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Wir schreiben das Jahr 2046. Die Klimaveränderung, politisches Versagen und eine Weltwirtschaftskrise machen allen zu schaffen. So auch den Bewohnern der norddeutschen Kleinstadt, in der Tobias Sörensen Pastor ist.
Wie gerne würde er die Welt retten! Er fühlt sich berufen, aber er verschanzt sich hinter seinem PC und kümmert sich lieber um seine kleine Arche Noah, wie er das alte Pfarrhaus mit dem großen Garten gerne nennt. Dort lebt er mit zwei Hängebauchschweinen, baut Igelburgen, schafft Nistplätze für Fledermäuse und baut alte Gemüsesorten an, deren Saatgut er hütet.
Eines Tages im Advent steht da plötzlich im unpassendsten aller unpassenden Momente diese schöne junge Frau am Zaun …
24 Kapitel für 24 Tage des Advents! Eine ebenso abenteuerliche wie besinnliche Zeitreise-Geschichte.
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
Klappentext
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Lese-Adventskalender 2016
Die rote Kerze
©2015 Marlies Lüer
Esslinger Str. 22, 70736 Fellbach
Cover: Irina Bolgert
Wir schreiben das Jahr 2046. Die Klimaveränderung, politisches Versagen und eine Weltwirtschaftskrise machen allen zu schaffen. So auch den Bewohnern der norddeutschen Kleinstadt, in der Tobias Sörensen Pastor ist. Wie gerne würde er die Welt retten! Er fühlt sich berufen, aber er verschanzt sich hinter seinem PC und kümmert sich lieber um seine kleine Arche Noah, wie er das alte Pfarrhaus mit dem großen Garten gerne nennt. Dort lebt er mit zwei Hängebauchschweinen, baut Igelburgen, schafft Nistplätze für Fledermäuse und baut alte Gemüsesorten an, deren Saatgut er hütet.
Eines Tages im Advent steht da plötzlich im unpassendsten aller unpassenden Momente diese schöne junge Frau am Zaun …
Eine Science-Fiction-Story mit spirituellem Hintergrund!
„Glaubst du wirklich, es ist richtig, was wir tun?“
„Haben wir denn eine Wahl? Wir müssten vollenden, was wir begonnen haben.“
„Ja, es ist das einzig Richtige. Verzeih meine Wankelmütigkeit. Ob sie überleben werden?“
„Nicht alle …“
Dieser Wintertag war von der kristallklaren Sorte. Der Schnee reflektierte das Sonnenlicht und verstärkte die Helligkeit, darum hatte er das Fenster verdunkeln müssen. Wunderschön, aber das konnte er jetzt nicht brauchen. Tobias spürte ein leises Ziehen hinter der Stirn. Er wusste, sein Gewissen meldete sich. Doch es musste noch warten, ehe er ihm Gehör schenken konnte. Schließlich hatte er eine Mission! Die Kopfhörer drückten auf seine Ohren, doch auch das ignorierte er so gut es ging. Tobias rief das Hauptmenü auf, wählte einen höheren Level der Mission „Entrance to Hell“. Dieses Mal würde er das ganze Waffenarsenal in Gebrauch nehmen, wenn es sein musste und sich den Weg zum Artefakt brutal freischießen. Er klickte auf ‚Letzten Speicherpunkt laden‘ und schon stürzten sich die ersten kreischenden Dämonen auf seinen Avatar Devilhunter. Angespannt registrierte er, wie seine Lebenspunkte ins Bodenlose sanken. Er rettete sich in eine Kirchenruine und griff nach den funkelnden Weihwasser-Phiolen, die auf dem Altar bereitlagen, und trank sie aus. Die Anzeige stieg wieder nach oben, fast in den grünen Bereich. Diesmal wollte er es schaffen! Das Tor zur Hölle musste verschlossen werden, koste es was es wolle. Devilhunter warf sich todesmutig den Dämonen und Beelzebuben entgegen und mähte sie mit der Pistole nieder. Aber es reichte nicht aus, die Waffe war unzureichend gegen die schiere Masse. Er wählte im Schnellmenü das Weapon-Wheel an und wechselte zum Schrotgewehr. Besser! Viel besser. Die Dämonen winselten sabbernd und zogen sich zurück. In einer Atempause richtete er das Gewehr auf den Eingang zur Hölle, der sich in einem verdreckten Tattoo-Studio befand, wo unter der Hand mit extrem gefährlichen Drogen gehandelt wurde. Seine Finger waren verschwitzt, die linke Maustaste war im Dauergebrauch. Klick klick klick klick … Kurz bevor er den Laden völlig in Schutt und Asche legen konnte, meldete sich sein Gewissen zurück, unterstützt von feierlichem Glockengeläut, das leider nicht dem PC-Spiel zugehörig war, denn das Tor zur Hölle war noch nicht verschlossen. Der Endkampf mit Satan höchstpersönlich stand ihm noch bevor.
Widerwillig schaute er auf die Wanduhr, denn er hatte einen Termin. Entsetzt sprang er auf und hastete in sein Schlafzimmer, stolperte über sein Hängebauchschwein namens Petrus und machte einen Bauchklatscher, der ihn völlig in die Realität zurückwarf. Nur noch zehn Minuten! Sich selbst verfluchend und gleichzeitig dafür um Vergebung bittend, warf er sich seinen Talar über und rannte durch den knöchelhohen Schnee zur Kirche. Er schlitterte durch den Seiteneingang und bemühte sich, seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Lächelnd schritt er möglichst würdevoll am Küster vorbei, der ihm einen strengen Blick zuwarf. Tobias nahm es ihm nicht übel. Der Mann hatte ja recht. Diesen Winter war er schon drei Mal zu spät zum eigenen Gottesdienst erschienen. Asche auf sein Haupt! Mea culpa est …
Nach dem Eingangslied trat Tobias, Pastor einer kleinen norddeutschen Gemeinde, vor die Gläubigen. Er begrüßte sie mit den Worten: "Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes", zwinkerte seinen Konfirmanden zu, die in der ersten Bank saßen und sprach schließlich das Eingangsgebet. Der Gottesdienst nahm jetzt seinen gewohnten Lauf. Heute war der 1. Advent. Nachdem das Lied „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ verhallt war und nur noch leises Husten, Schniefen und Stimmenmurmeln den Kirchenraum erfüllte, war es Zeit für die Predigt. Tobias hatte sich für heute den Lobpreis als Thema ausgewählt. Wenn er sich seine Schäfchen so ansah, oh ja, die hatten es verdammt nötig. Die meisten Leute sahen verschlafen oder missmutig aus. Oder gelangweilt. Wo war hier die Vorfreude der Gläubigen, das Jauchzen und Jubeln? Es war Advent, die kommende Ankunft des Herrn wurde gefeiert! Okay, die Konfirmanden in der ersten Reihe, die halbwegs heimlich Pokémon spielten, die mussten sich das Jauchzen in der Kirche eher verkneifen. Tobias konzentrierte sich auf seine Predigtvorlage. Leider stellten sich in diesem Moment wieder einmal seine Sinne „scharf“, insbesondere der Hörsinn, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Und so hörte er unfreiwillig, was die dauergewellten Damen in der hintersten Bank wisperten (Sieht er nicht wie ein Engel aus? Habe ich euch zu viel versprochen? Ich gehe nur wegen ihm in die Kirche. Jaaa, er ist wirklich zum Anbeißen. Ach was, er ist viel zu jung für euch alte Schnepfen), er roch den Sekt, den sie zum Frühstück genossen hatten, und den Ungewaschenen in der dritten Reihe, fühlte das winzige Steinchen in seinen Sneakers überdeutlich in seine Fußsohle piksen. Er verlagerte sein Körpergewicht etwas auf die andere Seite, riss sich zusammen und begann seine Predigt mit einer Liedstrophe: „Nun jauchzet, all ihr Frommen zu dieser Gnadenzeit, weil unser Heil ist kommen: Der Herr der Herrlichkeit, zwar ohne stolze Pracht, doch mächtig, zu verheeren und gänzlich zu zerstören des Teufels Reich und Macht.“ Unwillkürlich musste er an seine unvollendete Mission denken. Er hatte ja nicht mal Zeit gehabt, das Spiel zu speichern und den PC in den Schlafmodus zu versetzen. Dann hörte er, wie die Dauerwelle in der Mitte lüstern flüsterte: Den würde ich gern mal ohne Talar sehen, so wie Gott ihn schuf, woraufhin die dämlichen Weiber rechts und links von ihr kicherten und mit den Augen rollten. In der Mitte des Kirchenschiffs saß ein Asthmatiker und es klang, als läge ein Beelzebub in den letzten Zügen. Konnten die überhaupt sterben? Dämonen waren doch schon tot. Er würde mal seine Konfirmanden mit dieser Fragestellung konfrontieren. Vielleicht konnte er so ihr Interesse an den spirituellen Fragen des Lebens wecken. Ähm, wo war er doch gleich stehengeblieben? Richtig. Jauchzen. Lobpreis. Advent und so …
Tobias konzentrierte sich und setzte die Predigt ordnungsgemäß fort. Sein lieber alter Vater kam ihm in den Sinn, der immer gesagt hatte: Die Predigt ist das Herzstück des Gottesdienstes!
Tobias ging mit einem breiten Grinsen über den Kirchfriedhof, Richtung Südtor. Er hatte eben seinen Konfirmanden angedroht, sie würden im Krippenspiel Ochs und Esel darstellen müssen, wenn sie es noch einmal wagen sollten, im Gottesdienst Pokémon zu spielen. Auch wenn er es ihnen geschenkt hatte, war das kein Grund, es in die Kirche mitzunehmen. Kurz war er in Versuchung gewesen, ihnen einen Tipp zu geben, wie sie den Level schaffen konnten, aber das hätte seiner Glaubwürdigkeit geschadet. Die eisige Winterluft tat ihm jetzt gut. Seine zeitweilig auftretende Hyperakusis ließ langsam nach, wofür er dankbar war. Er blieb für eine Weile stehen zwischen der Friedhofsmauer und dem Pfarrhausgrundstück. Kirche, Haus und Gottesacker bildeten eine Einheit seit über zweihundert Jahren.
Mit geschlossenen Augen hielt er sein Gesicht der Sonne entgegen. Ihre warmen Strahlen konnten seine innere Unruhe nicht dämpfen. Es zog ihn zurück zum PC. Verdammte Spielsucht. War er wirklich schon süchtig? Oder war er nur ein Nerd? Was hieß „nur“? Er war ein Geistlicher, er sollte seiner Meinung nach derartige Probleme überhaupt nicht haben, sondern sich um die Schwachen und Armen kümmern, um verirrte Seelen und Herzen. Gott zu dienen, war seine Berufung. Nie hatte er etwas anderes vor Augen gehabt als seinem Vater nachzueifern. Unwillkürlich entfuhr ihm ein tiefer Seufzer. Vater … er würde ihn heute Nachmittag im Heim besuchen. Ganz bestimmt. Der letzte Besuch war schon einige Zeit her. Tobias überlegte und erkannte beschämt, dass schon elf Tage verstrichen waren. Er öffnete seine Augen und wollte seinen Weg fortsetzen, doch ein Geräusch, das ihm unter die Haut ging, hielt ihn davon ab. Es kam aus Richtung Osten, dort, wo die Friedhofsmauer bröckelig war. Vielleicht war ein Wildtier in der Mauer hängengeblieben, als es hindurchschlüpfen wollte? Voller Mitgefühl eilte er über den Kirchhof, einen Fuchs oder Waschbär in Not erwartend. Doch was er vorfand, war ein alter Jutesack mit drei winselnden Welpen, ein vierter lag still dazwischen. Kummer überschüttete sein Herz. Wer war so arm in der Seele, dass er kleine Hunde dem Kältetod auslieferte? Er nahm den Sack hoch und drückte ihn vorsichtig an seine Brust und lief nach Hause.
„Petrus, Paulus, weg mit euch, raus in den Garten!“ Tobias wollte die Welpen noch nicht mit seinen Hängebauchschweinen konfrontieren. Er schob die Schweine zur Hintertür und schickte sie zum Spielen raus. Die beiden waren richtige Schnee-Fans. Dann nahm er die Welpen aus dem Sack heraus, um sie genauer zu betrachten. Sie waren mindestens zwölf Wochen alt, also schon von der Muttermilch entwöhnt, das machte es für ihn leichter. Den Stillen wollte er noch nicht abschreiben, er war nicht steif und schien noch zu atmen. Ungeduldig zerrte er seinen Talar vom Körper und schob das Hundchen unter seinen Pullover, um es mit seiner Körperwärme zu versorgen. „Bleibt mal brav hier, ihr Süßen, ich muss mal in die Küche für euch.“ Schüchtern und verschreckt drückten sich die Welpen aneinander, in eine Wolldecke gehüllt, auf dem Teppich vor der Heizung liegend. Tobias machte in der Küche Wasser heiß für die Wärmflasche. Mit Käsewürfeln und Wurstscheiben kehrte er zurück ins Wohnzimmer. Zu viel Salz für junge Hunde, aber er hatte gerade nichts Besseres zur Hand. Ausgehungert fielen die kleinen Racker über die Nahrung her. Wasser! Er hatte das Trinkwasser vergessen … mit der Linken hielt er nach wie vor den Stillen fest und befüllte mit der Rechten eine Müslischale mit lauwarmem Leitungswasser. Durstig schlabberten die Hunde und schoben einander beiseite. Die Schwänzchen wedelten aufgeregt. Während er den Stillen sanft massierte, der nunmehr auf der Wärmflasche lag, betrachtete er die Findlinge. Mischlingswelpen, undefinierbar. Vielleicht ein wenig Schäferhund? Braune Augen und schwarze Schnauzen, mittelbraunes lockiges Fell, Stehohren. Einfach liebenswert. „Wenn ich den finde, der euch das angetan hat!“ Tobias ließ offen, was er mit diesem Menschen machen würde.
Sein Herz hüpfte vor Freude, als ein Hinterbein des Stillen zuckte und kurz darauf ein Zittern durch den kleinen Körper ging. Seine Geschwister beschnüffelten ihn eifrig und der Größte aus dem Wurf leckte über seine Schnauze. „Willkommen im Leben, Lucky“, flüsterte Tobias. „Und für euch finde ich auch noch passende Namen“, sagte der Pastor und knuddelte die Hunde, die zu ihm schon Vertrauen gefasst hatten. Einer von ihnen schlich sich unter den Tisch und schickte sich an, ein Häufchen zu machen. Im letzten Moment schob sein Retter eine Zeitung unter den Hundehintern und seufzte. Das würde viel Arbeit werden, vier Hunde gleichzeitig stubenrein zu machen. Er kratzte sich den Hinterkopf. Wollte er sie denn behalten? Konnte er das? Wie sollte er die Versorgung und Erziehung von vier jungen Hunden in Einklang bringen mit seiner Arbeit für die Gemeinde?
Seine Ohren waren immer noch nicht völlig zum normalen Hören zurückgekehrt. Ob es so für Hunde war? Wahnsinn, dass die das immer so laut hatten. Stadtverkehr musste für die doch unerträglich sein. Tobias presste seine Hände auf die Ohrmuscheln, aber er hörte den sirrenden Ton weiterhin. Er steckte Ohropax in die Gehörgänge, aber auch das half nicht. Ihm war fast, als würde er mit all seinen Knochen ‚hören‘, es war mehr eine winzige Vibration, die da in der Luft hing. Unzweifelhaft war die Quelle der riesige, geschliffene Quarzbrocken seines Vaters, der auf der Anrichte seinen Platz in einer hölzernen Schale hatte. Wenn ihn nicht alles täuschte, war im Zentrum des Steines sogar ein winziger Lichtpunkt. Das war neu. Doch der Rollladen war noch geschlossen. Woher sollte also die Lichtreflexion kommen? Vom PC vielleicht? Oh, ja, da lief ja noch das Spiel, bzw. der Bildschirmschoner war aktiv. Sofort überkam ihn der Drang, den Höllenfürsten zum Endkampf herauszufordern. Er setzte sich davor und griff zur Maus, bereit, die Mission zu beenden. Aber in dem Moment kläffte erst einer, dann alle vier Hunde. „Okay, Botschaft angekommen!“ Tobias fuhr den PC runter, nachdem er seinen Spielstand gesichert hatte. Er ließ das Winterlicht ins Zimmer und schaute nachdenklich auf seine neuen Mitbewohner. Wie sollte das gutgehen, zusammen mit Paulus und Petrus? Und was zum Geier war mit Vaters Quarz los? Das Sirren machte ihn nervlich fertig. Vater … oh. Er wollte ihn doch besuchen. Noch war genug Zeit bis zum nächsten Termin, der war erst gegen 18 Uhr. In Momenten wie diesen bereute er, keine Haushälterin eingestellt zu haben. Kurzerhand rief er den Diakon an und bat um Babysitterdienste.
„Das wird aber auch Zeit, dass Sie kommen, Herr Pastor. Ihr Vater weint seit Tagen Ihnen hinterher. Wir waren schon am Überlegen, Sie anzurufen“, brummelte die Altenpflegerin.
„Warum haben Sie es nicht getan?“, fragte Tobias aufgebracht. Vater weinte? „Hat er etwa Schmerzen?“
„Nein, zumindest sagt er, dass er keine hätte. Er sieht auch nicht krank aus, nur bekümmert. Zu dieser Jahreszeit ist das ja fast schon normal bei den Alten. Weihnachtszeit ist Nierenzeit, sag ich immer.“
„Nierenzeit?“
„Ja, das geht den Herrschaften an die Nieren. Schlägt ihnen auf die Seele. Sie wissen schon, Sie als Pastor …“
„Aber nicht meinem Vater. Er hat besonders die Adventszeit immer geliebt und Weihnachten ist der absolute Höhepunkt des Jahres für ihn.“
„Hach ja, die Predigten von Herrn Sörensen senior waren immer die schönsten. Oh, nichts gegen Ihre, Herr Sörensen! Auch schön, so ... äh … anders und erfrischend.“
„Ich geh jetzt mal zu ihm. Wenn er einigermaßen wohlauf ist, nehm ich ihn mit runter in die Cafeteria.“
„Tun Sie das, Ablenkung ist immer was Feines.“
Tobias brummelte etwas vor sich hin, was er besser nicht laut aussprach und wandte sich von ihr ab. Was hatte Vater nur? Er beschleunigte seine Schritte und nahm zwei Stufen auf einmal, bis er in der zweiten Etage angekommen war. Vor der Zimmertür verharrte er kurz, dann klopfte er an und betrat das Einzelzimmer. Sein Vater saß in seinem Rollstuhl und schaute aus dem Fenster in Richtung Deich. Die von Arthritis verformten Hände lagen auf dem Tisch, ein Foto umklammernd: Vater und Sohn vor dem Pfarrhaus im Garten. Die Schultern bebten leicht. Tatsächlich. Er weinte. Tobias wappnete sich und ging auf den etwas schwerhörigen Mann zu und legte seine Hand auf dessen Schulter.
„Hallo, Papa. Es tut mir so leid, dass ich so lange nicht bei dir war. Du weißt ja, was in dieser Zeit immer alles so zu tun ist. Als Pastor hat man fast so viel zu tun wie der Weihnachtsmann“, versuchte er zu scherzen.
Hinrich Sörensen, Pastor a.D., schaute ungläubig zu seinem Sohn auf. Seine Lippen begannen zu zittern, dann weinte er wie ein kleines Kind und klammerte sich an seinen Sohn.
„Ich dachte, er wäre schon gekommen, um dich zu holen. Ich dachte, ich sehe dich nie wieder. Versprich mir, dass du nicht ohne Abschied gehst!“
Tobias konnte seine Worte kaum verstehen, so sehr weinte er jetzt. Außerdem ergaben sie herzlich wenig Sinn. Wer sollte ihn denn ‚holen‘? Er war im besten Alter, der Herrgott würde Papa Hinrich sicherlich vor ihm in die Ewigkeit heimholen. Wie kam er nur auf solche Gedanken?
„Es geht mir gut, ich bin gesund, ich habe nur viel Arbeit“, log er. In Wahrheit hatte er fast jede freie Minute am PC verbracht und Schlachten geschlagen, Königreiche vor Barbarenhorden gerettet und danach hatte er sich mit Beelzebuben und Dämonen herumgeprügelt, mit dem Ziel, die ganze Menschheit zu retten. Da lag auch ein neues Spiel, noch verpackt, im Regal: ‚Nature strikes back‘ … Rette als heldenhafter Wissenschaftler die Erde vor der Apokalypse durch Klimaveränderung, Vulkanausbrüchen und Virenepidemien!
Ich habe echt ein Problem. Das ist doch genauso krank, als würde ich saufen und lügen …
Behutsam löste er die Arme des Alten von seiner Taille und kramte in der Schublade des Nachttischs nach einem Taschentuch und reichte es zu. Dann fiel ihm sein Mitbringsel ein. In der Jackentasche hatte er zwei Pikkolos, ‚extra dry‘, wie Hinrich es mochte. Er schenkte zwei Wassergläser voll Sekt und stellte eins mit einem aufmunterndem Nicken vor seinen Vater.
„Nicht lang' schnacken, Kopp in' Nacken!“, zitierte er den alten, norddeutschen Trinkspruch. Und in der Tat zog ein kleines Lächeln über das Gesicht seines Vaters. Vielleicht war das mit der Ablenkung doch was Feines … gerade bei beginnender Demenz. Tobias liebte seinen Vater innig, aber sein Zustand überforderte ihn in den letzten Monaten immer öfter. Er verwickelte ihn in ein Gespräch über Gemeindeanliegen und in der Tat war der Kummer bald vergessen, die Tränen getrocknet. Den Rest des Nachmittags verbrachten sie im Erdgeschoss in der adventlich geschmückten Cafeteria. Hinrich Sörensen unterhielt die mit am Tisch sitzenden Besucher und Heimbewohner mit Anekdoten aus der Kindheit von Tobias, wie er ‚Superman‘ gespielt hatte und mit einer geblümten Tischdecke als Schulterumhang vom Scheunendach sprang und sich dabei den Arm brach. Und auch die Story, wie er die herrenlose Katze aus der Kanalisation rettete, was den alten Herrn wiederum daran erinnerte, dass … usw. usw.
Gegen 17 Uhr rief der Diakon an, der mit Hunden und Schweinen überfordert war und nach Hause wollte. Tobias spürte durchaus Dankbarkeit dafür, dass seine Anwesenheit im Pfarrhaus erforderlich war, und verabschiedete sich freundlich von allen. Zurück im Pfarrhaus kümmerte er sich um all seine Tiere und vergaß den 18 Uhr-Außer-Haus-Termin. Als es dann Nacht war und Zeit schlafenzugehen, stand er nachdenklich und traurig im Bad vor dem beleuchteten Spiegel und nahm seine Kontaktlinsen heraus. Er trug sie nicht wegen einer Fehlsichtigkeit. Es waren farbige Linsen, denn seine Augen waren fast farblos, hatten nur einige bernsteinfarbene Sprenkel in der blassgoldenen Iris. Niemand außer ihm hatte solche Augen. Tobias starrte sein Spiegelbild an. Zum Fürchten!
„Entschuldigen Sie mich bitte kurz“, sagte Tobias und sprang zum zweiten Mal mitten im Gespräch auf. Bei ihm saß ein junges Paar auf dem Sofa, das kirchlich heiraten wollte. Amüsiert betrachteten Sie die Bemühungen des Pastors, vier Welpen gleichzeitig davon abzuhalten, in die Wohnung zu pieseln und ihre Häufchen zu hinterlassen. „Ich habe die Racker heute früh dem Tierarzt vorgestellt. Allesamt gesund, bis auf einen. Der hat eine leichte Lungenentzündung. Aber das kriegen wir wieder hin. Sie wissen nicht zufällig jemanden, der gern ein oder zwei kleine Hunde bei sich aufnehmen möchte?“ Tobias schnappte sich Frodo, der sich in Bilbos Hinterbein spielerisch verbissen hatte, und setzte Bilbo in das Katzenklo, das für Notfälle bereitstand. Lucky, der an den Folgen der Unterkühlung litt, döste auf dem Schoß der Braut und ließ sich kraulen.
„Unfassbar, wie gemein und gedankenlos Menschen sein können“, sagte der Bräutigam. „Ich wüsste ja, was ich mit so einem machen würde …“
„Ich auch, glauben Sie mir“, entgegnete Tobias. „Da würde ich dann glatt meine christliche Erziehung für einen Moment vergessen.“
Der vierte Hund spielte mit Petrus, der vor der Heizung döste und schnappte eifrig nach dessen zuckenden Ringelschwanz, was das Schwein mit erstaunlicher Gelassenheit hinnahm. Inzwischen war die Rangfolge zwischen allen Haustieren geklärt worden. Paulus ignorierte die Hunde so gut es ging und hielt sich lieber im Schweinezimmer auf.