Schweine und Elefanten - Helmut Krausser - E-Book

Schweine und Elefanten E-Book

Helmut Krausser

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Beschreibung

Hagen Trinker – zweiundzwanzig, Rumtreiber, Zocker, Gelegenheitsdieb – verbringt den Morgen bei den gescheiterten Existenzen vom Parkrandkiosk, seine Abende beim Fischer oder in der Waldwirtschaft, wo er, mehr schlecht als recht, vom Backgammonspielen lebt. Eigentlich verliebt in die sechzehnjährige Silke, beginnt Hagen eine Affäre mit der siebenunddreißigjährigen Valerie Bergmann, die, alleinstehend in einer großen Bogenhausener Villa, ihrer mondänen Lebensleere nachhängt. Aus dem schnellen Sexabenteuer entwickelt sich eine verschrobene Form gegenseitiger Abhängigkeit und Ausnutzung. Doch die Dinge eskalieren, am Parkrandkiosk und im Nationaltheater ebenso wie in der Alabama-Halle und auf der Trabrennbahn. Valerie landet mit gebrochenen Knochen im Krankenhaus, Hagen, der sich schuldig fühlt und sich verpflichtet, die eingegipste Valerie täglich zu besuchen, hat im Gegenzug die Villa plötzlich für sich allein. In der Villa steigt eine große Party, ein Fest der Verlorenheit. «In Helmut Kraussers erstem Roman wird das Lebensgefühl der achtziger Jahre lebendig ... Kunst kontra Kommerz, Friedensbewegung gegen Spaßgesellschaft.» (Die Welt)

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Seitenzahl: 238

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Helmut Krausser

Schweine und Elefanten

Hagen des Lokalpropheten Schwänereien undSchweinegesang.Rachelied, mit Tromm und Tromp, oder:Strophen deren Summa:Alles Fotzen bis auf Silke, fern wie ein verdammterStern am Arsch der Galaxie.

Roman

Über den Autor

Helmut Krausser, geboren 1964 in Esslingen, lebt in München. Er schrieb Erzählungen, Theaterstücke und ein Opernlibretto sowie die Romane «Melodien» und «Thanatos».

«Schweine und Elefanten» ist der erste Teil der Hagen-Trinker-Trilogie (geschrieben 1986 bis 1988, Neufassung 1997/​98). Der zweite Teil «Könige über dem Ozean». (rororo 13435) wurde von Wolfgang Panzer verfilmt, der Folgeband «Fette Welt». (rororo 13344) von Jan Schütte mit Jürgen Vogel in der Hauptrolle. Til Schweiger und Corinna Harfouch spielten in der Filmfassung von Kraussers Roman «Der große Bagarozy». (rororo 22479), bei der Bernd Eichinger Regie führte.

Ferner lieferbar: «Spielgeld. Erzählungen & andere Prosa». (rororo 13526) sowie die Tagebücher «Mai. Juni». (rororo 13716), «Juli. August. September». (rororo 22335) sowie «Oktober. November. Dezember». (rororo 22888).

Leierbeherrschende Hymnen –

welchen Gott, welchen Heroen,

welchen Mann werden wir besingen?

Pindar. 2.Olymische Ode.

1.Buch

On the road

I

Rituale der Schwermut

An den Wänden perlt Kondenswasser herab. Es ist finster, bis auf den blau verrauchten Streif, der durch die Lücke im Rollladen fällt. Warum ich nicht hinausgehe, in eine der Kneipen mit Spätlizenz, hinaus aus dieser, in eine andere Beklemmung?

Es ist gar nicht spät, es ist früh. So früh schon.

Im gebeugten Kreuz des Morgens

beginnen die Rituale der Schwermut, Patinawort zwischen neudeutschem Klingslang, gleich noch eins hinterher: geheiligt. Jawohl, geheiligt zum Beispiel sei der Kiosk am Parkrand, sehet, dort spreizen sich seine Läden, Triptychon und Tabernakel, Riß im Frühlicht, her damit, Pappkaffee und Newsflash, Unterdruckerzeugnisse der Sensationsgier, hier gleich verkauft samt Kurzkommentar, und so kommen sie alle aus Löchern gekrochen, nachtüberlebtes Reliktzeug, dem jedes nusche Tach zum Gebet gerät.

Gebetgerät. Hier bleibt das Leiden verdeckt, dritter Klasse, im untersten Schiffsbauch, der bei schwerem Seegang eingezogen wird zugunsten der Galionsbrust.

Vorflutlichtlicher Hexenkessel.

Große Liebesgeschichten sind groß, weil alles Widerliche verschwiegen wird.

Zum Beispiel: Manon auf dem Dampfer in die Verbannung. Und Des Grieux, ihr Galan, der sich den Aufenthalt auf dem Schiff teuer erkauft hat – ließ er sich etwa zu den Gefangenen ketten? Arbeitete er als Küchenjunge? Speiste er mit dem Kapitän und sang Manon zur Nacht ein Schlaflied über zwei Treppen hinab? War die Situation nicht irgendwie peinlich? Ach, Silke…

Die Spieler kommen. Kommen zu den Steintischen am Kiosk, falten ihre Bretter auseinander. Auch wird die Holztruhe geöffnet, das Gartenschach mit verwitterten Figuren munitioniert.

Spiele beginnen. Spiele zwischen in etwa gleichwertigen Gegnern, von denen am Abend jeder behaupten kann, er habe knapp gewonnen. Den Kiosk betreibt Martina, eine fette blöde Sau, der manchmal Tochter Silke hilft, die ist blöd und schlank und brustabklemmend schön, eiserne Jungfrau, da war noch nix im Busch. Glaub ich.

«Rudi, kannst du mir zehn Mark pumpen?»

«Bin ich doof oder was?»

«Ja. Und geizig.»

«Gelobt sei der Herr!»

«Albert, kannst du–»

«Ne.»

Der Morgen strahlt, der Morgen ist groß von Sonne und Mai, im taufeuchten Gras hockt Karo, mehr als vier Dekaden alt, Singlefrau und selbstbewußt, seit Jahren auf Trebe, verlaust und klobig. Die hat nen Schlafsack, der stinkt wie nasse Schafe, und vor Strolchen und Neonazis versteckt sie sich nachts in der Holztruhe, da wo die Schachfiguren hingehören, die prompt nicht vollzählig sind. Schon geht Gezeter los, und irgendwann schraubt Albert seine Beinprothese ab, die dient fortan als weißer Turm, und für den fehlenden Springer leiht man bei Martina einen Gummistiefel.

«Sag mal, Karo…»

«Ich hab auch kein Geld, Hagen.»

«Schon klar, eben darum: Sag mir, was Ekstase ist.»

«Ekstase?»

Sie räkelt sich im Gras, spreizt die Beine, wirft den Kopf in den Nacken.

«Wenn’s wärmer wird ein Bier… und eine Rauchmöglichkeit…»

«Das genügt?»

«Das ist doch was.»

«Würdest du mich lieben, wenn ich drum bitte?» Karo macht ganz große Augen.

«Siehst du den Beckskasten dort?»

«Seh ich.»

«Ist er halbvoll oder halbleer?»

Ich überlege.

«Er ist halbvoll mit leeren Flaschen.»

«Du Dummerchen.»

Sie springt auf und holt den Kasten her, was Martina zu gestrenger Beobachtung zwingt.

«Jungs, ihr sauft zuviel!» war des alten Mannes Kommentar, wenn wir ihm wieder zehn leere Bierkästen brachten, um Flaschenpfand zu kassieren. Er gab uns die sechzig Mark und fuhr die Kästen auf den Hof, zu den riesigen Türmen aus anderen Bierkästen. Wir verließen den Supermarkt, stiegen in einem unbeobachteten Moment über den Zaun, holten zehn neue Leerkästen, fuhren die wieder in die Getränkeabteilung und so fort. Wir gingen einer geregelten Tätigkeit nach. Jedesmal ächzte der alte Mann und sagte: «Jungs, wirklich, ihr sauft zuviel…» und wir sagten: «Naja, haben halt keine Zukunft, verstehste?» Der Alte seufzte und nickte, ich weiß nicht, wie oft wir ihm dieselben Kästen angedreht haben, einmal zu oft auf jeden Fall.

«Also», spricht Karo, «was siehst du?»

«Wo?»

«Im Kasten.»

«Lauter leere Flaschen.»

«Um mich zu ärgern?»

«Ne. Ehrlich nicht.»

«Paß auf.»

Karo deutet auf die in der Skizze mit Nummer1 bezifferte Flasche.

«Das da ist die Jungfrau Johanna. Sie steht vor den weltlichen und klerikalen Richtern. (Ziffer 2) Hier an der Seite – für die Richter unsichtbar, der Nachruhm. (Ziffer 3) Jetzt gesellt er sich zu ihr (sie stellt Flasche Nummer3 zu Flasche Nummer1) und spendet ihr Trost.»

«Im Ernst?»

«Hmmhm.»

«Das ist toll.»

«Das merkste dir jetzt für den Rest deines Lebens.»

Angenehm wundertütiger Mensch, ich wünschte, Karo steckte im Körper von Silke, o Silke, mit dem blonden Haar, du schimmernd gußeiserne Fotze! Willst mich nicht, dabei hättste mich gar nicht verdient!

Und jetzt geht Silke zur Berufsschule, läßt mich allein, zwischen Menschen, die ihre Halbwertzeit hinter sich haben, und Karl will nur noch um eine Mark pro Partie blitzen, Karl, der einzige hier, der ein bißchen was auf der Kante hat, Ex-Chefchemiker von BASF, nach einer derenhintergründenieganzaufzuklärenseinwerdenden Explosion schön abgefunden in Rente geschickt

Der Kaffee kostet Zweifuffzig, das hab ich frühestens nach der dritten Partie wieder drin, machtn Stundenlohn, läuft alles glatt, von gradmal einem Heiermann.

«Karl, laß uns die Partie um nen Zehner spielen, und ich geb dir einen Läufer vor, ist das ein Angebot?»

Das ist waghalsig, Amok zu Tagesbeginn, denn, um ein bekanntes Bonmot abzuwandeln, Karl ist Karl, aber ein Läufer ist ein Läufer. Er sieht mich mißtrauisch an.

«Zeig erst, daß du nen Zehner hast!»

«Kristemorgn.»

«Blötzn! Blötzn mit Kristemorgn!»

Es gibt eine Verzweiflung, die eine Art perverser Geborgenheit mit sich herumschleppt.

Wahrscheinlich ist es die Ahnung, man sei noch zu jung, um wirklich verzweifelt zu sein.

Diese Geborgenheit ist da, wird einem aber nicht bewußt. Man bemerkt sie erst viel später, wenn einem ihr Fehlen auffällt.

Meine Mutter – sie kaufte so gern billiges Brot und hortete es im Gefrierschrank. An jenem Abend hatte sie vergessen, das Brot rechtzeitig herauszuholen, wir saßen hungrig auf dem Balkon im achten Stock, mit der Wurst, den Gurken, den Radieschen – und sahen dem tauenden Brot zu. Plötzlich nahm meine Mutter eine eisigglitzernde Scheibe hoch und hielt sie ausgestreckten Arms der Sonne entgegen. Mein Vater folgte ihrem Beispiel ohne zu zögern – fasziniert machte ich mit. Es sah großartig aus, ähnlich einem Druidenritus – wir drei auf dem Balkon im achten Stock des Hochhauses brachten der untergehenden Sonne ein Stück gefrorenes Brot dar, mit einem Kranz von staunenden, hälserenkenden Nachbarn. Balkongeschichten. Ich erinnere mich an die Nacht der Schreie – als die Familie hinauslief, um sich am Selbstmörder zu ergötzen, im sechsten Stock gegenüber. Er hatte es sich anscheinend im letzten Moment noch anders überlegt, klammerte sich mit beiden Händen am Geländer fest, bemüht, seinen Körper wieder hinaufzuziehen. Ich begriff. Nicht er war es, der schrie, die Schreie kamen von Zuschauern, ihm selbst schien die Situation peinlich zu sein, ich durfte nicht weiter zusehen, wurde zurück ins Bett geschickt. Am Morgen entdeckten wir oben ein verbogenes Geländer, unten einen Blutfleck.

«Hast du den Zehner oder nicht?»

«Nein.»

«Dann verschwinde!»

In diesem Moment legt Rudolf (70) vor mir auf den Tisch zwei Fünfer. Er benutzt Hartgeld, weil er blind ist. Dafür ein passabler Schachspieler.

«Ich setz auf Hagen.»

«Danke, Rudi. Fürs Vertrauen.»

«Bin mit drei Mark dabei.»

«Einverstanden.»

Aber Karl, das dumme Arschloch, weigert sich.

«Ich spiel lieber mit Gustav.»

Ob er feig sei, frag ich, was das solle, frag ich, Karl macht auf stur, winkt mich vom Tisch, lehnt die Forderung ab. Gustav, den zieht er mir als Kombattanten vor, unglaublich. Gustav zählt nicht, ist morgens um acht schon angebläut vom Kümmerling.

«Komm wieder, wennde selber Geld hast. Dieses dauernde Pumpen geht mir aufn Sack, Junge, du bist 22, kannst arbeiten gehn, oder?»

«Halt die Fresse.»

Gustav: Ich lach mich schwarz.

Rudolf: Seid nett zum Hagen. Der ist noch ganz mit Seele gefüllt. Der tropft, wenn man draufdrückt.

Ich: Ihr geht mir alle auf den Sack.

Karl: Ich war auch mal jung, noch jünger als jetzt du – was hats mir genutzt?

Ich: Hättste mehr draus machen sollen!

Rudolf: Ich hab mich bis hierher gebracht. Das ist schon was.

Karl: Dazu hab ich nich so lang gebraucht.

Rudolf: Hast es dir schlecht eingeteilt.

Karl: (Jetzt wieder zu mir) Wenn ich so wenig Jahre im Arsch hätte wie du, ich würde weiß Gott was machen!

«Gott weiß zuviel.»

«Verpiß dich!»

«Okay, ich verpiß mich und hol Geld. Und dann spielen wir um einen ZWANZIGER, und ich gebe dir ZWEI Läufer vor, jeder hats gehört! Habt ihr doch?»

Alle nicken, Rudolf und Gustav, Albert und Karo, Martina, sogar die bekloppte Walburga und schließlich, mit einem feisten kleinen Lächeln, auch Karl.

Wer glaubt, ich hätte nie gearbeitet, irrt. Leider. Es ist wahr, Arbeit schändet nicht. Aber Kollaboration. Tolles Wort – und eine prima Ausrede, denn alles war politisch und jeder ein Opfer des Systems, rumlungern demnach ein friedlicher Protest. Wenn man sich durchrang zu arbeiten, weil es nicht anders ging, mußte es Stil haben, mußte Erwerb und Genuß vereinigen, eine gewisse Würde gewährleisten, wie der Job in der Opernstatisterie, der nichts anderes war als ein Stehplatz mitten im Kunstrausch.

Es gab sogar eine Festanstellung, für die ich mich vor den Freunden nicht zu schämen brauchte. Das war im Winter vorm Abitur.

Die Arbeit begann um fünf Uhr nachmittags, in einem Bürohaus am Ratzinger Platz, oberster Stock. Ein Betrieb, ähnlich der Wach- und Schließgesellschaft, Überwachung von Firmen und Ladengeschäften, man arbeitete mit einem privaten Sicherheitsdienst zusammen, bei Bedarf wurden Typen in hellblauen Uniformen losgeschickt, die Funkgeräte und Schlagstock, aber keine Schußwaffen trugen. Nicht offiziell. Mich setzte man an die Zentrale, an die große Alarmanlage, wo alle Kabel zusammenliefen, ein unübersichtliches Ding mit tausend Knöpfen und kleinen roten Leuchten. Drei Dutzend Objekte waren dran angeschlossen, von Siemens-Außenlagern bis zu kleinen Goldschmiede-Werkstätten.

Ich habe immer mit den kleinen Gesetzlosen sympathisiert, mir war flau beim Gedanken, durch mich könne einer im Gefängnis landen.

Politisch heikel. Ich redete mich keineswegs drauf raus, daß die, wenn ich es nicht machte, wen anderen fänden. Ich machte es, weil die Arbeit traumhaft war, irgendwoher brauchte ich Miete und Essen, und ich war mit beidem im Rückstand.

Ein Bier, vier Zigaretten.

Die Flohmarkthallen an der Dachauer Straße. Aufgelassene Kasernengebäude, dort hingen, wie vergessene Würste, Althippies in Hängematten rum. Die meisten lebten von der Sohi und machten nebenher auf Trödler. Und weil sie sich nachtlang den Stiertrunk gaben, stand morgens manche Tür unverschlossen in der Landschaft. Dann konnte man ein bißchen wildern. Wenn man Glück hatte, fand man irgendeine alte Nähmaschine, für die es im Pfandhaus 20Mark gab. Überall auf dem Gelände liefen Hunde herum, aber es waren Hippiehunde, die bewachten nichts, die bellten nicht und bissen nicht, die dösten oder rammelten einander, und nur wenn mittags über Lautsprecher eine Cat-Stevens-Platte lief, wurden ihre rudimentären Instinkte geweckt. Aus einer der Hallen hatte die Stadt preiswerte Übungsräume gemacht, aber meine Band war bei der Verlosung leer ausgegangen. Wir mußten für unser Kabuff pro Monat 300Steine löhnen, 60 pro Kopf, für Münchner Verhältnisse fast günstig.

Ich war der Sänger dieser Band, ich hatte den Übungsraum besorgt und den Mietvertrag unterschrieben, das machte mich unangreifbar.

«Hagen, erzähl doch noch mal, wie du uns den Übungsraum besorgt hast!»

Na gut, ich komm dahin, Gleichmannstraße 10, sage, wir sind ein Streichquintett und üben beruhigende Wirkung aus auf Mensch und Umgebung, aber die Frau sagt, es gibt noch einen anderen Interessenten, der will im Keller Chinchillas züchten, bereit auch, 50Steine mehr zu löhnen.

«Aber – denken Sie an die Chinchillascheiße, wissen Sie überhaupt, daß die so scharf wie Chilisoße ist? Das brennt sich überall rein, das kriegen Sie nie wieder raus!»

Die Assonanz von Chinchillascheiße und Chilisoße wirkte auf die Frau so überzeugend, daß sie mir sofort den Schlüssel übergab. Genie&Handwerk, genialste Band der Welt, hatte endlich eine Heimstatt, nachdem wir monatelang in El Condes Zimmerchen probten, unplugged, versteht sich, in einer Zeit, als unplugged noch für saftlos stand. Ich schweife ab.

Wenn die fünfzehn Tippsen und ihre Chefs gegen 17:30 den riesigen Raum voller Schreibmaschinen und Topfpalmen verlassen hatten, blieb ich allein zurück, einziges Lebewesen im fünfstöckigen Gebäude.

Von der Alarmanlage mußte ich nur wissen, daß auf ein hysterisches Piepsen ihrerseits meinerseits eine gewisse Telefonnummer zu wählen war. Dann meldete sich eine Stimme und ich mußte sagen, daß dieses Ding wieder piepst. Das geschah sehr, sehr selten, und wenn doch, hatte meist nur der Wind ein unverriegeltes Fenster gekippt, und die hellblauen Männer rannten hin, um es gemeinschaftlich zu schließen. Manche Bewegungsmelder reagierten auf besonders fette Ratten oder eine versehentlich eingesperrte Katze. Kam vor. Einmal im Monat vielleicht. Meine Aufgabe war letztlich auf pure Anwesenheit beschränkt. Der Mann für den Fall der Fälle.

Neben der Alarmanlage stand ein klappbares Feldbett mit Schlafsack. Es gab auch einen Fernseher, klein und schwarzweiß, auf dem war, Kanal eins, die Pforte unten zu sehen, aber auf Kanal zwei und drei liefen ARD und ZDF. Und es gab einen Kühlschrank mit Gratisgetränken, A- und O-Saftflaschen im Bonsaiformat. Von denen waren mir drei pro Nacht gestattet. Bier brachte ich selber mit und ging an die hochmodernen Schreibmaschinen, um meine Gedichte endlich mal sauber zu tippen. Drei Viertel der Halle lagen im Dunkel, es war sehr still, monströs still, es roch nach Plastik, Sesselleder und Bohnerwachs, draußen schneite es, und von den Fenstern sah man auf die Kreuzung mit den vielen Ampeln, jeden zweiten Tag im Winter gab es einen Auffahrunfall. Ich schrieb und rauchte und trank die halbe Nacht, bevor ich in mein Feldbett kroch. Manchmal ging ich duschen, einen Duschraum gab es ja auch, und ich besaß sogar die Schlüssel zum Materiallager, hamsterte Kugelschreiber, Farbbänder und Schreibmaschinenpapier – genug für die nächsten zehn Jahre. Ich stellte mir Firmenausweise aus mit falschen Namen, richtig mit Bild und Stempel, die waren glaubhaft genug, wenn man beim Schwarzfahren erwischt wurde. Hielt man mit Ferngesprächen maß, ging selbst das problemlos durch.

Zurück zun Flohmarkthallen. Die Übungsräume sind abgesperrt. Je…

Vorgestern wurde da immens gefeiert, Lärm gemacht. Die Politicians, die Supernixons, Der Stürzer featuring Readymade und die Schwermetaller von Van Dalen. Letztere, simple Lebensformen aus Pickeln und Haaren, hatten sich, man weiß nicht wie, einen Plattenvertrag ergaunert und zwei Fäßchen Bier springen lassen – ist doch lausig, zwei Fäßchen – für zwanzig Musiker mit Anhang.

Und wir, stolz wie unbeeindruckt, wir glückliche Wenige, wir Brüder, denn wer heute daran Anteil nimmt, der soll mein Bruder sein, spielten eine Fünfzehn-Minuten-Improvisation von All Tomorrows Parties, die geil war und groß und der Rausch des Daseins an sich. Allerdings kannten die Sackgesichter von Van Dalen diesen Song weder, noch mochten sie ihn. Sela. Immer öfter stieg mir der Verdacht vom Bauch hoch in den Hals, wir täten unser Heldisches nicht nur gratis, auch umsonst. El Conde, Gitarrero, hatte am Ende der Session gefragt, Hagen, Hagen sagte er, Hagen (dreimal) – wann werden wir berühmt?

«Frage von Wochen.»

«Und wann gibts Groupies?»

«Kurz davor.»

«Okay.»

Morgens um sieben wurde ich von schmalen Händen mit langen Nägeln gerüttelt. Die ersten Sekretärinnen kamen und sagten «Feierabend!» Das war in Ordnung. Selbstverständlich wurde Schlafen bzw. Vorhandensein dürftig entlohnt, sechs Mark vierzig die Stunde, doch es waren viele Stunden, vierzehn Stück, viermal die Woche. Für einen Schüler häufte sich da einiges an. Nach der Arbeit fuhr ich ins Gymnasium. War ich zu spät, hatte ich die Ausrede, von der Arbeit zu kommen, (kommvonnerarbeit…) das machte jeden Lehrer stumm. Hättn idyllisches Leben sein können. Mit jedem Gehaltsscheck gings erstmal auf die Rennbahn nach Daglfing, und selbst wenn dort alles krumm lief, wars nicht schlimm, dann hatte ich was zu schreiben und einen Ort, um zu schreiben, mit korrekten Rahmenbedingungen. Und hätte das Piepsen begonnen, ich wäre zur Stelle gewesen. Pflichtbewußt. Das funktionierende Rädchen in der Schaltzentrale der spätkapitalistischen (sohießdasdamals) Überwachungsmaschine. Wenigstens zu Anfang.

Ich wurde nachlässig. Wurde mutig. Ging ab und an über die Straße, in die Kneipe, spielte am Flipper, trank ein Bierchen, redete mit anderen Arbeitern über die schwierigen Zeiten. Erst eine halbe Stunde dann und wann, dann ganze Stunden, im April dann, bevor die Kündigung kam, verließ ich die Kneipe einmal zu jeder vollen Stunde, um in meinen Arbeitsplatz kurz reinzuhören.

Die Kündigung, das war entwürdigend, erfolgte nicht deswegen. Niemand hatte mich erwischt, im Gegenteil, man sprach mir volles Lob aus. Das Ganze hatte den Grund, daß ein raffitückischer Mensch auf die Idee gekommen war, meine Stelle mit einer Tippse zu besetzen, die neben dem Warten auf das Piepsen Schreibarbeiten erledigen konnte. Würdn bißchen mehr kosten, wär aber effektiver. Ich bin der Welt gekürzt worden. Wegrationalisiert. Man bot mir den Posten eines Parkplatzwächters an. Ich sah, daß es Frühling wurde und ging in Pension. Echt würdevoll. Erst hinterher fiel mir auf, wie weit ich unter meinen Möglichkeiten geblieben war. Nie hatte ich zur Arbeit Freunde oder Freundinnen mitgebracht. Und hätt ich damals schon Schlimmer-Finger-Heinz gekannt, welchen Reibach hätten wir einscheunen können. Man bleibt unter seinen Möglichkeiten, wenn man zufrieden ist. Nie zufrieden zu sein ist der halbe Weg zum Glück.

Ein Bier, fünf Zigaretten. Nochmal Dachauer Straße. Strandgut des letzten Flohmarktsonntags.

Mitten im Kies, frei habhaft unter der Sonne, liegt eine Partitur. John Cage– Water Music.

Sieht sicher hübscher aus, als es klingt. Wem soll man die verkloppen?

Ich, mit der Partitur, immerhin DIN A3, macht was her, zur Trambahn, unterschreib auf der Titelseite mit John Cage, (wie sonst?) schon hoffnungsvoller, gibt nichts, aus dem nicht was zu machen wäre, also, wenn man das nicht in Bares verwandeln kann, taugt es wenigstens als stilvolles Geschenk, oder etwa nicht?

Eines Tages werde ich haben, was ich will, und ich werde vergessen haben, was ich wollte. Es wird kein Hochgefühl in mir sein. Ich werde die Leere mit billigen Spielen füllen und kein Gott wird bei mir wohnen.

Ich spaziere, weil bewegliche Ziele schwerer zu treffen sind. Paul kriegt fünfzig Mark von mir, ich muß ihm die nicht geben, aber wenn er sie nicht kriegt, und möglichst heute, leiht er mir nie wieder was. Paul ist geldfett, weil Medizinstudent vorm Physikum, sowas verscherzt man sich nicht.

Im Alter von sechs Jahren wurde ich zum Symbolisten. Als ich im Luitpoldpark einen kugelrunden Batzen Vogelkacke für eine schöne Murmel hielt – und gleich begriff – es war eine Murmel gewesen – man hätte sie nur nicht berühren dürfen.

Nein, wirklich – die Sonne am Morgen einer durchgemachten Nacht im Mai in München ist klasse, weil man sonst um diese Uhrzeit pennt, allerhöchstens in Italien touristenmäßig früh aufsteht, also glaubt man sich, an einem sonnig-schrägen Morgen einer durchgemachten Nacht im Mai in München, nach Italien versetzt. Jetzt, da die Knochen durchtränkt sind vom Schlafentzug, wärs ein leichtes, heimzufahren, den Kopf aufs Kissen zu knallen, extrem stillos wäre das und schrecklich rational.

Heute ist Mittwoch, Mittwoch ist ein Tag, wie der Name sagt, mitten im Niemandsland der Zeit, da laufen abends im Tanzlokal Platten aus der seligen Ära des Pop, abgemischt von DJs, die nebenher an Chroniken der laufenden Lustlosigkeit literieren, und sonst?

Ein Vorteil der Jugend ist, viele Leute zu kennen, denen gegenüber man unverschämt sein kann. Ein Mittagessen mit Nudeln scheint greifbar wie das zweite Bier.

Kommt es nicht im Übermaß emphatisch, zu denken, daß alle gelebt habenden Menschen in ein und dieselbe Sonne, ein und denselben Mond gesehen haben? Und zu allen haben die gesagt: ist gut, der nächste bitte, weitergehn. Wahnsinn, nicht? Zwischen Sonne und Erde und Mond und Erde existieren, verborgen in unsichtbaren Schläuchen, Relikte alles bislang verzeichneten Aufschauens.

Solang es noch zwei Leute gibt, die man anpumpen kann, gibt es ein Morgen und ein Übermorgen. Alles andere ist Fiktion im Grenzgebiet Arkadiens.

Just an diesem aussichtslosen Mittwoch begann die Geschichte mit Valerie.

II

Auferstehungssymphonie

Als Sechzehnjähriger hab ich mal auf dem Gehsteig einen blauen Wellensittich liegen sehen, halbseitig flügellahm, was interessant war, weil in dieser Straße an jedem Lichtmast ein Zettel hing – Blauer Wellensittich entflogen, Belohnung, Anschrift – ich lockte den Vogel zu mir, mit Kekskrümeln, er schien hungrig, schwupp, Plastiktüte drüber und zur angegebenen Adresse geradelt, Tüte auf den Gepäckträger geklemmt, der Vogel flatterte mit seinem gesunden Flügel, es dauerte, bis er Ruhe gab, und als ich ankam, wars schon beunruhigend ruhig. So eine Scheiße.

Den toten Vogel in der Tüte – wer kauft das? Ich klingelte nurmehr aus purer Gemeinheit.

«Ist das Ihrer?»

«Mein Gott, ja…» Hinter der Frau erschien ein kaum vierjähriges Gör, begann beim Anblick des seligen Haustiers zu flennen, zu schreien, in allerhöchsten Tönen zu kreischen…

«Ich weiß, was Sie sagen wollen. Er ist tot, Sie haben recht. Hab ihn so gefunden.»

Lüge, gesotten in pietätischem Blick. «Hab gedacht, besser, ich bring ihn trotzdem vorbei, dann wissenSie wenigstens, daß er tot ist. Andernfalls hätten Sie sich vielleicht Ihr Leben lang gefragt, ob er nicht im Versuchslabor, naja…»

Die Besitzerin sah mich verstört an, als ob sie mühsam ausrechnen müsse, inwieweit mir nun zu danken sei. Schlußendlich holte sie ihr Portemonnaie und drückte mir fünf Mark in die Hand. Ich hielt den Mund. War nurn toter Vogel, was kann man da verlangen?

Mit John bei Paul.

«Ist doch son Komponist, oder?»

«Genau. Selbst du hast von ihm gehört, das sagt doch einiges.»

«Ich kann das nicht annehmen. Ich meine, dir bedeutet das was, und mir ja nicht so, also…»

«Paul, bitte…»

«Irgendwie wärs mir lieber, du gibst mir den Fuffi cash, ehrlich…»

«Hör mal, ich bin durch die halbe Stadt getigert, um dir das zu geben.»

«Aber das ist wahrscheinlich mehr wert als fünfzig Mark.»

«Da hast du völlig recht, eindeutig. Doch meine Schulden zahl ich, wenns sein muß, damit.»

Paul wußte nicht recht, wie er seine Rührung in Worte fassen sollte.

«Machen wirs», schlug ich ihm vor, «einfach so: Du kriegst die Partitur als Pfand, und sobald ichs mir leisten kann, löse ich sie wieder aus. Für siebzig Mark. Alles klar?»

«Klar.»

«Kannst du mir die zwanzig vielleicht gleich geben? Ich bin echt knapp.»

Es gibt noch gute Menschen. Sie werden weniger, aber es gibt sie.

Mit einem bügelglatten Zwanziger spazierte ich bei Paul aus der Haustür, ohne beschädigtes Gewissen, was sind zwanzig Mark für den angehenden Herzchirurgen? Und später, wenn ich berühmt geworden sein würde, würde jeder dankbar sein, der behaupten konnte, ich schuldete ihm noch was, ja, die Mitgliedschaft im Interessenverein zur Eintreibung Hagenscher Kleinschulden würde einer exklusiven Auszeichnung gleichkommen. Davon war ich überzeugt.

Wodurch berühmt? Und wann?

Liebe Freunde, bevor ich das Geschenk des Glaubens erhielt, waren auch in mir Zweifel und Kleingeisterei, doch fürchtete ich mich nicht, und statt den Zwanziger im Wettstreit mit Karl zu verdoppeln, schritt ich zum Tempel der fleischlichen Bilder, was bedeutet in den Keller der Videothek am Sendlinger Tor. Dort wandelte ich zwischen den langen Regalen der Pornoabteilung, was billig kam und dem Blättern in einem Magazin im Sexshop gleich, nur daß man nicht umblättern mußte, nicht angeschnauzt wurde und sich triebhaft Angestautes gleich vor Ort, im toten Winkel der Überwachungskamera, entladen konnte.

Damit verbundene leichte Risiken erhöhten den Reiz, ebenso der Umstand, daß ich mich nicht, wie oft um diese Uhrzeit, allein im Keller fand. Eine Frau stand vor der winzigen Abteilung des Horrorregals, und ihr Blick glitt unentschlossen die Reihen auf und ab. Der Horror schien Alibi und Ausrede. Ich war überzeugt, daß es ihr peinlich war, vor meinen Augen einen Porno auszuwählen und ihn die Treppe hinauf zur Kasse zu tragen. Minutenlang beglotzten wir das zur Verfügung stehende Bildmaterial, sie hatte dabei fünfzig Filme zur Wahl, ich fünfhundert, weshalb es für Außenstehende so aussehen mußte, als tanzte ich durch den Raum, während sie verurteilt war zum abwartenden Stillstand.

(Peters legendärer Anmachspruch: Ich bin Organspender. Brauchen Sie was? Verworfen weil Plagiat. Blinddarm des Ethos. So voller Ehrgefühl warn wir da noch…)

Sie sah ganz gut aus, kurz vor Mitte Dreißig, ihre Erscheinung hatte Stil, hatte Klasse, ohne daß man sofort sagen konnte, warum. Die schlichte Perlenkette vielleicht über dem engen schwarzen Rollkragenpullover, vielleicht auch die glanzschwarzen Lackstiefel unter dem langen roten Faltenrock.

Von Natur eher schüchtern, geht mir mitsamt dem Schlaf manche Hemmung verloren, ich trat hin zu der Frau, sagte: «Könnten Sie mir eventuell helfen?»

«Wobei?»

«Es ist so: Meine Freundin sieht Ihnen entfernt ähnlich und–»

«Echt?»

«Sie hat mich losgeschickt, weil sie… naja, sie möchte sich mit mir mal nen Porno ansehn, Basiskurs Erfahrungsschatz und so. Jetzt weiß ich nicht, ich meine, das Angebot ist riesig, könnten Sie mir mal von Ihrer Warte, fachfraulich sozusagen, was geeignet wäre – damit ich nicht plump mit der Tür in den Bach, Sie verstehn?»

«Daß du mich verarschst, ja.»

«Mein Anliegen enthält eine gewisse Penetranz, aber…»

Weiter kam ich nicht, ein Schwall herzhaften Gelächters stürzte auf mich herab, der mir die Sprache raubte und das Mitlachen aufzwang. Dieses luxuriöse Wesen (schulterlanges Dunkelbraun, blasser Teint) war weder gesellschaftlich noch altersmäßig meine Kragenweite, aber erheiterte Frauen sind beinah gewonnen, sagt eine Weisheit aus dem Morgenland, und nimm was du kriegst, sagt der abendländische Volksmund, schon schlug die Wünschelrute an, schien etwas möglich, von Verbalerotik bis hin zur schnellen Mesalliance im toten Winkel.

Leider, plötzlich und unerwartet, stieg die Frau (Lippen und Nägel in warmem Karmesin) lachend die Treppe hinauf, ließ mich und mein Penetranzanliegen ausgelacht am Treppenabsatz stehen, ganz und gar unabenteuerlich. Ihre Stiefel haben auf dem Treppenholz sehr hübsch geklackt, ich wünschte mich von diesen Stiefeln sanft begangen und sah den metallenen Absätzen hinterher voll wehmütigem Trennungsschmerz. Es war nicht jene Art des Abgangs gewesen, die einlädt, unauffällig zu folgen, drum blieb ich im Keller, nahm die Abfuhr nicht schwer und machte mir noch eine schöne Zeit.

Um es vorwegzunehmen, das war Valerie, und sollte es unglaubhaft wirken, daß wir uns binnen zweier Tage ein zweites Mal begegneten, gebe ich zu bedenken, daß (a) ich auch eine andere Anbahnungsszene hätte erfinden können, (b) das Leben die gekünstelsten Geschichten schreibt und (c) München ein Dorf ist.

Heimwärts. Heute gegen Karl zu spielen, ohne beide Läufer, wäre nicht Wahnsinn, sondern Unsinn. Sinnlos. Zuhause gibts eine Dose Ravioli und Musik, einen Porno und ein gutes Buch für hinterher. Zuhause meint das Zimmer im Erdgeschoß des Hauses der Frau Bertram. Wo ich zur Untermiete wohne, im Monat für 230Mark mit Frühstück. Wo ich nicht mehr lange wohnen dürfte, schade, eigentlich hab ich gern hier gehaust, der Garten ist groß, voll exotischer Blumen, mit einem kleinen, flachen Zierteich, wo sich nachts die Katzen zum Goldfischessen treffen.

Zwei Bier, acht Zigaretten.

Bei Frau Bertram landete ich kurz vor meinem 19.Geburtstag. Sie schien eine liebe alte Dame zu sein, rauchte, wenn sie sich etwas gönnen wollte, bleistiftlange Mentholzigaretten und hielt sich aus meinem Zimmer fern. Wir kamen gut miteinander aus. Das Frühstück bestand in der Mitbenutzung von Toastbrot und Nutella, beides unbegrenzt, so hatte ich noch in schlimmsten Zeiten was zu kauen. War ich mit der Miete im Rückstand, zeigte sie Verständnis und Geduld, ich glaube, nicht so sehr aus Großzügigkeit, denn aus Unbehagen, über Geld zu reden. Ihre Eltern hatten eine Fabrik in Schlesien besessen, hatten in einem Schloß gewohnt, bevor holterdipolter alles verlorenging, und sie sich – ungelernt – als Sekretärin durchbringen mußte. Etwas von der höheren Tochter war ihrem Wesen erhalten geblieben, es äußerte sich in einer durchaus angenehmen Sprödigkeit. Sie zwang mich nie zur Konversation, zeigte sich jedoch für jedes Plauderminütchen dankbar. Gab kaum Gehaltvolles, über das wir beide reden konnten, blieb aber sonst nichts übrig, mußte man nur den Namen Dustin Hoffman fallenlassen. Dann monologisierte Frau Bertram stundenlang über Tootsie, ihren Lieblingsfilm, insofern bemerkenswert, als sie nach ihrem dreißigsten Lebensjahr nur ein einziges Mal den Weg ins Lichtspielhaus gefunden hatte, eben in jenen kitschklamottigen Film, der ihr soviel bedeutete.