9,99 €
Neugierig, formbewusst, beweglich: Helmut Kraussers Gedichte spielen auf allen Feldern der Lyrik. Ihm gelingt die lässige Beschreibung einer Straßenszene so sicher wie das sehnsüchtige Liebesgedicht, das Aufblitzen eines Sprachspiels ebenso wie Zeilen von überwältigend schönem Ernst. „Zwischen H. C. Artmann und Robert Gernhardt, dem Sprachvirtuosen und dem Parodisten der Virtuosität" (Neue Zürcher Zeitung) verfügt Helmut Krausser über das ganze Instrumentarium der Poesie, er holt die klassischen Formen so selbstverständlich in die Gegenwart, als seien sie heute entstanden. So groß die Bandbreite seiner Lyrik ist, so markant bleibt Helmut Kraussers poetische Stimme: rebellisch und fein, abgebrüht und empfindlich, gebrüllt oder geflüstert – „es ist das Vergnügen des Lesers, diese literarische Maschinerie in Betrieb zu sehen" (Frankfurter Allgemeine Zeitung).
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 32
weißer strom
blatt papier.
vollkommen leer.
vollkommen.
darunter liegt text,
der ganze text, schneide
buchstaben in die haut,
an den richtigen stellen,
nicht zuviel, text ist
blut, geh tauchen.
alle narben heilen ab,
jeder schnitt
schließt sich über dir.
Die Haut der Geliebten zu befahren –
mit der Armada meiner Finger –
sieben Piraten, drei Entdecker,
die Flotte legt ab, zwei Handvoll Schiffe,
alle mit Freibrief unterwegs,
im Dienste meiner Königin.
Einst im Mai
Jedes Jahr den Friedhof
nach nem Blumenstrauß
absuchen, der so halb als
frisch und bunt durchgeht.
Muttertag.
Guckt, eine Murmel!
Sagen die Säue.
Leider nicht bunt. Und
auch nicht ganz rund.
wollte betrunken werden und alles groß finden.
will betrunken werden und alles groß finden.
bin betrunken und finde alles groß.
war betrunken und – egal.
für Kafka
Ich kann nicht glauben, daß Audrey Hepburn tot ist.
Ich muß nicht glauben, daß Audrey Hepburn tot ist.
Ich will nicht glauben, daß Audrey Hepburn tot ist.
»Schau – sie ist ja gar nicht tot, was greinst du denn?
Schau, sie hat sich hier im Schrank versteckt. Extra
für dich. Hat immer hinter dieser Schranktür
gewartet. Jetzt – geh hinein und sei glücklich!«
der schneesturm tobt seit mittag.
glück, daß eine decke
auf der rückbank lag,
sieben stunden stecke
ich hier fest, allein
am straßenrand, kein netz
vorhanden, pampa, jetzt
ist mitternacht und mein
benzin fast alle, zweimal
noch – vielleicht – werd ich
den motor starten können,
in düsternis und schneefall,
fast mild und feierlich
gestimmt, mir wärme gönnen.
ich habe zigaretten,
einen stift – papier
ist leider keines hier,
muß mich ins dunkel betten.
so wenig hatt ich nie.
kein tropfen alkohol.
es schneit und, ach,
musik ---- wär toll.
doch auch die batterie
ist schon sehr schwach.
little china girl
am bug der alten hongkongdschunke,
neben meinem reisesack,
hockt mächtig eine gelbbauchunke
aus metall. die nacht, ein wrack
im krieg von duft und farben, treibt
mit der strömung aus dem hafen.
katzenseufzend, knarzend reibt
der wind am mast, die segel schlafen
nicht mehr tief. und die so tut,
zieht sich lautlos an, beklaut mich,
lächelnd, schleicht von bord. ist gut.
jedem ihrer schritte lausch ich.
die dünne planke biegt sich, bricht
bei jedem eben grad so nicht.
gestern trugen wir noch laub.
manchmal auch ein vogelnest.
heute zu papier gepreßt,
sind wir übermorgen staub.
was auf uns geschrieben steht,
wissen jene, die uns lesen,
baum und buch sind wir gewesen,
staub, vom wind umhergeweht,
sind wir bald, ein hauch, mehr nicht.
regen reißt uns tief hinab,
mischt uns mit dem staub im grab
eines, der vielleicht uns las,
gar schrieb. die mischung hätte was –
und im himmel wär mehr licht.
musik, die morgens seltsam trist,
abends anders, sonderbar
heimelig, berückend klang.
wievieles einmal wichtig war,
inzwischen längst vergessen ist.
die kleine, schlichte, irgendwie
halb ausgeführte melodie,
war immer da, mein leben lang.
du summtest sie, vergessen bist
auch du, verzeih, was blieb, sind jene
sonderbaren fünf, sechs töne,
trotzdem-gedicht
etliche vom aussterben ohnehin bedrohte braunpelikane
verwechseln den schimmernden asphalt der straßen
arizonas derzeit gerne mit wasseroberflächen, eine
fehleinschätzung, welche regelmäßig rotbraun endet.
dazu fällt mir weißgott warum ein:
der deutsche meister im stabhandgranatenweitwurf
august 1939 schaffte 73,5 Meter.
null phantasterei. nur harte fakten. trotzdem gedicht.
götter sind stumme voyeure weit oben,
die selten wen tadeln, geschweige denn loben.
verelendet interessieren sie sich
für beinahe niemanden – außer für mich.
es zieht sie zu mir voll begeisterung hin –
ist lästig zuweilen, doch nachzuvollziehn.