Die Wahrheit über Avalonia Scott - Marlies Lüer - E-Book

Die Wahrheit über Avalonia Scott E-Book

Marlies Lüer

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Beschreibung

Fairyglade – eine Kleinstadt in einem fiktiven Großbritannien, zu der Zeit, als die ersten „pferdelosen Kutschen“ fahren und längst nicht jedes Haus Elektrizität hat. Hier lebt die achtzehnjährige, vaterlose Loni, die nach dem Tod ihrer Mutter für sich selbst sorgen muss, in einer Gesellschaft, in der so etwas wie Frauenrechte nur belächelt werden. Die städtische Arbeitsvermittlung schlägt ihr eine Stellung als Hausmädchen im Lonely Cottage vor, allerdings hat die Hausherrin einen schlechten Ruf. Man tuschelt, das Haus am Waldsee sei verflucht und ein Geist würde dort spuken! Die Haushilfen bleiben nicht lange, und eine kam gar nie wieder zurück. Wagemutig nimmt Loni die Stelle an, denn wenn sie die Miete nicht zahlen kann, wird der neue Hausbesitzer sie knallhart vor die Tür setzen. Bald schon stellt sie fest, die Gerüchte haben einen allzu wahren Kern. Sie ahnt nicht, wie sehr sich ihr Leben verändern wird und sie dann vor der Frage aller Fragen steht: „Wer bin ich wirklich?“

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Inhaltsverzeichnis

Die Wahrheit über Avalonia Scott

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Die Wahrheit über Avalonia Scott

Impressum

Autor: Marlies Lüer

Cover: Susanne Ptak, unter Verwendung von Shutterstockbildern

© Mia Stendal und © kksphotographe

Erstveröffentlichung: © 2024

ISBN:

Imprint: Independently published

Marlies Lüer, 29225 Celle, Fuhrberger Str. 95

[email protected]

Kapitel 1

Ich muss sagen, es war ein verdammt mieses Gefühl, durchgefroren und einsam am Grab der Mutter zu stehen, nachdem die Totengräber sich zurückgezogen hatten. Nicht mal die Nachbarn waren zur Beerdigung gekommen, nur zwei langjährige Kundinnen und ein fremder Mann! Er stellte sich mir als Notar vor, überreichte dann einen verschlossenen Brief und übermittelte sein Mitgefühl. Dabei sah er ehrlich aus, das tat mir gut. Er bot mir sogar seinen Regenschirm an. Aber ich war schon völlig durchnässt und lehnte höflich ab. Gentlemanlike bestand er darauf, mich in seinem Automobil nach Hause zu fahren. Seine Augen waren freundlich, also vertraute ich ihm. So saß ich also bebend in einer dieser seltsamen, pferdelosen Kutschen, von denen immer mehr durch unsere kleine Stadt rollten und einem Märchen-Drachen gleich ihren stinkenden Atem ausstießen. Je länger die Fahrt andauerte, umso wohler fühlte ich mich darin. Es war ein wenig, als würde ich in einem fahrenden Häuschen sitzen. Diese Autos gab es ja schon lange, fast zwanzig Jahre, das wusste ich. Doch erst seit wenigen Jahren waren sie auch für den gehobenen Mittelstand bezahlbar und seitdem fuhren welche auch in unserer kleinen Stadt umher.

Später saß ich allein daheim bei einer Tasse schwarzen Tees mit Kandiszucker und versuchte zu verstehen, was meine Mutter – nein, jetzt muss ich korrekterweise sagen: was meine Ziehmutter mir posthum zu sagen versuchte.

Der Brief begann klassisch mit den Worten: Wenn du dies liest, bin ich tot. Sie schrieb, ich hätte eines Nachts plötzlich in Decken gewickelt vor der Haustür gelegen, ohne direkten Hinweis auf meine Herkunft oder die überbringende Person. Aber es gäbe einen konkreten Verdacht, denn der Geruch von Kümmel hatte in der Luft gelegen. (Kümmel???) Weil sie über meine Ankunft so glücklich gewesen sei, hätte sie dieses „Überfallkommando“ einer gewissen Person nicht übelgenommen. So nervig diese exzentrische Person auch sei, eins wäre gewiss: Sie hatte niemals etwas ohne guten Grund getan. Es würde ihr leidtun, schrieb meine Mutter, dass sie mich all die Jahre belogen hätte. Aber schließlich sei es dennoch ein gutes Leben für uns beide gewesen und ich möge ihr verzeihen. Mit den Worten: „Ich liebe dich, Loni!“ endete der Brief. Schwungvoll unterschrieben mit Alberta Scott.

Verblüfft lege ich ihn auf den Tisch und starrte ihn an. Darum war Mutter immer Fragen nach meinem Vater ausgewichen! Ich hatte nie gewusst, was ich den Kindern in der Schule sagen sollte, wenn sie mich nach meinem Vater ausfragten. Darum dachte ich mir über ihn Geschichten aus: Dass er als Forscher und Biologe auf Reisen sei, weit übers Meer. Dass Piraten ihn gefangen hielten, bis wir genug Kleidung genäht hatten, um das Lösegeld zusammenzubringen. Manchmal erzählte ich auch, dass er ein wichtiger Geheimagent des Königs war und nur heimlich nachts dann und wann bei uns vorbeischaute, um uns nicht zu gefährden, denn er hätte viele Feinde. Irgendwann begannen sie, mich nur noch auszulachen, wenn ich wieder neue haarsträubende Geschichten über ihn zum Besten gab. Mutter bekam das irgendwann mit, da war ich schon zwölf Jahre alt. Sie nahm mich beiseite und verlangte, dass ich damit aufhöre. Mein Vater hätte uns einfach sitzenlassen. Nun denn. Ich glaubte ihr, wenn auch schweren Herzens.

Ich drängte die Erinnerungen zurück. Gelebt wird nur im Heute! Das war Mutters Lieblingsweisheit, von denen sie jede Menge auf Lager gehabt hatte, für alle möglichen Situationen. Dann fiel mir ein, dass in zwei Tagen der Frau Bürgermeisterin das neue Kleid geliefert werden musste. Für das große Stadtfest – 1000 Jahre Fairyglade! Dafür, dass die Stadt so alt war, hatte sie meiner Meinung nach nicht viel erreicht. Aber wehe, man sagte sowas laut!

Nun, ich selbst würde auch nicht viel erreichen, wenn ich noch lange hier saß und ziellos sinnierte. Ich musste zur Nadel greifen! Mir wurde schlecht, wenn ich an all die Näharbeit dachte, die noch zu erledigen war. Alberta war die große Näherin, nicht ich. Im Grunde war ich nicht zu viel mehr fähig, als ordentlich geradeaus zu nähen oder Knöpfe anzunähen. Wie sollte ich nur allein die ganzen Aufträge abarbeiten? Alberta … oh, jetzt dämmerte es mir, weshalb sich meine Mutter von mir nur mit Vornamen hatte anreden lassen. Das war nicht Ausdruck von Extravaganz und Modernität gewesen – das war schlicht die Tatsache, dass sie mich nicht geboren hatte, was wiederum mich offenbar nicht berechtigte, sie zärtlich Mum oder Mummy zu nennen. Mir stiegen wieder Tränen in die Augen, doch die konnte ich jetzt nicht gebrauchen. Ich stand auf, ging zur Waschschüssel und schöpfte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Danach nahm ich mir das pompöse Kleid vor, das kurz vor der Vollendung stand. Doch bald schon gab ich auf, denn meine Hände zitterten zu sehr. Ich brauchte Beistand. Und ich wusste, wo ich mir diesen holen konnte.

Unser windschiefes Holzhaus stand inmitten eines großen Gartens. Wildnis würde es auch gut treffen. Teile des Gartens waren durchaus ordentlich, unsere Sonnenterrasse und die Gemüsebeete zum Beispiel. Auch die Obstbaumwiese war gut strukturiert und mit Wildblumen übersät. Ich mähte mit der Sense regelmäßig Wege zu jedem einzelnen Baum. Der Rest des Areals allerdings war ein Paradies für Insekten, Kleintiere und Wildkräuter. Und zu diesen wollte ich jetzt! Ich zog meine alten Schuhe an und ging zu meiner Schaukel, die von einer mächtigen Eiche gehalten wurde. Mit einem leisen Seufzer setzte ich mich auf das Brett, schloss die Augen und begann, sanft vor- und zurückzuschaukeln, bis ich innerlich ruhig war. Ich begann meinen ‚Ruf‘ auszusenden, wünschte mir Tiere herbei, die mir den Weg zeigen und Rat geben sollten. Das war eins meiner Talente. Ich kannte niemanden, der das auch konnte. Nach einer Weile spürte ich, dass sie da waren. Erwartungsvoll öffnete ich meine Augen. Die ersten drei waren entscheidend! Über mir rauschten Flügel, Kraniche flogen weit oben am Himmel. Das waren Zugvögel. Ich würde also eine Reise machen! Dann sah ich einen Igel zu meinen Füßen im Gras kauern. Der liebe kleine Kerl hatte seinen Schlaf im Nest aus Laub unterbrochen, um mir zu sagen, dass ich meine Stacheln aufstellen musste, es würde also auch Ärger geben auf dieser Reise. Die dritte Tierart waren Turteltauben. Ein Pärchen saß in der Eiche in Sichtweite über mir und sie schnäbelten. Bedeutete das, ich würde meine große Liebe finden? Immerhin war ich schon achtzehn Jahre alt und hatte noch nie einen Verehrer gehabt, von einer Verlobung ganz zu schweigen. Die Hälfte meiner ehemaligen Mitschülerinnen war schon verheiratet oder gar Mutter. Sowas war im beschaulichen Fairyglade das Tüpfelchen auf dem i der holden Weiblichkeit. Nicht unbedingt mein Ziel, gewiss nicht. Das traute ich mir gar nicht zu, ehrlich gesagt. Ich wollte lieber meine Einsamkeit und Ruhe behalten! Mich mit Pflanzen beschäftigen, die Tiere beobachten, Bücher lesen und Bilder malen.

Allerdings hatte ich rein gar nichts gegen Liebe an sich einzuwenden. Ich wusste genau, wie mein Liebhaber aussehen sollte! Dunkle Haare, möglichst lang, wenigstens bis auf die Schultern. Kräftig und groß sollte er sein. Ein richtiger Kerl eben, und kein Bürohengst mit Pomade im Haar. Feurige Augen sollte er haben und ein Lächeln auf den Lippen, dass mich glücklich machen würde, denn er hätte nur Augen für mich. Er würde mir treu sein und mich auf Händen tragen. Tja, wollte ich solch einen Mann, müsste ich tatsächlich auf Reisen gehen. Denn in unserer Stadt würde ich keinen finden, der meinen Ansprüchen genügte. Und vor allem müsste ich selbst für einen Mann interessanter sein. Aber wie?

Einigermaßen getröstet ging ich ins Haus zurück, um weiterzunähen. Es musste ja fertigwerden. Eine Anzahlung hatte es nicht gegeben, wie sonst bei anderen Kundinnen üblich, denn das war unter der Würde der Frau des Bürgermeisters. Und überhaupt … Geld! Wieviel Geld hatte Alberta mir eigentlich hinterlassen? Von irgendwas musste ich ja leben. Stoffe zuschneiden und daraus tragbare Kreationen fertigen, das war nicht mein Ding. Darin war ich ungeschickt, mir fehlte das räumliche Vorstellungsvermögen und einiges mehr. Ich könnte höchstens in Fleißarbeit Bettwäsche nähen, Tischtücher säumen und Ähnliches. Darüber hatten wir beide nie nachgedacht, über das ‚Was wäre, wenn …‘ Ja, was sollte nun aus mir werden? Der Garten würde mich einigermaßen ernähren. Ich könnte Überschüsse auf dem Wochenmarkt verkaufen. Allerdings brauchte ich dafür eine Konzession. Und die würde ich wohl nicht bekommen, wenn ich die Bürgermeisterfrau verärgerte. Ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte – das Kleid musste morgen Abend fertig sein! Also nahm ich mich zusammen und strengte mich an, denn Alberta sollte sich nicht für mich schämen müssen. Auch nicht von dem Ort aus, an dem ihre Seele nunmehr weilte.

Wie war das wohl? Konnte sie noch in diese Welt schauen? Oder würde sie alles vergessen und ein neues Leben in einer anderen Welt haben, oder in dieser Welt zu einer anderen Zeit? Wir hatten nie über diese Dinge gesprochen. Zur Kirche waren wir erst recht nicht gegangen. Die hatten was gegen unverheiratete Frauen, es sei denn, sie wären ehrbare Witwen, denen man Almosen zukommen lassen konnte, um sich selbst dann fromm und heilig zu fühlen. War ich wirklich nicht Albertas eigenes Kind? Ihren Sarkasmus hatte ich zweifellos übernommen. Aber, ist doch wahr! Was konnten Frauen schon in dieser Gesellschaft sein außer Mutter, Ehefrau, Blumenbinderin, Krankenschwester, Näherin oder Putzfrau! Viel mehr als das wurde uns nicht zugestanden.

Ich merkte, wie ich wieder ins Sinnieren geglitten war, meine Hände lagen untätig im Schoß und der Stoff verknüllte. Meine Güte! Ich musste dringend lernen, meine Gedanken zu zügeln, die wie Kraniche und Wildgänse waren, und von einem imaginären Ort zum anderen huschten. Sobald dieses Ungetüm aus Stoff und Brokatspitze fertiggestellt war, würde ich zur Arbeitsvermittlung gehen und mich beraten lassen. Ja, genau das würde ich tun.

***

Am übernächsten Morgen hatte ich es geschafft, wahrlich in letzter Minute! Das Kleid war sicher im Karton verpackt, mit einer Schleife versehen und zur Abholung bereit. Oder hatte Alberta eine Lieferung versprochen? Nun, wie auch immer. Ich würde es jetzt persönlich abliefern und die Rechnung dazu. Danach würde ich zur Arbeitsvermittlung gehen, die nicht weit entfernt vom Haus des Bürgermeisters lag. Auf dem Rückweg wollte ich mir einen leckeren Heublumenkäse kaufen. Das Haushaltsgeld, das immer in der Schublade lag, würde etwa einen Monat vorhalten, zwei, wenn ich sehr sparsam war. In der Speisekammer war genug Getreide zum Brotbacken. Allerdings, wenn nun das Dach kaputtginge, dann … Herrje, Loni, konzentriere dich! Mach dir keine Sorgen über etwas, dass gar nicht real ist! Ich nahm mir ein wenig Geld heraus, steckte es in meine Gürteltasche und schob die Schublade mit mehr Kraft als nötig zu. Als ich den Karton mit dem Kleid aufnahm und das Haus verlassen wollte, klopfte es hart an der Tür. Das klang nicht nach einer Kundin. Frauen bollerten nicht so ans Holz. Mein Herz klopfte aufgeregt, wer mochte das sein? Ich öffnete die Tür und vor mir stand ein Mann mit harten Augen, gut gekleidet.

„Ist das hier das Haus von Alberta Scott? Und Sie die angebliche Tochter von ihr?“

„Äh, ja? Was kann ich für Sie tun?“ Ich legte das Paket auf die Ablage neben der Tür ab. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit.

„Ich bin Curt Scott, Albertas Bruder und Erbe. Das Grundstück mit dieser erbärmlichen Hütte gehört jetzt mir.“

„Das kann nicht sein!“

Der Kerl schob mich einfach beiseite und trat ins Haus, sah sich um und gab abfällige Geräusche von sich.

„Ich verlange, dass Sie …“

„Mädchen, du hast gar nichts zu verlangen“ unterbrach er mich barsch. „Im Amt habe ich erfahren, dass du offiziell gar nicht existierst. Meine Schwester hat dich nie im Register eintragen lassen. Also habe ich als einziger Angehöriger den Erbschein ausgehändigt bekommen. Offenbar hat dich Alberta aus der Gosse aufgelesen. Entweder zahlst du ab heute Miete oder du gehst ins Armenhaus. Mir doch egal. Du gehörst nicht zur Familie.“

„Das können Sie nicht tun! Ich lebe schon immer hier, das ist mein Zuhause!“

Er beachtete meinen Protest gar nicht und fing an, die Schränke zu durchsuchen.

„Hören Sie sofort auf!“ In meiner Not nahm ich den Besen und begann, auf ihn einzudreschen. Doch er nahm mir meine Waffe weg und zerbrach den Stiel, warf mir alles vor die Füße und grinste mich schäbig an. Mein Blick wanderte unwillkürlich zum Messerblock, doch so weit wollte ich nicht wirklich gehen und ihn gar hinterrücks erdolchen. Die Blutflecken würde ich doch nie wieder aus dem Holzfußboden rauskriegen, und ins Gefängnis wollte ich erst recht nicht. Abgesehen davon wäre durch einen Mord meine Seele auf Ewig beschmutzt. Wie ein besudelter Holzfußboden. Beschämt schob ich diese abscheulichen Gedanken von mir weg. Leider hatte er inzwischen die Schublade mit dem Haushaltsgeld aufgerissen. Er griff hinein und sah sehr zufrieden aus.

„Das reicht für die ersten beiden Wochen. In 14 Tagen komme ich wieder und will Miete sehen, sonst kannst du deine Koffer packen. Verstanden? Ich will 100 Gulden pro Monat Das ist schließlich ein großes Gelände mit guter Erde.“ Triumphierend schob er sich erneut an mir vorbei, verließ das Haus und ging seiner Wege.

Wie gelähmt stand ich eine Weile da und starrte ihm hinterher. Alberta hatte nie von einem Bruder erzählt. Kein Wunder, dachte ich, für so eine Type kann man sich nur schämen.

Das Kleid! Es war höchste Zeit. Ich schnappte mir den Karton, zog die Tür hinter mir zu und schloss ab. Am Ende kam er wieder und nahm noch die wertvollen Stoffe mit!

Ich brauchte etwas weniger als eine halbe Stunde, um zum Haus des Bürgermeisters zu gelangen. Ich ging zur Rückseite, wo sich der Dienstboteneingang im Souterrain befand, und klopfte an der Tür. Nach einer Weile wurde mir aufgetan. Ein ältliches Dienstmädchen in schwarzem Kleid und mit weißer, gestärkter Haube öffnete mir. Sie war hager und missgelaunt.

„Da ist eine Klingel“, sagte sie anstelle einer höflichen Begrüßung und deutete zur Seite. Oh ja, ich hatte vergessen, dass einige Häuser inzwischen diese neumodische Elektrizität hatten. Der Bürgermeister ging da selbstverständlich voran.

„Ich habe eine wichtige Lieferung von Alberta Scott für die Frau Bürgermeister.“

„Nun, dann schlage ich vor, Sie übergeben mir das Paket“, sagte sie hochnäsig.

In der Tat klammerten sich meine Hände daran und ich hielt es dicht an meinem Körper. Meine Nerven waren strapaziert, das war nicht zu leugnen. Ich holte tief Luft, versuchte Selbstbewusstsein auszustrahlen, und verlangte nach der persönlichen Zofe, zumal ich ja auch eine Rechnung zu überreichen hatte. Diesem Trampel wollte ich weder das eine noch das andere anvertrauen. Das Dienstmädchen schaute mich von oben bis unten an, gab dann die Tür frei und winkte mich herein.

„Ich werde die Hausdame rufen.“

Sie ließ mich im Flur stehen und schlurfte zur Treppe, ging nervtötend langsam. Derweil sah ich mich um. Hier war es pikobello sauber und aufgeräumt. Dennoch wirkte der Raum auf gewisse Art schäbig. Die Schränke und Regale im Eck gegenüber waren sichtbar alt und die Wände konnten einen neuen Anstrich gebrauchen. Mit Sicherheit sah es im Parterre und den beiden oberen Etagen wesentlich besser aus. Während ich wartete, beschloss ich, als nächstes zur Polizeistelle im Rathaus zu gehen, und erst danach zur Arbeitsvermittlung. Ja, ich würde Anzeige erstatten! Ich durfte mir das nicht gefallen lassen von diesem Curt Scott. Plötzlich hörte ich schnellere Schritte, die Schuhe hatten offenbar eine harte Sohle, denn die Absätze klackerten laut. Das war nicht das alte Dienstmädchen. In der Tat stieg die Hausdame in die Dienstbotenkatakomben herab, nebenbei wischte sie mit ihrem weißen Handschuh übers Geländer und prüfte es auf Sauberkeit. Bevor ich etwas sagen konnte, rief sie: „Ah, das Kleid. Das wird aber auch Zeit! Warum liefert Alberta es nicht persönlich ab? Vielleicht sind noch letzte Änderungen nötig.“ Sie schaute mich vorwurfsvoll an.

„Ich bedaure, Mrs. Scott ist kürzlich verstorben.“

„Oh! Wie jammerschade. Sie war die beste Näherin der Stadt. Sind Sie ihr Lehrmädchen?“

„Nein. Ihre Tochter. Aber gewissermaßen auch ihr Lehrmädchen.“

Ihr Blick wurde weicher. Sie dachte nach und sagte dann: „Sie müssen Loni sein. Alberta hat hin und wieder von ihnen gesprochen. Es tut mir so leid. Ich wusste nichts von einem Todesfall. Was ist denn geschehen? So alt war Alberta doch nicht.“

„Das Herz. Sie hatte letzten Winter ein schweres Fieber. Davon hat sie sich nie richtig erholen können.“

Ich übergab ihr das Paket, griff in meine Rocktasche und legte die Rechnung obenauf.

„Bitte kommen Sie mit nach oben. Meine Herrin wird das Kleid sofort anprobieren wollen. Wenn noch Änderungen zu machen sind, können Sie ja gleich … aber ich sehe keinen Nähbeutel in ihrer Hand. Alberta hat Änderungen immer gleich vor Ort erledigt. Allerdings war es nur selten nötig.“ Sie warf einen skeptischen Blick auf mich, offenbar war mir meine Unsicherheit in dieser Angelegenheit anzusehen.

„Ich gehe davon aus, dass das Kleid perfekt ist.“

„Nun. Man wird sehen. Perfekt waren die Kleider bisher in der Tat, aber die Frau Bürgermeister hat dennoch eine Kleinigkeit anders haben wollen.“

„Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich habe noch wichtige Angelegenheiten zu erledigen, die keinen Aufschub dulden. Könnte ich bitte das Geld gleich haben?“

Die Hausdame schaute mich erstaunt an. „Nein, ehrlich gesagt überrascht mich Ihr Ansinnen. Wir pflegen der Bank einen Scheck zu übergeben, ausgestellt auf den Namen Ihrer Mutter. Die Bank verbucht es dann aufs Konto.“

Mir wurde siedend heiß! Hatte ich denn Zugriff auf das Konto? Am Ende war der garstige Bruder gerade dabei, mit dem Erbschein das Konto zu plündern!

„Meine Liebe, was ist mit Ihnen? Sie sind ja plötzlich kreideweiß!“

Fürsorglich schob sie mir einen Stuhl unter, ich ließ mich kraftlos hinabsinken. Das Dienstmädchen, das inzwischen die Treppe hinabgestiegen war, glotzte mich ungerührt an.

„Trudi, steh nicht nutzlos da und halte Maulaffen feil!“, schimpfte die Hausdame. „Hol einen gut gezuckerten Kakao aus der Teeküche, beeil dich!“ Sie legte den Karton mit der Rechnung auf einem Tisch ab und legte mir dann fast schon mütterlich die Hand auf meine Schulter. „Sie zittern ja, meine Liebe. Was ist denn passiert, dass es Ihnen so schlecht geht?“

Ich schilderte ihr mit bebender Stimme meine Lage. Sie hörte mir aufmerksam zu.

„Oje. Wenn Sie nicht registriert sind, kann er nun mit Ihrem Erbe alles machen, was er will. Eine missliche Lage, fürwahr. Wie konnte Alberta nur so saumselig sein? Ausnahmsweise werde ich Ihnen entgegen unseren Gepflogenheiten die Summe in bar auszahlen. Warten Sie bitte hier. Die Frau Bürgermeisterin wird das Kleid jetzt anprobieren. Trinken Sie in Ruhe ihre heiße Schokolade.“

Das Getränk, das mir kurz darauf serviert wurde, war köstlich. Kakao war teuer. Alberta und ich hatten uns nur im Winter zu den hohen Feiertagen diesen Genuss gegönnt. Dankbar schlürfte ich Schlückchen für Schlückchen den süßen, dunklen Trank und gewann meine Kraft zurück. Es musste schön sein, in einem reichen Haushalt zu leben. Ob hier sogar Dienstboten davon trinken durften? Eher nicht, das Dienstmädchen, das mir die Tür geöffnet hatte, schaute mich grimmig und gierig an. Fehlte nur noch, dass sie sabberte.

Wie versprochen, kam die Hausdame mit Bargeld zu mir zurück. Schnell trank ich meinen Becher leer und erhob mich.

„Die Frau Bürgermeister sagt, das Kleid sitzt gut. In Anbetracht der Umstände verzichtet sie auf Änderungen.“

Ich nahm dankend das Geld entgegen und wollte mich gerade verabschieden, als sie mich erneut ansprach.

„Wenn ich Ihnen einen wohlgemeinten Rat geben darf? Mein Onkel William ist Beamter, er arbeitet im Rathaus in der Meldestelle. Verlangen Sie nach ihm direkt, er wird Sie empfangen, wenn Sie am Schalter in der Eingangshalle sagen, die Nichte von Mr. Blake hätte Sie geschickt. Er ist ein guter Mann und wird für Sie tun, was menschenmöglich ist.“

„Ich danke Ihnen sehr, Mrs. …?“

„Miss Cynthia Blake. Ich bin unverheiratet. William ist der Bruder meines Vaters.“

***

Mit dem Geld aus dem Verkauf des Kleides in meiner Gürteltasche fühlte ich mich sicherer und wohler. Noch war ich nicht in Not. Diebstähle und Überfälle am helllichten Tage waren in Fairy Glade die Ausnahme, also konnten auch Frauen wie ich unbesorgt durch die Straßen gehen. Das Rathaus lag am Marktplatz, umgeben von zwölf alten Kastanienbäumen, die im Sommer herrlichen Schatten spendeten. Dort saßen gern die Blumenfrauen und verkauften ihre Sträuße. Man konnte auch antiquarische Bücher kaufen, kleine Ölgemälde oder geflochtene Körbe. Alberta und ich waren, wenn die Auftragslage mau war, hier gern hergekommen zum Bummeln und Schauen. Dann hatten wir Zeit für Müßiggang. Kaufen konnten wir meist nichts, aber das hatte uns gar nicht gestört. Wir wollten uns einfach nur die Zeit vertreiben. Ich vermisste sie sehr, als ich mich in Erinnerungen zu verlieren drohte. Doch bevor die Trauer zu stark wurde, beschleunigte ich meine Schritte und konzentrierte mich. Ich betrat das Rathaus, das trotz der großen Fenster etwas düster wirkte, die an beiden Seiten Ausblick auf die Kastanien und die umliegenden Häuser boten. Am Schalter bat ich mit fester Stimme, mir den Weg zu Mr. William Blake zu weisen und erwähnte auch Cynthia. Der Rathausangestellte schaute mich prüfend an. Er trug eine Nickelbrille und hatte schütteres Haar. Sein Hemdkragen war schlecht gebügelt, ein Knopf fehlte an seiner Weste. Gelangweilt nannte er mir die Abteilung und die Zimmernummer.

„Klopfen Sie einfach an, wenn der Gang leer ist. Wenn nicht, ziehen Sie eine Wartenummer.“

„Ich danke Ihnen.“

„Nicht dafür.“

An der großen Treppe in der Mitte der Eingangshalle raffte ich meinen Rock und stieg die Stufen hinauf. Mr. Blake hatte sein Büro im dritten Stockwerk. So viele Treppen hatte ich nie zuvor bewältigen müssen, es war anstrengend, aber auch irgendwie erfrischend. Der Gang war tatsächlich leer, ich hatte Glück! Hoffnungsvoll klopfte ich an die Tür und lauschte. Ein kräftiges „Herein!“ lud mich ein, den Raum zu betreten. Mr. William Blake war ein kleiner, zierlicher Mann; er ging mir wohl höchstens bis zur Schulter. Da er hinter seinem Schreibtisch saß, konnte ich das nicht genau abschätzen. Sein freundliches Lächeln und die warmherzigen Augen waren genauso wirksam wie ein Becher heißer Schokolade.

„Bitte, nehmen Sie Platz. Was führt Sie zu mir?“

„Ich soll Sie von Ihrer Nichte Cynthia grüßen. Sie hat Sie mir empfohlen.“

„Ah ja. Dann sitzt hier vor mir also ein Fräulein in Not. Wo brennt es denn?“

„Brennt? Nein, nein. Wegen eines Feuers würde ich die Feuerwehr rufen.“

Er lächelte milde. „Ich meinte, wo drückt der Schuh?“

Unwillkürlich schaute ich nach unten auf meine Schuhe. Sie drückten nicht, so alt und ausgelatscht, wie sie waren. Sie waren genau richtig. Und dann dämmerte es mir, was er mich zu fragen versuchte. Herrje, ich hätte wirklich öfter unter Menschen gehen sollen! Ich musste dumm wirken.

„Ähm, es ist so. Meine Mutter ist gestorben. Wir lebten zu zweit allein. Heute Morgen kam ihr Bruder, Curt Scott, und hat behauptet, ihm würde jetzt alles gehören. Und wenn ich ihm keine Miete zahle, dann würde er mich aus dem Haus werfen. Ich kannte den Mann bis dato nicht.“

„Aber haben Sie denn nicht den Erbschein beantragt?“

„Nein. Ich wusste nicht, dass man das tun muss. Jedenfalls hat er schon den Erbschein, das behauptet er zumindest. Er sagte auch, dass ich nicht registriert wäre und somit rechtlos. Ist das wahr?“

Mr. Blake zog seine Augenbrauen hoch und schaute mich eindringlich an. „Das werde ich sofort überprüfen. Wie ist Ihr Name und der Ihrer Frau Mutter?“

„Ich heiße Loni. Meine Mutter war Alberta Scott. Die Näherin. Aus dem großen Garten, beim Seiler gegenüber. Also, nur dass Sie wissen, welche. Näherinnen gibt es ja viele in Fairy Glade, aber sie war die Beste von allen. Ich habe vorhin ein Kleid für die Frau des Bürgermeisters abgeliefert. Sie ließ nur bei uns nähen.“

„Verstehe. Ich besorge mir die Akte. Kleinen Moment bitte.“

Er ging in die Ecke des Zimmers und zog an einer Schnur, rief in eine Art Hörrohr in der Wand, dass er die Unterlagen von Alberta und Loni Scott brauche, aber sofort und zackzack! Dann setzte er sich wieder zu mir an den Tisch. Er sah bekümmert aus. Warum nur?

„Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen. Gehe ich recht in der Annahme, dass es keinen Vater, Verlobten oder älteren Bruder gibt, der sich um Sie kümmert?“

Ich straffte meine Schultern und sagte: „So ist es. Ich komme aber gut allein zurecht. Es sei denn, ein dreister Kerl stürmt mir ins Haus und stiehlt mein Geld. Er hat einfach die Schubladen durchwühlt! Ich habe ihn mit dem Besen verdroschen, aber er zerbrach ihn. Was hätte ich sonst noch tun sollen? Da war ich machtlos. Und das Schlimme ist, in zwei Wochen kommt er wieder und will mehr Geld. Aber ich kann leider nicht so gut schneidern wie meine Mutter. Der Garten gibt mir Nahrung, doch das allein wird auf Dauer nicht ausreichen, fürchte ich. Darum ist mein nächster Weg der zur Arbeitsvermittlung.“

Plötzlich wurde die Tür geöffnet und ein Botenjunge in Rathaus-Uniform stürmte keuchend hinein. Er legte eine Akte auf den Schreibtisch, salutierte vor Mr. Blake und rannte wieder hinaus. Vermutlich dem nächsten Auftrag entgegen.

„Danke, Johnny!“, rief der alte Herr ihm hinterher. „Die Akten der Bürger befinden sich in den Kellerräumen“, erklärte er mir. „Die Jungs sind gut durchtrainiert, weil sie den ganzen Tag treppauf und treppab laufen. So, dann wollen wir doch mal sehen.“

Je länger er in der Akte las, umso mehr runzelte sich seine Stirn.

„Ich bedaure Ihnen sagen zu müssen, dass Sie tatsächlich nicht als Bürgerin registriert sind. Der Erbschein ist rechtens an Curt Scott gegangen, er ist der einzige Blutsverwandte. Warum hat Ihre Mutter die Geburt nicht angezeigt? Das verstehe ich nicht. Auch uneheliche Kinder sind der Stadtverwaltung willkommen.“

„Ich bin ein Findelkind, sie hat mich nicht geboren. Das habe ich erst nach ihrem Tod erfahren.“

„Das ändert alles.“

„Aber ich bin doch sieben Jahre zur Schule gegangen. Gilt das nichts?“

„Hier kann jedes Kind zur Schule gehen, wenn das Schulgeld bezahlt wird. In der Tat hat das nichts mit der Registrierung zu tun.“ Nachdenklich schaute er mich an. „Haben Sie dem Bruder die Tür geöffnet oder hat er sich gewaltsam Zutritt zum Haus verschafft?“

„Ich habe ihm geöffnet, habe ihn aber nicht hereingebeten.“

„Nun. Dann, so fürchte ich, kann ich nichts für Sie tun. Immerhin ist das jetzt sein Grund und Boden. Ich sehe nur die Möglichkeit, Ihnen ein Wohnrecht zu verbriefen bis zu Ihrer Volljährigkeit mit 21 Jahren. Dazu müssten Sie drei Zeugen vorweisen können, deren Leumund unbefleckt ist.“

„Zeugen?“

„Bürger von Fairyglade, die glaubhaft versichern können, dass Sie von Alberta Scott großgezogen wurden und ohne Unterbrechung in Haus Nr. 23, Lower Street, gelebt haben. Die müssen hier persönlich erscheinen und eine Unterschrift leisten. Dann kann der Erbe Sie wenigstens vorerst nicht vor die Tür setzen.“

„Nun, das müsste zu bewerkstelligen sein. Ich danke Ihnen, Mr. Blake. Das ist immerhin ein kleiner Lichtblick.“

Ich verabschiedete mich und verließ das kühle Rathaus. Die Herbstsonne hatte inzwischen an Kraft gewonnen und wärmte mich auf. Für ein Weilchen stand ich mit geschlossenen Augen auf dem Platz. Das Knattern eines Automobils störte leider meine Ruhe. Aus dem Auspuff kam eine übelriechende Wolke auf mich zu, so dass ich mich abwandte, um das Abgas nicht einatmen zu müssen. Pferdekutschen waren eindeutig angenehmer!

Inzwischen war ich sehr hungrig, denn in der Frühe hatte ich nichts gegessen, nur ein Glas Brunnenwasser getrunken. Darum suchte ich den Bäckerladen gegenüber auf und kaufte mir zwei Scones mit Rosinen. Schließlich hatte ich Geld in der Tasche. Gestärkt ging ich den Marktplatz verlassend in die King’s Street, die Hauptstraße, die mich zum Arbeitsamt führen würde. Unterwegs überlegte ich, was ich an Fähigkeiten zu bieten hatte. Als was sollte ich arbeiten? Ungern nur würde ich in eine der Fabriken gehen, die ständig Arbeiter suchten. Am schlimmsten sollten die mit den Fließbändern sein, wo man immer und immer wieder dieselben Handgriffe verrichten musste, von morgens bis abends. Das wollte ich unbedingt vermeiden. Was ich am besten konnte, war Gartenarbeit und Tierpflege. Damit wollte ich punkten.

Im Amt angekommen, musste ich eine Nummer ziehen. Es dauerte grässliche zweieinhalb Stunden, ehe ich vorgelassen wurde! Die Vermittlerin schaute mich skeptisch an.

„Sonderlich kräftig gebaut sind Sie ja nicht. Und als hellhäutige Blonde sind Sie für die Feldarbeit nicht geeignet. Hm, hm … was mache ich denn mit Ihnen? Wie ist der Name und wie alt sind Sie?“

„Loni Scott, achtzehn Jahre.“

„Und was können Sie?“

„Ich kann sehr gut gerade Nähte machen, aber nicht gut Stoffe passgenau zuschneiden. Am meisten liegt mir die Gartenarbeit. Und Tiere! Ja, ich liebe Tiere und sie vertrauen mir.“

„Achtzehn Jahre und noch nicht verlobt? Sind Sie denn eine schlechte Hausfrau?“

Zähneknirschend bändigte ich den aufsteigenden Zorn in mir. Warum waren Frauen ohne Ehemann nichts wert? Es war sicher nicht unsere Schuld, dass die höhere Berufswelt für Frauen weitgehend verschlossen war.

„Hm, hm“, machte sie wieder und blätterte durch ihre Karteikarten. „Kindermädchen? Wie wäre es denn damit? Das Waisenhaus sucht dringend Hilfe.“

„Mit Kindern habe ich keine Erfahrungen.“

„Nun ja. Ich hätte da was in einer Wäscherei, aber dafür braucht man Kraft und Ausdauer. Wenn ich Ihre zarten Hände so ansehe … Ah, da ist es ja! Das hatte ich gesucht. Es gibt da eine freie Stelle im Haushalt, außerhalb der Stadt allerdings. Eine gewisse Polly Plum sucht eine Küchenhilfe, die auch den Garten bestellen kann und tierlieb ist. Schon wieder.“

Wie meinte sie das, schon wieder?

„Die Hausbesitzerin ist etwas, sagen wir mal – launisch, wie ich hörte. Und im Haus soll es spuken. Das ist natürlich Unsinn. Ich habe in den letzten zwei Jahren mindestens acht Frauen dorthin vermittelt. Aber in Anbetracht Ihrer Lage wäre die Stelle einen Versuch wert. Bei beiderseitigem Gefallen wird auch Kost und Logis geboten bei einem Wochenlohn von 20 Gulden.“

„20 Gulden?“, fragte ich überrascht. Das war viel Geld für Hausarbeit.

„Ja. Die Frau sucht wohl ganz verzweifelt Hilfe. Ist nicht mehr die Jüngste, hat aber ein großes Anwesen. Es liegt weit draußen, darum hält sich dort keine Kraft. Ist eben zu weit von der Stadt und ihren Vergnügungen entfernt. Soll ich Ihnen ein Empfehlungs-Kärtchen geben?“ Zweifelnd sah sie mich an.

„Aber ja! Ich nehme die Stelle. Ich brauche das Geld.“

„Wie Sie meinen. Aber beklagen Sie sich nicht bei mir, wenn das nix wird auf Dauer. Ich habe Sie gewarnt. Ich könnte Ihnen auch eine Stelle in einer Wirtschaft verschaffen. Als Tellerwäscherin. Aber damit verdienen Sie höchstens 5 Gulden die Woche.“

„Bitte geben Sie mir eine Empfehlung. Ich will es auf jeden Fall versuchen. Wo genau liegt denn das Anwesen?“

„Es ist das Lonely Cottage am See. In der Nähe des Dark Forest. Sie müssten sich eine Kutsche nehmen. Der Fußweg würde etwa vier Stunden dauern. Ich muss Sie noch in meine Kartei aufnehmen. Wo wohnen Sie?“

Ich nannte ihr die Adresse, vervollständigte die Angabe mit „schräg gegenüber der Seilerei von Mr. Woodhouse“, woraufhin sie mich erstaunt ansah.

„Aber da gibt es keine Häuser mehr, seine Werkstatt ist das letzte. Dort ist nur noch ein verwilderter Garten.“

Ich lächelte sie an. „Genau da bin ich zuhause.“

Kapitel 2

Ich mietete kurzentschlossen eine Kutsche, anstatt erst nach Hause zu gehen, dort womöglich ins Grübeln zu verfallen und dann einen Rückzieher zu machen. Nein, diese Gelegenheit wollte ich beim Schopfe packen! Der Kutscher schaute mich ungläubig an, als ich das Ziel nannte.

„Sind Sie sich sicher? Das ist weit weg, da ist nichts. Außer einem mückenverseuchten See nebst einer halbzerfallenen Hütte. Dort wohnt eine Verrückte.“

„Genau da will ich hin. Voran! Worauf warten Sie? Der Weg ist weit und ich will bis zum Abend wieder daheim sein.“

„Von mir aus. Ist Ihr Geld. Apropos …“ Er hielt die Hand auf.

„Wenn wir sicher angekommen sind, nicht eher. Sie werden dort auf mich warten, es dauert höchstens eine halbe Stunde, schätze ich. Die Wartezeit bezahle ich selbstverständlich.“

„Wie Sie meinen.“

Der Kutscher brummelte sich was in den Bart und ließ die Peitsche in der Luft knallen. Das Pferd setzte sich in Bewegung, die Kutsche ruckelte an und dann drehten sich pausenlos die Räder, während ich es mir im Sitz bequem machte. Eine angenehme Art zu reisen, zumindest, solange es nicht regnete. Der Wettergott, so es einen gab, war mir wohlgesonnen. Die Sonne schien, aber nicht zu heiß. Es war ein herrlicher Spätsommertag. Da der Kutscher nicht auf mich achtete, löste ich mein Haar und ließ es frei über die Schultern wallen. Wir fuhren, nachdem wir die Stadtgrenze hinter uns gelassen hatten, an Sonnenblumenfeldern vorbei, an Kuhweiden und Dörfern, auch an Fischteichen und Getreidefeldern. Hier war ich nie zuvor gewesen. Ich fand die Gegend herrlich! Vielleicht war es nun an der Zeit, das zurückgezogene Leben zu wandeln in Offenheit und Neugier. Warum hatte Alberta mir nie die Gegenden außerhalb der Stadt gezeigt?

Je näher ich dem Haus der Polly Plum kam, umso nervöser wurde ich. War sie wirklich eine so schwierige Person? Würde ich zurechtkommen? 100 Gulden pro Monat für Miete war sehr viel. 80 würde ich bei Mrs. Plum verdienen, 20 würde ich durch Näherei am Wochenende aufbringen müssen. Oh, ich musste ja auch die Kutschfahrten miteinberechnen! Und was war mit den jährlichen Steuern für den König? Trotz des Sonnenscheins wurde mir plötzlich kalt. Was, wenn ich das nicht schaffte? Ach, Alberta! Warum hast du mich so ahnungslos und weltfremd zurückgelassen?

Ich sah nun, dass wir uns dem Ziel näherten. Rasch steckte ich mir meine Haare wieder zusammen und prüfte mit der Hand den korrekten Sitz der Haarspange. Das Haus sah heruntergekommen aus, hatte aber auch einen gewissen Charme, so wie mein Gartenhaus. Es war reetgedeckt, sehr ungewöhnlich für diesen Landstrich. In der Stadt gab es nur Dachschindeln aus gebranntem Ton oder grauem Schiefer. Die Wände waren aus großen Natursteinen errichtet, Anbauten waren aus Holz. Irgendwie passte alles nicht zusammen, es war ein Stückwerk, Flickwerk – und doch war es in seiner Gesamtheit wie eine, ja, ich will es ruhig sagen: Es wirkte wie eine unverwechselbare Persönlichkeit. Die Fenster hatten Butzenscheiben. Und – meine Güte! Neben der Eingangstür prangte ein Buntglasfenster! Wenn ich mich nicht irrte, weil ich ja noch etwas weit weg war für ein genaues Bild, zeigte es Blauregen oder blaue Weintrauben. Nur der Bürgermeister und andere Honoratioren der Stadt waren im Besitz dermaßen wertvoller Fenster.

Der Tannenwald verdüsterte die Lichtung etwas. Kein Wunder, dass der See auf gewisse Art gefährlich wirkte. Er war schwarz wie Kohle und eine unnatürliche Stille lag über ihm. Fast, als wäre er nur ein lebloses Ölgemälde. Ja, so fühlte sich das an.

Der Kutscher hielt in einigem Abstand vom Haus und zog die Bremse an. Er drehte sich zu mir um und sagte, er würde sich die Beine vertreten gehen. Für den Fall, dass ich hier fertig wäre, bevor er zurück sei, solle ich einfach die Glocke läuten.

Ich raffte meinen langen Rock zusammen und stieg mit seiner Hilfe aus der Kutsche aus. Während ich auf das Haus zuging, zündete er sich seine Pfeife an, was meine empfindsame Nase als persönlichen Affront einstufte. Ich hasste Tabakgeruch! Unwillkürlich drehte ich mich um und sandte ihm einen bösen Blick. Dabei bemerkte ich, dass das arme Pferd den Kopf hängenließ. Es brauchte Wasser! Warum kümmerte der Kerl sich nicht um sein Tier?

Das Fenster neben dem Eingang zeigte tatsächlich üppige Weinranken mit Trauben, außerdem kleine, bunte Vögel, die ich nie zuvor gesehen hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---