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Als über den Jahreswechsel 1965 vier Menschen an einem altehrwürdigen englischen College spurlos verschwinden, stehen nicht nur die anwesenden Lehrer und Schüler vor einem Rätsel – auch die polizeilichen Ermittlungen laufen ins Leere. Allein Anthony Brewer, ehemals Zögling des Knabeninternats und mittlerweile pensionierter Rechtsanwalt, lässt das damals Geschehene nicht los. Er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, den Cold Case aufzuwärmen und das Raven-Hall-Mystery mit den Mitteln der Gegenwart zu lösen. Ein meisterhaft komponierter Roman mit originellen Twists und nachbebender Spannung. »Krausser gehört eingeladen, besprochen und mit Preisen bedacht, vor allem aber gehört er gelesen. Denn so viele Genies, dass man es sich leisten könnte, einen Helmut Krausser weiter zu ignorieren, gibt es in Deutschland nun wirklich nicht.« Daniel Kehlmann/DIE ZEIT
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Cover & Impressum
1985
Erster Teil
DAS RHM
DIE PROTOKOLLE
Zweiter Teil
INTERMEZZO
Dritter Teil
DIE ALLGEWALT DER ZEIT
Nachtrag vom Februar 2023
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
1985 waren viele Beteiligte noch am Leben, und ich klingelte an deren Türen, stellte mich vor als Anthony Brewer, 37, Anwalt für Zivilrecht und ehemaliger Schüler von Raven Hall. Fast alle baten mich herein und zeigten sich bereit, zur Lösung des Falles noch etwas beizutragen. Ihnen gilt mein Dank.
Begonnen werden muss am Anfang.
Es ist jetzt, man glaubt es kaum, über ein halbes Jahrhundert her, aber nie werde ich den Tag vergessen, als wir Spalier standen in dunkelblauen Uniformen, zweihundert Jungs in kurzen Hosen, am Montag, dem 30. August 1965. Es war ein warmer Tag, nicht zu heiß, wir warteten darauf, eingelassen zu werden ins Hauptgebäude von Raven Hall.
Geruch von frisch gemähtem Gras hing in der Luft, der Kies unter unseren Sohlen wirkte fast künstlich, wie genormt in Farbe und Größe, als stünden wir auf blendend weißen Murmeln. Die Architektur der Gebäude besaß etwas zugleich Pompöses wie Anmutiges, sie flößte keine Furcht ein.
Die folgenden Ereignisse habe ich aus der Perspektive eines eher am Rande beteiligten Schülers miterlebt. Später, leider erst Jahrzehnte später, konnte ich mit Personen sprechen, die im Zentrum des Geschehens standen. Nach und nach, auch wenn die Darstellungen nicht immer übereinstimmten, ergab sich über weite Strecken, zumindest bis zu den Neujahrsferien, ein plausibles Bild dessen, was sich zugetragen haben muss. Wiewohl entscheidende Fragen immer noch unbeantwortet blieben.
An jenem Montag, früh um halb sieben Uhr, hatte ich Christian Bradshaw kennengelernt. Wir bestiegen gemeinsam, ohne voneinander zu wissen, den Zug von Brighton nach Westcott; ich trug bereits und mit einigem Stolz die Uniformjacke von Raven Hall, er noch nicht, er sprach mich an und stellte sich als zukünftiger Mitschüler vor, holte unter großem Gejohle einen Flachmann aus der Reisetasche und ließ ihn kreisen im Abteil. Chris war achtzehn Jahre alt, ein Jahr älter als die meisten von uns, und alle wollten wir in der kommenden Saison unseren Abschluss machen. Wir waren Brandy nicht gewohnt, schon gar nicht um diese Uhrzeit, wir nippten nur, täuschten aber einen enormen Schluck vor, um uns keine Blöße zu geben. Chris durchschaute das sofort, denn das Gewicht des Flachmanns hatte sich nicht wesentlich verändert, als er in seine Hände zurückkehrte. Chris lachte, doch keineswegs boshaft oder von oben herab. Bereits in diesem Moment war er dabei, uns zu rekrutieren, wovon wir nichts ahnten, denn er tat es mit Charme und dem Wissensvorsprung von einem Lebensjahr, was ihn zum natürlichen Anführer prädestinierte.
»Hey!«, rief er. »Ihr Kaulquappen! Freut euch! Wir werden Spaß haben!«
»Warum zum Teufel nennst du uns Kaulquappen?«, fragte ich.
»Mehr Schwanz als Hirn und komplett unterentwickelt, aber mit Prospekt!«
»Was zum Teufel meint er mit Prospekt?«, rief jemand, ich weiß nicht mehr, wer. Vielleicht Roger, und mir fällt ein, dass er sich die verschwitzte Stirn mit einem rot-weiß karierten Taschentuch rieb. Eigenartig, warum das menschliche Gehirn sich eine solche Kleinigkeit einprägt, die nicht die geringste Rolle spielt.
Ja, Chris Bradshaw redete nicht von Aussichten, wie irgendeine von uns Kaulquappen, er redete von Prospekt. Himmelherrgott. Er kam damit durch, denn er hatte den Brandy.
Wir erfuhren an diesem Morgen, dass das altehrwürdige Knabeninternat Raven Hall seine 277. Saison eigentlich nicht mehr hätte erleben dürfen, aufgrund einer katastrophal zu nennenden Finanzsituation. Der Kollaps sei im letzten Moment abgewendet worden, durch eine generöse Schenkung des Keramikfabrikanten John Bradshaw. Ja, fügte Chris auf Nachfrage hinzu, seines Vaters.
»Mein Daddy! Dideldum. Dängäläng, tschup-tschuup!« Er sagte es nicht mit Stolz, eher nebenbei, wie eine nicht völlig zu übergehende Tatsache. Klar, dass Christian Bradshaw fortan nicht irgendein Schüler sein würde, dass es von Vorteil sein konnte – ja, musste –, mit ihm befreundet zu sein. Wir anderen entstammten eher kleinbürgerlichen Milieus. Unsere Väter, die allermeist nie eine höhere Ausbildung genossen hatten, waren froh, wenigstens ihre Kinder auf ein Institut wie Raven Hall schicken zu können, keines der ganz hochklassigen Häuser wie etwa Eton, doch mit einem alten Namen versehen, samt einem bis dahin recht anständigen Renommee. Chris erwähnte, dass es in dieser Saison keinen Sportunterricht gebe, weil die Turnhalle nicht mehr beheizbar war, und die Sanierung zu kostenaufwendig sein würde. Unsere Bestürzung darüber hielt sich in Grenzen. Auch das Fach Musik sei gestrichen worden. Na ja.
»Wir machen unseren eigenen Sport, und Musik sowieso, Kameraden. Kameramänner. Kormorane, kommt mal alle her, komma, nahe, näher!«
Das klang, als hätte er einen an der Waffel, aber wenn es beim ersten Anschein so aussieht, als wäre einer verrückt, ist das fast immer vorgetäuscht. Wichtigtuerei. Die wirklich Irren sind erst mal still. Chris Bradshaw holte eine kleine Sammlung von Bildchen hervor, wie man sie in Brighton an manchen Kiosken erwerben konnte, sechs Stück für ein Pfund, sofern man mindestens einundzwanzig war oder wenigstens so aussah. »Kleine Abwichslung gefällig?«
Es waren Schwarzweißfotos von spärlich bekleideten Fräuleins mit langen Beinen, hohen Absätzen oder gar Schaftstiefeln – und mindestens einer offen zur Schau getragenen Brust. Jedem von uns schenkte Chris eins der Bildchen, er meinte, das sei ja das Mindeste, um ein Jahr muschifreier Tristesse durchzustehen. Dazu ließ sich schlecht nein sagen, wollte man keine homophoben Sprüche kassieren.
Wie als krönenden Abschluss zeigte er uns seinen tragbaren Kassettenrecorder. Der allerneueste Wahnsinn. Dieses Ding beeindruckte uns mehr, als es selbst ein Lamborghini vermocht hätte. Das Fabrikat der Marke Philips war erst seit kurzem auf dem Markt und kostete ein Heidengeld. Für heutige Ohren dürfte der Sound wohl armselig geklungen haben – damals fühlten wir uns wie Auserwählte. Der erste Track war I Got You Babe von Sonny & Cher. Es folgte eine Lautstärkedemonstration.
»Jederzeit Musik, die ich hören will. Nicht diesen vermaledeiten Bevormundungsscheiß aus dem Radioradieschenranz!«
Chris benutzte Wörter wie vermaledeit. Wir fanden das lustig. Und er sagte: »Kommt, Koryphäen, Konsonanten, Kosmonauten, lasst uns noch Kurzweil treiben!« Manchmal war es nicht wirklich lustig, nur albern und aufgesetzt. Man musste trotzdem lachen, einfach durch die Art, wie er es sagte. Wenn Sie mich jetzt fragen: Wie genau? Dann könnte ich das schon irgendwie nachahmen. Aber es wäre nicht dasselbe. Er war er. Ich nur ich. Und wir sangen zusammen »I got you Babe«. Sehr laut und sehr falsch. Chris bewegte seine langen Arme wie ein Animateur, der gerne Dirigent geworden wäre. Bart und Roger stampften dazu im Takt, als hätten sie keine große Lust, müssten sich aber in Szene setzen, um nicht als öde beurteilt zu werden.
Der Schaffner sah herein und rief: »Gebt Ruhe, Jungs!«, wofür es nun wirklich keinen einleuchtenden Grund gab. Chris stand auf und zog einen imaginären Hut vom Kopf. Wir erwarteten einen frechen Spruch, er jedoch bat den Schaffner um Verzeihung für die, ich zitiere, »unausgegoren rohe Darbietung, die Ihrem strengen musikalischen Urteil nicht standzuhalten fähig war«. Um Himmels willen. Was für ein Satz! Aber das Gesicht des Schaffners vergesse ich nie. Ihm fiel keine Antwort ein, sein Mund stand offen. Als er die Abteiltür von außen schloss, ohne noch etwas gesagt zu haben, brachen wir in wildes Gelächter aus.
Nach etwa anderthalb Stunden Fahrt kam der Zug in Westcott an, einem Provinznest, dem kein edler Ritter je eine bleibende Legende beschert hat. Zu diesem Zeitpunkt war von Chris bereits entschieden worden, dass er sich mit mir und den beiden anderen, Bart und Roger, die Stube teilen wolle. Wir empfanden das als Auszeichnung, stimmten begeistert zu. Warum auch nicht?
Bradshaws Aussehen ist leicht zu beschreiben. Er war schlank, groß, blond, mit nach hinten gekämmten Haaren, einem ausgeprägten Kinn. Meist lächelte er, mit schmalen, sonderbar blutleeren Lippen. Die Farbe seiner Augen war Grün, ein helles, stechendes Grün, aber das weiß ich nur aufgrund der Fotos, die von ihm existieren, damals achtete ich nicht auf derlei Details. Allenfalls spielt das für die Verfilmung eine Rolle.
An der Bahnstation angekommen, mussten wir Busse besteigen, dann, um mit den schweren Wagen nicht die Ordnung im Kiesbett der Auffahrt zu zerstören, noch etwa eine Viertelmeile zu Fuß zurücklegen. Man kann schon sagen, dass Raven Hall mit voller Absicht ein wenig abseits der Welt lag. Ursprünglich als Sommerresidenz eines Earls von Schlagmichtot errichtet, war daraus im 17. Jahrhundert per Testament des letzten, kinderlos gebliebenen Eigentümers ein Internat geworden. Neben dem imposanten einstigen Schloss gab es den kleinen Wohntrakt der Lehrerschaft und den viel größeren der Schüler; jeweils vier teilten sich eines der siebzig Zimmer. Nur der regierenden Direktorin, zu jener Zeit Mrs Iris Pinkerton, war das Privileg vorbehalten, im Schloss zu wohnen, was objektiv betrachtet eher einer Zumutung gleichkam, vor allem während der Wintermonate. Zwischen den Gebäuden lag ein sagenhafter, längst nicht mehr genutzter Brunnen, in dem sich vor etwa zweihundert Jahren ein kleiner Junge versehentlich ertränkt haben soll, weil er zu sehr einem verlorenen Spielzeug nachhing.
»Was ein Blödian!«, rief Chris. »Aber eben vielleicht der einzige Weg für diese kindliche Kreatur, um heute noch von sich reden zu machen!«
Von sich reden machen. Ungefähr verstanden wir den Sinn der Wendung. Ansonsten gab es keinerlei Gruselgeschichten rund um Raven Hall, keine, wie Chris es ausgedrückt hätte, Mären und Mummenschanz-Fabeln.
Ein wenig abseits vom Haupthaus stand die alte Kapelle, die aber schon seit Jahrzehnten abgeschlossen war und deren Holzbänke vor sich hin faulten. Ein kleines Backsteingebäude mit Platz für knapp dreißig Menschen. Im 17. Jahrhundert war es während der Sommerferien die Privatkapelle des Earls und seiner Familie gewesen.
Ich sollte erwähnen, dass es für Lieferanten eine schmale geteerte Straße gab, die hinter dem Hauptgebäude, direkt am Küchentrakt endete. Und dass es an der Bahnstation zwischen neun Uhr morgens und acht Uhr abends zwei Autodroschken gegeben hätte. Chris Bradshaw zog es vor, den Weg per Bus und zu Fuß zu bewältigen, wie alle anderen, die kein Geld für Extravaganzen besaßen. Ihm war offenbar ein Gespür dafür gegeben, zu unterscheiden, was Eindruck machte und was Neid erweckte. Vielleicht interpretiere ich zu viel hinein; es ist schwer, mit dem Abstand von über fünfzig Jahren Dinge zu beurteilen, die aus dem Bauch heraus entschieden wurden. Wir alle waren aufgeregt, von zu hohen Erwartungen beseelt, wie es üblich ist am ersten Tag der neuen Saison. Und es war ja nicht irgendeine Saison. Es war die, an deren Ende das sklavische Dasein als Schüler überwunden sein würde und ein neuer Lebensabschnitt als Student an einem College auf uns wartete. Wo wir dann Einzelzimmer haben würden und erste Freundinnen und keine Angst mehr vor der Prügelstrafe.
Gegen elf Uhr morgens standen wir alle in locker formierten Reihen vor dem Hauptgebäude und warteten auf den Ton der Glocke. Chris Bradshaw trug noch immer keine Schuluniform, sondern über dem Gürtel nichts als ein halb offenes weißes Hemd. Wir dachten uns nicht viel dabei; im Grunde gab es keine Vorschrift, laut derer das Tragen der Uniform vor der Zeremonie verpflichtend gewesen wäre. Ein protokollarisches Versäumnis, das später korrigiert wurde. Wir standen nicht stramm, wir taten betont leger, und wer sich eine besonders aufmüpfige Aura verleihen wollte, steckte seine Hände in die Hosentaschen oder lockerte den Knoten der Krawatte. Ehrlich gesagt hatten wir was anderes im Kopf, wollten endlich auf unsere Zimmer, wollten auf die Toilette, um uns zu erleichtern, eher vom Sperma als vom Urin. Daran hatten die von Chris verteilten Bildchen Schuld. Bitte um Verzeihung, wenn ich Gefühle verletze, wir waren Jungs im Alter der schlimmsten Testosteron-Diktatur, es sollte, es muss erwähnt sein; manches kann sonst nicht angemessen verstanden werden.
Im Folgenden werde ich in die Erzählung Aussagen der Zeitzeugen einbauen, die ich erst zwanzig Jahre später im Zuge einer Privatrecherche gemacht habe. Das erscheint mir sinnvoller, weil anschaulicher als ein chronologisches Vorgehen aus meiner eigenen Perspektive, bei dem doch nur herauskäme, dass ich anfangs kaum mehr als ein Zaungast der Ereignisse war.
Tonbandaufnahme 1985 Samuel Eastman (Alter damals – gemeint ist stets 1965 – 35), Lehrer für Chemie und Physik
In der Lehrerschaft herrschte an diesem Tag eine gewisse, ja, sonderbare Euphorie, eher eine Art von, wie soll ich sagen – gesteigerter Erleichterung. Wir waren nurmehr zwanzig. Ein Drittel des Lehrkörpers war gekürzt, gekündigt, Raven Hall gesundgeschrumpft worden. Die Übriggebliebenen hatten einen triftigen Grund, zu feiern, wenn auch mit etwas Wehmut, die ebenjenen Kollegen galt, die es nicht in die neue Saison geschafft hatten. Iris Pinkerton lud uns zu einem kleinen Umtrunk, es gab Sekt, bald kreiste aber auch die Ginflasche, wobei Zachary Wright als Einziger wagte, deren Ungekühltheit zu kritisieren, mit einem flapsigen Spruch. Den Wortlaut weiß ich nicht mehr. Iris, also Mrs Pinkerton, bedauerte, in ihrem Büro keine Eiswürfel zur Verfügung zu haben. Das mag sich jetzt völlig irrelevant anhören, aber ich habe erlebt, dass wegen solcherlei Kleinkram … ich will nicht sagen, Kriege losbrachen, aber Iris, also Iris – sie hatte ein Gedächtnis wie fünf Elefanten. Dann war da noch was. Ich beobachtete, dass Zachary zurückblieb, als sich alle anderen wegen der Eröffnungszeremonie in den Saal begaben. Er zupfte Deborah Rodgers am Ärmel, wollte offenbar etwas mit ihr diskutieren. Die schöne Deborah, ich glaube, sie war die einzige Lehrerin, die in diesem Jahrgang objektiv als schön bezeichnet werden konnte, ließ das nicht zu. Nach einem kurzen Wortwechsel ließ sie Zachary stehen und schloss sich den anderen an.
Ich wusste, dass Zach sehr verliebt gewesen war in Deborah, dass es beim Osterausflug wohl zu einer Art Techtelmechtel zwischen beiden gekommen sein muss, als Deb sich ein Glas Sekt zu viel gegönnt hatte. Bei der traditionellen Ansprache war Zach nicht im Saal, womit er sich endgültig Iris’ Unmut zuzog. Als er später doch noch zu uns stieß, gab sie ihm zu verstehen, dass so etwas nicht geduldet werden könne. Auch monierte sie, dass Zachary keine Krawatte trug. War sicher keine Absicht, er hatte schlicht vergessen, sie umzubinden, schien nichts anderes als Deborah Rodgers im Kopf zu haben, und ich nahm ihn, weil wir, na ja, so was wie Freunde waren, beiseite, sagte ihm in etwa, er solle künftig auf sich achtgeben und diese Frau, diese schwer einschätzbare Frau, nicht zur Obsession werden lassen. Es kursierten, das ist durchaus von Wichtigkeit, Gerüchte, dass Deborah in den Sommerferien, vielleicht sogar schon vorher, eine Affäre gehabt hatte mit John Bradshaw, dem Keramikfabrikanten aus Brighton. Man munkelte, dass ebendiese Liaison dazu beigetragen habe, Raven Hall vor der Schließung zu bewahren. Ich wusste das von Abigail Jenkins, die davon per Zufall erfahren haben wollte, als sie Deborah und John in einem Strandbad poussieren sah. Mein Verhältnis zu Abigail war, ich gebe es offen zu, ein sehr vertrautes. Was wir selbstverständlich strikt für uns behielten. Intime Beziehungen innerhalb des Lehrkörpers galten als höchst unschicklich. Wären wir aufgeflogen, hätte uns beiden die Entlassung gedroht. Dabei waren wir nicht die Einzigen. Die Abgeschiedenheit von Raven Hall lud zu saisonalen Wahlverwandtschaften geradezu ein. Wie konnte jemand ernsthaft glauben, erwachsene Menschen würden einer sinnlosen Pflicht zur Enthaltsamkeit gehorchen? Erschütternd allerdings, wie viele dann doch gehorchten. Iris Pinkerton gab sich streng in diesen Dingen. Abigail und ich – wir hatten Glück und wurden nie erwischt. Zwar könnte es sein, dass Iris Pinkerton tief innen ein gütiges Herz besaß und vieles schlicht nicht wahrnehmen wollte. Doch das wäre eine These der eher steileren Art.
Als die zweihundert Schüler in den Saal strömten, als die Fahne gesegnet und das Wabern der übrigens deutlich verstimmten Orgel verklungen war, als Pinkerton ihre – wenig inspirierte – Rede hielt (mehr runternuschelte), fiel mir auf, dass einer der Jungs keine Uniform trug. Nach der Zeremonie begab er sich über die breite Treppe hinauf in Iris’ Büro. Unglaublich dreist. Was dort geredet wurde, kann ich nicht im Wortlaut wiedergeben, doch hat mir Iris ein paar Tage später erzählt, dieser Christian Bradshaw habe sich ganz und gar ekelhaft aufgeführt, habe als Sohn des für Raven Hall so wichtigen Gönners Privilegien gefordert, woraufhin er von ihr mit scharfen Worten des Zimmers verwiesen worden sei. Jedem denkenden Menschen war klar, hier war der Grundstein zu einem Konflikt gelegt, der die Saison ernsthaft belasten konnte. Ich riet zu einem entschlossenen, kompromisslosen Vorgehen. Mir waren solche Privatpatienten, wie ich sie nannte, zutiefst verhasst. Ich stieß auf offene Ohren. Eines von Iris Pinkertons Grundprinzipien war, ganz altmodisch, Gerechtigkeit. Einen Schüler, aus welchen Gründen auch immer, zu bevorzugen, kam für sie nicht in Frage. Da waren wir uns einig.
Heute, im Rückblick, denke ich anders. Wir hätten pragmatischer sein, hätten deeskalieren, uns mit den Gegebenheiten abfinden müssen. Wir haben Chris Bradshaw schlicht unterschätzt. An einigen anderen Schulen war er gescheitert, in Raven Hall aber würde er endlich seinen Abschluss machen, schon einfach deshalb, weil er der Sohn des Fabrikanten John Bradshaw war.
Dies hat er uns offen gesagt, mitgeteilt, kundgetan (letzteres wäre seine Wortwahl gewesen), wogegen wir uns verständlicherweise wehrten. Keinem Schüler wollten wir so ein Gehabe durchgehen lassen. Nur hatte er eben leider recht, und im Grunde war es genau das, was uns so heftig missfiel. Unsre Eitelkeit mündete in einen snobistischen Trotz, der nicht mehr zeitgemäß war und zu nichts Gutem geführt hat.
Direktorisches Tagebuch Iris Pinkerton (damals 58) 30. August 1965
(…) Ohne anzuklopfen, betrat ein Schüler mein Büro, der sich als Christian »Chris« Bradshaw zu erkennen gab, Sprössling unseres generösen Gönners. Auf meine Mitteilung hin, dass in Raven Hall jeder fair behandelt werde, aber niemand etwas geschenkt bekomme, antwortete er, dass »dudeldei, didadeldumm« ich derlei ja sagen müsse, um der lieben Ordnung halber. Er klang nassforsch und naseweis, sonderte kuriose Wortgebilde ab, und ich verwies ihn des Zimmers. Seine Antwort bestand in einem kleinen Tänzchen, das er vor mir aufführte, offensichtlich, um sich über mich lustig zu machen. Direkt nachzuweisen war ihm das aber nicht, und ich hätte ungern gleich am ersten Tag eine Sanktion verhängt. Traditionell gilt bis zum Ersttagsstreich in der Schule eine Art Schonfrist bzw. Welpenschutz. Der Rest des Tages war für alle frei, die Lehrerschaft kam am Abend zum Dinner in den Schloss-Saal an die lange Tafel, wie es seit einiger Zeit aus Kostengründen nur noch zwei Mal im Jahr geschieht, am Anfang und am Ende der Saison. (…)
Tonbandaufnahme Abigail Jenkins 1985 (damals 33 Jahre alt), Lehrerin für Musik (in diesem Jahr nicht ausgeübt) und Französisch
Der Tag schien insofern geglückt, als das Procedere mit den Knaben beinahe reibungslos ablief. Leider musste ich mich wieder einmal über Sam ärgern, denn er hatte im Lauf des Tages deutlich zu viel getrunken und hatte am Abend, beim gemeinschaftlichen Dinner, unüberhörbar einen sitzen. Auch legte er mir dreimal eine Hand aufs Knie oder den Oberschenkel. Es war töricht, unnötig riskant, und ich sah mich gezwungen, ihm den Gutenachtkuss zu streichen. Er, dieser Bär von einem Mann, hätte sich hinlegen müssen, aber ausgerechnet ihn hatte das Los bestimmt, in dieser Nacht die Noxglocke zu läuten, also musste er um halb elf Uhr einmal um das ganze Gebäude latschen, mit dieser schweren und tiefen Silberglocke, und vier Mal, nämlich in jede Himmelsrichtung, die Spruchformel singen: »Gentlemen, es ist Zeit, gehen Sie in Ihre Betten, schlafen Sie wohl, schlafen Sie wohl!« Woraufhin eine Viertelstunde später das Zentrallicht gelöscht wird. Er hat es ganz gut hingekriegt, ich war erleichtert. Eine gute Stunde später sahen wir uns wieder, er übernachtete bei mir.
*
Die Zeremonie war gegen 13 Uhr beendet, den Rest des Tages und den Abend bekamen wir zur freien Verfügung. Einige liefen die zwei Meilen bis zum See. Andere lernten ihre neuen Kameraden beim Kartenspiel kennen oder spielten Fußball auf der Wiese hinter dem ehemaligen Marstall, der schon lange nicht mehr für Pferde genutzt wurde, sondern für Gartengeräte, alte Möbel, Plunder, Vorräte an Holz und Kohle, et cetera. Chris erkundete die Gegend, und nachdem er sich über die sparsamen Dimensionen unseres Zimmers schon abfällig genug geäußert hatte, kam nun die Landschaft dran. Flach sei sie wie die Brust einer Elfjährigen, ihre Farben seien kraftlos und deprimierend, sogar der nahe Wald sei fade.
»Ein Laubwald – fade? Sag, wie geht das denn, Bradshaw?«
»Es hat alles seine Zeit und seine Möglichkeiten. Schaut, der See, ist er nicht eher ein größerer Braunteich? Mit Braunteichgetier? Blut. Blutt. Blutty! Bluttyge Egel, die euch die Eier abfressen?«
Er brachte uns zum Lachen, dann sagte er, die Gegend mache auf ihn den Eindruck, als sei ein im November gemaltes Bild nachträglich koloriert worden, mit viel zu viel Pastell.
Jemanden, der so redete, hätten wir normalerweise verdroschen, aber Chris war unser Anführer. Der sich an unseren Vornamen störte. Diese lauteten Anthony (das bin ich), Bartholomew und Roger. Chris gefielen sie nicht, sie waren ihm nicht kurz, nicht modern, nicht amerikanisch genug, er taufte uns kurzerhand um in Jim (das war fortan ich), Jack und Joe. Warum nicht gleich Huey, Dewey und Louie? Wir fanden es irgendwie originell, so wie man sich ein Kostüm anzieht, wir fragten nicht lange, was das sollte. Wenn man tiefenpsychologisch spekulieren möchte, könnte man auf den Gedanken kommen, Chris habe uns neue Namen gegeben, um uns auch in allen sonstigen Belangen für Neues zu öffnen. Das wäre zugegeben etwas weit hergeholt, doch auch nicht völlig auszuschließen.
Raven Hall in seiner Mischung aus spätbarocker, bereits etwas verspielter Bausubstanz und nach und nach hinzugefügten Funktionalbauten besaß etwas Traumhaftes, doch nicht so positiv, wie man das Wort sonst verwendet. Da war etwas Uraltes, Skurriles, auch Bizarres, ein wenig wie ein präraffaelitisches Gemälde, in dem ganz eigene Farbmischungen herrschen. Alle euphorischen Momente oder auch Tragödien, die je dort stattgefunden hatten, schienen, mehr oder weniger verborgen, immer noch da zu sein, wir mussten nicht einmal Genaueres davon wissen. Ein zugleich pittoresker wie unheimlicher Ort, der viele Generationen von Schülern erzogen und gebeugt, auch gequält haben mochte. In der großen Halle hingen Gemälde aller Schuldirektoren seit dem Jahr 1688. Wir Kids oder wenigstens ein paar von uns (die meisten interessierten sich einen Scheiß dafür, um ehrlich zu sein) bekamen in diesem Raum ein Gefühl für Zeit und Geschichte. Diese erste Gänsehaut, wenn die eigene noch so kurzlebige Existenz konfrontiert wird mit einer jahrhundertelangen Tradition. Das macht allgemein einen großen Teil vom Reiz, vom Zauber der altehrwürdigen englischen Institutionen aus, die auf manche verstaubt oder anachronistisch wirken mögen. Doch habe ich noch keinen gekannt, der hinterher nicht froh um diese Erfahrung gewesen wäre.
Ob wir Boogeymänner schon einen First Day Caper im Sinn hätten?
Wir drei frisch getauften Jimjackjoes: »Ernsthaft jetzt?«
»Nein? Meine kindlichen Herren Kanonier-Onanisten, wie kann man am First Day an etwas anderes denken, es sei denn an das, woran wir immer denken, was mit M beginnt und mit Uschi endet. Räumt mal drei Gehirnzellen frei, je eine für Jack, Jim und Joe! Und rein mit euch, bei Wasser und Brot!«
Rein? Wohin? Bei was? Wasser und Brot? Hä?
Chris bestand darauf, dass wir vier den Ersttagsstreich verüben müssten, erstens, weil er der Älteste von allen war, zweitens aus Prinzip und drittens, glaube ich, aus dem Willen zur Macht. (Sagte uns nichts.) Es gab tatsächlich diese Tradition des First Day Caper, nur hatten wir in den letzten Jahren nicht viel davon mitbekommen, es handelte sich allermeist um Kindereien der jüngeren Jahrgänge, alberne, belanglose Streiche, wie Klinken mit Zahnpasta zu beschmieren, solche Sachen. Das Aufsehenerregendste war vor fünf Jahren das Zumauern einer Tür zur Küche und die Forderung nach Lösegeld in Bonbonform gewesen.
Chris forderte eine Aktion »mit Aplomb (Hä?) und Niveau«. Jack (ehemals Bartholomew) hatte eine Gitarre bei sich, sagen wir lieber: eine Anfängerklampfe. Das gefiel Chris. Er bereitete einen Text vor, und Jack musste drei Akkorde üben. Später mussten wir die fertigen Verse auswendig lernen. Wir sagten zu allem Ja und Amen, auch wenn wir nicht singen konnten, erst recht nicht, wie Chris forderte, dreistimmig. DREISTIMMIG!
»Ja, ihr maßlos mittelmäßigen Masturbanten. Dreistimmig. Das bedeutet, jeder von euch muss ein bisschen andere Noten singen.«
»Na, das«, sagte ich, »könnte klappen.«
Aus dem Tonbandprotokoll des Hausmeisters Harold Brady (damals 45 Jahre alt)
Der First Day Caper war sozusagen im Budget vorgesehen. Meist verursachte er Reinigungskosten im unteren dreistelligen Bereich. Als um Mitternacht der Gesang begann, atmete ich auf, denn Gesang konnte nicht viel kaputtmachen, und es sah so aus, als ob das Geld an anderer Stelle eingesetzt werden konnte, wo es dringender gebraucht wurde.
Nach und nach kam über die Hälfte der Lehrerschaft ins Freie, um nachzusehen, wer sich da derart unverschämt geäußert hatte, doch alle Beteiligten hatten sich bereits verflüchtigt. Das Lied hatte keine zwei Minuten gedauert.
Der Wortlaut des Liedes (laut Erinnerung von ca. einem Dutzend Ohrenzeugen):
»Raven Hall ist eine Schule mit Lehrern, die tadellos sind, allermeist ist das so. Wenn es mal nicht so sein sollte …
Wenn da mal gefeiert wird und die Gehirne vom Gin ausgehebelt sind, dann fallen die Röcke der Damen, das gibt neue Jobs für den Schwarzarzt.
Holla, holla ho! (Oder ähnlich.)
Dann fallen die Hosen der Herren, das gibt neue Jobs für den Schwarzarzt.«
Einer der singenden (vermummten) Schüler habe nach Ende des Liedes gerufen:
»Ihr Unterdrückerpack, jede Schweinerei kommt ans Licht.«
Tonbandaufnahme Abigail Jenkins 1985
Für alle sehr überraschend ging Direktorin Pinkerton nicht in der geringsten Weise auf die Respektlosigkeiten und Verleumdungen ein, im Gegenteil, sie sagte, das sei ein hübsches kleines Lied gewesen und gut vorgetragen. Gefragt, ob sie der Text nicht beleidigt oder verstört habe, antwortete sie, sie habe ihn kaum verstanden. Wir wussten nicht, inwiefern das nur eine Behauptung war. Pinkerton ließ sich selten in die Karten schauen. Vielleicht war sie wirklich schwerhörig. Doch hätte uns das früher schon einmal auffallen müssen. Ich bekam mit, wie eine Kollegin, ihren Namen weiß ich grad nicht mehr, einen Kollegen – Norrington – fragte, was genau ein Schwarzarzt sei? Den Ausdruck (Dark Doc) hatte ich bis dahin noch nie gehört, gemeint war wohl ein Arzt, der heimlich praktizierte, vermutlich ein Engelmacher, das wäre der geläufigere Begriff gewesen. Aber vielleicht hatte es der Textdichter vermeiden wollen, den Sachverhalt allzu explizit anzusprechen.
*
Holla, holla ho?! Ja, das weiß ich noch, ich muss es ja wissen, ich war dabei gewesen. Damals muss man sich mich, Jim, als einen schlaksigen Jungen vorstellen, weder mit Brustbehaarung noch konkreten Pokalen in der Vitrine. Das spielt eine Rolle, wenn man das Geschehene angemessen einordnen will. Diese Euphorie – wegen fast nichts, um ehrlich zu sein, aber doch so viel – für den Moment. Chris gab jedem einen Schmatz auf die Backe, Jack und Joe riefen »BÄH!«, scheinbar angewidert – denn das gehörte sich so.
In der Nacht konnten wir unseren Triumph nur im innersten Kreis feiern, ganz anders war es, als wir vier Helden morgens in den Frühstückssaal traten. Alle sahen uns an und johlten und pfiffen und klatschten. Wir waren die vier Giganten mit den riesigen Eiern. Wenn auch viele nicht recht wussten, worum es im Text eigentlich ging, fanden sie es toll genug, dass jemand sich Derartiges getraut hatte.
Weckruf um halb sieben, Frühstück um sieben, Unterrichtsbeginn schon um acht, anders als an den meisten englischen Schulen. Dann Unterricht bis 16 Uhr mit eineinhalb Stunden Mittagspause, samstags war eine Stunde früher Schluss, am Sonntag gab es die Möglichkeit einer Busfahrt zur nächsten Kirche, deren Besuch aber nicht obligatorisch war. Weil die Fächer Sport und Musik ausfielen, gab es ein paar Freistunden mehr als sonst. Das Frühstück war übrigens passabel, es gab Bohnen, Speck, Eier, Toast, Jam, sonntags auch eine Scheibe Schinken. Mittags nur Sandwiches. Abendbrot gab es um 18 Uhr, das bestand aus Graubrot und Wurst, Käse und Gurken und einer einfachen Graupensuppe, fast wie beim Kommiss. Sonntags gab es einen warmen Eintopf oder Ähnliches. Man konnte damit leben. Den kleinen Laden, in dem man im Jahr zuvor noch Süßigkeiten, eine Zeitung oder Comics hatte kaufen können, gab es nicht mehr. Das Personal, abgesehen von den Putzkräften, die praktischerweise auch kochen konnten, bestand nur noch aus Hausmeister Brady, der genug zu tun hatte; die alten Gebäude pfiffen aus Tausenden Löchern und Ritzen.
Aussage von Zachary Wright (damals 32) zu seinem Verhältnis mit Deborah Rodgers (damals 28)
Es stimmt, es gab diesen Vorfall beim Osterausflug, als Deborah offenbar ein Glas zu viel getrunken hatte und mir erlaubte, ihr ein Küsschen zu geben. Was mich verständlicherweise ermuntert oder, sagen wir, verführt hat, die Sache … nun, am nächsten Tag wollte sie nichts mehr von mir wissen, na ja … Sie hatte einen recht kapriziösen Ruf, und man kennt das von den Frauen, also, nicht von allen, ich will nichts pauschalisieren, also von einigen kennt man das, dass sie eben eine Art Spiel mit einem spielen und die Regeln nach Gutdünken festlegen oder auch einfach nur ihre Tage haben, und, na ja, schön, ich war sehr verliebt. In wen sollte man hier sonst verliebt sein, wenn nicht in Deborah. Ja, es war alles vergebens, sie hat mich lange Zeit keines Blickes gewürdigt, hat mir keinerlei Hoffnung gemacht, auch als ich sie am Morgen der Saisoneröffnung ganz kurz einen Moment unter vier Augen sprechen konnte.
»Du wirst es nie verstehen, oder?« Das hat sie mir gesagt, und das sagt sich ja leicht, wie soll man verstehen, was nicht zu verstehen ist? Leicht angesäuselt findet sie mich attraktiv, schmeißt sich an mich ran, lässt sich küssen, und dann – nichts mehr, totale Abschottung. In welche Logik passt das? Ob ich was? Ob ich gerochen hätte? Sie meinen – unangenehm gerochen? Ich? Also bitte. Nein, Sie müssen keine solchen Fragen stellen! Ficken Sie sich!
(…)
Okay, Entschuldigung angenommen. Nein, das war noch nicht das Ende der Geschichte. Am Morgen nach dem Lied, am Morgen, als der Unterricht begann, steckte Deborah mir einen Zettel zu, darauf stand: Kaffee in der Pause? Am Brunnen? Wie in irgendeiner romantischen Komödie.
Ich war völlig verblüfft und nickte nur. Neben dem alten Brunnen wurde an sonnigen Tagen so eine Art Zeltpavillon aus weißen Tüchern errichtet, als Sonnenschutz, und ein paar Klappstühle standen rum. Dort trafen wir uns, und ich hatte sogar eine Thermoskanne mit Kaffee dabei, samt Milch und Zucker und Bechern und Löffeln. Deborah meinte, ich solle den ganzen Kram hierlassen und mit ihr hinter den Marstall gehen, in Richtung Wald. Ich dachte: Oh mein Gott. O guter Gott im Himmel! Was will sie mit mir im Wald? Aber dann stellte sich heraus, dass sie einfach nur sicher sein wollte, dass niemand uns hören konnte, und wir gingen bloß einige Schritte in Richtung Wald, nicht hinein.
Sie fragte, ob sie sich auf mich verlassen könne, auf meine Verschwiegenheit vor allem.
Was sagt man da, als Mann, als verliebter Mann? Ja, sagt man da, und mit Pathos und Nachdruck. Ja, ja, ja.
Sie brauche einen Freund, sagte sie.
Ja, hier, hier, ich! – das bot sich doch an. Sie stellte klar, dass sie einen Freund brauche, einen Unterstützer. Keinen Lover. Ja gut, für den Anfang auch das. Hat man erst mal ein Bein in der Tür … Reden wir nicht drum herum, so denkt man, als Mann, als verliebter Mann. Und dann erzählte sie mir etwas, es kam mir wie eine hohe Auszeichnung vor, davon zu erfahren. Es handelte sich um hochgradig sensible Informationen, die man wirklich nicht an irgendeinen Dahergelaufenen weitergibt, und vor allem halfen sie mir endlich, einiges, ja im Endeffekt sogar etliches, zu verstehen.
Deborah erzählte, wie sie, ausgerechnet am Abend jenes Osterausflugs, der uns in die Nähe von Brighton geführt hatte, John Bradshaw kennenlernte. Sie berichtete von einer Affäre, die mit großer Leidenschaft begann, erst in Briefen, dann in Begegnungen.
Weswegen die Leidenschaft nachließ, dazu wollte sie nichts sagen, doch sie beharrte darauf, dass sie von Anfang an im Hinterkopf immer auch die drohende Insolvenz von Raven Hall gehabt habe. Sie sei sich dessen bewusst gewesen, habe lange vergeblich versucht, sich über ihre wahren Gefühle klarzuwerden. Physische Treffen (so ihre Worte) habe es übrigens selten gegeben. Ich glaube, sie wollte nicht als leichtlebig dastehen, wollte womöglich andeuten, dass sie nicht so richtig auf Reinraus abfährt, na ja.
Bradshaw habe sich am Ende für seine Frau entschieden und die Beziehung beendet, aber in Freundschaft und gegenseitigem Einvernehmen. Die Spende, die er dem Institut zur Verfügung gestellt hat, könne ein wenig zur Beschwichtigung seines Gewissens gedient haben.
(Frage, ob jene Spende vielleicht nicht ausschließlich freiwillig erfolgt sei.)
Hm, nein, ganz sicher kann ich mir nicht sein. Zwar wäre denkbar, theoretisch, dass Deborah gedroht hatte, Skandal zu machen, aber mir erschien sie immer als integer und zu keiner Erpressung fähig. Es klang wie das Ende einer letztlich trivialen Geschichte, und ich dachte, nun könne endlich die unsrige beginnen. Dem war nicht so. Denn nun – wieder zitiere ich Deb – hatte John Bradshaw sich die taktlose Kapriole ausgedacht, seinen einzigen und vollständig verkommenen Sohn auf unser, also im speziellen auf ihr, Deborahs, Institut zu schicken, damit die Missgeburt dort auf den letzten Drücker zu einem schulischen Abschluss käme. Das, sagte sie, sei eine ganz ungehörige und verurteilenswerte Idee. Sie habe Angst vor diesem jungen Mann.
»Komm, komm, das ist ein Knabe«, warf ich ein, »kein junger Mann. Vor dem brauchst du doch keine Angst zu haben, liebe Deb!«
Doch, sagte sie, sie habe Angst. Das Lied, das die Jugendlichen gestern Nacht gesungen, vielmehr gegrölt hätten, habe auf niemand anderen gezielt als sie selbst, Deborah Rodgers. Denn – und das vertraute sie mir nur flüsternd und unter Tränen an – jenen ominösen darin vorkommenden Dark Doc, den habe leider sie selbst aufsuchen müssen. Um etwas loszuwerden.
Das waren ihre Worte, genau so hat sie es gesagt. Sie nannte das in ihr heranwachsende Kind ein Etwas, das sie loswerden musste. Gut, vielleicht war das ihre Art, mit dem Trauma der Abtreibung fertigzuwerden, vielleicht wollte sie einfach nur den ihr peinlichen Sachverhalt in möglichst wenige, unverbindliche Worte kleiden. Wie auch immer.
Christian Bradshaw müsse auf irgendeine Weise davon Kenntnis bekommen haben, und wenngleich sie inständig hoffe, dass keine konkreten Beweise vorlägen, also in seinem Besitz seien, habe sie Angst. Denn dieser völlig aus der Art geschlagene Bengel beabsichtige, sie zu erpressen, und er wolle nicht etwa Geld für sein Schweigen.
»Was?«, rief ich, ein wenig zu laut. »Im Ernst? Er macht dir Avancen?«
»Sch-scht!«, mahnte sie mich, obwohl wir auf einer riesigen, sozusagen leeren Wiese standen.
Ja, sagte sie, so könne man das nennen. Avancen. Sie halte es für gut denkbar, dass es die Idee des Sohnes gewesen sei, nach Raven Hall zu gehen, um seinen Abschluss zu machen. Aber, rief sie empört aus, das hätte der Vater doch unbedingt verhindern müssen!
»Wieso sollte er?«, fragte ich. »Wenn er doch gar nichts weiß von den erotischen Plänen seines Sohnemanns. Er wird es vielleicht sogar für eine naheliegende und ganz pragmatische Idee gehalten haben.«
Deborah legte einen Zeigefinger ans Kinn, wie immer, wenn sie nachdachte oder so tat, als ob. Dann stimmte sie mir zu, es könne sich so verhalten.
Ich beruhigte sie, versprach ihr, von nun an ihr Freund zu sein und sie zu beschützen. Sie solle das alles mir überlassen, ich würde mir den Burschen vornehmen, notfalls könnte ich mich auch an den Vater wenden.
Nein, unterbrach sie mich, sie wolle den stillgelegten Kontakt zu John Bradshaw nicht auferwecken, nicht mal durch einen Mittelsmann.
(…)
Wie meinen? Ja, ich habe versucht, sie zu küssen, na klar. Beim dritten Mal hat sie mir einen Kuss auf den Hals gewährt. Sie konnte ein Biest sein. Wahrscheinlich war es genau das, was mich so verrückt gemacht hat. Aber ich konnte mich im Zaum halten.
Samuel Eastman, 1985
In den nächsten Tagen geschah nichts Auffälliges. Chris Bradshaw erschien mehrmals ein paar Minuten zu spät zum Unterricht, gab jedoch keinen gravierenden Anlass, sich über ihn zu beschweren. Zachary Wright sah die richtige Gelegenheit, ihn anzusprechen, noch nicht gekommen. Er dachte wohl, das Ganze könnte sich von selbst beruhigen oder vielmehr totlaufen.
*
Der September ist, wenn man etwas Glück hat, einer der erfreulichsten Monate in Raven Hall und Südengland allgemein, ich kann mich an keinen einzigen Regentag erinnern, nur dass wir viel Spaß hatten. Zweimal gingen wir nach dem Abendessen zum See, badeten nackt (Roger behielt die Unterhose an) und suchten uns danach, vergeblich zum Glück, auf Blutegel ab. Ich will damit keine irreführenden Andeutungen machen, es geschah in aller Unschuld, wenngleich man natürlich mal einen Blick riskiert und Vergleiche gezogen hat.
Mir fällt eine Szene wieder ein. »Ich mache Karriere als Schlüpferstürmer!«, rief Bart einmal, und Chris überbrüllte ihn prompt.
»Verwende bloß nie wieder das Wort Schlüpfer!«
»Warum?«
»Wenn du schon nicht weißt, was ein Dessous ist, sag Höschen.«
»Wieso? Ist doch dasselbe.«
»Keineswegs. Das Wort HÖSCHEN ist erotisch konnotiert. Das Höschen ist die letzte Verteidigungslinie, die einer sexuellen Eroberung im Wege steht. Der Torwart, sozusagen, des weiblichen Geschlechtsorgans. SCHLÜPFER aber wird jenes Kleidungsstück genannt, das an Frauen Fleischteile umschließt, aus denen beim Stuhlgang Exkremente quellen.«
Alle machten elend laute Würggeräusche und mussten dennoch lachen.
»Wir werden epische Menschen sein und große Geschichten erleben!«, rief Chris später am Abend in der Stube. »Ihr werdet alle Helden sein, jeder auf seine Weise, und wer weiß, am Ende macht jemand daraus eine verstörende Verstragödie, vielleicht auch nur hingekleckste Hexentexte.«
»Hä?«
»Im Mittelalter wär ich ein Troubadour gewesen, der schlüpfrige Liebeslieder geschrieben hätte …«
»SCHLÜPFRIG?«, brüllten wir, »DAS WOLLTEST DU DOCH NIE MEHR HÖREN!«
Chris stand der Mund offen, dann auch der Hosenstall, denn er wollte uns auf die Schuhe pissen, ernsthaft, wir stürzten uns auf ihn, begruben ihn unter unseren Leibern, Herrgott, wir hatten eine Menge Spaß. Natürlich war das eine Form von inniger Zuneigung, fast Liebe. Nie, soweit ich weiß, kam es zu homoerotischen Übertretungen gegen den rigiden Moralkodex der Ära. Sie lagen indes in der Luft, selbstverständlich.
Wir vier waren uns grün, wie man so sagt. Manches in Raven Hall wurde sehr liberal gehandhabt, wahrscheinlich aber nur, weil es bislang keine negativen Erfahrungen damit gegeben hatte. Ein Beispiel: Eintreffende Post wurde nicht kontrolliert, somit war es auch kein Problem, dass Chris sich aus London eine Kiste spanischen Rotweins kommen und uns davon probieren ließ. Niemand aus der Riege unsrer Erziehungsberechtigten hatte es auf dem Schirm, dass sich ein Schüler etwas derartig Kostspieliges leisten könnte. Der Rioja schmeckte uns sehr. Noch heute muss ich bei dem Gedanken lächeln. Ich glaube, kaum ein Prozent der englischen Bevölkerung hatte zu jener Zeit jemals spanischen Rotwein probiert. In den besten Geschäften von Westcott fand man allerhöchstens mal eine Flasche deutschen Rieslings oder die berüchtigte Liebfrauenmilch mit Kopfschmerzgarantie. Ich erwähne das alles, um anzufügen, dass Chris nicht maßlos und unverantwortlich agierte. Zum Badeausflug wurde nicht mehr als eine Bouteille mitgenommen, gerade so viel, dass wir nicht mehr als etwas angeheitert wurden. Nein, da gab es nichts Verruchtes. Dazu waren die meisten von uns viel zu schüchtern. In den fettgelben Mond zwischen den Baumkronen zu sehen, einen Schluck Wein zu trinken und dazu ein, zwei Zigaretten der Marke Pall Mall zu rauchen war das Höchste der Gefühle – und nach dem Bad im See zogen wir uns sofort wieder an, etwas anderes hätte unser Schamgefühl gar nicht zugelassen.
Und immer dabei war der Philips-Kassettenrecorder, der, mit sechs Batterien bestückt, für die Hintergrundmusik sorgte. Ein Paradies. Bis etwas die Stimmung nachhaltig veränderte, verschärfte, auf gewisse Weise auch zerstörte. Danach war in jedem Fall nichts mehr wie zuvor. Es traf unsre jugendliche Fantasie wie ein Blitzschlag in trockenes Heu. Unvermittelt, unverdünnt, mit voller Wucht.
Eines Abends kam Chris mit der Neuigkeit, er habe Deborah Rodgers – gehabt. Also gevögelt. Nicht nur einmal, sondern drei Mal. Tut mir leid, wenn ich das so wiedergeben muss. Es wurde richtig dreckig. Mit anderen Worten: spektakulär und sehr erregend.
Chris beschrieb uns die Stellungen, wiederholte, was Miss Rodgers gestöhnt hatte, bevor sie kam – und ein viertes Mal habe sie es ihm dann mit dem Mund besorgt und seinen Saft nicht ausgespuckt. Meine Fresse. Es stellte sich uns damals gar nicht die Frage, ob Chris die Wahrheit sagte, es ging nur darum, schnellstmöglich unsere hammerhart gewordenen Schwänze kleinzukriegen. Natürlich nahmen wir an, dass er übertrieb, liegt ja in der Natur der Sache, aber warum sollte er so etwas – Unglaubliches – frech und frei erfinden? Chris meinte, in einem grellen, beschwörenden Tonfall, wir müssten das um Himmels willen für uns behalten, er wolle das vorerst nur mit uns, seinen Buddies, teilen. Ein Ritterschlag. Zwei Tage später wusste es jeder Schüler. Und Miss Rodgers merkte sofort, dass man sie von da an irgendwie anders ansah, musternder, gieriger.
Aus heutiger Sicht ist mir die Sache unendlich peinlich, und ich schäme mich enorm, selbst wenn ich mir persönlich nicht direkt etwas vorwerfen muss. Jugendliche haben noch kein ausgeprägtes Gefühl dafür, wann sie anderen wehtun, machen sich noch nicht mal einen Kopf deswegen; sie sind eben noch keine fertigen Menschen, und manche bleiben für immer Arschlöcher. Genaugenommen konnte man noch nicht einmal Chris einen Vorwurf machen. Ich weiß, in dieser Frage werde ich Widerspruch ernten, aber man muss die Fakten anerkennen. Chris war geil auf Miss Rodgers, mit gutem Grund, und er trug uns eine Fantasie vor, wie er sich Sex mit ihr vorstellte. Brachte uns zum Kochen damit. Schließlich hat er uns sogar gebeten, unser Wissen für uns zu behalten. Worin also bestand sein Vergehen? Nicht in der Lüge, wir lügen alle, jeden Tag. Wenn man ihm etwas vorwerfen kann, dann nur seine Fabulierkunst. Er hatte uns das, was angeblich (übrigens in einem ehemaligen Reitstall) vorgefallen sein sollte, so überzeugend geschildert, dass wir es zumindest für möglich hielten. Dankbarkeit und Neid – so möchte ich unsere Gefühle kurz zusammenfassen.
Dass die allermeisten erwachsenen Frauen Sex mit einem minderjährigen Schutzbefohlenen nicht unbedingt in einem Reitstall haben wollen, auch noch mehrmals hintereinander – für einen an sich so naheliegenden Einwand waren wir Kaulquappen schlicht noch nicht alt genug.
Tonbandaufnahme Zachary Wright (1985)
Deborah sagte mir, dass etwas nicht stimme, dass man sie seltsam anstarre und die Kleineren oft grundlos zu kichern begännen bei ihrem Anblick. Ich meinte, es könne sich um Einbildung handeln, Kinder kichern doch immer und wegen jedem Quatsch. Nein, nein, antwortete sie, sie habe irgendetwas Hässliches im Gefühl. So ihre Worte. Ob ich vielleicht etwas rausbekommen könne?
Ich konnte – und es war nicht einmal schwierig. Es gab einen Schüler, Cecil Collins, der Nachhilfe in Mathematik nötig hatte, womit ich mir am Sonntagnachmittag ein paar Pennies dazuverdiente. Zu ihm besaß ich ein fast freundschaftliches Verhältnis. Soweit das zwischen Lehrer und Schüler möglich ist. Ja, doch, es war möglich. Heute vielleicht nicht mehr, aber lassen wir das beiseite.
Ich fragte ihn, ob er irgendwas über Gerüchte wisse, die im Umlauf seien, Miss Rodgers betreffend. Cecil wollte lange nicht damit rausrücken, und ich versprach ihm zwei Gratisstunden unter der Hand, was bedeutete, er würde das Geld, das seine Eltern ihm dafür gaben, behalten dürfen. Ach je. Wie er sich wand und hochrot wurde und schwitzte. Ein pummeliger Junge aus der Neunten. Ich hätte beinahe lachen müssen, wie der Kleine um Worte rang, die angemessen, doch nicht zu drastisch klangen. Schließlich hat er es geschafft und hinter sich gebracht. Einer der Schüler, der Allerälteste, habe sich eines mehrmaligen intimen Umgangs mit der Englischlehrerin Rodgers gerühmt, und es sei mitten am Tag in einem der ehemaligen Pferdeställe geschehen, auf alle denkbaren Arten.
Soso.