Wann das mit Jeanne begann - Helmut Krausser - E-Book
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Wann das mit Jeanne begann E-Book

Helmut Krausser

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Beschreibung

Gertrude Clärenore Schmidt ist seit hundert Jahren mit Jacek Wozniak liiert, dem vielleicht ältesten weißen Mann auf Erden. Ihr Weg hat beide um die Welt geführt bis ins französische Clisson, wo das eigenartige Paar von Geschichten eingeholt wird, die lange vor ihnen die Menschen bewegt haben. Starke Frauen spielen darin mit, etwa Jehanne d'Arc und Jeanne de Belleville, eine blutrünstige Piratin. Ein Roman wie ein Paralleluniversum, in dem womöglich andere Naturgesetze gelten, eine menschliche Komödie voller Witz und Wehmut, in der alles sich um die Liebe dreht in ihren vielfältigen Spielarten.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Wann das mit Jeanne begann

Manche Geschichten …

Die Zeugin Marguerite …

Erstes Buch

Leben im Schatten verblutender Pferde

Die sechs Leibzeugen

Zweites Buch

Das Theater der Träume

Drittes Buch

Alles ist Fleisch

Viertes Buch

Zia

Ayla und Timur

Abu Faris

2005

Die schwarze Ewigkeit

Gilles de Rais

Die Patin Jeannette …

»Jacek, wo sind wir?«

Weißt du noch, …

An dieser Stelle …

Überall sind Lichter.

Dank

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Wann das mit Jeanne begann

Es ist eine ruhige Landschaft. Weit überschaubar.

Wir sind gut getarnt. Wenn man uns sieht, käme man nie auf die Idee, dass wir etwas anderes sein könnten.

Manche Geschichten spielen sich nicht inmitten einer Jahreszeit ab. Sie beginnen irgendwann und sind, während man von ihnen erzählt, längst noch nicht an ihrem Ende angelangt. Manchmal ist es indes nötig, sozusagen einen Zwischenstand mitzuteilen. Denn jene, die darüber noch wahrheitsgemäß berichten können, sind sterblich. Auch ich. Leider.

Wann das mit Jeanne begann, weiß ich noch gut. Wie so oft im Leben hat ein Zufall die Hauptrolle gespielt. Und wie so oft stellte sich in diversen späteren Leben heraus, dass der Zufall keiner gewesen war. Um all das zu erzählen, benötigt es Geduld und langen Atem. Also haltet die Luft an, schweigt und hört zu. Jemand wie ich redet selten zu solchen wie euch.

Die Zeugin Marguerite La Touroulde, hochwohlgeborene Dame, Witwe des Magisters René de Bouligny, zu seinen Lebzeiten Ratgeber des Königs, unseres Herrn, 64 Jahre; vernommen am 30. April 1456

Zu jener Zeit war in den königlichen Provinzen so schwere Drangsal und Not, dass es einen jammern konnte. Die Untertanen des Königs waren am Rand der Verzweiflung. Das weiß ich, denn mein Gemahl war damals Obersteuereinnehmer. Weder vom Geld des Königs noch von seinem eigenen hatte er mehr als vier Taler! Orléans war von den Engländern belagert, und man wusste kein Mittel, wie der Stadt zu Hilfe zu kommen wäre.

In dieser äußersten Not erschien die Jungfrau.

Erstes Buch

Leben im Schatten verblutender Pferde

Vor einiger Zeit hat Jacek sich verliebt. Ausgerechnet in eine Tote. Das sind keine einfachen Beziehungen. Gut, manche sagen so, andere so. Selbstverständlich war ich eifersüchtig. Wir beide waren ihr, Jeanne, nur ein einziges Mal begegnet, während eines verunglückten Zeitentaumels, der eigentlich einer anderen gegolten hatte. Sekunden, während derer wir uns in ihrer Nähe befanden und zu Zeugen ihrer brutalen Leibhaftigkeit wurden.

Jeanne war damals nicht mehr ganz jung, schon nicht mehr ganz blond, aber sie schwang ein doppelschneidiges Schwert über ihrem Kopf, trug hohe Stiefel bis über die Knie und ihr Haar offen, ungebändigt. Sie erspähte uns, taxierte uns, wusste nicht, ob wir zu den Freunden oder Feinden zählten, schien aber auf Nummer Sicher gehen zu wollen und sprang uns entgegen. Mit einem Gebrüll, das dem eines Tieres glich, nur eben keinem uns bekannten. In diesem Moment brach der Zeitentaumel ab. Unsere Kopfkissen waren nass von Schweiß.

Jacek konnte stundenlang nicht sprechen. Oder wollte nicht sprechen. Irgendwann murmelte er was von »dunkler, fast schwarzer Energie«, vom »Mysterium des Mensch gewordenen Racheengels«, dann schlief er mit mir, ohne mich zu liebkosen, einfach, um runterzukommen, um sich von ihr abzulenken, loszueisen. Es war bereits zu spät.

Inzwischen vermeidet Jacek das Thema, wenn es sich nicht aufdrängt. Als sei es ihm peinlich. Ist es ja auch. Er begehrt eine Tote. Spricht man ihn drauf an, redet er sich gern auf ein rein berufliches, wissenschaftliches Interesse hinaus. Mit Jeanne, der grausamsten Frau, die je auf Erden gelebt hat, bla, könne ein enormer Zauber vollzogen werden. Bla. Zauber ist in diesem Fall ein sehr dehnbarer, fast schwammiger Begriff. Keine Ahnung, wie Jacek sich das vorstellt. Was er sich vorstellt. Vermutlich weiß er das selbst nicht.

Man könnte zu seinen Gunsten annehmen, er wolle meine Gefühle nicht verletzen, aber die sind ihm ziemlich egal. Unsre Beziehung ist von seiner Seite her eindeutig definiert worden, am 3. November 1924, an Deck des Dampfers RMS Mauretania in einer schwül-warmen Vollmondnacht auf dem Pazifik, hundert Meilen südlich von Jakarta. Ich zitiere wortgetreu: »Die Liebe ist eine Konfusion der Gefühle, die ich mir nicht leisten darf, Trudi. Du bist meine Freundin und Gefährtin, damit gut. Genügt dir das nicht, geh deiner Wege, mit meinem vollsten Verständnis. Solange wir uns beide nützlich sind, solange wir uns aneinander levitieren, werde ich dich achten. Mehr anzubieten ist mir nicht möglich.«

So lautete Jaceks Antwort auf meinen simplen Satz: »Ich liebe dich.«

Und so halten wir es, seit nunmehr fast hundert Jahren.

Aber ich muss viel weiter ausholen, um. Dabei weiß ich gar nicht, ob. Und welchen Sinn das. Egal, ich sitze hier in einem alten Farmhaus, und jeden Tag, jede Stunde könnte Zia über uns kommen, ich muss irgend etwas.

Andere waschen ab, ich schreibe auf.

Vielleicht ist Jeanne ein guter Anfang. Oder Jehanne.

Ich weiß nicht, wo mir der Kopf.

Erste öffentliche Sitzung, 21. Februar 1431. Königliche Kapelle des Schlosses zu Rouen. Den Vorsitz hat Pierre Cauchon, Bischof von Beauvais. 43 Beisitzer, Jehanne

Jehanne: Die Offenbarungen, die mir Gott zuteil werden ließ, habe ich mit niemandem geteilt außer Charles, meinem König. Über diese Dinge würde ich nicht reden, selbst wenn man drohte, mich zu enthaupten; denn sie entstammen Visionen oder der Stimme meines geheimen Ratgebers.

Die Katastrophe am Berg Ararat hatte uns erneut um Jahrzehnte zurückgeworfen, beinahe so schlimm wie damals der Wahnsinn in Paraguay.

Sieben der elf ehernen Koffer – für immer verloren. Und es war heiß. Hitze und Gestank, klebrige Luft. Vieles, das hätte gekühlt werden müssen, roch nach Verwesung. Trudi standen die Strapazen ins Gesicht geschrieben. Um ehrlich zu sein, sah sie vorher schon aus wie ihre eigene Mumie. Nun mussten wir wieder Lotto spielen, um an Geld zu kommen

Wir hätten, ganz klar, von Anfang an nach Frankreich gehen sollen, ohne Umweg. Aber das wäre nach dem Krieg nicht so leicht gewesen, hätte Mühsal und Aufwand bedeutet. Ach, es wäre schon irgendwie gegangen, wir waren nur zu bequem. Wir haben es versaut. Also ich, ich ganz allein. Trudi trifft keine Schuld. Na ja. Vielleicht ein bisschen. Sie hätte mich öfter in den Hintern treten müssen.

Wie dem auch sei, nun waren wir endlich angekommen.

Nach soviel Diaspora und Depression, nach einem langen Leben im Schatten verblutender Pferde, weggeschossen unter unseren Sätteln. Es gleicht dem Gefühl, kehrt man als Kind von einer ersten großen Reise nach Hause zurück. Und gibt es kein Zuhause mehr in dieser Welt, sollte es, wenigstens, eine uns ausnahmsweise gewogene Fremde sein.

Jacek redet von Frankreich, von der Bretagne, von Clisson. Eine winzige Stadt, eher ein größeres Dorf, südöstlich von Nantes. Per Airbnb hatten wir uns dort für die nächsten sechs Monate ein abgelegenes Farmhaus gemietet. Wir legen auf Nachbarn selten Wert. Und die nicht auf uns.

Dritte öffentliche Sitzung, Samstag, 24. Februar 1431. Der Bischof, 62 Beisitzer, Jehanne

Magister Jean Beaupère: Wann hast du zuletzt gegessen und getrunken?

Jehanne: Seit gestern nachmittag habe ich weder gegessen noch getrunken.

Magister Jean Beaupère: Hast du wieder die Stimme gehört?

Jehanne: Gestern und heute.

Magister Jean Beaupère: Wann gestern?

Jehanne: Dreimal – einmal am Morgen, ein zweites Mal bei der Vesper, das dritte Mal beim Läuten des Ave-Maria am Abend. Manchmal habe ich sie viel öfter gehört.

Magister Jean Beaupère: Was hast du am Morgen gemacht, als die Stimme zu dir kam?

Jehanne: Ich habe geschlafen, die Stimme hat mich geweckt.

Magister Jean Beaupère: Bist du am Arm berührt worden?

Jehanne: Die Stimme hat mich geweckt, ohne mich zu berühren.

Magister Jean Beaupère: Befindet sich diese Stimme in deiner Zelle?

Jehanne: Ich weiß es nicht, aber sie ist im Schloss.

Magister Jean Beaupère: Hast du dich nicht bedankt und bist niedergekniet?

Jehanne: Ich habe mich bedankt, aber, ans Bett gefesselt, konnte ich nur die Hände falten; erst danach habe ich um Beistand gebeten. Die Stimme riet mir, ich solle Euch mutig antworten. (…) Gott werde mich trösten.

Magister Jean Beaupère: Welchen Wortlaut hat die Stimme benutzt? Hat sie bestimmte Wörter verwandt [oder teilte sie sich über ein Gefühl mit]?

Jehanne: Die Stimme hat bestimmte Worte gebraucht, aber ich habe nicht alle verstanden. [Sie wendet sich an den Bischof von Beauvais] Ihr sagt, Ihr seid mein Richter. Passt auf, was Ihr tut, denn ich bin von Gott gesandt, und Ihr bringt Euch in große Gefahr …

Das Haus besitzt einen intakten, frisch renovierten Wohntrakt, etwa 100 Quadratmeter, mehr benötigen wir nicht. Daneben gibt es zwei große, leerstehende Scheunen. Zum Anwesen gehörten etliche Felder und ein Wäldchen, nun aber nicht mehr, sie sollen in den nächsten Jahren zu Bauland deklariert werden. Schade, ansonsten wir überlegt hätten, den Hof zu kaufen und zum Alterssitz auszubauen. Bald mussten wir feststellen, dass wir hier nicht allein sind. In einer der Scheunen lungert ein Lemur.

Das kann Ihnen für den Moment völlig egal sein, darum geht es nicht. Jacek hat davon angefangen. Immer hat Jacek mit allem angefangen. Auch mit Jehanne. Ich erzähle es so, dass auch Sie es. Europa, Zwanzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Wir sind da noch in Neuseeland. Egal.

Ich nehme an, dass mehr oder weniger gebildete Menschen die Geschichte der Johanna von Orléans, wie sie in Deutschland genannt wird, gründlich kennen. Deshalb sei ihr Werdegang für alle anderen in einfacher Sprache dargelegt:

Jehanne ist ein Mädchen, das nie was mit einem Jungen hatte. Oder sonstwem. Sie hört, seit sie 13 ist, Stimmen. Die sind in ihrem Kopf. Sie gehorcht den Stimmen. Sie geht zum französischen Dauphin. So heißt in Frankreich der Thronfolger. Mit Vornamen heißt er Charles. Sie fragt ihn, ob sie sein Heer anführen darf. Er weiß erst nicht so recht. Dann sagt er ja. Jehanne und das Heer greifen die englischen Besatzer an. Engländer gehören nicht nach Frankreich, sagt sie. Außer als Touristen. Die Engländer verlieren wichtige Städte. Jehanne führt Charles nach Reims. Dort wird er gekrönt und darf sich jetzt König nennen. Sie vollbringt Dinge, die als Wunder gelten. Dann verlässt sie das Glück. Die Engländer nehmen Jehanne gefangen. Sie ist 19. Ihr wird ein Prozess gemacht. Das Urteil steht schon fest, denn die Richter sind böse. Man nennt Jehanne eine Ketzerin. Das ist jemand, der an falsche Dinge glaubt. Sie wird verbrannt auf dem Scheiterhaufen in Rouen. 20 Jahre später reagiert Charles. Er möchte seine Krone keiner Ketzerin zu verdanken haben. Es gibt einen neuen Prozess. Diesmal finden alle Jehanne gut.

Ganz im Ernst: Um ein exaktes Studium der Jeanne d’Arc, die korrekter Jehanne genannt werden sollte (denn so nannte man sie, so nannte sie sich), kommt man als Weißmagier kaum herum. Möchte man jemanden von der Existenz des Übernatürlichen überzeugen, bietet die Jungfrau und Nationalheilige Frankreichs mit ihren Wundertaten etliches Material für eine kritische Auseinandersetzung. Wundertaten? Wirklich? Meistenfalls handelt es sich um detaillierte Prophezeiungen, die zeitnah und korrekt eintrafen. Einmal soll sie ein verstorbenes Baby zum Leben erweckt haben, aber da das Kind gleich darauf erneut verstarb, gilt das nicht so recht. Einmal hat sie gesagt, hinter dem Altar sei ein Schwert versteckt – und da war wirklich eins. Naja. Einmal hat sie dem Herzog von Alençon gesagt, er solle da nicht stehenbleiben, wo er stehe, da werde gleich ein Geschoss landen. Der Herzog hat auf sie gehört, und ein anderer starb an jener Stelle, an seiner Stelle.

Naja.

1920 war das Jahr, in dem Jehanne wieder ins öffentliche Bewusstsein rückte. Sie wurde von der katholischen Kirche heiliggesprochen. Zuvor hatte sie für viele als (wenn auch militärisch zeitweilig sehr erfolgreiche) religiöse Fanatikerin gegolten, deren Visionen (die den Bestand Frankreichs gerettet und die Besatzung der Engländer beendet haben) mögliche Folge einer Geisteskrankheit waren, einer schizoiden Persönlichkeit mit Zwangsvorstellungen. Aber nun war sie eine Heilige, und die wurden damals von den Zeitungen sehr selten geisteskrank genannt, außer von den ganz linken und anarchistischen Blättern, denen rein gar nichts heilig ist.

Fünfte öffentliche Sitzung, Donnerstag, 1. März 1431, Rüstkammer. Bischof Cauchon, 58 Beisitzer, Jehanne

Der mit dem Verhör beauftragte Richter: Auf welche Weise nimmst du die Gestalt wahr?

Jehanne: Ich sehe ein Gesicht.

Richter: Haben die Heiligen, die dir erscheinen, Haare?

Jehanne: Das versteht sich von selbst.

Richter: Gibt es etwas zwischen den Kronen und ihrem Haar?

Jehanne: Nein.

Richter: Tragen die Heiligen das Haar lang und hängend?

Jehanne: Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, ob es Arme oder andere Gliedmaßen gibt. Was ich weiß, ist, dass die Stimmen gut und schön sprechen und deutlich zu hören sind.

Richter: Wie können die Heiligen sprechen, wenn sie keine Körper besitzen?

Jehanne: Das überlasse ich Gott! Die Stimme ist schön, sanft und bescheiden und spricht die Sprache Frankreichs.

Richter: Spricht die heilige Margareta nicht Englisch?

Jehanne: Warum sollte sie das, wenn sie nicht der englischen Partei angehört?

»Einmal redet sie von Stimmen, also Plural, dann von nur einer Stimme.«

»Ja, es ist immer dieselbe. Die Gesichter wechseln. Die Stimme ist weder weiblich noch männlich, es ist eine Stimme in ihrem Kopf.«

Jacek las die kompletten Prozessakten, eine wortwörtliche Mitschrift, altfranzösisch wie lateinisch (nicht irgendeine womöglich entstellende Übersetzung), und wie fast jeden, der diese höchst spannenden Akten liest, überkam ihn Sympathie und Mitleid mit der Bauerstochter, die, von den Engländern gefangen und von eingeschüchterten französischen Klerikern der Ketzerei bezichtigt, allen Vorwürfen mit erstaunlich klugen Antworten begegnet, obwohl sie doch schlicht und kindlich gewesen sein soll, kaum lesen und nur ihren Vornamen schreiben konnte.

Neuntes Sonderverhör, am Samstag, 17. März, nachmittags in Jehannes Gefängnis

Richter: Hast du die Heiligen Katharina und Margareta jemals geküsst oder umarmt?

Jehanne: Umarmt, ja.

Richter: Rochen sie gut?

Jehanne: Selbstverständlich!

Richter: Hast du dabei Hitze oder etwas anderes gespürt?

Jehanne: Ich kann niemanden umarmen, ohne ihn zu spüren und zu berühren.

Richter: Wo genau hast du sie umarmt? Oben oder unten?

Jehanne: Es ist besser, sie unten zu umarmen als oben.

»Sie hat zuvor gesagt, sie wüsste nicht, ob die Gestalten Glieder oder Arme haben. Und jetzt will sie deren Knie umfasst haben?«

»Ja, sie denkt sich das aus.«

Dass eine junge Frau bei lebendigem Leib verbrannt worden war, noch auf derart boshafte Weise (dem sehr empathischen Henker war es nicht möglich, ihr Leiden durch Erdrosseln zu verkürzen, weil sie zu weit oben angebunden wurde) – all das hat Jacek zutiefst bewegt. Wohl kann man sagen: erschüttert. Wann immer er über Jehanne las, wurde sie in seiner Vorstellung so lebendig, als könne ihr Ende doch noch alternativ gestaltet werden. Manchen Figuren der Geschichte ist eine solch surreal-posthume Präsenz verliehen, den meisten nicht, die reduzieren sich auf Daten, Zahlen, Anekdoten. Jehanne d’Arc hingegen wird, sobald man ihre Aussagen liest, zu etwas fast aufdringlich Lebendigem. Mir ging es ähnlich, doch bin ich eine Frau. Jehannes Schicksal wirkt, diese Erfahrung habe ich gemacht, auf Männer deutlich stärker, zumindest anders als auf Frauen. Weil sich unwillkürlich eine erotische Komponente einstellt. Weil andauernd die Jungfernschaft Jehannes betont wird. Das weckt im Leser nicht nur den Beschützerinstinkt, zumal sie einigermaßen vorzeigbar und anmutig gewesen sein soll.

Um es kurz zu machen: Jacek hat sich fast zehn Jahre lang mit nichts anderem beschäftigt als dieser Frau oder Jungfrau oder was auch immer.

Vierte öffentliche Sitzung, am Dienstag, dem 27. Februar, in der Rüstkammer des Schlosses

Magister Jean Beaupère: Wie ist es dir seit letztem Samstag ergangen?

Jehanne: Ihr könnt sehen, wie es mir ergangen ist. Es geht mir, wie es eben geht.

Magister Jean Beaupère: Hast du in dieser Fastenzeit jeden Tag gefastet?

Jehanne: Gehört das zum Prozess?

Magister Jean Beaupère: Es geht darum, dich zu prüfen.

Jehanne: Gut, in der Tat, ich habe während dieser Fastenzeit immer gefastet. (…)

Magister Jean Beaupère: Kommt mit der Stimme auch ein Licht zu dir?

Jehanne: Das Licht erleuchtet alles im Raum, so wie es sich gehört. Das Licht gilt nicht mir allein. (…)

Magister Jean Beaupère: Als du zum ersten Mal deinen künftigen König sahst, schwebte ein Engel über seinem Kopf?

Jehanne: Bei der Muttergottes, wenn da einer war, dann habe ich ihn nicht gesehen noch erkannt.

Magister Jean Beaupère: War denn das Licht vorhanden?

Jehanne: Dort waren mehr als dreihundert Ritter und fünfzig Fackeln, ganz abgesehen vom geistigen Licht. Und nur selten hatte ich eine Offenbarung im Dunklen. (…)

Magister Jean Beaupère: Was hatte es mit diesem Schwert auf sich, das du bei dir trugst?

Jehanne: Während meines Aufenthalts in Tours oder Chinon ließ ich in der Kirche Sainte-Catherine-de-Fierbois hinter dem Altar ein Schwert hervorholen. Es lag in der Erde, war verrostet, ich habe durch meine Stimmen von ihm erfahren; fünf Kreuze waren darauf. (…)

Ich hatte an die Geistlichkeit jenes Ortes geschrieben, dass ich dieses Schwert gerne haben würde; und es wurde mir zugesandt. Es lag nicht tief in der Erde. Sobald es entdeckt war, hat man den Rost ohne viel Mühe abgerieben. (…) Ich trug das Schwert ununterbrochen, bis ich in Lagny war; von dort bis Compiègne hatte ich dann ein anderes Schwert, das eines Burgunders.

Magister Jean Beaupère: Warum ging dir das Schwert verloren?

Jehanne: Das ist nicht Teil dieses Prozesses, und ich werde darauf keine Antwort geben.

Magister Jean Beaupère: Was war dir lieber, deine Fahne oder dein Schwert?

Jehanne: Ich mochte meine Standarte viel lieber, vierzigmal lieber als mein Schwert. Ich habe, auch während wir angegriffen haben, immer nur die Fahne getragen, um niemanden zu töten; ich habe niemals einen Menschen getötet.

Sie werden sagen: Zehn Jahre!? Das ist doch gar nicht viel. Was man heute mit einem Knopfdruck im Netz findet, das zusammenzutragen dauerte damals Monate, oft Jahre. Noch viel länger dauerte es, eine Fehlinformation auszusortieren. Es wimmelte von Fehlinformationen, Fälschungen, Übertreibungen, Erfindungen, Stilisierungen. Im Grunde reicht ein Forscherleben gar nicht aus, um dem Phänomen Jehanne wirklich nahezukommen. Und während dieser zehn Jahre hat mich Jacek allabendlich ausgiebig mit seinen Fortschritten, Kenntnissen und immer neuen Details beglückt. Und damit verbundenen Überlegungen. Zum Beispiel die Frage, ob sie am 28. Mai 1431 freiwillig Männerkleider angezogen hat oder ob sie von ihren englischen Kerkermeistern dazu gezwungen wurde. Darüber haben wir ungefähr ein halbes Jahr debattiert. Spielt für Sie keine Rolle?

Ihrereins hat andere Sorgen? Ja, ich hoffe doch sehr.

Anfangs vertraute Jacek auf Jehannes eigene Sätze, den Wortlaut ihrer Aussage im

Secundum Judizium, vom Montag, 28. Mai 1431

Gefragt, warum sie diese Kleidung angenommen habe und wer sie dazu gebracht habe, antwortete sie, dass sie sie aus eigenem Willen und ohne Zwang angenommen habe und dass ihr die Kleidung eines Mannes besser gefalle als die einer Frau.

Daraufhin wurde ihr vorgehalten, dass sie versprochen und geschworen habe, das Männergewand nicht wieder anzunehmen. Sie antwortete, nie von einem solchen Schwur gehört zu haben.

Als sie gefragt wurde, warum sie es wieder angezogen habe, antwortete sie, dass es ihr schicklicher erscheine, ein Männerkleid zu tragen, wenn sie unter Männern sei, als ein Frauenkleid. Auch deshalb habe sie es wieder angezogen, weil man nicht gehalten hat, was man ihr versprochen hatte, nämlich dass sie zur Messe gehen und den Leib Christi empfangen dürfe, und dass man sie aus den Fesseln befreien würde.

Ich dagegen hielt diese Stelle für eine plumpe Erfindung der Gerichtsschreiber, die alles wegließen, was zu Jehannes Verteidigung dienlich gewesen wäre.

Ich weiß noch, ihr Herz hat eine wichtige Rolle gespielt. Nein, das ist nicht metaphorisch gemeint. Ihr Herz. Das Organ. Die Blutpumpe. Moment, ich muss kurz nachdenken, wie das war. Ja, das war am 30. Mai 1931, in der Vossischen Zeitung. Irgendein Redakteur hatte seiner Leserschaft a bit of Death Porn zugemutet, indem er eine herzlose Schilderung vom 30. Mai 1431 veröffentlichte, dem Tag, als Jehanne auf dem Marktplatz von Rouen lebendig verbrannt wurde.

Der Text ging in etwa so:

Sie wurde an einen Pfahl gebunden, der auf dem Gerüst und aus Gips war,[1]und das Feuer kam über sie, da war sie bald erstickt und ihr Kleid ganz verbrannt, doch dann wurde das Feuer niedrig gehalten, und sie wurde dem Volk nackt gezeigt und alle Geheimnisse, die an einem Weib sein können oder sollen, um die Zweifel des Volkes wegzunehmen. Und als man genügend und nach Belieben sie tot, an den Pfeiler gebunden, gesehen hatte, da schürte der Henker das Feuer wieder hoch über ihre arme Leiche, die bald ganz verbrannt war, und Knochen und Fleisch zu Asche geworden.

Nirgends in dieser niederträchtig dummgeilen Darstellung ist von ihrem Herzen die Rede. Kurz zuvor jedoch hatte Jacek beim hochgeschätzten C. F. Garmann (De miraculis mortuorum: Über die Wunder[dinge] der Toten, Kirchner, Leipzig 1670) etwas ganz anderes gelesen:

§. 13. [Dass das Herz bisweilen nicht mitverbrennt.]

Es wird zu Recht den Eigenartigkeiten des Herzens zugerechnet, wenn es in seltenen Fällen nicht verbrannt werden kann, selbst wenn die übrigen Körperteile schon vom Feuer verzehrt sind. Dies komme, versichern manche, einem Wunder nahe und habe eine übernatürliche Ursache. Über die Jungfrau Johanna, die durch eine mehr als männliche Tapferkeit berühmt wurde, berichtet Kornmann (part.3.c.39. & part.1.Temp.Nat.conclus.22.p.69.) aus anderen Quellen, dass ihr Herz, nachdem sie auf den Scheiterhaufen gebracht und zu Asche verbrannt worden war, der Gewalt des Feuers entkam, als Zeichen ihrer Unschuld.

Weil damals Wissenschaft und Poesie noch gerne miteinander tafelten, fügt Garmann die Verse des Pariser Theologen Valerianus hinzu:

Zuletzt erstrahlte die Frömmigkeit der Jungfrau

im Tode, als die Flammen ihren Leib schon hatten

in Asche verwandelt, sah man das Herz unversehrt,

denn Feuersbrand entweiht den Sitz eines lauteren

Sinnes nicht. Eine weiße Taube schien dem Feuer

zu entfliegen, sich zum Himmel emporzuschwingen;

viele sahen dabei zu.

Garmanns Buch war seinerzeit sehr erfolgreich, weil prompt von der Kirche verboten. Keine zweihundert Jahre später wurde fast nichts darin mehr ernst genommen. Das mit der Taube will ein englischer Soldat beobachtet haben, aber wir wissen, was von Beobachtungen englischer Soldaten zu halten ist. Anyway. Sie starb als Ketzerin, wurde ein halbes Jahrtausend danach heiliggesprochen. Man darf von einer Karriere mit extremen Höhen und Tiefen sprechen.

Jacek legte mir drei der Zeugenaussagen aus dem Rehabilitierungsprozess von 1456 vor, da hieß es einmal:

Der erlauchte und fromme Bruder Ysambart de la Pierre, vom Orden der Predigerbrüder zu Rouen, Priester, vereidigt und als Zeuge vernommen am 5. März 1450

Jehanne sagte, dass sie sich dem Papst bereitwillig unterwerfen würde, und bat darum, zu ihm geführt zu werden, dass sie sich aber keinesfalls den Anwesenden unterwerfen würde, die ihr den Prozess machten, weil diese, wie sie oft wiederholte, ihre Feinde seien. Ich gab ihr den Rat, sich dem damals stattfindenden Konzil von Basel zu unterwerfen, und sie fragte, was das sei, ein général concile. Ich erklärte ihr, dass es sich um eine universelle Versammlung der gesamten Kirche und Christenheit handele und dass in diesem Konzil viele Männer ihrer Partei wie auch der Engländer vertreten seien. Jehanne rief aus: »Oh, da sind noch andere von uns?« Sie antwortete sofort, dass sie bereit sei, sich diesem Rat zu unterwerfen. Doch sogleich schrie mich der Bischof von Beauvais voller Bosheit und Zorn an: »Schweigt, beim Teufel!« Der Bischof befahl den Gerichtsschreibern, dies auf keinen Fall zu protokollieren. Aus diesem und aus anderen Gründen wurde ich von den englischen Soldaten und ihren Offizieren ernsthaft bedroht, ich würde in die Seine geworfen und ertränkt, wenn ich von nun an nicht den Mund hielte.

(…) Jehanne sagte und erklärte öffentlich, dass ihr im Gefängnis viele Beleidigungen und Gewalt angetan worden seien, als sie noch das Frauenkleid trug. Und tatsächlich, als sie in der Sitzung vorgeführt wurde, war ihr Gesicht so voller Angst und Schmerz und mit Tränen bedeckt, dass ich großes Mitleid mit ihr bekam. (…) Nachdem sie die Sakramente der Buße und der Eucharistie empfangen hatte, wurde sie als Ketzerin verurteilt und exkommuniziert. Sobald sie verbrannt war, kam der Scharfrichter zu mir, getrieben von schrecklicher Reue, verzweifelt, weil er glaubte, niemals Gottes Vergebung zu erhalten dafür, was er mit einer so heiligen Frau getan hatte.

(…) Der Scharfrichter beteuerte noch, dass es ihm, obwohl er mehrmals Holzscheite und Kohlen auf Jeannes Eingeweide und Herz geschichtet hatte, nicht gelungen sei, diese einzuäschern; er war darüber wie über ein offensichtliches Wunder erstaunt.

»Wäre das eine fromm-propagandistische Erfindung, Trudi, er hätte die Eingeweide weggelassen. An denen ist sicher nichts Ikonisches!«

Und andermal:

Der Priester Jean Massieu, damals Gerichtsdiener, Pfarrer der Kirche St-Cande-le-Vieux zu Rouen, 50 Jahre, vereidigt und vernommen am 5. März 1450

Jean Fleury, der Kanzlist des Amtmanns, sagte uns danach, der Henker habe nach seinen eigenen Erklärungen festgestellt, dass trotz der Verbrennung des Körpers, der bald in Asche verwandelt war, Jehannes Herz unversehrt blieb und blutgefüllt. Man hieß mich, die Asche und das, was von ihr verblieben war, zu sammeln und alles in die Seine zu werfen, was ich getan habe.

Und zur Sache mit dem Todesporno:

Der Kantor Jean Riquier, Priester und Kaplan der Kathedrale von Rouen, Pfarrer von Heudicourt, Diözese Rouen, 47 Jahre, vernommen am 12. Mai 1450

Als Jehanne sah, wie man die Reisigbündel entzündete, begann sie, mit lauter Stimme Jesus zu rufen, und immer wieder, bis zu ihrem Tode schrie sie: Jesus! Als sie tot war, veranlassten die Engländer den Henker, die Flammen einzudämmen, damit die Anwesenden sehen konnten, dass Jehanne verschieden war, und nicht erzählt würde, sie sei ihnen entkommen. Magister Jean d’Alespée, damals Domherr von Rouen, stand neben mir. Ich hörte ihn weinend sagen: »Wollte Gott, meine Seele wäre dort, wo ich glaube, dass die ihre jetzt ist!«

»Verstehst du? Darum ging es, nur darum! Zu zeigen, dass sie tot ist, erstickt im Rauch. Ich zitiere noch einmal Garmann, der Pererius zitiert:

Ein Dämon vermag einen in das Feuer geworfenen Menschen in vielfältiger Weise vor dem Brand zu bewahren, indem er bald das Feuer löscht oder bald die Flammen weit von ihm abwehrt: Ferner, indem er das wirkliche Feuer heimlich entfernt und an dessen Stelle ein anderes, nur scheinbares setzt, dazu noch, indem er den Menschen unbemerkt aus dem Feuer entfernt und dort sein Abbild zurücklässt; schließlich, indem er ihn mit einem ganz kalten Körper umgibt, der dem Feuer außerordentlich widersteht und durch welchen der Körper des Menschen für gewisse Zeit vor dem Feuerbrand geschützt werden kann.«

»Den Scheiß glaubst du nicht wirklich?«

»Nein, Trudi, aber die Engländer glaubten daran. Oder hielten es für möglich. Engländer sind abergläubischer als Dienstmädchen, hat man damals gesagt. By the way: Nach obigem Rezept funktionieren heute noch etliche Zaubertricks in Las Vegas. Du musst dir vorstellen, Trudi, das Kleid von Jehanne ist schon verbrannt, der Körper war bereits in Flammen gestanden, war von Ruß geschwärzt, das ist ganz sicher kein erotisierender Anblick mehr!«

»Nun, an ihr war zu dem Zeitpunkt noch nichts Wesentliches verbrannt außer den Schamhaaren, das hat die Männer bestimmt …«

»Hör auf! Du und deine schreckliche Phantasie! Ich will dein säuriges Geätze nicht hören, du Meduse des Sarkasmus!«

Jacek war wie besessen von ihr. Auch aus einem nicht so naheliegenden Grund. Man muss wissen: Sie hörte die Stimme seit ihrem 13. Lebensjahr etwa, also kurz nach dem Gerichtsverfahren, in dem sie sich gegen einen jungen Mann zur Wehr setzen musste, der ein ihm angeblich geleistetes Eheversprechen eingeklagt hatte.

»Also, Trudi, fassen wir zusammen. Sie hört die Stimmen dreier Heiliger, die ihr Botschaften vom Himmelskönig selbst überbringen, sprich Jesus, mit dessen Namen auf den Lippen sie im Qualm erstickt. Der heilige Michael ist ein Erzengel, gilt als Herold des Himmels, als Verkünder des göttlichen Willens. Kurzum: Wir glauben nicht an den Himmel, an Gott oder den Teufel oder Engel oder an irgendwelche posthumen Superkräfte für sogenannte Heilige. Rrrrichtig?«

»Das ist.«

»Demnach war sie eine Geisteskranke, die extrem viel Glück hatte, weil ihre Vorhersagen zufällig korrekt eintrafen, oder …«

Jacek wartet gerne, bis ich dieses oder wiederhole, da steht und besteht er drauf. Ich hatte keinen Bock, nur Stichwortgeberin zu sein. In einem Magazin von 1958 hatte ich justemang einen interessanten Artikel gefunden, die sogenannte Butterfield-Theorie, benannt nach einem Professoren-Ehepaar aus London.

»Es gibt eine These, Jacek, dass Jehanne Tuberkulose hatte, einen Gehirntumor, was auch ihre Amenorrhoe[2] erklären würde. Jehanne soll sich durch Milch infiziert haben, die von tuberkulösen Rindern stammte. Bei Schwindsucht, die auf die Milch tuberkulöser Rinder zurückgeht, verkalken die Lymphdrüsen im Magen. Das würde erklären, warum ihr Gekröse nicht gebrannt hat.«

»Na gut, Trudi, also war sie eine Hirnkranke, die sehr viel Glück und Schwindsucht hatte, oder …?«

»Oder …?« (Man muss wissen, wann es gut ist.)

»Sie war eine Magierin!«

Wir können für eine gewisse Zeit unempfindlich gegen Kälte sein. Können uns auch gegen Feuer schützen, nicht sehr lange, aber oft gerade so lange, dass wir ohne Verletzungen aus einem brennenden Haus fliehen können. Dabei handelt es sich um keinen Zaubertrick, sondern im wesentlichen um Techniken, wie sie auch ein Fakir für sich nutzt. Plus ein wenig Magie.

Etliche unsrer Sorte sind verbrannt worden, weil es als sicherster Weg gilt, uns zu töten. Es ist uns leider nicht gegeben, in prekären Momenten himmlische Hilfe herbeizubeten oder in unsren Peinigern Verständnis für unsere Eigenart zu erwecken. Genau das war ein Grund, 1914 vor dem großen Krieg aus Europa zu fliehen. Um nicht in eine tragische (also dumme und fahrlässig unvermiedene) Situation zu geraten. So habe ich Jacek kennengelernt.

»Hallo, Trudi? Hörst du mir zu?«

Wir sind im Jahr 1931, falls Sie das vergessen haben sollten.

»Ja, lieber Jacek, ich höre dir.«

»Trudi, warum sagst du dann nichts? Trudi, liebe Trudi, niemand ist mit siebzehn eine Magierin! Mit siebzehn! Niemand! Hörst du? NIEMAND!«

»Is ja gut, schrei nicht so rum!«

Achtes Sonderverhör am Samstag, 17. März, in Jehannes Gefängnis

Der Richter: Unterwirfst du dich dem Entscheid der Kirche, Jehanne?

Jehanne: Ich verlasse mich auf Gott, der mich gesandt hat, auf die Mutter Gottes und auf alle Heiligen des Himmels. Und bin der Meinung, dass Gott und die Kirche ein und dasselbe sind, warum macht Ihr das komplizierter, als es ist?

Der Richter: Die triumphierende Kirche, das sind: Gott, die Heiligen, die Engel und die geretteten Seelen. Die kämpfende Kirche, das sind Unser Heiliger Vater, der Papst, Stellvertreter Gottes auf Erden, die Kardinäle, die Prälaten der Kirche, die Geistlichkeit und alle gläubigen Christen und Katholiken. Und diese vereinigte Kirche ist unfehlbar, sie ist geleitet vom Heiligen Geist. Beugst du dich also der streitenden Kirche?

Jehanne: Ich bin zum König von Frankreich gekommen durch Gott und die Jungfrau Maria, die Heiligen des Paradieses, die siegende Kirche in der Höhe. Auf deren Befehl bin ich gekommen. Dieser Kirche unterwerfe ich alle meine Handlungen, die ich vollbracht habe oder vollbringen werde. Was meine Unterwerfung unter die streitende Kirche angeht, so kann ich darauf im Augenblick nichts anderes sagen.

Der Richter: Was sagst du zu dem Frauenkleid, das man Euch anbietet, damit Ihr zur Messe gehen könnt?

Jehanne: Ich werde es nicht tragen, bevor Gott es gefällt. Und wenn Ihr mich zur Hinrichtung führen müsstet und ich dort die Kleidung ausziehen müsste, so bitte ich Euch um die Gunst, mir ein Frauenhemd und eine Kopfbedeckung für mein Haupt zu gewähren. Ich würde lieber sterben, als in Frage zu stellen, was mir Unser Herr zu tun gebot. Aber ich glaube fest, dass Unser Herr mich nicht so tief fallen lässt, und dass mir durch ein Wunder Gottes bald Hilfe zukommen wird.

Der Richter: Du behauptest, die Männerkleidung auf Gottes Befehl hin zu tragen. Warum verlangst du dann ein Frauenhemd, wenn es ans Sterben geht?

Jehanne: Es genügt mir, wenn es lang ist.

»Sie will nicht unbekleidet sterben und zur Schau gestellt werden.«

»Ja, und genau darin lag die letzte Boshaftigkeit der Engländer, verstehst du es jetzt, Jacek?«

Mit Trudi bin ich seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zusammen. Wir setzten uns beide rechtzeitig nach Neuseeland ab; auf der Schiffspassage lernten wir uns kennen. Sie war damals schon klein, einen Meter vierzig, das spart Kosten und Raum, und (zugegeben, junge Männer sind leider so) ich genoss es, dass sie zu mir aufsehen musste. Dabei habe ich sie nie anders als mit Hochachtung betrachtet. Immerhin hatte sie es ganz autodidaktisch zu etwas gebracht, stand bereits auf der vierten Stufe der daoistischen Leiter. Wenn ich vorhin von ihrem Antlitz als dem einer Mumie sprach, tut mir das leid, es sollte nicht klingen, als würde ich mich etwa vor ihr ekeln. Mir ist seit langem schon egal, wie sie aussieht. Unter intelligenten Menschen sollten die Verwerfungen im Fleisch keine Rolle spielen.

Dennoch will ich dazusagen, und sei’s nur, weil es schwer glaubhaft klingt: In ihrer Jugend konnte Trudi auch optisch als reizvoll gelten. Es gab erstaunlich viele Galane, die um ihre Gunst warben, manche mit einer erstaunlichen Hartnäckigkeit, die sich an ihrer ebenso erstaunlichen Gleichgültigkeit gleichsam hochschraubte, wie es oft geschieht, wenn sich vermeintlich einfache Beute unerwartet störrisch verhält. Einer ihrer Möchtegernliebhaber, den Trudi schroff abwies, hat sich gar aufgeknüpft, um sie von oben herab mit Schuldgefühlen zu beladen. Ungeachtet dessen, dass man über Tote nichts Schlechtes sagen soll, schimpfte sie ihn einen Idioten und hat ihn binnen Stunden vergessen.

Guillaume de la Chambre, Magister der Künste und der Medizin, Sohn des Leibarztes der Königin, 48 Jahre, vernommen am 2. April 1450

Ich habe mich nach der medizinischen Wissenschaft vergewissern können, dass sie unversehrt und eine Jungfrau war, denn ich sah sie fast nackt, als ich sie wegen einer Krankheit besuchte; ich tastete sie an den Nieren ab, und soweit ich sehen konnte, war sie sehr schmal. (…) Was die erwähnte Krankheit anbelangt, so haben der Kardinal von England und der Graf von Warwick nach mir geschickt. (…) Letzterer teilte mir und den anderen Ärzten mit, dass wir den Fall untersuchen sollten, denn der englische König wolle nicht, dass Jehanne eines natürlichen Todes stürbe, egal um welchen Preis; der König sorge sich sehr um sie, er habe sie teuer erkauft und wolle nicht, dass sie stürbe, ohne dass sie verurteilt und verbrannt werde; wir sollten dafür sorgen, dass sie sorgfältig untersucht und geheilt werde. Wir stellten fest, dass sie fiebrig war; daraus schlossen wir, dass sie zur Ader gelassen werden müsse, und meldeten dies dem Grafen von Warwick, der zu uns sagte: »Hütet euch davor, ein Messer in ihre Nähe zu bringen, denn sie ist schlau und könnte sich töten.« Dennoch wurde sie zur Ader gelassen und war sofort danach geheilt.

Bei der letzten Predigt von Meister Nicolas Midi auf dem Alten Markt von Rouen war ich anwesend; nach dem Ende dieser Predigt wurde Jehanne verbrannt. Das Holz, um sie zu verbrennen, lag schon bereit, und sie gab so fromme Klagen und Ausrufe von sich, dass viele weinten; aber einige Engländer lachten. Ich hörte sie auch diese oder ähnliche Worte sagen: »Ach, Rouen, ich habe große Furcht, dass du durch meinen Tod zu leiden haben wirst! Und dann begann sie zu schreien: Jesus, und den heiligen Michael anzurufen, und endlich verschwand sie im Feuer. Mehr weiß ich nicht.«

Ich hingegen musste mich nie um Trudi bemühen. Aus welchem Grund auch immer schien sie an mir einen Narren gefressen zu haben. Gründe, mich gegen ihre teils masochistische Zuneigung übertrieben zur Wehr zu setzen, hätten mühsam erfunden werden müssen. In Neuseeland arbeiteten wir als sich gegenseitig potenzierendes Paar. An dem, was wir, jugendlich großspurig, die Vervollkommnung nannten. Was sich, weniger pompös, ab und zu in leichten Fortschritten niederschlug. Hier und da neue Tricks, neue Privilegien, recht viel mehr ist es ja selten. Vervollkommnung! Dass ich nicht lache. Wir waren Anfänger. Diese Zeit war sehr idyllisch, aber wenig fruchtbar. Wir warteten das Ende der Spanischen Grippe ab (woran man ermessen kann, wie fragil wir noch waren) und das Ende der Inflation in Deutschland, dann schifften wir uns ein, Richtung Europa. Gierten nach Licht, nach Glamour! Paris, Wien, Berlin! Weshalb hätten wir, wir Geschöpfe einer besonderen und bedrohten Art, uns nicht verbünden sollen? Zusammen würden wir wahrscheinlich um einiges mächtiger sein. Und weniger allein. Trudi ist eine große kleine Frau. Ich habe sie – außer natürlich mit Huren – nie betrogen. Und das ist enorm. (Fast nie. Das ist immer noch enorm.)

Jacek kann lustig, leider zuweilen auch peinlich sein. Für welchen älteren Herren gilt das nicht? Dabei verhält er sich im Großen und Ganzen wie all die Jahrzehnte davor. Als die Zeit ihn links überholt hat, mochte er sich nicht an deren Rockzipfel klammern, wurde trotzig – er nennt es standhaft. Wie auch immer, ich kann mich dafür verbürgen, dass er ein guter Kerl ist, mit einer manchmal losen Zunge und einem etwas altbackenen Humor.

Fünftes Sonderverhör, am Mittwoch, dem 14. März, in Jehannes Gefängnis

Der mit dem Verhör beauftragte Richter: Was war der Grund, warum du vom Turm von Beaurevoir gesprungen bist?

Jehanne: Ich hatte gehört, dass alle Einwohner von Compiègne, vom siebten Lebensjahr aufwärts, getötet werden sollten. Ich wollte lieber sterben, als ein solches Gemetzel an guten Menschen zu überleben; dies das eine. Zum anderen ist mir zu Ohren gekommen, dass ich an die Engländer verkauft war, und ich wäre lieber gestorben, als mich in die Hand der Engländer zu begeben.

Richter: Wolltest du also Selbstmord begehen, indem du sprangst?

Jehanne: Nein, ich habe mich mit dem Sprung Gott empfohlen und geglaubt, ich könne so entkommen und würde nicht an die Engländer ausgeliefert werden. (…)

Ich trug schwere Prellungen davon und konnte zwei, drei Tage nichts essen, doch die heilige Katharina hat mich getröstet und meinte, ich solle beichten und Gott um Vergebung bitten. (…)

Richter: Glaubst du nicht, dass es eine große Sünde war, die heilige Katharina und die heilige Margareta, die dir erscheinen, zu verärgern und gegen ihren Befehl zu handeln?

Jehanne: Ja, ich weiß es und werde mich bessern. Am meisten habe ich sie wegen des Sprungs vom Turm verärgert. (…)

Der Richter: Du hast gesagt, dass Monseigneur de Beauvais sich in große Gefahr begibt, indem er dich in Frage stellt. Was soll das heißen? In welche Gefahr begeben sich der Bischof von Beauvais und wir anderen?

Jehanne: Es gilt immer noch, was ich Monseigneur de Beauvais gesagt habe: »Ihr nennt Euch meinen Richter. Ich weiß nicht, ob Ihr es seid. Aber hütet Euch, Unrecht an mir zu tun. Ihr begebt Euch in große Gefahr; und ich warne Euch damit, falls Unser Herr Euch züchtigen wird, ich meine Pflicht getan und es Euch vorhergesagt habe.«

Richter: Woraus besteht diese Gefahr?

Jehanne: Die heilige Katharina hat mir gesagt, dass ich Hilfe bekommen werde, ich weiß nicht, ob ich einfach aus dem Gefängnis entlassen werde oder ob es irgendeine Form von Aufruhr geben wird. Ich denke, entweder das eine oder das andere. Meist sagen mir die Stimmen, dass ich durch einen großen Sieg befreit werde; und sie sagen mir: »Nimm alles auf dich, werde nicht müde von deinem Martyrium; du wirst zuletzt ins Paradies einziehen.« Das versprechen mir die Stimmen, ohne Wenn und Aber. Mit Martyrium meine ich die Qualen und Gemeinheiten, die ich im Gefängnis erleiden muss; ich weiß nicht, ob noch größere Schmerzen kommen werden, aber ich vertraue auf unseren Herrn.

Richter: Du sagst, die Stimmen hätten prophezeit, dass du ins Paradies kommen wirst. Bist du zuversichtlich, dass du gerettet werden wirst und nicht zur Hölle verdammt bist?

Jehanne: (…) Daran glaube ich so fest, als wäre ich bereits dort.

Richter: Das ist eine Antwort von großem Gewicht.

Jehanne: Ich halte diesen Glauben für einen großen Schatz.

»Nehmen wir doch mal«, schlug Jacek vor, »die Heiligen unter die Lupe, von denen Jehanne Botschaften empfangen haben will. Erstens Katharina:«

Katharina aus Alexandria war eine außergewöhnlich kluge, auch ein wenig hochmütige Königstochter. Alle Männer, die um sie warben, wies sie ab. Als ein alter Einsiedler ihr offenbarte, dass Jesus Christus ihr Bräutigam sein wolle, erkannte sie ihr verfehltes bisheriges Leben. Sie ließ sich taufen und vermählte sich in einer Vision mit Christus.

Als ein Fest zu Ehren der Götter stattfand, bei dem Christen öffentlich ihrem Glauben abschworen, stellte Katharina Kaiser Maxentius wegen seiner Christenverfolgung zur Rede und erklärte die römischen Götter für nichtig. Durch ihre Redegewandtheit trieb sie den Kaiser in die Enge. Dieser schickte in seiner Wut nach den besten Rednern und Gelehrten, um Katharina zu widerlegen. Doch Katharina besiegte auch diese im Rededuell, sodass alle fünfzig Männer schließlich eingestehen mussten, dass die junge Frau recht hatte, und alle ließen sich taufen. Das brachte den Kaiser noch mehr in Rage, er ließ alle fünfzig töten. Katharina selbst wurde ausgezogen, blutig geschlagen und zum Verhungern in ein Verlies gesperrt. Als die Kaiserin sie aufsucht, um sie umzustimmen, dabei aber beobachten muss, wie sie von Engeln gepflegt und von einer weißen Taube gefüttert wird (evtl. mit einer weißen Taube gefüttert wird?), bekehrt auch sie sich. Maxentius gerät in Panik. Er befiehlt, Katharina auf genagelten Rädern zu Tode zu foltern, doch diese zerbersten. Als Katharina schließlich enthauptet wird, fließt Milch aus ihrer Todeswunde.

»Wozu? Wer will so was trinken?«

»Oh, da kenn ich welche!«

Nun Margareta:

Margareta war die Tochter eines heidnischen Priesters, wurde aber von ihrer Amme christlich erzogen. Als ihr Vater dies bemerkte und Margareta sich noch dazu Christus als ihrem himmlischen Bräutigam geweiht hatte, lieferte er sie dem römischen Präfekten aus – inmitten der Diokletianischen Christenverfolgung.

Der Statthalter begehrte die schöne junge Frau zur Geliebten und ließ sie, da sie ihn abwies, um so grausamer foltern. Margareta wurde mit Fackeln versengt, an den Haaren aufgehängt und mit eisernen Kämmen traktiert, bis ihre Haut in Fetzen herabhing. Sie war so entstellt, dass das gaffende Volk sich angewidert abwandte und man sie in den Kerker sperrte. Dort suchte sie der Teufel in Gestalt eines Drachen auf und drohte, sie zu verschlingen, doch Margareta besiegte ihn durch das Kreuzzeichen und setzte ihm den Fuß auf den Nacken – für den Höllenfürsten eine entsetzliche Demütigung. Anderntags war sie auf wunderbare Weise wiederhergestellt und wurde wieder vor den Statthalter geführt.

Als sie erneut ihren Glauben bekannte und sich nicht zum Kaiseropfer bewegen ließ, wurde sie auf glühende Platten gelegt und anschließend in eisiges Wasser getaucht. Als auch das ihr nichts anhaben konnte, sich aber immer mehr Zuschauer ihrem Glauben zuwandten, wurde sie enthauptet.

»Zweimal äußerst wilde Geschichten eines leidenschaftlichen und trotzigen Märtyrertodes. Beide zeigten sich erstaunlich resistent gegen Flammen. Beide werden am Ende enthauptet. Vielleicht litt Jehanne ja wegen ihres Hirntumors unter rasenden Kopfschmerzen und hoffte auf diese Todesart? Schließlich hat sie im Prozess gesagt, sie möchte lieber siebenmal enthauptet werden, als einmal verbrannt!«

Man weiß nie genau, wann Jacek Witze macht; er selbst weiß es oft auch nicht.

Ich muss zugeben, dass mir Jehanne zwischendurch auf die Nerven ging. Ich meine, Millionen von Menschen sind in den letzten tausend Jahren eines gewaltsamen und grausamen Todes gestorben. In etlichen Fällen kennen wir noch deren Namen und die Gründe ihres Leidens. Warum also dieser Fokus auf ein schlicht gestricktes Mädchen, das immerhin zwei glorreiche Jahre feiern konnte, gegen alle Auspizien ihrer Herkunft, ihres Standes? Aber sagen Sie das mal jemandem, der an kaum was anderes denken kann.

»Nehmen wir noch mal«, schlug Jacek vor, »ein paar ihrer Wunder unter die Lupe. Da war zum Beispiel dieser Söldner, ein Franzose, einer aus ihrer eigenen Truppe. Der ruft, als er ihrer ansichtig wird, so was Rotzkeckes: ›Holla, die Jungfrau! Ist das nicht die berühmte Pucelle, von der jetzt alle reden? Eine Nacht mit mir, und sie ist nur noch berühmt!‹«

Jacek wird alt und unpräzise. Hier die korrekte Version:

Jean Pasquerel, vom Orden der Augustinereremiten in Bayeux, vereidigt am 3. Mai 1456

Man führte Jehanne nach Chinon, aber sie durfte sich erst nach einer Beratung der versammelten Regierung dem König nähern. Auf ihrem Weg zum königlichen Schloss stieß ein Mann zu Pferde hervor: »Ist das nicht die Jungfrau?« Und er schwor bei Gott, hätte er sie nur eine Nacht bei sich, er entließe sie nicht als Jungfrau. Da wandte Jehanne sich zu ihm und sagte: »Im Namen Gottes – Du lästerst Ihn und bist so nah am Tod!« Eine Stunde darauf stürzte der Reiter ins Wasser und ertrank; ich erfuhr es von Jehanne selbst und von anderen, die es gesehen haben.

»Kann Zufall.«

»Klar, kann Zufall sein. Und wenn nicht? Was wäre dafür nötig?«

»Nicht viel. Gaul erschrecken.«

»Oder?«

»Kleiner Gravitationszauber. Der Kerl steckte vermutlich in schwerer Rüstung. Damit in den Fluss fallen bedeutete: absaufen.«

»So seh ich das auch, Trudi. Nehmen wir das, wo Jehanne am Morgen vorhersagt, dass sie gegen Mittag in der Schlacht von einem Pfeil getroffen werden wird, oberhalb der Brust, doch dass es keine tödliche Verwundung sein wird. Wie geht das?«

»Nun, sie könnte das Gespür gehabt haben. Oder sie könnte sich den Pfeil selbst in die Schulter gerammt …«

»Nein, Trudi, nein! Letzteres nicht! Niemals!«

Magister Aignon Viole, Lizentiat der Rechte, Advokat beim erlauchten Parlaments-Gerichtshof, 50 Jahre, vereidigt und verhört durch Uns, den Erzbischof, in Gegenwart des Subinquisitors und des Schreibers. Vernommen am 11. Mai 1456

Vor der Einnahme der Brückenschanze hat Jehanne prophezeit, dass sie genommen würde und dass sie über die Brücke zurückkommen werde, was aller Welt unmöglich schien oder wenigstens unglaublich schwer. Auch hatte sie vorausgesagt, dass sie vor der Brückenschanze verwundet würde, was gleichfalls eingetroffen ist. Man sagte, sie sei in der Kriegskunst ungewöhnlich bewandert. Selbst ein kriegsgewohnter und sehr erfahrener Hauptmann hätte sich nicht so befähigt erweisen können. Sie nötigte allen Heerführern Bewunderung ab.

Das Gespür haben bedeutet, ein wenig in die Zukunft sehen zu können, aber wirklich nur in schlaglichtartigen Ausschnitten, so wie in Stanley Kubricks Film The Shining. So wird das drüben im Amiland genannt. Bei uns hieß es immer Das Gespür. Es ist in den meisten Fällen angeboren, tritt bei Frauen öfter auf als bei Männern. Kann auch herbeitrainiert werden, wenngleich mühsam.

»Sie hat bei einem Fluchtversuch einen Sprung in die Tiefe aus 18 Metern überlebt.«

»Das ist kein Wunder, Jacek, das kommt vor, wenn der Boden weich genug ist. Ein kleines Wunder hätte vorgelegen, wenn sie nach dem Aufprall unverletzt aufgestanden und fortgerannt wäre. Ein großes, wäre sie 18 Meter in die Höhe gesprungen.«

Jacek nickte, gönnte mir ein halb anerkennendes, halb gequältes Schmunzeln. Das war sehr niedlich.

»Einmal war das Übersetzen von Booten über den Fluss wegen des niedrigen Wasserstandes unmöglich. Jehanne aber bestand darauf. Prompt hat sich der Wind gedreht, das Wasser war plötzlich tief genug.«

»Ernsthaft jetzt? Der Wind hat gedreht? Wie wundervoll!«

»Okay, is ja gut …«

Ich will es kurz machen, damit wir endlich weiterkommen, denn jeden Moment kann die Bude in Flammen aufgehen. Jacek spielte mit mir alle überlieferten Wundertaten der seit neuestem heiliggesprochenen Jungfrau durch. Der heilige Michael war wohl so was wie ein imaginärer Freund, rechtzeitig zum Einsetzen der Pubertät. Der Typ rät ihr, Jungfrau zu bleiben, sonst wäre sie für den Himmel und für Frankreich nicht von Nutzen. (»Nein, Trudi, solange sie Jungfrau ist, kann sie nicht mit dem Teufel im Bunde sein, deshalb ist das so wichtig!«) Jehanne ist radikal asexuell, sie hasst die im Tross mitfahrenden Huren, droht ihnen, schlägt sie sogar und bestimmt, dass sie nur bleiben dürfen, wenn sie einen der Soldaten ehelichen. Nachts besteht sie darauf, dass noch andere Frauen mit ihr in der Kammer schlafen. Und sie trägt Männerkleider. Was optisch besser zu einer Schlacht passt. Später, in der Kerkerhaft der Engländer, besteht sie weiterhin auf Männerkleidung, weil die ihr einen besseren Schutz gegen eine drohende Vergewaltigung bietet. Die fünf englischen Soldaten, die sie bewachen, sind rauhe Spottgesellen, die es ein paarmal versuchen. Wenn ein Mann ihre Brüste berührt, wird sie sehr renitent. So, das führt jetzt zu weit ins Detail. Soviel Zeit haben wir nicht. Ach, doch?

Der Ritter Haimond de Macy, 56 Jahre, vernommen am 7. Mai 1456

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