuhr erschöpft mit der Handfläche über seine fiebrige Stirn.
„Hört mir zu. Ihr zwei vergesst fürs Erste eure Pläne, die weite Welt zu sehen. Ich brauche euch jetzt. Unser aller Leben steht auf dem Spiel.“
Nun hatte er die ganze Aufmerksamkeit der Halbwüchsigen. Sie hatten eine Strafpredigt erwartet, aber nicht, dass der Wächter sie um Hilfe bat. Konzentriert lauschten sie seinen Worten, mit denen er ihnen die Vision näherbrachte. Auch sprach er über den Frevel, den Romed begangen hatte und über die Tiere in seiner Hütte.
„Habt ihr alles verstanden?“, fragte Frell ernst.
„Ja, Wächter“, versicherte Tito und Bakku fasste zusammen: „Die Meeris zu Dara bringen, damit sie sie füttert. Dem Rat der Männer berichten und Romed aus dem Weg gehen. Auf deine Rückkehr warten.“
„Ja. Es ist noch Zeit. Das Fest findet erst demnächst statt, nicht heute, nicht morgen. Wenn ich es schaffe, bis dahin die Tränen zurückzuholen, dann wird die Göttin versöhnt sein. Hoffe ich. Mag sein, dass wir dennoch die Insel verlassen müssen. Darüber soll der Rat der Ältesten entscheiden. Sie müssen die Kellaritöchter einweihen, heimlich. Romed könnte fliehen und seiner Strafe entgehen. Wenn er nach mir fragen sollte, dann wisst ihr nichts über meinen Verbleib. Verstanden?“
Die Jungen legten ihre Hand aufs Herz und nickten ihm respektvoll zu. Dann rannten sie los, dass der Staub unter ihren Füßen nur so aufstob. Frell wandte sich den beiden Bootsführern zu und beschrieb ihnen den Mann, den er suchte. Es war zu spät, der Graue hatte längst ein Boot genommen und war fort.
„Wer von euch legt zuerst ab? Ich muss ihm unbedingt hinterher. Er hat etwas sehr Wertvolles gestohlen“, erklärte er nicht ganz wahrheitsgemäß.
„Ich lege gleich ab, um die nächste Ladung aus der Hafenstadt zu holen. Die Fahrt kostet dich zehn Kleinmünzen“, sagte ein Bootsmann.