Florida Killings: Lodernder Zorn - John Lutz - E-Book
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Florida Killings: Lodernder Zorn E-Book

John Lutz

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Beschreibung

Das verheerende Brennen der Wut: Der packende Amerika-Thriller »Florida Killings: Lodernder Zorn« von John Lutz jetzt als eBook bei dotbooks. Als Henry Tiller in das Büro von Fred Carver stürmt, tischt der alte Mann dem Privatermittler eine wahnwitzige Geschichte auf: Key Montaigne, die paradiesische Florida-Insel, auf der er lebt, soll ein Zentrum des Verbrechens geworden sein. Carver zeigt sich zunächst unbeeindruckt – aber als Tiller angefahren und schwer verletzt wird, ahnt er seinen Fehler. Schon bald deuten erste Ermittlungsergebnisse in Richtung Drogenschmuggel in großem Rahmen. Als dann auch noch ein Anschlag auf Carvers Freundin verübt wird, muss der Ex-Cop erkennen: Die Suche nach der Wahrheit bringt nicht nur ihn in Gefahr … sondern auch diejenigen, die er liebt! »John Lutz wird einfach immer besser und besser.« Bestsellerautor Tony Hillerman Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Hardboiled-Krimi »Florida Killings: Lodernder Zorn« von Bestsellerautor John Lutz ist der abgründige fünfte Band seiner Reihe um den Privatermittler Fred Carver, der in der brutalen Hitze des Sunshine State ermittelt – preisgekrönte Spannung für alle Fans von James Patterson! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 380

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Über dieses Buch:

Als Henry Tiller in das Büro von Fred Carver stürmt, tischt der alte Mann dem Privatermittler eine wahnwitzige Geschichte auf: Key Montaigne, die paradiesische Florida-Insel, auf der er lebt, soll ein Zentrum des Verbrechens geworden sein. Carver zeigt sich zunächst unbeeindruckt – aber als Tiller angefahren und schwer verletzt wird, ahnt er seinen Fehler. Schon bald deuten erste Ermittlungsergebnisse in Richtung Drogenschmuggel in großem Rahmen. Als dann auch noch ein Anschlag auf Carvers Freundin verübt wird, muss der Ex-Cop erkennen: Die Suche nach der Wahrheit bringt nicht nur ihn in Gefahr … sondern auch diejenigen, die er liebt!

»John Lutz wird einfach immer besser und besser.« Bestsellerautor Tony Hillerman

Über den Autor:

John Lutz (1939–2021) war ein US-amerikanischer Autor von über 50 Thriller und Romanen. Er wurde für seine Kriminalromane mehrfach ausgezeichnet – unter anderem mit dem Shamus Lifetime Achievement Award und dem Edgar-Allan-Poe-Award, dem wichtigsten Spannungspreis Amerikas. Mehrere seiner Werke wurden verfilmt.

Die Website des Autors: www.johnlutzonline.com/

Der Autor bei Facebook: www.facebook.com/JohnLutzAuthor/

Bei dotbooks veröffentlichte der Autor die folgenden eBooks:

Die Missouri-Murders-Reihe um den Privatdetektiv Alo Nudger:

»Missouri Murders: Schwarze Nacht«

»Missouri Murders: Kaltes Schweigen«

»Missouri Murders: Tiefe Schatten«

»Missouri Murders: Harte Strafe«

»Missouri Murders: Fatale Schuld«

Die Florida-Killings-Reihe um den Ex-Cop Fred Carver:

»Florida Killings: Brennende Rache«

»Florida Killings: Roter Tod«

»Florida Killings: Kaltes Feuer«

»Florida Killings: Sengender Verrat«

»Florida Killings: Lodernder Zorn«

Seine Frank-Quinn-Reihe um einen Ex-Cop auf der Spur von Serienkillern:

»Opferschrei«

»Blutschrei«

»Zornesschrei«

»Jagdschrei

Außerdem veröffentlichte der Autor bei dotbooks den Psychothriller »Die Stalkerin«.

***

eBook-Neuausgabe August 2024

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1992 unter dem Originaltitel »Hot« bei Henry Holt, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1994 unter dem Titel »Heissblütig« im Goldmann Verlag.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1992 by John Lutz

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1994 by Wilhelm Goldmann Verlag, München

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/OSTILL is Franck Camhi, Daniel Wedekind, The Jon Fernandez

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)

ISBN 978-3-98952-302-9

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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John Lutz

Florida Killings:Lodernder Zorn

Ein Fred-Carver-Thriller 5

Aus dem Amerikanischen von Regina Winter

dotbooks.

Kapitel 1

Wunderschön! dachte Carver. Er saß an seinem Bürofenster und sah zwei Frauen zu, die auf der gegenüberliegenden Seite der Magellan vorbeigingen. Sie waren jung und elegant, und der Wind vom Atlantik drückte den Stoff ihrer dünnen Sommerkleider dicht an die Körper. Anmutig neigten sie sich nach vorn und versuchten vergeblich, ihre Frisuren vor den Böen zu schützen. Wenn ich ein Maler wäre, dachte Carver, würde ich eine ganze »Frauen-im-Wind«-Serie malen. Aber er war kein Maler. Er hatte schon ein paar Zimmer angestrichen und einmal ein Haus, vor langer Zeit. Mehr nicht.

Als die Frauen hinter dem cremefarbenen stuckgeschmückten Gerichtsgebäude von Del Moray verschwunden waren, fragte sich Carver, ob sie ihm nicht vor allem wegen seines lahmen Beins so gut gefallen hatten. Sie hatten sich so anmutig und leicht bewegt, wie er es nur noch beim morgendlichen Schwimmen im Meer konnte.

»Ich habe angeklopft«, sagte jemand, »aber niemand hat geantwortet.«

Carver wandte sich vom Fenster und der blendenden Helligkeit ab und drehte sich mit dem Bürostuhl um. Ein hochgewachsener, hagerer, grauhaariger Mann stand in der Tür, ein Mann mit hellblauen Augen und rötlicher Gesichtsfarbe. Er war breitschultrig, aber dünn, und an seinen dicken Handgelenken standen die Adern wie Schläuche vor. Er mußte um die Siebzig sein, ein altgewordener Wikinger.

»Sind Sie Fred Carver?« fragte der Mann. »Haben Sie früher als Cop in Orlando gearbeitet?«

Carver nickte.

»Ich habe gehört, Sie wären bei einem Überfall ins Knie geschossen worden und hätten sich zur Ruhe gesetzt. Und daß Sie jetzt am Stock gehen.«

»So ist es«, bestätigte Carver und fragte sich, wieso der alte Mann sich über ihn informiert hatte.

»Ich bin auch mal angeschossen worden, aber nicht so schlimm, ich konnte weitermachen.«

»Tatsächlich?«

»Ich heiße Henry Tiller.« Der Mann kam näher und streckte seine riesige Hand aus. Sein Händedruck war trocken und fest. Er roch nach kaltem Zigarettenrauch. »Ich war einige Zeit Cop in Milwaukee und später in Lauderdale. Dann war ich Sergeant bei der Kriminalpolizei in Lauderdale bis zur Rente. Heute wohne ich unten auf den Keys.«

Carver wartete, daß Tiller zum Thema kam, aber der hagere alte Mann blieb stehen und sah sich das Büro an – mit diesem aufmerksamen Blick, den Carver so gut kannte. Einmal ein Jäger, immer ein Jäger.

»Kann ich etwas für Sie tun, Mr. Tiller?«

»Das hoffe ich. Ein gemeinsamer Freund, Lieutenant Desoto, hat mich hergeschickt, weil Sie mir vielleicht helfen können.«

Carver wurde aufmerksamer. Lieutenant Alfonso Desoto von der Polizei in Orlando schickte nicht oft Leute vorbei. Tiller hatte offenbar ein Problem, mit dem die Polizei nichts zu tun haben wollte oder durfte, um das sich aber nach Desotos Ansicht jemand kümmern sollte. Von dieser Art waren die meisten Fälle, die der Lieutenant Carver schickte. Oder vielleicht war Tiller auch hier, weil er ein Ex-Cop war, lebenslanges Mitglied jener Bruderschaft, der auch Carver angehört hatte. Und Desoto glaubte, sie seien ihm etwas schuldig.

»Möchten Sie sich nicht setzen und mir erzählen, worum es geht, Mr. Tiller?«

»Nennen Sie mich Henry. Ich bleibe lieber stehen. Hab’ schon die ganze Zeit im Auto gesessen.«

»Und welcher Art ist Ihr Problem?«

»Ich bin nicht ganz sicher. Aber ich weiß verdammt genau, daß es ein Problem gibt. Seit ich vor ein paar Jahren in den Ruhestand gegangen bin, wohne ich auf Key Montaigne, einer kleinen Insel mitten in den Keys. Man kann sie nur über eine schmale Brücke von Duck Key aus erreichen.«

Carver erklärte, er wisse, wo Duck Key lag.

»Ich hab’ da ein kleines Cottage gekauft«, fuhr Tiller fort, »und ich lebe allein. Meine Frau hat sich schon vor fünfzehn Jahren abgesetzt. Sie wissen ja, wie das mit Frauen von Cops ist.«

»Mhm-hm.« Carvers eigene Ehe war vor fünf Jahren gescheitert, vermutlich aus denselben Gründen wie die von Tiller. Aber es hatte auch andere Gründe gegeben, Gründe, an denen nur er allein die Schuld trug. Fehler, die er vielleicht heute wieder machte.

Tiller stemmte die riesigen roten Hände in die Hüften und beugte sich ein wenig vor. Er schien das ganze Zimmer auszufüllen. »Sogar ein alter Cop wie ich hat noch Instinkte, Carver, Sie wissen schon.«

»Klar.«

»Ich habe lange Jahre in Milwaukee gearbeitet und dann in Lauderdale, die letzten Jahre davon in Zivil. Ich war Sergeant.«

Das hatte Tiller schon erwähnt, aber Carver machte ihn nicht darauf aufmerksam. Tiller war schließlich ein alter Mann, und alte Männer wiederholten sich hin und wieder. »Und genau diese Instinkte sagen mir, daß auf Key Montaigne irgendwas faul ist, so sicher wie in Buffalo Schnee fällt.«

Carver nahm an, daß er Buffalo in New York meinte, aber er beschloß, nicht nachzufragen. »Inwiefern faul?«

»Mein Häuschen steht dicht am Wasser, und ich sehe, was auf dem Anwesen meiner Nachbarn passiert. Und mit dem einen Nachbarn stimmt was nicht.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Wie ich schon sagte, es ist mein Instinkt.«

Immerhin hat er nicht vergessen, daß er den auch schon erwähnt hat, dachte Carver.

»Am besten erzähle ich Ihnen erst mal was über Key Montaigne«, meinte Tiller. »Die Insel liegt etwa in der Mitte der Keys-Kette. Es wohnen nicht mal tausend Leute da, und natürlich stehen die protzigsten Häuser direkt an der Küste. Es gibt ein paar Fischer, aber vor allem Fremdenverkehr, Pensionen, Fischerhütten mit Booten und so.« Er winkte ab. Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand hielt er in Zigarettenabstand gespreizt. Ein alter Raucher. »Eigentumswohnungen über Eigentumswohnungen und ein paar Seniorenwohnanlagen. Es gibt ein Städtchen, Fishback, aber da ist nicht viel los – eine Tankstelle, ein paar Restaurants, ein Supermarkt, ein paar Touristenfallen und Stände, an denen Fischköder verkauft werden. Außerdem gibt es noch ein Ozeanographisches Forschungsinstitut mit Aquarium und so, damit die Touristen auch dafür noch blechen müssen.«

Carver sagte: »Hört sich an, als wäre es ein netter Ort für den Ruhestand«, aber er fragte sich, ob man so etwas von irgendeinem Ort auf der Welt behaupten konnte.

»Das wäre es auch«, erklärte Tiller, »wenn es Walter Rainer nicht gäbe. Er hat einen großen Landsitz neben meinem Häuschen, mein Grundstück stößt an die Rückfront, und aus meinem Fenster kann ich sein Dock sehen. Irgendwas stimmt da nicht, Carver.«

»Irgendwas?« Tillers Darstellung klang mehr und mehr nach senilem Verfolgungswahn, aber Carver fiel ein, daß der alte Mann immerhin von Desoto kam.

»Dieser Rainer stinkt nur so nach Korruption«, meinte Tiller. »Wohnt in seinem Riesenhaus mit seiner Frau Lilly – die ist jung genug, um seine Tochter sein zu können. Er hat auch Angestellte, einen Kerl namens Hector Villanova zum Beispiel, einen Latino, sein Mann für alles, wie nennt man das noch?«,

»Faktotum?« half Carver aus.

»Genau. Und dann ist da noch Davy Mathis, so ein Schiffschaukelbremsertyp, muskulös und tätowiert, angeblich soll er Rainers Leibwächter sein.«

»Und wieso braucht dieser Rainer einen Leibwächter?«

»Das ist eine der Sachen, die Sie für mich rausfinden sollen, Carver.«

Carver meinte: »Ich muß noch mehr Einzelheiten wissen.«

Jetzt setzte Tiller sich doch hin. Er ließ sich auf dem schwarzen Plastikstuhl neben dem Schreibtisch nieder und schlug die langen, dünnen Beine übereinander. Er trug braune Slipper mit Quasten, von der Sorte, die immer als Golfschuhe bezeichnet werden, aber gar keine sind. Die Bündchen an seinen grauen Socken waren ausgeleiert und nach unten gerutscht, und an den Knöcheln, die dünner waren als die Handgelenke, hatte er eine Art Ausschlag. Er griff nach dem Päckchen Zigaretten in seiner Brusttasche, holte es aber nicht heraus, und sagte: »Rainer hat ein Boot, die Miss Behavin’ etwa sechzig Fuß lang. Sie läuft hin und wieder im Morgengrauen aus, ganz früh, wenn nur schlaflose alte Männer wach sind. Rainer und Hector und Davy flitzen hektisch hin und her, dann läuft die Jacht aus und kommt erst ein paar Nächte später wieder, ebenfalls im Halbdunkel.«

Carver dachte darüber nach. »Um ehrlich zu sein, Henry, ich glaube nicht, daß wir viel damit anfangen können. Kein Gesetz verbietet, im Morgengrauen auszulaufen, und vielleicht glauben Sie ja nur, daß Rainer und seine Angestellten es heimlich tun. Man kann das auch ganz anders interpretieren.«

Tiller runzelte die Stirn und zog ein zorniges Gesicht.

»Verdammt! Hören Sie auf, mich wie einen Idioten zu behandeln!«

Carver zuckte mit den Achseln. »Also gut. Das hab’ ich wohl verdient, es tut mir leid.«

»Diese Typen sind in irgendwas verwickelt, Carver. Ich habe ein paarmal gelauscht, wenn jemand mit Rainer gesprochen hat, und ich bin sicher, er hat gelogen. Er hat behauptet, das Boot habe schon monatelang vor Anker gelegen, aber das weiß ich besser. Er lügt, weil er was Kriminelles vertuschen will. Jedes Atom in meinem Hirn sagt mir das.«

Zerstreut trommelte Carver auf die Schreibtischplatte. Tarram! Tarram! »Na gut, ich verstehe, was Sie meinen.« Aber er war nicht sicher. Wenn Lügen allein schon kriminell wäre, säße die ganze Nation hinter Gittern. Bisher hatte Henry Tiller ihm nur wenig Fakten liefern können.

»Und dann war da der tote Junge«, sagte Tiller.

Carver starrte ihn an. »Wie bitte?«

»’n toter Junge. Dreizehn oder so. Wurde am Strand angespült.«

»An Rainers Strand?«

»Nein, nein, weiter unten auf der Insel.« Tiller war ungeduldig. Wie konnte Carver so begriffsstutzig sein?

»Wie ist der Junge gestorben?«

»Angeblich ertrunken. Ich würde sagen, es war Kokain. Man hat Spuren davon in seinem Blut gefunden.«

»Vielleicht war er high«, meinte Carver, »und er ist zu weit rausgeschwommen.«

»Das behauptet Wicke jedenfalls.«

»Wicke?«

»Der Polizeichef von Key Montaigne. Lloyd Wicke. Der Junge war nur ein Ausreißer mehr, der sich mit Drogen vollgepumpt hat, so sieht er das. Die Eltern des Jungen kamen aus dem Norden, um die Leiche abzuholen, und das war’s.«

»Sie meinen, daß es kein Unfall war?«

»Verdammt, ich hab’ keine Ahnung! Aber es paßt einfach nicht zusammen, verstehen Sie?«

»Nein.« Langsam wurde Carver ungeduldig. Henry Tiller hatte viel zu erzählen, aber Probleme, die Einzelteile seiner Geschichte in eine logische und verständliche Reihenfolge zu bringen, was vielleicht mit seinem Alter zusammenhing.

»Am Abend, nachdem sie auf die Insel gekommen waren, um die Leiche abzuholen, hab’ ich gesehen, wie der Vater des Jungen mit Rainer sprach, in Rainers großem grauen Lincoln, der am Rand von Fishback geparkt war.«

Carver hörte auf, auf die Tischplatte zu trommeln. Das Geräusch ging ihm auf die Nerven. »Das könnte Zufall sein. Oder vielleicht kannten sie sich von früher und Rainer war zufällig vorbeigekommen und hatte den Mann erkannt. Oder der Leihwagen des Vaters hatte eine Panne, und er hat Rainers Wagen angehalten.«

»Zufall! Warum nicht gleich der Osterhase?« schnaubte Tiller wütend und fingerte wieder an der Zigarettenschachtel herum, diesmal so heftig, daß Carver das Knistern des Zellophanpapiers hören konnte.

»Ist ja gut. Haben Sie mit der Polizei in Key Montaigne darüber gesprochen?«

»Klar, mit Chief Wicke höchstpersönlich. Aber der Mistkerl hat die Geschichte nicht besonders ernst genommen. Er hat mir gesagt, was ich hören wollte, und mich dann wieder weggeschickt. Ich sage Ihnen, seit ich alt bin, weiß ich, was es heißt, einer unterdrückten Minderheit anzugehören.«

Carver fragte: »Glauben Sie, daß Rainer was mit Drogen zu tun hat?«

»Das ist ziemlich wahrscheinlich.«

»Jedenfalls wahrscheinlicher als der Osterhase«, gab Carver zu. »Und was genau soll ich jetzt tun, Henry?«

»Hinfahren und heimlich Erkundigungen einziehen, rausfinden, was los ist. Irgendwas stimmt nicht, da bin ich sicher.«

Carver lehnte sich weit zurück und streckte sein lahmes Bein unter dem Tisch aus. »Warum haben Sie so großes Interesse daran, Henry?«

Tiller sah einen Augenblick verblüfft aus, so perplex, wie nur sehr alte oder sehr junge Menschen ausschauen können, die einen Moment lang oder für immer nicht mehr wissen, was eigentlich los ist. »Na ja, ich hab’ Ihnen doch gesagt, ich war Cop. Erst oben in Milwaukee, dann ein paar Jahre in Lauderdale. Und bei der Kripo für -«

»Ja, ich weiß«, unterbrach ihn Carver.

Tiller erhob sich. In jungen Jahren mußte er ein beeindruckender Mann gewesen sein, jemand, der sein Gegenüber einschüchtern konnte. »Also, wie sieht’s aus, Carver?«

»Sie haben nicht mal nach meinen Preisen gefragt.«

»Ich habe Desoto gefragt. Er dachte, ich sollte Bescheid wissen, bevor ich mich auf den Weg hierher mache. Keine Sorge. Ich habe was gespart. Ich kann Sie bezahlen.«

»Wann fahren Sie wieder nach Key Montaigne?« fragte Carver.

»Sobald ich hier rauskomme.«

»Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, und ich rufe Sie an. Ich möchte noch mal mit Desoto reden, bevor ich zu- oder absage.«

Tiller sah ihn mißtrauisch an. »Wieso denn das?«

»Ich will nicht, daß Sie Ihr Geld umsonst ausgeben, Henry.«

»Leck mich, Carver! Glaubst du, ich bin ein alter Knacker, der nur noch mit der Prostata denkt?«

»Nein, nein. Es sind wohl eher die Jungen, die sich von dieser Körperregion leiten lassen.«

»Leck mich«, sagte Henry Tiller noch einmal. »Ich war jahrelang Cop in Milwaukee und noch länger in Lauderdale. Ich weiß, was um mich rum vorgeht. Und Sie machen den Job oder lassen’s bleiben.«

Ein bißchen verwirrt meinte Carver: »Ja, so sieht’s aus.«

Tiller holte einen Plastikkugelschreiber aus der Hemdtasche und schrieb seine Telefonnummer auf einen Umschlag auf Carvers Tisch. Dann stapfte er aus dem Zimmer. Minuten später sah Carver, wie er einen zehn Jahre alten Buick vom Parkplatz lenkte, die Zigarette, die er sich die ganze Zeit versagt hatte, im Mundwinkel. Als der Wagen auf die Ma- gellan einbog, konnte Carver einen »Polizei – ja bitte«-Aufkleber an der Stoßstange erkennen.

Eine Weile starrte er ins helle Sonnenlicht. Eine Möwe segelte mit starr gespreizten Flügeln über das rote Ziegeldach des Gerichtsgebäudes hinweg, dann flatterte sie in Richtung der offenen, glitzernden See davon. Schöne Frauen kamen keine mehr vorbei.

Carver hatte das Gefühl, vor einer Sache zu stehen, die man besser ruhen ließe. Dieses Gefühl trog ihn selten, es war eine Art sechster Sinn, der die Überlebenschancen beträchtlich erhöhte und den er viel zu oft ignoriert hatte. Würde er dumm genug sein, das wieder zu tun?

Schließlich griff er seufzend nach dem Telefon und rief Desoto an.

Kapitel 2

Nach fünf Minuten kam Desoto an den Apparat. »Was kann ich für dich tun, amigo?« Im Hintergrund spielte leise südamerikanische Musik. Carver wußte, sie kam aus Desotos Kassettenrecorder, der auf der Fensterbank hinter seinem Schreibtisch stand. Er konnte sich genau ausmalen, wie Desoto jetzt in seinem Büro in Orlando saß, wie immer schick gekleidet, wahrscheinlich in Abstufungen von Creme, mit viel Goldschmuck, das schwarze Haar sorgfältig gekämmt, insgesamt etwa so, wie in Filmen romantische Stierkämpfer porträtiert werden. Desoto sah eher nach Tanzlehrer als nach Cop aus, aber er war ein harter Mann.

»Du hast schon was für mich getan«, meinte Carver. »Du hast mir Henry Tiller geschickt.«

»Ach ja, Henry. Ich habe gestern mit ihm gesprochen und dachte, du wärst der richtige Mann für ihn. Hat er dir erzählt, was los ist?«

»Das hat er«, erwiderte Carver. Er starrte den Stuhl an, auf dem Tiller gesessen hatte. »Aber ich weiß nicht recht, was ich damit anfangen soll. Es klang alles ziemlich unklar.«

»Wenn man in Florida Polizist ist, hat man viel mit alten Menschen zu tun. Das weißt du ja. Der menschliche Geist ändert sich mit dem Alter. Henrys Logik zu folgen, ist, als ob man einem Stadtbus folgt, der immer wieder anhält und Umwege macht, aber wenn man dranbleibt, kommt man schließlich ans Ziel.«

»Dann bist du also derselben Meinung wie er? Daß auf Key Montaigne was im Gang ist, was man sich ansehen sollte?«

»Schon möglich, amigo.« Desoto schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Ich muß dir mehr über Henry Tiller erzählen. Er war lange Zeit Cop in Milwaukee, dann zog er hier runter und arbeitete in Lauderdale.«

Carver starrte geradeaus.

»Er wurde Sergeant und hat dann in Zivil gearbeitet«, erklärte Desoto. »Seine Frau hat ihn schon vor langer Zeit verlassen, aber sie hatten einen Sohn, Jerry. Jerry hat geheiratet und bekam einen Sohn namens Jim, den alle nur Bump nannten. Vor drei Jahren, als Bump fünfzehn war, riß er von zu Hause aus und starb an einer Überdosis, in Panama City. Es stellte sich raus, daß er seit seinem zwölften Lebensjahr kokainsüchtig war. Das war schon schlimm genug, aber Henrys Sohn Jerry konnte nicht verkraften, was mit seinem Jungen passiert war, und hängte sich auf. Das alles hat Henry fertiggemacht, und deshalb ist er in Pension gegangen. Die Kollegen drüben behaupten, er sei innerhalb von sechs Monaten um zehn Jahre gealtert.«

Carver dachte an den toten Jungen, den man am Strand von Key Montaigne gefunden hatte. Und an seinen eigenen, viel jüngeren Sohn, der drei Jahre zuvor Opfer eines Mordes geworden war. Er versuchte, nicht zu oft daran zu denken, aber er konnte sich vorstellen, wie Henry Tiller sich gefühlt hatte. Sich immer noch fühlen mußte. Erst sein Enkel, dann sein Sohn. Jesus!

»Opfer des Drogenkrieges, amigo«, sagte Desoto traurig.

»Hast du was über Tillers Nachbarn Walter Rainer rausgefunden?«

»Ich habe ihn überprüft, hier in Florida und bundesweit. Rainer ist sauber. Mit seinen Angestellten, Hector und Davy, sieht es anders aus. Hector kam mit seinen Eltern aus Kuba und wuchs dann als Waise in den Slums von Miami auf, nachdem die Eltern ihn dort zurückgelassen hatten. Er hat zwei Jahre in Raiford gesessen, wegen Körperverletzung, aber das ist fünf Jahre her, und seitdem scheint er ein guter Junge gewesen zu sein. Davy hat eine dicke Akte, angefangen mit Autodiebstahl in Cleveland als Teenager bis zum Rausschmiß aus der Marine wegen Diebstahl. Einige Zeit hat er als Seemann auf Frachtschiffen gearbeitet und auch dort Ärger bekommen. Es heißt, er sei ein harter Typ, niemand, mit dem man Streit anfangen sollte. Angeblich hat er bei einer Schlägerei in einem südamerikanischen Hafen zwei Männer getötet, aber niemand weiß das sicher. Er trägt immer einen dieser Stahlhaken, die sie auf Frachtschiffen benutzen, so wie andere ein Messer oder eine Pistole bei sich haben. Hält sich für Long John Silver oder so, und wie gesagt, man sollte keinen Streit mit ihm anfangen. Aber natürlich bist du nicht besonders klug, was solche Dinge angeht, nicht wahr, mein Freund?«

»Kann schon sein«, gab Carver zu. Desoto kannte ihn nur zu gut. Aber er kannte Desoto auch.

»Aus diesem Grund ist es mir nicht leichtgefallen, Henry Tiller zu dir zu schicken«, meinte Desoto. »Wegen Davy Mathis.«

»Ich werde versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen«, erklärte Carver, und erst dadurch wurde ihm klar, daß er sich schon entschieden hatte. Er würde Henry Tiller anrufen und zusagen, die merkwürdigen Vorgänge auf Key Montaigne zu untersuchen.

»Ja, wie ein Mungo einer Schlange aus dem Weg geht«, meinte Desoto. »Aber Henry braucht wirklich Hilfe. Und nach dem, was mit seinem Sohn und seinem Enkel passiert ist, hat er Hilfe verdient. Wenn er irgendwas Konkretes hätte, könnte sich die Polizei auf der Insel oder sogar die Drogenfahndung damit befassen. Aber er hat nur dieses komische Gefühl, das, was er den Instinkt eines alten Cops nennt. Für mich reicht das, denn ich habe meine eigenen Instinkte, was Henry angeht. Nur, vor Gericht sind Instinkte nichts wert.«

Carver sagte: »Wenn Rainer zwei Typen wie Hector und Davy für sich arbeiten läßt, ist er vielleicht wirklich in was Kriminelles verwickelt.«

»Möglich. Aber die beiden werden nicht mehr gesucht, also sind sie zur Zeit offiziell gesetzestreue Bürger. Tatsächlich sind sie in den letzten drei Jahren vollkommen sauber gewesen.«

»Oder sie haben sich nicht erwischen lassen.«

»Du wirst also für Henry arbeiten?« fragte Desoto.

»Ja, ich glaube schon.«

»Halt mich auf dem laufenden, und wenn ich kann, helfe ich euch. Sogar hier in Orlando kann ich vielleicht was für euch tun. Henry behauptet, die Polizei von Key Montaigne sei nicht besonders zuverlässig. Der Chief dort, Lloyd Wicke, glaubt, er hätte es mit einem senilen alten Knacker zu tun.«

»So wie Henry sich zeitweise benimmt, ist das kein Wunder«, meinte Carver und beobachtete, wie ein Container-LKW auf der Magellan vorbeirumpelte. Auf der Seite des Containers war ein Ausschnitt aus Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle aufgedruckt, die Stelle, an der Gottes und Adams Hände sich beinahe berühren. In der Version auf dem Container reichte Gott Adam eine Orange. In Florida meinten sie diese Art Reklame vermutlich sogar ernst. Vielleicht hatte Henry Tiller tatsächlich das Gefühl für die Realität verloren. »Weißt du irgendwas über Wicke?«

»Ich habe rumgefragt. Es gibt nicht viel über ihn, aber er ist angeblich ein guter Cop. Ich sage ja auch nicht, daß er ganz unrecht hat, wenn er glaubt, alles spiele sich nur in Henrys Kopf ab, aber nachdem ich mit Henry gesprochen habe, bin ich nicht mehr so sicher. Und außerdem, wie ich schon sagte, hat Henry das eine oder andere bei der Truppe gut. Und in diesem Fall vertreten wir beide die Truppe.«

»Aber ich bin derjenige, der nach Key Montaigne fährt«, betonte Carver.

»Ich würde selbst fahren, wenn ich könnte«, erklärte Desoto. Carver glaubte ihm. »Wenn du allein arbeitest, hast du gewisse Vorteile.«

»Vorteile wie unregelmäßiges Einkommen?«

»Egal, amigo, du bist angeblich Ermittler, also ermittle gefälligst. Häng dich rein, bis du zuviel über die Sache weißt. Ist das nicht, was du immer tun wolltest? Deine Berufung?«

»Es ist mein Job«, erwiderte Carver, aber »Berufung« hörte sich gar nicht so schlecht an. Die Musik in Desotos Büro klang jetzt anders. Eine Frau sang, Carver konnte nicht genau feststellen, was, aber es war ein trauriges Lied mit langsamem, synkopiertem Rhythmus.

»Sei vorsichtig bei dieser Sache, ja?« sagte Desoto. In seiner Stimme schwang Sorge mit. Wieder einmal der Instinkt.

»Klar, bin ich doch immer.«

»Wie geht’s der reizenden Beth?« Als Gentleman vergaß Desoto die Frauen nie, besonders nicht die schönen. Selbst wenn er mit Beth nicht ganz einverstanden war, erwies er ihr doch jene Höflichkeit, die er dem weiblichen Geschlecht grundsätzlich zollte.

»Sobald ich aufgelegt habe, fahre ich die Küste runter und frage sie«, meinte Carver.

»Du kannst dich wirklich glücklich schätzen, amigo. Aber denk dran, sei vorsichtig.«

»Ich fahre ganz langsam.«

»Ich meinte nicht unbedingt die Autobahn, mein Freund.«

Carver hätte ihn beinahe gefragt, was er denn meinte, aber Desoto hatte schon aufgelegt.

Carver ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Es hatte keinen Sinn, Henry Tiller anzurufen, solange der noch auf dem Weg nach Key Montaigne war.

Er holte das Schreiben der Versicherung aus dem Umschlag, auf dem Henry seine Telefonnummer notiert hatte, steckte den Umschlag in die Hemdtasche und stemmte sich mit Hilfe des Stocks vom Stuhl hoch. Er verließ das Büro, stöhnte, als ihn draußen die mörderische Florida-Hitze mit voller Kraft traf, und hinkte über den Parkplatz zu seinem Wagen.

Er klappte das Verdeck des alten Oldsmobile-Cabrios nicht auf, sondern verließ sich lieber darauf, der dröhnenden Klimaanlage ein wenig Kühlung entlocken zu können. Dann machte er sich auf den Weg, nordwärts über die Küstenstraße, zu seinem Strandhäuschen und zu Beth Jackson.

Kapitel 3

Carver schlief mit Beth, bevor er ihr von Henry Tiller erzählte. Wenn er Tillers Besuch vorher erwähnt hätte, wäre sie zu abgelenkt gewesen, das wußte er. Wieder ein Beweis für seine Macho-Einstellung? Möglich. Laura, seine Exfrau, hatte behauptet, solche Dinge seien ein Grund für das Scheitern ihrer Ehe gewesen. Carver nahm an, sie könnte recht haben, und hatte versucht, seine Denkweise zu ändern. Er war immer noch dabei.

Beth lag jetzt neben ihm auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf gefaltet, und dachte darüber nach, was er gesagt hatte. Das Fenster stand offen, und das Seufzen der Brandung drang ins Zimmer und mischte sich dort mit dem trägen Klacken des Deckenventilators über dem Bett. Ein leichter Luftzug streifte ihre nackte Haut und verteilte den Geruch nach Schweiß und Sex im Raum. Carver betrachtete Beth, ihren glatten, dunklen Körper, schlank wie der eines Models, aber mit einer deutlichen Ausstrahlung von Kraft. Ihre Bauchmuskeln waren fest, und ihre langen Oberschenkel waren die einer Langstreckenläuferin. Als Carver sie kennengelernt hatte, war sie tatsächlich gelaufen – weg von ihrem Ehemann, dem Drogenbaron, der sie hatte umbringen wollen.

Beth starrte zur Decke und sagte: »Diese ganze Drogenkrieg-Geschichte dient nur dazu, Tatsachen zu verschleiern, Fred. Die Mächtigen benutzen sie für ihre eigenen Zwecke. All diese Berichte in den Medien schaffen ein ganz falsches Bild.«

»Was soll denn verschleiert werden?« fragte Carver. Ihm war klar, daß Beth viel über Drogen wußte; immerhin war sie mit dem berüchtigten, inzwischen verstorbenen Roberto Gomez verheiratet gewesen. Sie war im Slum von Chicago aufgewachsen und auf die einzige Art dort herausgekommen, die sie kannte – mit Hilfe von Sex und ihrer Schönheit. Dann hatte sie ihr Leben langsam um hundertachtzig Grad gedreht, noch während der Zeit mit Gomez. Sie war wieder zur Schule gegangen, war vor Gomez und seiner von Drogengeldern finanzierten Welt geflohen und hatte sich in Carver verliebt. Sie hatte auch wieder ihren Mädchennamen, Jackson, angenommen. Manchmal fragte sich Carver beunruhigt, ob sie in ihm dasselbe sah, was sie einmal in Gomez gesehen hatte.

»Vor allem wird verschleiert, daß es gar kein Drogenproblem gibt«, meinte sie.

Carver war nicht überrascht. Sie machte häufig so provozierende Aussagen, stellte kleine Fallen, und er hatte inzwischen gelernt, nicht sofort zu widersprechen. Stattdessen bat er sie, ihre Behauptung zu erklären.

»Die Mächtigen tun so, als würde eine bestimmte Substanz, irgendein Zeug, die ganzen Probleme schaffen, und wenn wir nichts mehr davon ins Land ließen, würde alles besser. Einerseits sagen sie zwar, daß Menschen nicht von Waffen getötet werden, sondern von anderen Menschen, aber dann behaupten sie, die Drogen würden die Abhängigen schaffen. Und wir müßten nur den weißen Puder und das Gras loswerden, und das Problem wäre gelöst.«

»Das hat bisher nicht funktioniert«, meinte Carver.

»Weil es Quatsch ist. Wenn man den Drogenimport verhindert, schnellen nur die Preise in die Höhe, und die Verbrechen, die die Süchtigen für ihren Stoff begehen, werden schlimmer. Wenn es gar keine importierten Drogen mehr gibt, schaffen sich die Leute selber welche, bauen sie an oder erfinden Designerdrogen. Ich wette, ein guter Chemiker könnte sogar in diesem Haus die nötigen Ingredienzen finden, um eine Droge zusammenzukochen. Und es wird immer Leute geben, die sie kaufen und verkaufen. Das Problem sind nicht die Drogen, das Problem ist, daß Leute alles tun, um der Realität ihres eigenen Lebens zu entkommen.«

Carver hielt ihre Argumentation für vernünftig. Er stützte sich auf den Ellbogen und betrachtete ihr dunkles, charaktervolles Gesicht. Ihre Züge waren weich und sanft und ließen nicht auf den ersten Blick die Härte erkennen, die dahintersteckte. Härte von innen ist nicht immer so offensichtlich.

Sie drehte sich um und sah ihn direkt an. »Also erklärt die Regierung den Drogen den Krieg und sagt: ›Wir werden euch hart bestrafen, wenn ihr weiter das Zeug nehmt, das wir für illegal erklärt haben, weil ihr nicht aufhören könnt, es zu nehmen‹ Ziemlich paradox, oder? Ein Süchtiger will vielleicht eine Entziehungskur machen, nachdem er völlig zusammengebrochen ist, und dann setzen sie ihn auf eine Warteliste, und es dauert Monate, bis er einen Therapieplatz bekommt. Also fängt er wieder mit den Drogen an und denkt, daß alles in Ordnung ist, und hat kein Interesse mehr an der Therapie. Kein Wunder, oder? Schließlich verhaften sie ihn und stecken ihn in den Knast, wo er erst recht die harten Jungs kennenlernt, die ihm alles beibringen und für den Rest seines Lebens seine Kumpel bleiben. Sie machen ihn zu einem der ihren. Ich möchte wirklich gern wissen, wen diese Ärsche von der Regierung fragen, wenn sie was über Drogen wissen wollen.«

Carver meinte: »Ich glaube, sie fragen sich gegenseitig.«

»Ich will damit eigentlich nur sagen, wann immer Drogen im Spiel sind, solltest du nie davon ausgehen, daß die Dinge wirklich so sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen«, erklärte Beth. »Es muß nicht mal wirklich was mit Drogen zu tun haben. Meist geht es darum, daß jemand Geld machen oder gewählt werden will oder beides. Genauso sieht es aus. Das weiß ich verdammt gut.«

»Ich liebe dich«, sagte Carver, »wenn du so zurückhaltend mit deinen Ansichten bist.«

»Es ist nur, weil ich zufällig über Drogen Bescheid weiß und über das ganze Umfeld.«

»Das muß man dir lassen.«

»Und es könnte sein, daß du dich auf was Gefährlicheres einläßt, als du glaubst. Du solltest vorsichtig sein.«

»Das hat Desoto auch gesagt.«

»Er ist dein Freund, und ich bin noch mehr als das. Also hör lieber auf uns. Wir machen uns mehr Sorgen um deine Haut als du selbst. Du bist wie eine Kreuzung aus Bluthund und Bullterrier – das ist ziemlich ungesund.«

»Grrr«, knurrte Carver und tat so, als wolle er in ihre rechte Brustwarze beißen – na ja, er tat nicht nur so.

Sie lachte und schubste ihn weg, und beide blieben noch einen Augenblick ruhig liegen. Dann streckte sie sich, schob die kühlen Laken von sich und küßte ihn. Sie legte eines ihrer langen Beine über ihn – es war wärmer als der Luftzug vom Meer.

Sie drückte eine Hand auf seine Brust und fragte: »Wirst du mich brauchen?«

Er wußte, daß sie nicht mehr vom Sex redete.

Beth arbeitete manchmal mit Carver zusammen. Sie hatte in den harten Jahren viel gelernt, sie beherrschte Kampfsport und konnte mit Waffen umgehen. Er brauchte sich um sie nicht zu sorgen. Aber er erinnerte sich, was Desoto über Davy Mathis gesagt hatte.

»Ich bin nicht sicher«, antwortete er. »Laß mich erst mal ein bißchen in Key Montaigne rumschnüffeln, ein Gefühl für die Sache entwickeln.«

»Wenn du willst. Aber sag mir Bescheid, bevor du die erste Windmühle angreifst.« Sie löste sich von ihm, stand auf, streckte sich und bog dann den Rücken durch. »Ich gehe unter die Dusche.« Barfuß spazierte sie über den Dielenboden, mit geschmeidigen Bewegungen wie eine dunkle Flamme. Carver sah ihr gern zu, wenn sie sich bewegte. Er fragte sich, wie sie wohl in einem leichten Sommerkleid aussehen würde, das im Wind wehte. Wieder wünschte er, er könnte malen. Vielleicht sollte er es lernen. Sie blieb stehen, drehte sich um und lächelte ihn an. »Kommst du mit?«

Nach dem Duschen fuhren sie im Olds zum Happy Lobster, einem Restaurant an der Küstenstraße. Carver hatte hier viel Zeit mit Edwina Talbot, der letzten Frau in seinem Leben, verbracht, aber das machte ihm und Beth nichts aus. Sie neigten beide nicht zu sentimentalen Anwandlungen.

Carver bestellte ein Schwertfischsteak, und Beth verputzte methodisch und mit großem Vergnügen einen Hummer.

Über Kaffee und Käsekuchen sagte sie: »Nach dem, was du erzählt hast, könnte das Alter im Kopf dieses Henry Tiller einiges durcheinandergebracht haben.«

»Desoto glaubt das nicht, und er kennt Tiller besser als ich.«

»Und was meinst du?«

»Ich bin nicht sicher, aber ich habe genug Vertrauen in Desoto, um erst mal nach Key Montaigne zu fahren und mich umzusehen.«

»Ich glaube nicht so fest an diese Cop-Instinkte, von denen du redest. Ich habe zu oft erlebt, daß sie sich als falsch erwiesen haben.« Ihr Blick wurde ernst. »Und ich habe gesehen, wie Cops dabei umgekommen sind.«

Carver starrte durch das riesige Panoramafenster auf den dunkler werdenden Atlantik. Der Horizont war beinahe nicht mehr von der graugrünen See zu unterscheiden. So viel Raum da draußen, so viel Leere. Dort könnte sich alles verlieren. Alles.

Beth biß ein Stück von ihrem Käsekuchen ab. Sie kaute, schluckte und trank einen Schluck Kaffee. Wenn sie eine Tasse hob, spreizte sie den kleinen Finger ab. Wo hatte sie das gelernt? Jedenfalls nicht in den Slums von Chicago oder bei Roberto Gomez.

Mit einem leisen Klirr setzte sie die Tasse wieder ab, streckte den Arm aus und legte ihre langen, geschmeidigen Finger auf Carvers Unterarm. Sachte drückte sie die lackierten Nägel nieder, um seine volle Aufmerksamkeit zu erhalten. »Wenn du mich brauchst, ruf an, versprochen?«

»Versprochen«, sagte er. »Aber als erstes werde ich Henry Tiller anrufen und ihm sagen, daß ich morgen vorbeikomme.«

Als er später am Abend die Nummer wählte, die auf dem Briefumschlag stand, war es jedoch nicht Tiller, der an den Apparat ging. Eine Frauenstimme meldete sich zögernd.

»Kann ich bitte mit Henry sprechen?« fragte Carver. Beth lehnte an der Frühstücksbar und goß ihnen einen Verdauungsbrandy ein. Sie sah ihn fragend an.

»Geht nicht. Ich meine, es tut mir leid, das ist nicht möglich«, sagte die Frau am Telefon. Sie hörte sich jetzt jünger an, ein junges Mädchen.

»Warum nicht?«

»Er ist nicht daheim. Er ist im Krankenhaus.«

»In welchem Krankenhaus?«

»Im Faith United in Miami.«

»Mit wem spreche ich überhaupt?« fragte Carver.

»Ich bin Effie. Manchmal mache ich für Mr. Tiller sauber. Sind Sie Fred Carver?«

»Ja.«

»Mr. Tiller sagte, Sie würden vielleicht anrufen. Ich soll Ihnen ausrichten, daß er im Faith United ist. Er ist angefahren worden. Ich glaube, es geht ihm ziemlich schlecht.«

»Angefahren worden?« fragte Carver.

»Ich bin nicht sicher. Ich weiß nur, daß er in Miami angehalten hat, um was zu essen, und gerade auf dem Rückweg zu seinem Auto war, als er angefahren wurde.«

»Und der Fahrer?«

»Ich weiß nicht. Sie sollten vielleicht mit der Polizei in Miami sprechen. Oder mit dem Krankenhaus.«

»Hat Mr. Tiller dich selbst angerufen?«

»Ja. Wir sind Freunde. Er vertraut mir, und er wußte, daß ich hier bin und saubermache.«

»Ich rufe ihn im Krankenhaus an.«

»Ich glaube nicht, daß das geht. Er sagte mir, sie würden ihn operieren, deshalb sollte ich Ihnen ja erzählen, wo er ist und warum. Er hat auch eine Nachricht auf Ihrem Anrufbeantworter im Büro hinterlassen, aber er hatte Angst, Sie würden sie nicht bekommen. Mr. Tiller traut keinem Ding über den Weg, in dem sich ein Mikrochip befindet.«

»Ich auch nicht«, meinte Carver.

Er bedankte sich bei Tillers junger Freundin, legte auf und erzählte Beth, was passiert war.

»Willst du immer noch nach Key Montaigne?« fragte sie und reichte ihm den Brandy.

»Gleich morgen früh«, erwiderte Carver, hob das Glas unter die Nase und sog den scharfen Alkoholdunst ein, als wollte er seine Gedanken damit klären. »Aber den ersten Halt lege ich in Miami ein.«

Kapitel 4

Das Faith-United-Krankenhaus lag im Westteil von Miami, an der Hoppington Avenue. Das Hauptgebäude war fünfstöckig, aus hellem Beton und mit Bogenfenstern, aber man hatte lange, dreistöckige Flügel aus rosafarbenem Backstein und mit verspiegelten Scheiben angebaut. Das Ganze sah so unzusammenhängend aus, als sei ein älteres Gebäude aus der Vergangenheit herabgefallen und mitten in einem modernen gelandet.

Am Informationsschalter in der Eingangshalle, die sich im älteren Gebäudeteil befand, erklärte eine ältere Frau Carver, daß Henry Tiller in Zimmer 504 liege und besucht werden könne, aber Carver solle zuerst zum Schwesternzimmer gehen und sich anmelden.

Carver bedankte sich und hinkte an einer scheußlichen modernen Stahlskulptur vorbei zum Fahrstuhl.

Er mochte Krankenhäuser nicht, und dieses war keine Ausnahme. Die Eingangshalle roch nach Desinfektionsmitteln, und inmitten von Krankheit und Leiden verbreiteten die Angestellten eine Atmosphäre von gedämpfter Geschäftigkeit und unpersönlicher Effizienz, als sei der Tod nur ein Mitglied des Ärzteteams. Schwestern und Pfleger in weißen Uniformen und der eine oder andere Chirurg im blaßgrünen Kittel eilten hektisch und wichtigtuerisch durch die Flure. Verwandte von Patienten hockten auf Plastikstühlen und blätterten in vergilbten Zeitschriften oder gingen auf und ab, mit krampfhaft gleichmütiger Miene, während sie versuchten zu begreifen, was es bedeutete, als Kranker dieser Institution ausgeliefert zu sein. Carver tröstete sich damit, daß es hier wenigstens kühl war; draußen herrschten schon über dreißig Grad, obwohl es erst elf Uhr war.

In Zimmer 504 standen zwei Betten, aber Henry war allein. Sein rechtes Bein war eingegipst und wurde von einem Stahlseil, das an einer fahrbaren Metallkonstruktion hing, nach oben gezogen. Ein weißes Laken bedeckte seinen Unterkörper, und er trug ein blaues Krankenhaushemd, das hinten am Hals zugebunden war. Ein halbdurchsichtiger Plastikschlauch führte zu einem von Henrys Nasenlöchern, und von einem Tropf floß klare Flüssigkeit durch einen weiteren Schlauch in seinen Arm. Henry hatte die Augen geschlossen, er schien keine Schmerzen zu haben. Er war viel blasser als am Vortag in Carvers Büro, sah beinahe wie tot aus, aber seine Brust hob und senkte sich.

Carver trat ins Zimmer, das nach Pfefferminze roch und grün gestrichen war, unten dunkelgrün und von der Wandmitte bis zur weißen Decke hellgrün. Neben dem Bett stand ein Nachttisch mit einem Telefon, und daneben so etwas wie ein Tablett auf Rädern. Auf das Tablett hatte jemand einen grünen Plastikkrug und einen umgestülpten Plastikbecher gestellt. Am Fußende des Bettes sah Carver einen beigen Plastikstuhl, auf dem eine zusammengefaltete Wolldecke und ein Kissen lagen. Draußen im Flur gingen ein paar Schwestern vorbei und kicherten leise. Arbeit war eben Arbeit.

Carver trat näher ans Bett und blieb dort, auf seinen Stock gestützt, stehen. Henry Tiller schien zu spüren, daß er da war, und schlug die Augen auf.

»Ich habe Ihre Nachricht bekommen«, sagte Carver. »Das Mädchen, Effie, hat erzählt, Sie seien angefahren worden.«

»Effie Norton.«

»Das nehme ich an. Sie hat ihren Nachnamen nicht genannt, nur von Ihnen und dem Auto gesprochen.«

»Es war Fahrerflucht«, sagte Tiller. Er sprach langsam und schleppend, aber sein Blick war wach und konzentriert. Er schien zu wissen, was er tat – jedenfalls für seine Verhältnisse. »Ich hatte was gegessen und ging gerade über die Straße, und dann kommt diese Riesenkarre angeschossen, und Kra-Wumm! liege ich auf dem Pflaster und weiß nicht, was los ist. Hat mich verdammt durchgerüttelt, das kann ich Ihnen sagen!«

»Kann ich mir vorstellen. Haben Sie das Kennzeichen gesehen?«

»Ich hab’ nicht mal dran gedacht, bis es zu spät war«, erklärte Tiller angewidert. »Ich dachte, es wäre ein Unfall, und erst dann habe ich kapiert, daß der Dreckskerl weitergefahren ist und mich liegengelassen hat.«

»Vielleicht war es wirklich ein Unfall, und der Fahrer hat es mit der Angst gekriegt.«

»Oder er wußte, was er tat«, meinte Tiller. Vielleicht hatte er recht. »Es war ein Chrysler New Yorker oder ein Fifth Avenue, weiß, wie sie die Autoverleiher in Florida zu Tausenden haben. Wie ich schon sagte, weiß.«

Carver wußte, was er meinte. Einen Menschen mit einem Auto anzufahren, verursachte oft nur wenig Schaden am Wagen, während das Opfer keinen heilen Knochen mehr im Leib hatte. Und geringe Schäden am Lack konnten bei weißen Wagen besonders unauffällig repariert werden, vom Täter selbst oder von jemandem, der keine Fragen stellte, und nach einer kurzen Fahrt über eine staubige Straße würde niemand bei der Verleihfirma merken, daß der Wagen in einen Unfall verstrickt gewesen war.

»Haben Sie den Fahrer gesehen?« fragte Carver.

»Ja, aber es ging alles so schnell, daß ich nicht viel sagen kann. Ein Mann, da bin ich ziemlich sicher, aber die Frontscheibe spiegelte, und hundertprozentig kann ich nicht mal das sagen. Ich weiß, daß der Dreckskerl beide Hände am Lenkrad hatte und geradeaus auf mich zuhielt. Das Bild habe ich noch ganz genau im Kopf.«

»Sie glauben, daß Walter Rainer dahintersteckt?«

Tiller schnaubte. »Was denken Sie denn?«

»Wie schwer sind Sie verletzt?« fragte Carver. »Ich meine, wie lange werden Sie hierbleiben müssen?«

»So wie es aussieht Wochen. Bein gebrochen, Hüfte angebrochen und ein paar innere Verletzungen, über die die Ärzte sich noch nicht ganz sicher sind. Sie haben mich gestern aufgeschnitten, um nachzusehen, und morgen früh geht es richtig los. Wissen Sie, was das für uns heißt, Carver?«

»Für Sie heißt es Bettruhe, und das mindestens einen Monat lang.«

»Ich wünschte, Sie würden die Zeit in meinem Häuschen in Key Montaigne verbringen.«

Eine junge Krankenschwester kam herein, lächelte Carver an und ging direkt zu Tiller. Sie hatte sich das blonde Haar aufgesteckt und trug eines jener altmodischen gestärkten Häubchen, die wie die Papierhüte aussehen, die Kinder im Kindergarten falten. Nach einem besorgten und abschätzenden Blick auf Tiller änderte sie den Neigungswinkel seines Beins ein wenig und betrachtete dann den Glukosetropf so forschend, als könne er sich vor ihren Augen in etwas anderes verwandeln.

Tiller sah zu ihr auf und sagte: »Wenn Sie nicht innerhalb von zehn Minuten wieder hier sind, reiße ich all diese Schläuche raus und springe aus dem Bett, damit ich auf meinem gesunden Bein zum Klo hüpfen kann.«

Sie grinste. »Ich werde schon in neun Minuten wieder da sein, Mr. Tiller.«

»Sie können mich ruhig Henry nennen«, rief er ihr nach, als sie aus dem Zimmer rauschte. Dann sah er Carver an. »Was meinen Sie, Carver?«

»Ich glaube, sie kommt wirklich wieder.«

»Sie wissen, wovon ich rede.«

Carver mußte nicht lange nachdenken. »Na ja, ich bin nur vorbeigekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich auf dem Weg bin.«

Tiller hob die rechte Hand, die mit der Infusionsnadel. Mit seinem gichtigen Zeigefinger wies er auf den Schrank. »Meine Sachen sind da drin, der Schlüsselbund steckt in einer Tasche. Nehmen Sie den Messingschlüssel mit dem viereckigen Kopf, das ist der fürs Haus. Shoreline Road Nummer zehn. Können Sie sich das merken?«

»Klar.« Carver ging zu dem Schrank – eigentlich war es mehr ein Spind – und holte den Schlüsselbund aus Tillers Hosentasche, dann löste er den Messingschlüssel vom Bund. Er schob die übrigen Schlüssel wieder in die Tasche und ließ alles andere im Schrank wie es war, damit Tillers Kleidung in ein paar Wochen oder einem Monat, oder wann immer er sie wieder brauchte, nicht zerknittert sein würde.

»Erzählen Sie mir mehr von Effie, der kleinen Putzfrau«, sagte er.

Tiller versuchte, mit den Achseln zu zucken, aber es gelang ihm nur eine leichte Bewegung, die ihm offensichtlich weh tat. »Sie ist vierzehn, und sie wohnt in der Nachbarschaft. Ihrem Vater gehört die Tankstelle von Fishback. Er erwähnte, daß seine Tochter Arbeit sucht, und fragte, ob ich als alleinstehender Mann nicht eine Putzhilfe brauche, ein oder zweimal die Woche. Ich war einverstanden, weil ich dem Mädchen helfen wollte – nicht, daß ich jemanden gebraucht hätte. Ich kann verdammt gut selbst für mich sorgen.«

Carver wollte Henry an seine derzeitige Situation erinnern, aber dann schwieg er lieber. Immerhin hatte er selbst einen Fehler gemacht, der ihm ein lahmes Bein eingebracht hatte.

»Es war ein weißer Chrysler, der mich angefahren hat«, erklärte Henry. »Hab’ ich das schon erwähnt?«

»Ja.«

»Und ich bin nicht mal dazu gekommen, einen Blick aufs Nummernschild zu werfen.«

»Mhm-mhm.«

Tiller seufzte und starrte die Drähte und das Gegengewicht an, die sein Bein hochhielten. Ein Ausdruck unendlicher Trauer zog über sein Gesicht, und einen Augenblick sah er wie hundert aus. »Ich vergesse viel in der letzten Zeit, Carver, das weiß ich. Aber ich weiß auch, daß ich noch weit entfernt davon bin, senil zu sein. Das ist vermutlich ein weiterer Grund, wieso ich will, daß Sie nach Key Montaigne gehen und beweisen, daß ich recht hatte. Sie sollen beweisen, daß ich kein hysterischer alter Mann bin oder nur noch ein Schatten dessen, was ich mal war. Vielleicht mußten Sie, nachdem man Ihnen ins Bein geschossen hatte, auch beweisen, daß Sie mehr sind als ein Krüppel, den man einfach abschreiben kann. Verstehen Sie das?«