Florida Killings: Roter Tod - John Lutz - E-Book
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Florida Killings: Roter Tod E-Book

John Lutz

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Beschreibung

Der kühle Hauch des Todes: Der packende Amerika-Thriller »Florida Killings: Roter Tod« von John Lutz jetzt als eBook bei dotbooks. Seit Frank Carver die Kugel eines Verbrechers das Knie zertrümmerte, muss sich der abgebrühte Ex-Cop als Privatermittler über Wasser halten: Sein neuester Fall führt ihn nach »Sunhaven«, ein exklusives Altenheim für die reiche Elite Floridas. In dem abgelegenen Rückzugsort häufen sich plötzlich ungewöhnlich viele Todesfälle. Carver wittert eine perfide Mordserie – und wagt sich in die Höhle des Löwen. Doch seine Nachforschungen stoßen auf erbitterten Widerstand: Was versucht die unterkühlte Leiterin des Heims zu verbergen? Und warum befällt die Bewohner im Beisein von Oberschwester Nora eine lähmende Furcht? Schon bald wird »Sunhaven« für Carver zu einem Irrgarten voller Täuschungen … und tödlicher Gefahren! »John Lutz zählt zur Elite der amerikanischen Detektiv-Autoren. Seine Erzählkunst sorgt für Hochspannung.« Brigitte Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Hardboiled-Krimi »Florida Killings: Roter Tod« von Bestsellerautor John Lutz ist der abgründige zweite Band seiner Reihe um den Privatermittler Fred Carver, der in der brutalen Hitze des Sunshine State ermittelt – preisgekrönte Spannung für alle Fans von James Patterson! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 429

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Über dieses Buch:

Seit Frank Carver die Kugel eines Verbrechers das Knie zertrümmerte, muss sich der abgebrühte Ex-Cop als Privatermittler über Wasser halten: Sein neuester Fall führt ihn nach »Sunhaven«, ein exklusives Altenheim für die reiche Elite Floridas. In dem abgelegenen Rückzugsort häufen sich plötzlich ungewöhnlich viele Todesfälle. Carver wittert eine perfide Mordserie – und wagt sich in die Höhle des Löwen. Doch seine Nachforschungen stoßen auf erbitterten Widerstand: Was versucht die unterkühlte Leiterin des Heims zu verbergen? Und warum befällt die Bewohner im Beisein von Oberschwester Nora eine lähmende Furcht? Schon bald wird »Sunhaven« für Carver zu einem Irrgarten voller Täuschungen … und tödlicher Gefahren!

»John Lutz zählt zur Elite der amerikanischen Detektiv-Autoren. Seine Erzählkunst sorgt für Hochspannung.« Brigitte

Über den Autor:

John Lutz (1939–2021) war ein US-amerikanischer Autor von über 50 Thriller und Romanen. Er wurde für seine Kriminalromane mehrfach ausgezeichnet – unter anderem mit dem Shamus Lifetime Achievement Award und dem Edgar-Allan-Poe-Award, dem wichtigsten Spannungspreis Amerikas. Mehrere seiner Werke wurden verfilmt.

Die Website des Autors: www.johnlutzonline.com/

Der Autor bei Facebook: www.facebook.com/JohnLutzAuthor/

Bei dotbooks veröffentlichte der Autor die folgenden eBooks:

Die Missouri-Murders-Reihe um den Privatdetektiv Alo Nudger:

»Missouri Murders: Schwarze Nacht«

»Missouri Murders: Kaltes Schweigen«

»Missouri Murders: Tiefe Schatten«

»Missouri Murders: Harte Strafe«

»Missouri Murders: Fatale Schuld«

Die Florida-Killings-Reihe um den Ex-Cop Fred Carver:

»Florida Killings: Brennende Rache«

»Florida Killings: Roter Tod«

»Florida Killings: Kaltes Feuer«

»Florida Killings: Sengender Verrat«

»Florida Killings: Lodernder Zorn«

Seine Frank-Quinn-Reihe um einen Ex-Cop auf der Spur von Serienkillern:

»Opferschrei«

»Blutschrei«

»Zornesschrei«

»Jagdschrei

Außerdem veröffentlichte der Autor bei dotbooks den Psychothriller »Die Stalkerin«.

***

eBook-Neuausgabe Juni 2024

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1988 unter dem Originaltitel »Kiss« bei Henry Holt and Company, Inc., New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1991 unter dem Titel »Ein Tropfen Tod« bei Goldmann

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1988 by John Lutz

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1991 by Wilhelm Goldmann Verlag, München

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Ostill is Franck Cambi, Anthony Giarusso

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)

ISBN 978-3-98952-282-4

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/egmont-foundation. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Besuchen Sie uns im Internet:

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www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

John Lutz

Florida Killings:Roter Tod

Ein Fred-Carver-Thriller 2

Aus dem Amerikanischen von Michael Kubiak

dotbooks.

Widmung

Für Andrew

And for every kiss I owe,

I can pay you back, you know.

Kiss me, then,

Every moment – and again.

J. G. Saxe

»To Lesbia«

Kapitel 1

Es war später Nachmittag, aber immer noch heiß. Carver hatte zwei Gläser mit Limonade aus der hohen Kanne gefüllt, die Edwina immer im Kühlschrank stehen hatte.

Er beobachtete, wie der Wind mit den Fransen des Sonnenschirms spielte, der aus der Mitte des Tisches auf der geklinkerten Veranda aufragte. Die Sonne funkelte silbern auf den Wellen des Ozeans, die sich aufbäumten und weiße Krönchen bildeten, während sie auf den Strand rollten. Aufgrund der Lage konnte Carver von dort, wo er saß, den Strand nicht sehen, aber er hörte das Klatschen der Wellen und das Rauschen und Donnern der Brandung. Weit draußen auf dem Meer trieb etwas Dunkles, ein Boot, Treibgut, irgendetwas. Was es auch sein mochte, es sah einsam und verloren aus.

Alfonso Desoto saß Carver gegenüber, hatte seinen Rücken dem Meer zugewandt und das Glas Limonade unberührt vor sich, wo es in einem Ring Feuchtigkeit auf dem weißen Emailletisch stand.

In seinem attraktiven Latinogesicht lag an diesem Nachmittag ein ernster, angespannter Ausdruck wie bei einem Stierkämpfer, der einem tödlich gefährlichen Stier gegenübersteht. Desoto war wie immer sorgfältig gekleidet und trug einen cremefarbenen Anzug, ein hellblaues Hemd und eine malvenfarbene Krawatte. Seine goldene Uhr funkelte an einem Handgelenk, und am anderen glänzte eine dicke Goldkette. An jeder Hand trug er einen goldenen Brillantring, an der rechten Hand am kleinen Finger, an der linken am Ringfinger. Für einen Cop wirkte er zu wohlhabend und auffallend, aber er war ein Cop. Und ein guter dazu. Ein Lieutenant bei der Polizei von Orlando.

Er war nach Del Moray gekommen, weil Carver sein Freund war und weil er Sorgen hatte. Und es paßte nicht zu Desoto, sich Sorgen zu machen. Oder auch nur den Anschein zu erwecken. Das beunruhigte Carver. Er beobachtete das Meer hinter Desoto und behielt im Auge, was immer dort draußen im Wasser trieb.

»Wo ist Edwina?« fragte Desoto beiläufig.

»Sie verkauft irgendwo Eigentumapartments.«

Desoto seufzte und ließ sich nach hinten sinken. »Keine üble Art, sich die Butter auf dem Brot zu verdienen, amigo. Man ist nicht von Verbrechen abhängig wie in unserem Gewerbe.«

»Dann solltest du dir mal einige dieser Apartments ansehen.«

Desoto lachte nicht. »Bei dem, womit wir unseren Lebensunterhalt verdienen, und den Leuten, mit denen wir es jeden Tag zu tun haben, wird man leicht zynisch. Außerdem wird man leicht mißtrauisch, auch wenn es keinen Anlaß gibt.«

»Oder vielleicht doch«, sagte Carver.

Er wartete darauf, daß Desoto endlich auf das zu sprechen kam, weshalb er ihn aufgesucht hatte. Der Wind frischte auf und ließ den Sonnenschirm gegen seinen Metallrahmen schlagen; der Tisch verrutschte einige Zentimeter, als ob sein Segel sich mit Wind gefüllt hätte, und scharrte knirschend über die Klinkerplatten. Carver fragte sich, warum der Wind Desotos glänzendes schwarzes Haar niemals in Unordnung brachte.

Desoto griff nach seinem Glas und trank von seiner Limonade. Er stellte das Glas wieder auf den Tisch zurück und drehte es auf dem feuchten Ring. Er sagte: »Ich möchte mit dir über meinen Onkel Sam Cusanelli sprechen.«

Der italienische Name verblüffte Carver nicht im Mindesten. Er wußte, daß Desoto kein Kubaner war, wie viele Leute annahmen. Sein Vater war Mexikaner, seine Mutter Italienerin, obgleich Desoto das klassische Aussehen eines Latino hatte, wie man es als Profil auf spanischen Münzen zu finden pflegte. Carver klopfte mit einem Finger gegen sein eigenes feuchtes kaltes Glas Limonade und nickte.

»Als Kind habe ich von meinem Vater nicht allzuviel gesehen«, fuhr Desoto fort. »Er war immer irgendwo unterwegs und tat das, was Bergwerksingenieure gewöhnlich zu tun pflegen – falls er wirklich Bergwerksingenieur war. Tatsächlich hat mich fast ausschließlich meine Mutter großgezogen, amigo. Meine Mutter und Onkel Sam.« Er grinste, so daß seine makellosen weißen Zähne in seinem dunklen Gesicht geradezu grell aufblitzten. »Als ich noch sehr klein war, dachte ich immer, daß er der echte ›Uncle Sam‹ ist. Er hat nicht versucht, mich von dieser Überzeugung abzubringen.«

Carver wartete. Eine Möwe flatterte über sie hinweg, stieß einen schrillen Schrei aus und schwebte dann in einem eleganten Bogen aufs Meer hinaus, um eine andere Möwe zu jagen.

»Dann wurde ich älter«, sagte Desoto. »Und erfuhr die Wahrheit über Onkel Sam. Über beide.« Er fügte traurig hinzu: »Mein Onkel Sam wurde alt, amigo.«

»Wir alle werden alt«, sagte Carver. Diese Bemerkung sollte eigentlich bewirken, daß Desotos Stimmung sich aufhellte. Carver trank von seiner Limonade; sie schmeckte bitter, aber er dachte bei sich, daß er das offensichtlich verdient hatte, und nahm einen weiteren Schluck.

Desoto lächelte, und seine dunklen Augen blickten ernst. »Von Zeit zu Zeit kommen mir leise Zweifel, daß du jemals wirklich alt wirst, mein Freund.«

Carver legte seine Hand auf die Krücke des harten Nußbaumstocks, der an seinem Sessel lehnte. Er erinnerte sich an den Knall und das Mündungsfeuer und an den schmerzhaften Aufprall der Kugel, die ihm vor drei Jahren die Kniescheibe zerschmettert und seine Karriere als Offizier der Polizei von Orlando beendet hatte. Es gab Zeiten, kurze, scheinbar endlose Sekunden unleugbarer Sterblichkeit, in denen er sich nichts anderes wünschte als die Möglichkeit, alt zu werden. »Und was ist nun mit deinem Onkel passiert?«

Desoto rutschte in seinem Sessel hin und her und schien sich unwohl zu fühlen. »Er blieb lange Zeit bei meiner Mutter – dann, nachdem sie gestorben war, wohnte er allein in einem alten Apartmenthotel in South Miami Beach. Es war ein sauberes Haus, und Sam fühlte sich dort wohl. Dann bekam er Probleme mit seinen Beinen – Durchblutungsstörung. Es dauerte dann auch gar nicht mehr lange, da setzte sein Verstand ab und zu aus, aber eigentlich war es nichts Besorgniserregendes. Eines Tages fuhr ich wieder mal hin, um ihn zu besuchen, und stellte fest, daß er in ein Altersheim umgezogen war. Seine Schwester in St. Louis hatte das arrangiert und trug die Kosten.«

»Also deine Tante«, sagte Carver.

Desoto nickte. »Meine Tante Marie. Ich hab’ sie nur ein paarmal zu Gesicht bekommen, als ich noch ein Kind war. Sie hat sich mit Sam oder mit meiner Mutter nie gut verstanden.«

»Warum nicht?«

»Wer weiß das schon? Ich glaube, sie haben sich über Dinge gezankt, die man Kindern verschweigt. Ich hab’ nur gewisse Gerüchte aufgeschnappt.« Er schürzte seine Unterlippe zu einem verunglückten Grinsen. »Offenbar hatten sie sich wieder vertragen.«

»Das kommt in Familien schon mal vor«, sagte Carver. »Die Leute werden älter, erkennen, daß ihnen die Zeit davonrinnt, und sind plötzlich bereit, Dinge zu vergessen und zu vergeben, die passiert sind, als sie noch jünger und hitziger waren.«

»Das Altersheim, das Marie und ihr Mann für Sam aussuchten, war Sunhaven.«

Carver kannte die Einrichtung. Ein verwinkeltes Gebäude, das aussah wie eine Reihe pastellfarbener Schachteln oder ein Haufen Bauklötze, die von einem Kind in der Nähe der Küstenstraße wahllos aufgestapelt worden waren. Heller Beton mit einer Menge lichtreflektierendem Plastik und Glas. Es gab auch ein aufwendiges Holztor, das manchmal offenstand, manchmal geschlossen war, wenn Carver daran vorbeifuhr. Die Zimmer, die Verpflegung und die medizinische Versorgung dürften in Sunhaven nicht gerade billig sein, aber insgesamt erschien der Bau Carver nicht als idealer Aufenthaltsort, während die goldenen Jahre in der warmen Floridasonne zerrannen. Andererseits ging es dem alten Sam dort sicher weitaus besser als in irgendeinem heruntergekommenen Art Deco- Hotel in Süd-Miami. Also worüber beklagte sich Desoto?

»Deine Tante Marie muß ja gut betucht sein«, stellte Carver fest.

»Den größten Anteil der Kosten trug Medicare«, sagte Desoto, als sei er eifrig bemüht, Maries Anteil an dieser guten Tat herunterzuspielen.

»Aber nicht alles«, sagte Carver. Man mußte fair bleiben.

»Nein, amigo, nicht alles.«

Carver wurde sich plötzlich bewußt, daß Desoto in der Vergangenheit gesprochen hatte. »Du hast gesagt: Medicare trug die Kosten.«

»Ja«, meinte Desoto. »Vor zwei Tagen ist Sam Cusanelli gestorben.«

Carver wußte nicht, wie er darauf reagieren sollte. »Wie alt war er denn?« erkundigte er sich.

»Sechsundsiebzig.«

Was nun? Nun, dann hat er doch ein langes, erfülltes Leben gehabt? Der schmerzliche Ausdruck in Desotos Gesicht erregte Carvers Aufmerksamkeit. Es ging bei der Sache wohl um mehr als um einen alten Mann, der nach himmlischem Beschluß in einem Altersheim gestorben war.

»Vor etwa sechs Jahren fing Sam ah, mir Briefe zu schreiben«, erzählte Desoto. »Er wußte, daß ich Polizist bin, aber ich fürchte, er hatte reichlich übertriebene Vorstellungen von meinem Einflußbereich und meinen Machtbefugnissen. Er wollte, daß ich untersuche, was in Sunhaven nicht stimmt.«

Carver strich mit seinen Fingerspitzen über die warme, glatte Tischplatte. »Was stimmt in welcher Hinsicht nicht?«

Desoto schüttelte langsam den Kopf. »Ich bin mir nicht ganz sicher. Die Briefe waren irgendwie vage gehalten. Er war ein alter Mann, und sein Verstand war nicht mehr so leistungsfähig wie früher.« Über dem hellblauen Kragen und der korrekt gebundenen Krawatte tanzte Desotos Adamsapfel. »Ich fürchte, ich habe ihn nicht so ernst genommen, wie ich es eigentlich hätte tun sollen, und jetzt ist er tot.«

Carver glaubte zu wissen, in welche Richtung Desoto das Gespräch zu lenken gedachte. »Woran ist er gestorben?«

»Oh, natürliche Ursachen. Eine Gehirnblutung. Ein Gehirnschlag, wie es auch genannt wird. Er hatte so etwas schon früher mal durchgemacht, aber schließlich hatte er einen besonders heftigen Schlaganfall, und der hat dann seinen Tod bewirkt. Ich habe mit dem Arzt gesprochen und die Sterbeurkunde gesehen.«

»Aber dir gefällt die Sache nicht.«

»Das tut sie wirklich nicht«, gab Desoto zu.

»Als dein Onkel noch lebte, hast du ihn jemals in Sunhaven besucht?«

»Klar, des Öfteren sogar.«

»Und ist dir dabei irgendetwas komisch vorgekommen in dem Heim?«

Desotos Gesichtszüge verhärteten sich. »Eine ganze Menge. Aber es war nicht anders als alle anderen Einrichtungen dieser Art: ein Lagerhaus für abgenutzte Menschenwesen. Es brach einem manchmal fast das Herz, wenn man durch die Vorhalle ging.« Er blickte auf den weiten Atlantik, der älter war als der älteste Bewohner Sunhavens. »Mein Gott!«

Carver zuckte mit den Achseln. »Sechsundsiebzig. Und sein Verstand ließ allmählich nach, wie du sagtest. Er hatte vielleicht fixe Ideen, wurde paranoid, abgeschoben wie er war an einen solchen Ort.«

»Schon möglich«, gab Desoto zu.

Carver beschloß, den direkten Weg zu wählen. »Du glaubst nicht, daß sein Tod natürliche Ursachen hatte?«

»Doch, die hatte er vielleicht.«

»Was bereitet dir dann Kopfzerbrechen?«

»Daß es vielleicht so war, reicht mir nicht, amigo. Aber selbst wenn Sams Tod zu einem Zeitpunkt eintrat, der ihm vorbestimmt war, dann war er dennoch immer noch davon überzeugt, daß an diesem Institut irgendwas nicht ganz in Ordnung war. Ich bekomme es einfach nicht aus meinem Kopf, daß sein Mißtrauen begründet sein könnte.«

»Dieses Gefühl ist völlig normal«, sagte Carver.

»Normal? Dieses Wort sollte man nicht überstrapazieren. Wir beide, du und ich, wissen, daß es etwas Normales nicht gibt.«

»Nun, was immer da sein mag, vielleicht mußt du einfach lernen, in Zukunft damit zu leben.«

»Vielleicht«, sagte Desoto. Er zeigte erneut seine blitzenden Zähne bei einem traurigen Lächeln. »Oder ich könnte dich anheuern, damit du das Heim mal unter die Lupe nimmst.«

Carver gefiel dieser Gedanke gar nicht. In seiner Trauer war Desoto wahrscheinlich mißtrauischer, als er sein sollte, und er jagte einem Phantom hinterher. Alte Menschen wurden des Öfteren so, wie er Sam Cusanelli beschrieben hatte. Sie dachten, daß es eine Verschwörung gab – mit dem Ziel, ihnen die Socken zu stehlen oder sie um ein Stück Obst beim Frühstück zu betrügen. Es war eine verdammte Schande, aber es schien einfach dazuzugehören, wenn man alt wurde. Das war ein Teil des Lebens und Sterbens in Heimen wie Sunhaven, die in der sonnigen Landschaft Floridas zahlreich anzutreffen waren.

Aber Desoto tat ihm leid. Und was war schon schlimm daran, wenn er ein paar Tage auf diese Angelegenheit verwendete? Wenn er ein paar Fragen stellte, damit Desoto seine Seelenruhe wiederfand? Carver hatte im Augenblick sowieso nichts anderes zu tun, als seine Invalidenrente für sein lädiertes Bein abzuholen und Edwina in diesem Paradies am Meer zu lieben. Und was war ein Garten Eden ohne wenigstens eine kleine Schlange?

»Ich sitze drüben in Orlando«, sagte Desoto und versuchte, Carver zu überreden. »Ich kann hier an der Küste nicht herumschnüffeln. Diese Gegend unterliegt nicht mehr meiner Jurisdiktion. Und dann, amigo, ich zahle auch!«

Ein schlankes gelbes Speedboat jagte etwa zweihundert Meter vom Strand entfernt über die Wellen, dabei wütend summend wie eine Hornisse, die sich dagegen wehrt, ans Wasser gefesselt zu sein. Nach wenigen Sekunden wurde aus dem zornigen Brummen ein leiser werdendes auf- und absteigendes Singen, als das Boot auf die offene See zuhielt und die Schraube stellenweise zwischen den Wellenbergen in der Luft drehte.

»Ich lasse mich von dir nicht bezahlen«, sagte Carver. »Ich erweise Onkel Sam damit die letzte Ehre.«

Draußen, noch jenseits des Bootes, war das, was dort im Wasser getrieben hatte, verschwunden, als Carver für einige Zeit nicht hingeschaut hatte.

Kapitel 2

Als Carver am nächsten Morgen erwachte, beugte sich Edwina über ihn und küßte ihn zart auf die Lippen. Er drehte sich um, faßte nach ihren Schultern und zog sie zu sich herunter. Er küßte ihren Hals, ihr Ohr. Dachte an andere Stellen, die er noch küssen könnte.

Sie sagte: »Hmmm« und löste sich lächelnd aus seiner Umarmung.

Sie war bereits angezogen und hatte sich von ihm verabschieden wollen, wie er erkannte. Sie saß da auf der Bettkante in ihrem maßgeschneiderten blauen Kostüm, die langen, dunklen Haare hatte sie nach hinten frisiert, und in ihren graugrünen Augen lag noch ihr Lächeln, obgleich ihr Gesicht längst wieder ernst geworden war. Sie wirkte forsch und effizient; sie war bereit, die Welt aus den Angeln zu heben und Immobiliengeschäfte abzuwickeln. Ihre Karriere nahm sie sehr ernst; sie bedeutete ihr Trost und rettete sie vor der Depression nach einer furchtbaren Ehe und anschließender Scheidung, und sie würde diese Tätigkeit erst dann aufgeben, wenn sie ihr die Verkaufsunterlagen der von ihr betreuten Immobilienprojekte aus den im Tode erstarrten Händen nähmen.

»Ich muß gehen«, sagte sie. »Es gibt Interessenten für ein Strandapartment.«

»Ich sorge dafür, daß es sich für dich lohnt, wenn du bleibst«, versprach er ihr, während er vollends wach wurde. Die Temperatur draußen war noch erträglich; das Schlafzimmerfenster stand offen, und er konnte das Meer hinter den im Wind schwankenden Vorhängen und dem Fliegengitter flüstern hören.

Edwina stand auf und strich den Rock auf ihren Oberschenkeln glatt. Heute stand das Geschäft an erster Stelle und nicht der Sex. »Ich bin sicher, daß dir das gelingen würde.«

Carver hatte eine Erektion. »Es würde dir nicht leid tun.«

»Aber es könnte mir später sauer aufstoßen, wenn nämlich ein anderer Agent dieses Objekt verkauft.«

»Du kannst dir doch den Verlust einer Provision leisten.«

»Es geht mir nicht um die Provision.«

Carver strich sich mit der Hand über seine kahle Schädelplatte, als wolle er nicht mehr vorhandene Haare ordnen. »Jaa, ich weiß.« In der Ferne ertönte ein Klicken und ein leises Surren. Die zentrale Klimaanlage schaltete sich ein und begann ihre tägliche Arbeit, die darin bestand, die Hitze in Schach zu halten. Es war ein langer Krieg, der eines Tages mit einem durchgebrannten Ventilatormotor oder einem zusammengebrochenen Kompressor enden würde; die Hitze würde die Oberhand behalten. Kühle Luft aus dem Belüftungsschacht umfächelte Carvers Beine.

»Mir fällt gerade ein, gestern habe ich auf dem Highway Desotos Wagen gesehen«, sagte Edwina. »Zumindest nehme ich an, daß es seiner war. War er hier?«

»Hm-mm. Er will mich engagieren.«

Edwina legte den Kopf leicht schief. Das interessierte sie.

»Ich soll mich mal im Sunhaven Altersheim umschauen«, sagte Carver.

»Dieses Heim, zehn Meilen vor der Stadt? Das so aussieht, als hätte irgendwer ein paar Häuser wahllos in die Landschaft geworfen?«

»Genau das. Desotos Onkel hat dort für eine Weile gewohnt. Er ist vor drei Tagen gestorben.«

Edwina strich mit den Spitzen ihrer sorgfältig gepflegten Finger über die Konturen ihres Kinns. Das tat sie immer, wenn ihr Verstand sich mit einem Problem beschäftigte. »Meint Desoto, daß an seinem Tod irgendetwas nicht stimmt?«

Carver setzte sich, wobei sein steifes Bein gerade ausgestreckt vor ihm lag. Er rutschte nach vorne und drehte sich, bis er auf der Kante der Matratze saß. Er griff nach seinem Stock, der am Bett lehnte. »Das ist es nicht ganz«, sagte er. »Der Onkel, Sam Cusanelli, hat Desoto mehrmals erzählt, daß es in Sunhaven nicht mit rechten Dingen zuginge. Aber offensichtlich konnte er nicht genau benennen, was nicht in Ordnung war. Damals hatte Desoto das nicht so ernst genommen, daß er der Sache nachgegangen wäre, obgleich er und sein Onkel ein sehr enges Verhältnis hatten, als Desoto noch ein Kind war. Cusanelli war sechsundsiebzig, und manchmal kam es vor, daß sein Verstand aussetzte.«

»Aber Desoto nimmt es jetzt ernst«, stellte Edwina fest. »Warum?«

Carver schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Schuldgefühle, schlechtes Gewissen, wer weiß, wegen etwas, woran er sich noch nicht einmal erinnern kann. Ganz bestimmt auch Trauer. Menschen sind eben manchmal etwas seltsam.«

»Kümmerst du dich um die Angelegenheit?«

»Ich fange gleich heute damit an«, sagte Carver. »Sobald ich hochkomme und einsatzbereit bin.«

»Sein Onkel ist vor drei Tagen gestorben?« sagte Edwina. »Wir sollten Blumen schicken.«

Das war Carver bisher noch nicht in den Sinn gekommen. Er war nicht besonders gut, wenn es um derlei Aufmerksamkeiten ging. »Ich versuche herauszubekommen, wohin sie geschickt werden müssen«, versprach er.

»Laß ruhig«, sagte Edwina. »Ich sehe nachher in den Todesanzeigen des Gazette-Dispatch nach. Wie hieß er – ›Cusanelli‹?« Sie sprach es nicht so aus, als sei sie überrascht. Sie wußte, daß Desoto zur Hälfte Italiener war. Sie hatte Carver bereits nach ihm ausgefragt. Frauen entwickelten bei Desoto immer eine ganz besondere Neugier.

»Cusanelli«, bestätigte Carver.

Sie drehte ihr Handgelenk und warf einen kühlen grauen Blick auf ihre Uhr. »Verdammt! Ich muß los!«

»Viel Erfolg«, wünschte Carver ihr.

Sie war bereits durch die Tür und in die Diele geeilt, als sie ihm antwortete: »Dir auch.«

Carver blieb still sitzen und hörte, wie die Haustür sich öffnete und wieder zufiel, dann vernahm er das lebhafte Summen des elektrisch betriebenen Garagentors. Es klang wie ein Tenor mit Halsentzündung.

Die Kipptür summte wieder zu, und das satte Brummen von Edwinas Mercedes ertönte, als sie im niedrigen Gang die geschwungene Auffahrt hinunterrollte. Wenn sie erst einmal auf dem Highway war, stünde sie auf dem Gaspedal. Sie hatte ein sehr intimes Verhältnis mit hohen Geschwindigkeiten.

Nach ein paar Minuten stand Carver auf und humpelte mit seinem Stock ins Bad, wo er sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, um vollends wach zu werden. Er schlief nackt, daher brauchte er sich nur wieder auf sein Bett zu setzen, um sich die Badehose überzustreifen, und er war bereit für seine allmorgendliche therapeutische Schwimmrunde.

Nachdem er über die rohbehauene Holztreppe zum Strand hinuntergestiegen war, ging er mühsam durch den weichen Sand dorthin, wo die Brandung gischtend auslief und mit weißen Schaumfingern den Strand abtastete. Das Meer hatte sich schon immer das Land einverleiben wollen.

Er ging weiter auf das Meer zu und rammte seinen Stock wie einen Speer in den feuchten Sand. Dann legte er sich auf den Bauch und, indem er seine Arme und sein gesundes Bein einsetzte, um sich abzudrücken, schob er sich rückwärts ins kalte Wasser. Er warf sich in eine besonders große Welle und ließ sich von den zurücklaufenden Wassermassen anheben und meerwärts tragen, bis er schwamm.

Carver genoß das Wasser mit überschwänglicher Begeisterung. Sein Oberkörper war erstaunlich stark geworden, seit er sein Gewicht teilweise dem Stock anvertrauen mußte und sich vermehrt auf seine Arme und Brustmuskeln verließ. Das war die Taktik der Natur, Mängel zu kompensieren. Und hier im Meer, wo er aus der Hüfte treten konnte, war er genauso beweglich wie jeder andere und leistungsfähiger als die meisten.

Er entfernte sich weit vom Ufer. Dann drehte er sich herum und trat Wasser, tanzte auf den Wellen und betrachtete Edwinas Haus mit dem roten Klinkerdach, das auf der Anhöhe stand, wo der technische Dienst der Armee das Ufer mit Felsen befestigt und der Bauherr das Gelände eingeebnet und begradigt hatte, damit der Ausblick vom Haus eindrucksvoller würde. Die Sonne brannte heiß auf seinen Nacken.

Nach gut fünf Minuten schwamm er in seinem seltsamen australischen Kraulstil zum Strand zurück.

Als er sich wieder auf den Strand schleppte, unweit der Stelle, wo er den Stock in den Sand gerammt hatte, atmete er schwer, wobei seine Brust sich heftig hob und senkte und jedes Einatmen ein verzweifelt keuchendes Ringen um Sauerstoff war. So wollte er es. Fast jeden Morgen seit seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst hatte er ein wenig weiter hinausschwimmen können, jedes Mal mit einem zusätzlichen Quentchen neuer Kraft. Manchmal ertappte er sich bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, wenn er immer weiter aufs Meer hinausschwämme, hinaus in die wogenden Weiten des blaugrünen Ozeans und das Rauschen des Wassers, das klang wie das Getöse der Sterblichkeit in seinen Adern.

Heute nicht.

Carver packte den Stock und stemmte sich mit seiner Hilfe hoch, bis er stand. Wassertriefend humpelte er auf festeren Boden und weiter zum Haus.

Nach einer Dusche und einer schnellen Rasur zog er eine hellbraune Hose und ein Polohemd an. Dazu braune Socken und seine vielbenutzten Mokassins. Die kahle Fläche seines Schädels war von der Sonne gebräunt, doch über seine Ohren und im Nacken kräuselten sich kräftige graue Haar. Er war vierundvierzig Jahre alt, mittelgroß, aber durchtrainiert und von sehniger Gestalt. Sein Gesicht war eher herb als attraktiv. Seine Nase war gerade, er hatte blaue katzengleiche Augen, und eine Narbe aus seiner Kindheit verlieh seinem rechten Mundwinkel einen leicht spöttischen Zug. Ein ausdrucksvolles Gesicht, vielleicht sogar mit einem gewissen Anflug von Brutalität. War das vielleicht der Grund, warum Edwina ihn liebte?

Er hatte zum Frühstück schwarzen Kaffee, eine halbe Grapefruit und eine Scheibe trockenen Toast. Dann streckte er die Hand nach dem Telefon aus, um Desoto in Orlando anzurufen.

»Denkst du immer noch genauso wie bei unserem gestrigen Gespräch?« fragte er, als der Lieutenant sich am anderen Ende meldete.

»Genauso, amigo. Ich weiß – du glaubst, daß diesmal mein Kopf nicht richtig auf den Schultern sitzt. Aber ich habe lange über die ganze Angelegenheit nachgedacht, ehe ich zu dir rausfuhr, um mit dir zu reden.«

»Es ist mir auch nicht vorgekommen wie ein spontaner Entschluß«, versicherte Carver ihm.

Desoto fragte: »Hast du irgendwas rausgefunden?«

»Zum Teufel, nein. Ich bin gerade erst aufgestanden.«

»Hmmm.« Mißfallen.

»Wer war denn mit deinem Onkel in dem Altersheim besonders befreundet?«

»Lange halten an einem Ort wie diesem Freundschaften eigentlich nie«, sagte Desoto traurig. »Aber ich erinnere mich an einen bestimmten alten Knaben. Er hieß Kearny. Das ist sein Vorname. Ich glaube, sein Nachname ist Williams. Er und Sam schienen ziemlich dicke miteinander zu sein. Sie aßen immer zusammen in der Kantine, die dort Speisesaal genannt wird, und sie spielten Dame. Damit kann man sich dort die Zeit vertreiben. Sie haben ziemlich viel diskutiert, aber sie waren Freunde. Das erkannte man schon, wenn man ihnen zusah. Ich war froh, daß Sam da draußen jemanden gefunden hatte.«

»Wohnt Kearny immer noch in dem Heim?«

»Ich denke schon«, sagte Desoto. »Wenn er noch lebt.«

»Ich lasse dich wissen, wenn ich etwas herausbekomme«, versprach Carver.

»Das weiß ich.« Desoto hielt inne. »Du bist doch vorsichtig, nicht wahr?«

»Weshalb?«

»Ich weiß nicht. Ich hab’ bei diesem Laden so ein komisches Gefühl. Die ganze Traurigkeit, soviel Tod, und das inmitten von soviel Sonnenschein und Frohsinn. Wenn du erst mal da warst, dann weißt du vielleicht, was ich meine.«

»Ich werd’s schon heute morgen erfahren«, sagte Carver.

Er streckte wieder den Arm aus, stützte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Stock und legte den Telefonhörer auf. Dann humpelte er zu seinem alten, verrosteten Oldsmobile Convertible hinaus, klappte das Leinenverdeck herunter und fuhr durch die Vormittagshitze in Richtung Sunhaven Altersheim.

Er dachte an Edwina und daran, wie sie ihm mit einem Kuß einen guten Morgen gewünscht hatte. Und an Onkel Sam, der umgeben von bezahlten Helfern an einem Ort gestorben war, an dem er sich nicht wohl fühlte.

Es war wirklich ein tolles Gefühl, am Leben und zu jung für Medicare zu sein.

Kapitel 3

Der Parkplatz von Sunhaven war mit einer Reihe Palmen gesäumt, die jedoch nur wenig Schatten spendeten. Dennoch fand Carver einen Platz im gefleckten Licht, unter einem der Bäume und schaltete die altertümliche und starke V-8-Maschine des Oldsmobile ab. In der plötzlichen Stille raschelten Palmblätter im warmen Wind und flüsterten in einer alten und unverständlichen Sprache.

Er stieg aus dem Wagen und stellte die Spitze seines Stocks auf den hellen Schotter des Parkplatzes und humpelte auf den nächsten der farbigen Würfel zu.

Eine transparente Tür war kaum als Eingang erkennbar. Ihr Kupferfarbton reflektierte Carver, während er sich näherte: ein leicht gekrümmter, nicht genau zu erkennender Mann mit einem Krückstock, der sich im grellen Licht der zweidimensionalen Spiegelfläche abmühte. Die Hitze von der leicht geneigten hellen Betonrampe strahlte durch die dünnen Ledersohlen seiner Mokassins. Die Temperatur würde sicherlich an diesem Tag über fünfunddreißig Grad steigen.

Aber nicht im Innern von Sunhaven. Während Carver eintrat und die Tür hinter ihm mit einem saugenden Geräusch zuglitt, brachte die Kälte fast sein Herz zum Stillstand. Dieses getönte Glas rundum mußte die Wirkung der Klimaanlage enorm verstärken.

Die Vorhalle war in Pastelltönen gehalten, vorwiegend Blau- und Rosétöne, wie man sie in Säuglingsstationen sehen kann, als wollten sie den Kreislauf von Nichts zum Leben und wieder zum Nichts verdeutlichen. Mehrere Insassen saßen in Korbstühlen. Eine alte Frau, die mit einem verknoteten gelben Tuch umwickelt war, damit sie nicht aus ihrem Schaukelstuhl herausfiel, nickte mit dem Kopf in Carvers Richtung und lächelte, als erkenne sie in ihm ein lange nicht gesehenes Familienmitglied. Es war still in der Halle, und die Gleitschienen ihres Schaukelstuhls erzeugten leise, rhythmisch quietschende Laute. Hypnotische Laute. Zwei alte Männer, einem fehlte der rechte Arm, unterbrachen ihr Damespiel und blickten zu Carver herüber. Einer der beiden – zerfurchtes Gesicht und offensichtlich ohne sein künstliches Gebiß – lächelte in der gleichen Weise wie die Frau im Schaukelstuhl. Der einarmige Mann, für einen kurzen Moment unbeobachtet, streckte blitzartig seine Hand aus und schob unbemerkt einen weißen Damestein auf dem Brett weiter. Carver fragte sich, ob er überhaupt am Zug gewesen war.

In der Mitte der in Blau und Rosé und Malvenfarben gehaltenen Vorhalle befand sich ein langes, geschwungenes Rezeptionspult, dessen untere Hälfte mit einem Material bedeckt war, das aussah wie roter Industriesamt. Dahinter befanden sich ein halbes Dutzend hohe, pastellfarbene Trennwände, die private Nischen abteilten, wo Insassen und Besucher sich ungestört unterhalten konnten.

Carver nickte den Damespielern zu und humpelte zu dem kleinen, rothaarigen Mädchen hinter dem Empfangspult.

Je näher er kam, desto jünger wurde sie. Er schätzte sie auf etwa fünfzehn, aber sie hatte jenes Aussehen, das jeden Kirmeshellseher durcheinanderbringen konnte, der sich brüstete, das Alter jedes Menschen erraten zu können. Ihr Haar war karottenfarben, und sie hatte Sommersprossen auf ihrer kleinen, perfekt geformten Nase. Die Augen waren blau und groß und zeigten einen verträumten Ausdruck und einen rosafarbenen Rand, wie man ihn oft bei Rothaarigen sehen kann. Unter ihrer weißen und grauen Tracht hatte sie eine hübsche Figur: schlanke Taille und hohe, kleine, vorstehende Brüste – eine Teenagerfigur. Ihr Haar war mittellang und zurückgekämmt und auf dem Kopf zu einer Art Knoten frisiert und wurde dort mit einem blauen, zu einer großen Schleife geschlungenen Band festgehalten. Die Schleife ähnelte einem exotischen Schmetterling, der endlich eine zu ihm passende Blume gefunden hatte. Vorwitzige, seidige Haarsträhnen kräuselten sich vor ihren Ohren. Das Mädchen kam Carver vor, als ob es eigentlich einen Pferdeschwanz und Zahnspangen tragen müßte und als gehörte es zur Kapelle der Junior High School. Auf dem Plastiknamensschild auf dem Pult stand zu lesen: »Birdie Reeves.«

Sie schaute von dem Magazin hoch, in dem sie gerade las, und bemerkte Carver. Sie blinzelte einmal, langsam, als hätte sie Sand unter ihren Augenlidern, die ihr deshalb weh taten. Dann lächelte sie. Ihre Zähne waren gleichmäßig, aber ragten etwas nach vorne; das unterstrich nur ihre Ähnlichkeit mit Becky Thatcher, Tom Sawyers großem Schwarm. Sie war von jenem klassischen Schönheitsideal derart weit entfernt, daß man ihre eigene Art von Schönheit allein in ihrer auffälligen Jugend sehen konnte.

Sie stand auf, obgleich sich ihre Größe dadurch nicht wesentlich veränderte, und sagte: »Kann ich Ihnen helfen?« Ihre Stimme hatte einen leichten Akzent, wie man ihn wahrscheinlich im Mittelwesten hören kann.

»Ich möchte zu Kearny Williams«, sagte Carver.

Das Lächeln Birdies zerteilte ihr Gesicht und brachte die Haut an ihren Mundwinkeln dazu, sich in einer Parodie von Krähenfüßen zu kräuseln. Menschen wie sie erschienen niemals richtig alt: Sie verblaßten einfach nach und nach und erinnerten andere Menschen an das Verstreichen der Zeit. »Hm-mm, wir haben hier einen Mr. Williams. Sind Sie ein Verwandter?«

»Der Freund eines Freundes. Ich heiße Fred Carver. Sagen Sie Mr. Williams, daß ich Sam Cusanelli kannte.«

Birdies blaue Augen weiteten sich, und ihre Traurigkeit verschluckte ihr Lächeln. »Es ist schade mit Mr. Cusanelli«, sagte sie. »Er war so ein netter Mann. Ich glaube, das würde ich über fast jeden unserer Bewohner sagen, aber bei Mr. Cusanelli stimmt es wirklich. Wie gut kannten Sie ihn?«

»Sehr gut, als er noch jünger war.«

Sie lächelte wieder und wartete, daß Carver sich noch weiter äußerte. Er tat es nicht.

»Ich verstehe«, sagte sie. Ein Mann und eine Frau, beide in weißer Tracht, eilten vorbei. Sie waren in eine Diskussion vertieft, und es schien ihnen völlig gleichgültig zu sein, wo sie sich befanden. Der Mann murmelte: » ... ein Absinken der Anzahl der weißen Blutkörper«, und die Frau nickte nachdenklich. Die alte Frau im Schaukelstuhl wackelte mit dem Kopf und versuchte die Hand zu einem Winken zu erheben, aber niemand beachtete sie.

Birdie meinte: »Nun, ich glaube, das geht schon in Ordnung.« Sie zeigte Carver den Weg; ihr dünner Arm war ebenfalls mit Sommersprossen übersät und voller roter Härchen. »Gehen Sie dort durch diese Tür und den Gang hinunter, dann wenden Sie sich nach links, und Sie stehen schon vor dem Zimmer von Mr. Williams. Ich bin sicher, daß er da ist; das ist er nämlich fast immer.« Sie zog einen Plan auf ihrem Klemmbrett zu Rate. »Er hat die Zimmernummer Eins.«

»Das kann man sich leicht merken«, sagte Carver.

»Mr. Williams hat damit aber gelegentlich Schwierigkeiten.«

Carver bedankte sich und überließ sie wieder der Lektüre ihres Magazins, das sich mit Heavy Metal-Rockstars beschäftigte. Das in grellen Farben gehaltene Titelbild zeigte einen etwas irre grinsenden Mann in den Dreißigern, der kostümiert war wie ein englischer Schuljunge und seine Gitarre unter dem Arm hielt wie ein Gewehr im Anschlag. Birdie schien vom Inhalt des Magazins gefesselt zu sein. Ihre Lippen bewegten sich lautlos, während sie las.

Ein Teenager mit MTV-Verstand als Empfangsdame in einem Altersheim. Nun, warum nicht? Der Betrieb brauchte eine frische Blume inmitten all der verwelkten Blüten.

Während Carver vorsichtig über den glatten Fliesenboden auf die breite Tür zuging, die Birdie ihm gezeigt hatte, schwang die Tür in seine Richtung auf, und eine korpulente Frau in einer Tracht wie die des Mädchens am Empfang schob einen sehr alten Mann in einem verchromten Rollstuhl in die Vorhalle. Genauso wie die Frau im Schaukelstuhl wurde er durch ein zusammengeknotetes Tuch um seinen Oberkörper aufrecht gehalten. Sein Kopf wackelte, und ein glänzender Speichelfaden hing von seinem Kinn herab und reflektierte das Licht. Carver blickte schnell weg; so sah also die Zukunft für die Überlebenden der jeweiligen Generation aus. Das war etwas, über das niemand, egal in welchem Alter, gern nachdachte, aber dort war sie nun mal, die kalte, schwarze Realität am Horizont eines jeden Lebens.

Er drückte die Schwingtür mit der Spitze seines Stocks auf und ging hindurch. Dann schritt er den Gang hinunter, wie Birdie es ihm erklärt hatte, und wandte sich nach links. Er brauchte nur noch ein paar wenige Schritte zu humpeln, bis er vor einer pastellblauen Tür stand mit einer in Gold aufgemalten 1 darauf. Indem er erneut den Stock benutzte, klopfte er an.

» ... en Sie rein«, rief eine Stimme von der anderen Seite.

Carver drehte den Knauf und betrat ein kleines, sonniges Zimmer, das mit einem Bett, einer hellen Eichenkommode und einem kleinen Farbfernseher möbliert war, der bei abgedrehtem Ton auf eine Vormittags-Quizsendung eingestellt war. Eine hübsche blonde Frau auf dem Schirm drehte ein überdimensionales Rouletterad, schloß die Augen und kreuzte die Finger beider Hände. Vor dem Fernsehapparat stand ein brauner Kunstledersessel, in dem ein breiter, muskulöser Mann mit breiten, groben Gesichtszügen saß. Er bewegte sich mit einer Mühe und Steifheit, die sein vorgerücktes Alter verrieten, stand auf und wandte sich zu Carver um. Er hatte einen sackähnlichen Bauch, und sein Hals war von einer kürzlich vorgenommenen Operation vernarbt und gerötet. Sein drahtiges graues Haar war akkurat und streng gescheitelt, als hätte er eine Menge Zeit darauf verwendet, es in diese Ordnung zu zwingen, und vielleicht sogar ein Lineal dazu benutzt.

»Ich bin ein Freund von Alfonso Desoto«, sagte Carver, stützte sich auf seinen Stock und streckte seine Hand aus. »Ich heiße Fred Carver.«

Kearny hatte Augen wie blasse blaue Murmeln. Es dauerte einige Zeit, bis in ihnen ein Licht aufblitzte. »Desoto? Sams Neffe?«

»Richtig.«

Eine trockene, kräftige Hand umfaßte Carvers bis zum Handgelenk und riß fast den ganzen Arm aus dem Schultergelenk. Der alte Knabe war froh, ihn zu sehen. Vielleicht überhaupt jemanden zu sehen. »Ich bin Kearny Williams.«

»Ich weiß.« Carver zog seinen Arm zurück; seine Schulter tat weh. »Ich wollte mit Ihnen über Sam Cusanelli sprechen.«

Kearny bedeutete ihm mit einer Geste, sich in den Sessel zu setzen. Als Carver dankend ablehnte, sagte er: »Ich denke, Sie wissen, daß Sam tot ist. Er ist vor drei Tagen gestorben.«

»Desoto hat es mir erzählt.«

Kearny sank wieder in den braunen Kunstledersessel. »Ich muß nach einer Weile meine Beine immer etwas entlasten. Ist schon beschissen, dieses Altwerden. Wenn man seinen Körper abgenutzt hat. Es macht einen fertig zu wissen, daß die besten Jahre hinter einem liegen. Glauben Sie keinem, der Ihnen was anderes erzählt, Carver.«

Der letzte Satz klang wie ein Befehl. »Werde ich nicht«, versicherte Carver ihm. »Wann ist Sam Cusanellis Beerdigung?«

Kearny schüttelte seinen imposanten Schädel. Licht vom Fenster ließ sein Haar silbern leuchten. Seine Kleidung war ordentlich und sauber: weit geschnittene Jeans mit eingebügelter Falte, ein kurzärmeliges graues Sporthemd mit einem altmodischen breiten Kragen. Seine Schuhe waren schwarze Schnürstiefel, ausgesprochene Arbeitsschuhe, doch sie waren auf Hochglanz poliert, daß man sich in ihnen spiegeln konnte. Carver fragte sich, warum er so sorgfältig zurechtgemacht war, wenn er wahrscheinlich die meiste Zeit des Tages abgeschieden in seinem Zimmer verbrachte. »Sam wurde heute morgen unter die Erde gebracht«, sagte Kearny. »Er hielt nicht viel von langen Aufbahrungszeiten weder bei sich selbst noch bei anderen. Er erzählte mir, er habe an diesem Ort ohnehin genug Leid erlebt.«

»Er hätte doch von hier Weggehen können, oder nicht?«

»Er ist doch weggegangen.«

»Ich meine, auf etwas andere Art.«

Kearny schnaubte und runzelte zornig die Stirn. »Wohin hätte er denn gehen sollen? Es war doch seine Familie in Saint Louis, die ihn hierher in die Versenkung verfrachtet hatte. Dieser Desoto hat ihm angeboten, ihn zu sich zu nehmen, aber Sam wollte niemandem zur Last fallen. Wir hier in Sunhaven wollen die Jungen und Lebenden nicht einengen, Carver.« Er fügte in ironischem Ton hinzu: »Als ob sie und wir ein und derselben Rasse angehörten.«

Carver war überrascht, daß Desoto ein solches Angebot gemacht hatte. Er wohnte in einem kleinen Apartment in Orlando. Roter Teppich, schwarze Möbel. Eine Stereoanlage im Wert eines Jahresgehalts, aus der ständig die verdammte lateinamerikanische Musik hämmerte, die er mit geradezu fanatischer Begeisterung hörte, manchmal in seinem Schlafzimmer mit all den Spiegeln, manchmal auch noch in anderer Gesellschaft. Dort war kein Platz für einen sechsundsiebzig Jahre alten Onkel. Eine Menge Leute hätte sicherlich gemeint, daß allein schon Desotos Garderobe eine Sünde war.

Sicher, Carver hatte Onkel Sam nicht gekannt, und Desoto kannte ihn. Vielleicht hätte es sogar funktioniert. Casanova und Moses.

Kearny konnte Gedanken lesen. »Dieser Desoto ist ein gutaussehender Bursche. Der hat ein Auge für Frauen, nicht wahr?«

»Das hat er wohl«, meinte Carver. Und nicht nur ein Auge, sondern auch alles andere, was sich sonst noch ins Spiel bringen ließ.

Kearny grinste und schüttelte den Kopf. »Ich beneide ihn. Er sollte sich lieber ranhalten, solange er es noch kann. Und zwar in jeder Hinsicht. Man lebt nur einmal, und dann ist für immer Schluß. Es ist wertvoller als alles Gold der Welt, aber niemand will es wahrhaben, bis es zu spät ist. Kosten Sie jede verdammte Sekunde aus, verstehen Sie?«

Wieder dieser Befehlston. »Ich habe verstanden«, sagte Carver und ließ sich auf das Bett nieder.

»Wie sind Sie an Ihr lädiertes Bein geraten?«

»Ich war Cop«, antwortete Carver. »Ein bewaffneter Räuber hat mir ins Knie geschossen.«

»Desoto ist Cop in Orlando. Kennen Sie ihn von dort?«

»Ja. Wir sind schon seit Jahren befreundet.«

»Sind Sie noch Cop?«

»In gewissem Sinn. Ich bin Privatdetektiv.«

Eine graue Augenbraue hob sich. »Tatsächlich? Untersuchen Sie Sams Tod?«

»Warum? Meinen Sie, daran ist etwas faul?«

»Ach ja, Sie sind ein Cop, richtig. Auf jede Frage eine Gegenfrage.«

Carver wußte, daß er sich irgendwem in Sunhaven anvertrauen müßte. Kearny schien dieses Vertrauen wert zu sein. Er war wohl geistig etwas mehr auf der Höhe, als Birdie angedeutet hatte. Kearny war Sams Kumpel gewesen. Also war Kearny die richtige Adresse.

»Wie gut kannten Sie Sam Cusanelli?« fragte Carver.

Kearnys grimmiges Gesicht wurde für einen kurzen Moment weich. Die blauen Augen trübten sich, und er wandte sich ab und starrte aus dem Fenster ins grelle Sonnenlicht. »So gut, daß ich geweint habe, als er starb.« Die Stimme war um eine Oktave nach oben gegangen und hatte jetzt einen schrillen Unterton von Panik. »Ich kann Ihnen sagen, ich habe lange nicht mehr geweint, aber bei der Gelegenheit konnte ich nicht anders.« Kearnys breite Schultern hoben sich, dann sackten sie herab, als er ausatmete. »Verdammt dämlich, sich an einem Ort wie diesem mit jemandem anzufreunden.«

»Das sehe ich aber nicht so.«

»Eines Tages denken Sie anders darüber. Nämlich dann, wenn es Ihnen passiert. Wenn Sie jung sind, dann überdeckt es Ihre Fehler und schleift Sie ab. Dann, eines Tages, stellen Sie fest, daß es Sie fertiggemacht hat, bis so gut wie nichts mehr von Ihnen übrig ist, und dann können Sie keinen Verlust mehr ertragen. Sie werden noch begreifen, was ich meine.«

»Ich frage noch einmal, ob es irgendetwas Verdächtiges am Tod von Sam Cusanelli gab«, sagte Carver sanft.

»Und ich frage noch einmal, ob Sie seinen Tod untersuchen.«

Carver wagte den Sprung ins tiefe Wasser. »Man könnte sagen, daß ich für Sam arbeite. Desoto erzählte mir, daß sein Onkel angedeutet habe, irgendetwas in Sunhaven sei nicht in Ordnung. Er hat mich engagiert, damit ich herausfinde, ob Sam damit recht hatte.«

Kearny schirmte die Augen vor dem grellen Sonnenlicht ab und rieb sie unbeholfen mit seinen dicken Fingern. »Ein Cop, der einen Cop anheuert. Das ergibt für mich nicht allzuviel Sinn.«

»Das ist aber die einzige Möglichkeit«, sagte Carver. »Desoto hat hier an der Küste keine Amtsbefugnisse, und seine Vorgesetzten sehen es vielleicht nicht so gern, wenn er Ermittlungen über den Tod seines Onkels anstellt, zumal es in dieser Angelegenheit nicht einmal handfeste Verdachtsmomente gibt. Die Polizei von Del Moray wäre auch nicht allzu erfreut, und Desoto möchte nicht, daß sie hier herumschnüffelt und möglicherweise jemanden, der etwas zu verbergen hat, mißtrauisch macht. Hauptsächlich geschah es aber deshalb, weil er in Orlando wohnt und ich hier.«

Kearny schob umständlich den Sessel herum, so daß er Carver ansehen konnte, wobei er einen schnellen Blick zur Tür warf, um sich zu vergewissern, daß sie geschlossen war. »Ja, Sam hat mir von seinem Verdacht erzählt.«

»Und das war ... ?«

Kearny sah ihn etwas ratlos an. »Daß hier irgendetwas ganz Seltsames im Gange sei.«

Allmählich reichte es Carver mit diesen vagen Andeutungen. »Was war denn seiner Meinung nach faul?«

Angst huschte wie ein lebendiger Schatten über Kearnys altes, eigensinniges Gesicht. »Vor zwanzig Jahren war ich Lastwagenfahrer und ein Gewerkschaftsorganisator. Damals habe ich jedem, der die Faust gegen mich erhob, den Arm gebrochen. Damals hatte ich vor nichts Angst, Carver. Aber ich habe sie jetzt.«

»Sam war aber mutig genug, es Desoto zu erzählen.«

»Und Sam ist tot.«

»Meinen Sie, das war der Grund? Weil er mit jemandem über Sunhaven gesprochen hat?«

»Ich weiß es nicht. Hier sterben dauernd Leute. Deshalb sind wir ja hier, und darauf warten wir. Ich kann auch nicht sagen, daß sein Gerede nicht der Grund für seinen Tod war.« Er massierte seine knotigen Fingerknöchel; er war ein harter Bursche gewesen, vor langer, langer Zeit. »Ein natürlicher Tod im eigenen Bett. Wünschen wir uns das nicht alle?«

»Ich denke, früher oder später bestimmt.«

»Sam wollte es lieber später. Er wollte noch eine ganze Reihe Jahre am Leben bleiben.«

»Er hätte bestimmt gewollt, daß Sie reden«, meinte Carver.

»Haben Sie Sam mal kennengelernt?«

»Ich hatte nie das Vergnügen«, gab Carver zu.

»Nun, Sie wissen ja gar nicht, was Sie reden. Sam hätte einen feuchten Dreck darum gegeben, ob ich rede oder nicht. ›Ich bin tot, Kearny, alter Junge‹, würde Sam sagen, ›deshalb hat das alles keine Bedeutung mehr für mich. Schon mal erlebt, daß ein Zigarrenstummel sich um irgendetwas schert? Tu, was du, verdammt noch mal, tun willst.‹« Kearny lächelte. »Und das hätte er auch so gemeint. Sam sagte immer, was er meinte, dann hielt er den Mund. Das war einer der Gründe, warum wir gut miteinander auskamen.«

Carver spürte, daß die Unterhaltung ihrem Ende zuging. Er stellte die Spitze seines Stocks auf den Fußboden und erhob sich. Die Bettfedern sangen, als sie von seinem Gewicht befreit wurden.

»Heh, ich würde Ihnen ja sagen, was ich weiß«, beteuerte Kearny, »nur weiß ich auch nichts Genaues. Ich habe nur den einen oder anderen Verdacht. Genauso wie Sam.«

»Was für einen Verdacht?«

Kearny schüttelte hilflos den Kopf. »Zum Teufel, ich weiß es nicht genau! Glauben Sie mir das? Nun, es stimmt. Ich weiß nicht mehr als Sam.«

»Okay«, lenkte Carver ein. »Tun Sie mir nur den einen Gefallen, und verraten Sie niemandem, warum ich hier war.«

»Sie haben es genau erfaßt«, sagte Kearny. »Das letzte, was ich mir wünschte, wäre, daß Schwester Rule erfährt, daß ich mich mit einem Cop unterhalten habe.«

»Wer ist Schwester Rule?«

»Die Oberschwester hier. Die leitet praktisch den ganzen Laden. Sam mochte sie nicht.«

»Sie wohl auch nicht, vermute ich.«

Kearnys Gesicht verhärtete sich zu einer scharflinigen Maske; seine Augen blickten nach innen und auf die Jahre zurück, die ihn dorthin gebracht hatten, wo er sich gerade befand, und zu den Leuten, die er gekannt hatte. »Es gibt hier nicht viele, die sagen würden, daß sie Schwester Rule gut leiden können.«

»Was dagegen, wenn ich noch mal herkomme, um unser Gespräch fortzusetzen?« fragte Carver. »Niemand schöpft irgendeinen Verdacht. Ich habe am Empfang behauptet, ich sei ein alter Freund von Sam.«

»Heh, lassen Sie sich nicht erwischen, wenn Sie mit Birdie reden!« meinte Kearny mit einem hastigen, heiseren Flüstern. »Dieses kleine Ding soll keinen Ärger bekommen. Sie hat keine Ahnung, was hier vorgeht.«

»Die scheint niemand zu haben«, sagte Carver. Die Sache lief überhaupt nicht so, wie er es sich ausgemalt hatte. Der beste Freund des Verstorbenen sollte eigentlich mithelfen, seinen Tod zu rächen, falls irgendetwas wirklich nicht in Sunhaven stimmte. Er packte die Krücke seines Walnußholzstocks fester und ging damit zur Tür.

»Sie können einem alten Mann keine Vorwürfe machen, weil er sich fürchtet, Carver.« Kearnys Stimme hob sich wieder. »Das dürfen Sie nicht.«

»Das tue ich auch nicht«, meinte Carver und ging hinaus.

Als er durch die Halle hinkte, blickte die alte Frau, die mit dem gelben Tuch in ihrem Schaukelstuhl festgebunden war, mit einem vagen Ausdruck zu ihm hoch und sagte: »Zweiunddreißig war ich Campus Queen an der Universität von Tulane, und meine Schwester Dolly war darauf so neidisch, daß sie sich die Pulsadern aufschnitt. Der Arm hing aus der Badewanne, und das Blut floß unter der Tür durch. Aber Daddy hat sie nicht rechtzeitig gefunden, um sie noch zu retten. Mein Gott, war das ein Tag! Können Sie das verstehen?«

»Sicher«, sagte Carver.

»Nun, daran ist nichts wahr.« Die alte Frau drehte die welken Hände um und zeigte ihm ihre eigenen vernarbten Handgelenke.

Carver humpelte schneller und trat durch die getönte Glastür hinaus in die grelle und erdrückende Hitze.

Sunhaven war im Grunde wie der Rest der Welt, entschied er. Unbewohnbar.

Ein Ausflug dorthin hatte geradezu wunderbare Auswirkungen auf die Stimmung.

Kapitel 4

Edwina versuchte noch immer, Interessenten und Wohnungen zusammenzubringen. Carver holte sich eine Dose Budweiser aus dem Kühlschrank, riß sie auf und setzte sich auf den Eichentisch in der Küche. Er sah aus dem Fenster und beobachtete die Möwen bei ihren Flugkunststücken über dem glitzernden Meer und fragte sich, ob sie irgendwie spürten, wie frei sie eigentlich waren. Frei von einer vorhersehbaren Zukunft.

Nach einer Weile nahm er einen langen, kalten Schluck Bier, der in seiner Kehle einen kurzen, heftigen Schmerz auslöste. Edwina hatte überall im Haus Telefone installieren lassen; sie wollte sich kein potentielles Geschäft entgehen lassen, nur weil sie ein paar Sekunden länger brauchte, um ans Telefon zu gehen. Carver zog das Küchentelefon über den Tisch zu sich heran. Es war ein nach rein funktionalen Gesichtspunkten gestyltes Gerät mit überdimensional großen Drucktasten. Es speicherte jeweils die letzte angewählte Nummer; es hatte vierzig Nummern in seinem Dauerspeicher und wählte jede davon automatisch auf den Druck einer Taste hin; es zwitscherte oder klingelte oder summte oder pfiff, je nachdem wie man es eingestellt hatte. Seine künstliche Stimme meldete sich, wenn man entweder zu viele oder zu wenige Ziffern der Nummer eingegeben hatte, die man anrufen wollte. Es wählte sogar die Nummer von jemandem, den man nicht leiden konnte, erschreckte ihn über die Leitung und brach dann in höhnisches Gelächter aus. High-Tech war etwas Wunderbares. Carver hingegen benutzte das Telefon nur für ein sehr simples Gespräch mit Desoto. Diese Aufgabe löste das Gerät in Rekordzeit.

»Warst du in Sunhaven?« fragte Desoto sofort.

»Bin gerade zurück«, antwortete Carver. »Ich habe mit Kearny Williams gesprochen.«

»Er ist weitaus schlauer, als sie da draußen meinen«, sagte Desoto. »Was meint er?«

»Er meint das gleiche wie dein Onkel.«

»Und du, amigo? Was denkst du?«

»Es ist noch zu früh, um auch nur Vermutungen anzustellen.«

»Aha, dann rufst du mich also an, um mir mitzuteilen, daß du mir nichts mitzuteilen hast.«

»Nicht genau. Ich wollte dich etwas fragen. Ich brauche Informationen über ein paar Leute draußen in Sunhaven. Eine Schwester Rule – den Vornamen weiß ich nicht. Sie ist die Oberschwester da draußen. Und dann die Empfangsdame, ein junges Mädchen namens Birdie Reeves.«

»Vergiß Dr. Lee Macklin nicht.«

»Wer ist das denn?« fragte Carver.

»Die Verwaltungsleitung von Sunhaven.«

»Wurde Sam Cusanellis Sterbeurkunde dort unterschrieben?«

»Nein«, sagte Desoto. »Ein junger Arzt namens Pauly hat das getan.«

Carver schaute auf die Wolken, die nach Osten zogen, weg von ihm, über das weite Meer. »Ich habe den Eindruck, daß du bereits deine amtlichen Quellen angezapft hast, um einige dieser Leute zu überprüfen.«

»Nur Macklin und Pauly«, schränkte Desoto ein.

»Und was hast du herausbekommen?«

»Nichts Ungewöhnliches. Macklin hat den Hintergrund, den man auf einem solchen Posten erwarten würde. Leitung eines Pflegeheims in Chattanooga, danach mit den exzellentesten Referenzen hierher. Verheiratet. Keine Kinder. Pauly, Vorname Dan, ist ein neununddreißigjähriger Junggeselle und erwarb sein Arztdiplom an der Washington University in Saint Louis. Arbeitete dann als Allgemeinmediziner in Miami an einer Klinik und eröffnete vor zwei Jahren in Del Moray seine eigene Praxis. Er hat einen Vertrag mit Sunhaven und schaut dort täglich nach seinen Patienten.«

»Das klingt ja alles ganz unverfänglich«, stellte Carver fest. »Niemand mit einer früheren Gefängnisstrafe oder mit einem medizinischen Versandhausdiplom.«

»Bisher scheint alles okay zu sein. Aber noch habe ich nicht alles Material bekommen. Ich werde die Namen, die du mir gerade genannt hast, in unsere wundervolle Welt der Computer eingeben und mal abwarten, was herauskommt. Das dürfte nicht allzulange dauern. Wenn du dort, wo du gerade bist, noch eine Stunde aushalten kannst, dann rufe ich dich zurück. Bist du zu Hause?«