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Gedanken halten mich wach. Wie Würmer in meinem Kopf. Wie die Bewegungen der Insekten auf meinen Armen, meinem Körper. Sie kitzeln. Manchmal stechen sie auch. Ich atme schwer, kann mich nur noch mit Mühe bewegen. Als würde mir jemand die Brust zuschnüren. Alles Leben scheint mir dieser Ort aus den Adern zu saugen. Ich fühle mich stetig schwächer werden. Es ist dunkel hier drin. Es ist auch dunkel draussen ... Ein 15-jähriges Mädchen verschwindet spurlos. Die Mutter gibt Rätsel auf, zwei Mitschüler der Vermissten schweigen und Kommissar Peter Liechti droht sein erster grosser Fall über den Kopf zu wachsen. Zwar erhält er überraschend Hilfe von seinem Freund, dem Schriftsteller Hans Matter. Doch den beiden Ermittlern läuft die Zeit davon ... Dies ist der erste Fall für Hans Matter und Peter Liechti und erschien zum ersten Mal 2013 unter dem Titel »Sternenfall«.
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Seitenzahl: 233
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Zum Buch
Ein 15-jähriges Mädchen verschwindet. Die Mutter gibt Rätsel auf, zwei Mitschüler der Vermissten schweigen und Kommissar Peter Liechti droht sein erster Fall über den Kopf zu wachsen. Zwar erhält er Hilfe von seinem Freund, dem Schriftsteller Hans Matter. Doch den beiden Ermittlern läuft die Zeit davon ...
Dies ist der erste Fall für Hans Matter und Peter Liechti und erschien zum ersten Mal 2013 unter dem Titel »Sternenfall«.
Zum Autor
Jean-Pascal Ansermoz wurde als Schweizer im September des Jahres 1974 in Dakar (Senegal) geboren. Er ist einer, der mit Leichtigkeit über den Röschtigraben springt, schrieb er doch bis 2009 nur in französischer Sprache. Weltenbürger, Romand und Deutschschweizer in einem: Ein Autor mit Hang zum Kriminellen aber auch zu Poetischem, Literarischem, Alltäglichem und Besonderem.
Mehr Infos unter: www.jeanpascalansermoz.ch
Impressum
Alle Rechte vorbehalten
© 2013-2020 Jean-Pascal Ansermoz
ISBN: 9783752640328
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Umschlaggestaltung & Satz: AZ Productions, Fribourg (CH)
unter Verwendung eines Bildes von Johannes Plenio
Lektorat: Christiane Kathmann, www.lektorat-kathmann.de
Diese Geschichte ist frei erfunden. Alle Namen, handelnde Personen, Orte und Begebenheiten entspringen der Fantasie des Autors. Jede Ähnlichkeit mit real lebenden oder toten Personen, Ereignissen oder Schauplätzen ist völlig unbeabsichtigt und reiner Zufall.
Prolog
Als sie kurz darauf durch die Terrassentür ins Freie trat, innerlich noch ganz aufgewühlt durch das, was geschehen war, hielt die Welt für einen Augenblick still. Die laute Musik verstummte fast gänzlich, als sie die Tür hinter sich zuzog. Nur noch der Bass und der dumpfe Rhythmus waren zu vernehmen.
Vor ihr hatte die Nacht die gewohnten Weiten verschlungen, und was vom Garten übrig blieb, schwamm in lichtem Nebel, der nur ab und an Gestalten ausspuckte, an denen sich ihr forschender Blick hätte orientieren können. Sie schloss die Augen, atmete die kalte, feuchte Luft mehrmals ein. Ihre Gedanken beruhigten sich, Ängste flogen auf.
Nachtvögel unter einem bedeckten Himmel der Gefühle. Sie wusste, was sie zu tun hatte.
Ihre Schritte knirschten auf den losen Steinen der Einfahrt, als sie die Terrasse verliess. Silhouetten tauchten aus dem Nebel auf und verschwanden wieder. Manchmal schienen sie sich zu bewegen, was sie dazu veranlasste, einen Augenblick stillzustehen, um sich zu vergewissern, dass es sich dabei auch wirklich nur um eine Illusion ihrer überreizten Nerven handelte. Ein beklemmendes Gefühl begleitete sie. Als ob Tausende von Augen sie beobachteten, als wäre sie bereits nicht mehr allein in der Dunkelheit. Nach wenigen Schritten schon verschwand das Haus hinter ihr im Nebelmeer. Einzig die Helligkeit der rechteckigen Fenster mochte der Nacht noch trotzen. Sie fühlte sich nicht wohl hier, im Schatten der Nacht.
Im Gehen schaute sie sich aufmerksam um, achtete auf jedes Geräusch. Doch die einzigen, die sie vernahm, kamen von ihr selbst, ihren Schritten auf dem kiesigen Untergrund und ihrem Herz, das sie selbst in ihrem Kopf pochen hörte.
Zu ihrer Rechten hörte sie einen Vogel auffliegen. Eine Krähe gab Laute von sich, als müsste sie jemanden warnen. Es klang gedämpft, wie alles in dieser Nacht. Je näher sie dem Ausgang kam, desto dichter schien der Nebel zu sein. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass das Grundstück in natürlicher Weise in einem Flusslauf sein Ende fand.
Novemberzeit ist Nebelzeit.
Sie fröstelte, zog den Kragen ihres Mantels hoch und hielt ihn mit einer Hand fest. Trotzdem zitterte sie am ganzen Körper, als sie aus der Auffahrt auf die Strasse hinaustrat. Einen weiteren kurzen Moment hielt sie inne, schaute nach links, zögerte kurz, packte dann aber ihre Handtasche fester und wandte sich entschlossen nach rechts.
Wenige Augenblicke später hatte der Nebel ihre Silhouette verschluckt. Man hörte nur noch ihre Schritte auf der Strasse, bis auch diese in der Nacht verstummten.
Stille legte sich wieder über den Ort.
Es waren nur noch die gedämpften Töne der Musik zu vernehmen, die vom Haus her kamen.
Und die Warnschreie der Krähe.
Montag
1
Stirnrunzelnd blickte Hans Matter auf seinen Backofen. Er hatte gerade eine Auflaufform daraus befreit, deren Inhalt nur noch entfernt an ein Kartoffelgratin erinnerte. Dabei hatte er doch nur noch schnell seine E-Mails abrufen wollen. Doch wie ihm der schnelle Blick auf die grosse Küchenuhr verriet, hatte er anscheinend länger vor dem Computer gesessen als eigentlich vorgesehen. Nun hielt er das verkohlte Mittagessen mit seinen Küchenhandschuhen, welche langsam die Hitze der Backform durchliessen. Er stellte das Ganze auf die Kücheninsel und zog die Handschuhe aus. Als er sie schliesslich neben die Auflaufform warf, blieb sein Blick einen Augenblick an den imposanten Bergen in der Ferne haften, die mit schneebedeckten Spitzen in den sonnigen Tag ragten. Der Morgennebel war verflogen und gab einen blau-weissen Blick auf den Horizont frei.
Wenigstens etwas. Er sah hinaus, als erhoffe er sich von dort ein kleines bisschen Mitgefühl. Doch Mönch und Jungfrau blieben stumm. Er seufzte, blickte erneut auf die Uhr. Weder Glaube noch Unschuld konnten ihn nun noch retten.
Tina und ihre Freundin kamen in weniger als zehn Minuten nach Hause und bestimmt hatten sie Hunger. Er wusste, wie sehr es seiner Tochter zurzeit am Herzen lag, dass er einen guten Eindruck machte. Als Vater war er in letzter Zeit sowieso irgendwie immer peinlich. Aber das hier würde dem Tag die Krone aufsetzen. Er sah die Vierzehnjährige schon den Kopf schütteln und ihn mit ihrem Ich-habe-sooo-Mitleid-mit-dir-Blick strafen.
Sie wurde halt langsam erwachsen.
Einen Moment schwelgte er am Herd in Erinnerungen und sein Blick suchte das Bild auf dem Kaminsims, das Tina zeigte, als sie noch ihr dreijähriges, verschmitztes Lächeln dem Fotoapparat schenkte. Das war doch noch gar nicht lange her ...
Aber nun war keine Zeit zum Träumen. Hastig öffnete er den Kühlschrank, holte die noch vom Vortag verbliebenen Hähnchenbrustfilets heraus, setzte eine Bratpfanne auf und schaltete die Herdplatte an. Ein bisschen Bratfett, dann holte er einen flachen Topf aus dem Schrank, füllte ihn mit Wasser und stellte auch diesen auf den Herd. Deckel drauf, damit das Wasser schneller kochte. Schnell einige Pilze schneiden, anbraten, würzen, bereitstellen. Nun das Hähnchen. Etwas Zwiebeln klein schneiden. Anbraten. Dazwischen schnell die Nudeln einwerfen. Mit Rotwein das Fleisch ablöschen, die Pilze wieder dazu, ein wenig Saucenrahm. Hitze reduzieren. Nudeln umrühren.
Jetzt die Auflaufform entsorgen. Sie war noch heiss. Er schnappte sich die Handschuhe und stellte den verkohlten Auflauf einfach auf den Balkon. Er würde sich später darum kümmern.
Noch einmal umrühren, Rahmsauce kosten.
Und da hörte er auch schon Schritte im Treppenhaus. Sie würden halt mit etwas Verspätung essen.
»Und, wie war’s, in der Schule?«, rief er fröhlich in den Gang.
»Was hast du denn noch angestellt?«, fragte Tina ihn, während sie den Mantel auszog und im Eingang an den vorgesehenen Haken hängte. Die Betonung lag eindeutig auf noch, was Hans ein wenig irritierte. Aber er liess sich nichts anmerken und lächelte, als Tina und ihre Freundin in die Küche traten.
»Hallo Herr Matter!«, begrüsste diese ihn und schaute ihm interessiert zu, wie er im Wasser der Nudeln rührte, während Tina argwöhnisch auf die im Rahm schmorenden Hähnchenfilets blickte.
»Es ist noch nicht ganz fertig. So in zehn Minuten«, sagte er, ohne sich durch ihren fragenden Blick verunsichern zu lassen.
»Hatten wir nicht schon gestern Abend Hähnchen?«
Tina blickte ihm nun direkt in die Augen.
»Ja schon, aber du hast es so gemocht, dass ich dachte, es würde dir Freude bereiten.«
Bei seinem Grinsen verdrehte sie die Augen, dann verliess sie die Küche, gefolgt von ihrer Freundin, welche die kleine Auseinandersetzung nicht zu verstehen schien und die auch durch das Macht-ja-nichts-Zwinkern von Matter nicht wirklich überzeugt wurde. Und so blieb er mit seinem schlechten Gewissen in der Küche allein zurück.
Immerhin hatte er zehn Minuten gewonnen.
Als das Essen bereit war und der Tisch gedeckt – er hatte sogar an die Servietten gedacht! – rief er die beiden Teenager, die sich nicht zweimal bitten liessen.
»Guten Appetit! Und lasst es euch schmecken ...«
Die gute Laune war zurückgekehrt. Trotz der viel zu kurzen Kochzeit, die ihm zur Verfügung gestanden hatte, war er mit dem Resultat zufrieden. Das schien ihm auch auf seine Tochter zuzutreffen, die sich fast gierig über das Hähnchen hermachte.
»Und, was gibt es Neues?«, wollte Matter wissen.
»Nun, Antonia fehlt heute wieder in der Schule ...«
»Ach, die ist doch gar nicht krank!«, unterbrach Tina ihre Freundin.
»Glaub ich auch nicht«, pflichtete diese bei.
»Fehlt sie denn häufiger?«, wollte Matter wissen.
Tina nickte nur.
»Ja, sie ist öfters krankgeschrieben«, meinte ihre Freundin, die auf den Vornamen Gabi hörte. Zwar war das gar nicht ihr Name, aber auf diesen hörte sie, das sei nun mal so, hatte ihm Tina erklärt. Sie habe sich einfach einen neuen Namen gegeben.
Gabi also. Matter hätte den wahren Namen nie erraten können, wäre da nicht die alljährliche Liste der Mitschüler Tinas ins Haus geflattert. Das Mädchen hiess Svetlana, hatte blonde Haare und helle Augen und kam aus einem Land in der ehemaligen Sowjetunion. Matter fand den Vornamen nicht so schlecht, gab er ihr doch etwas Geheimnisvolles, das durchaus seinen Charme haben konnte. Aber Gabi passte besser zu ihr, da waren sie sich einig. Ausserdem wollte das Mädchen mit dem neuen Namen ihre nicht sehr schöne Kindheit ein wenig vergessen, hatte Tina zu berichten gewusst.
Das Mädchen war mit ihrer Mutter erst kurz vor dem letzten Sommer zugezogen und hatte, obwohl sie die deutsche Sprache recht gut beherrschte, am Anfang etliche Anpassungsschwierigkeiten gehabt. Mit offenen Armen empfing sie hier keiner. Tina hatte sie sofort unter ihre Fittiche genommen. Das war typisch für seine Tochter, immer bedacht den Schwächeren zu helfen. In einem anderen Leben war sie wohl Robin Hood gewesen.
»Krankgeschrieben, so’n Quatsch!«, brauste Tina auf. »Simon hat gesagt, er hat sie Samstagnacht noch auf einer Party gesehen ...«
»Nachts auf einer Party? Mit vierzehn?« Matters Augenbrauen zogen sich zusammen.
»Sie ist schon fünfzehn ...«, fügte Tina hinzu, als würde das alles erklären. »Sie hatte schon im September Geburtstag und ist dadurch die Älteste.«
»Aber deswegen gehört sie doch nicht ...«
»Schon gut, Papa ... war ja auch nicht ich!«
Tina schnitt ihm eine Grimasse, welche sowohl Ich-kenne-deine-Meinung-betreffend-Partys wie auch Mensch-sei-jetzt-nicht-kleinlich-es-geht-ja-hier-nicht- um-mich sagen sollte. Gabi versuchte, das Gespräch zu entspannen: »Die Lehrerin hat uns gesagt, sie sei krankgeschrieben und darum fehlte sie heute.«
Matter nickte ihr zu und fragte sie mit einer einladenden Geste, ob sie noch etwas von den Nudeln haben wollte, was sie dankend ablehnte. Tina hingegen hielt ihm ihren Teller hin.
»Aber die ist gar nicht krank. Die schläft ihren Rausch aus«, setzte sie wieder an.
War sie wirklich zickig oder einfach nur eifersüchtig?
»Und was sagen ihre Eltern dazu?«, wollte Matter wissen.
»Sie lebt bei ihrer Mutter. Ihren Vater hab ich noch nie gesehen.«
»Und ihre Mutter hat einen schlechten Ruf.«
»Wieso denn?« Matter zeigte wirkliches Interesse. Tina sah ihn einen Augenblick schweigend an. Sie schluckte die Nudeln hinunter und antwortete, während sie ein Stück Hähnchen in der Rahmsauce ertränkte: »Sie kümmert sich nie um sie. Antonia ist immer allein. Sie bekommt kein Mittagessen, fährt nie in die Ferien. Isst, was sie gerade zu Hause findet.«
»Aber wo ist denn ihre Mutter?«
»Sie arbeitet die ganze Zeit. Kommt auch nie in die Schule oder so.«
»Das ist traurig.« Matter nahm sich auch noch ein wenig Nudeln, obwohl er eigentlich gar keinen Hunger mehr hatte, und leerte einen Löffel Sauce darüber. Zufrieden stellte er fest, dass ein, zwei Pilze auch noch übrig geblieben waren.
»Das ist jedenfalls, was sie erzählt. Ob’s stimmt, weiss niemand.«
Matter nickte.
»Antonias Mutter ist wie die Bredlach.« Verwirrt schaute er Tina an, als diese den Namen ihrer Klassenlehrerin nannte, welche seinen Informationen zufolge weder Mann noch Kind hatte und ab und zu mit einem Yorkshire im Dorf gesehen wurde.
Seine Tochter bemerkte seinen Blick und erklärte: »Einfach daneben. Sie hat uns erneut mit Hausaufgaben überhäuft. Dabei stehen wir doch vor einem langen Wochenende dank irgend so einem Heiligen.«
»Und was die heute wieder anhatte!« Tina schien es kaum fassen zu können und schluckte ihren Ärger mit ein wenig Limonade hinunter. »Eine Vogelscheuche sieht besser aus! Na ja, dank ihr werden wir wohl jede freie Minute Hausaufgaben machen müssen.«
Matter kam nicht umhin zu bemerken, dass Gabi beim letzten Satz Tinas ihren Blick in ihren leeren Teller senkte und nun gedankenverloren mit der Gabel zu spielen begann.
Er musste ja selbst zugeben, dass er die Bredlach, wie sie (fast) jeder nannte, nicht in sein Herz geschlossen hatte. Sie schien nicht nur kompliziert, sie war es auch. Immer streng gekleidet wie die Lehrerinnen zur Schulzeit seiner Eltern, grosse Brille und ganz eigene Ideen. Es fehlte ihr an Humor und Improvisation. Das letzte Mal, als er sie getroffen hatte, vermeinte er sogar einen Hauch von Mottenkugeln zu riechen. Nichtsdestotrotz hatte er Tina plötzlich im Verdacht, diese fehlende Sympathie für sich ausnutzen zu wollen.
Sie führte etwas im Schilde. Er entschloss sich jedoch, nicht darauf einzugehen und nickte stattdessen nur. Sie würde schon noch damit herausrücken. Und irgendetwas sagte ihm, dass es mit dem kommenden Wochenende zu tun hatte.
2
Peter Liechti stand auf und trat ans Fenster seines neuen Büros. Drei Stockwerke trennten ihn von einem belebten Platz, von dem der Lärm des alltäglichen Lebens bis zu ihm hinaufdrang. Er liess seinen Blick über das Geschehen schweifen, längst an das Bild gewohnt. Und der Anblick beruhigte ihn wieder ein wenig.
Es gab Wochen, da war einfach überhaupt nichts los, und andere begannen mit einem Feuerwerk an neuen Aufgaben. Zuerst war er ins Büro seines Vorgesetzten gerufen worden, der ihm verkündete, sein Gesuch um Versetzung in eine andere Abteilung sei abgelehnt worden, was ihn ein wenig irritiert hatte. Dann aber hatte man ihm ein eigenes Büro in der zweiten Fahndungsabteilung angeboten. Mit Sekretärin. Liechti, der bis dahin immer nur im Schatten eines Fahnders an den Fällen hatte mitarbeiten dürfen, wurde von diesem Angebot regelrecht überrumpelt. Thomas Baumann, der sein Talent entdeckt hatte, als er noch im Fachbereich der Kriminalanalyse gearbeitet hatte, hatte gelächelt und ihm erklärt, dass sie bereits eine Sekretärin für ihn gefunden hatten. Was hätte er schon dazu sagen sollen? Baumann hatte ihm die Hand gegeben und ihm seine neuen Räumlichkeiten im dritten Stock gezeigt.
Und das Fenster hatte den Blick auf den Waisenhausplatz freigegeben.
Während der kleinen Besprechung war dann auch schon sein erster Fall aufgetaucht. Und dieses vermisste Mädchen, das vom Alter her seine Tochter hätte sein können, wenn er Kinder gehabt hätte, beschäftigte seine Gedanken seitdem. Er war glücklich verheiratet und das nun schon seit fast zwanzig Jahren. Aber Nachwuchs hatten sie nicht bekommen. Es hatte einfach nicht sein sollen.
Es behagte ihm nicht, dass er erst jetzt über das Verschwinden informiert worden war. Andererseits konnte man nicht jeder Person, die einen Tag nicht nach Hause kam, eine Horde Fahnder auf den Hals hetzen. Doch in diesem Fall sah das ein wenig anders aus. Liechti ahnte Böses, zumal das Mädchen am vergangenen Samstag zum letzten Mal gesehen worden war und ihre Mutter die Anzeige erst vor ein paar Stunden, also am Montagvormittag, gemacht hatte.
Man las so viel in den Medien über Kindesentführung, Missbrauch und Tötungsdelikte, dass er sich einen Augenblick hatte setzen müssen, um sich von allen Horrorszenarien zu befreien. Vielleicht war das hier ja ganz harmlos. Vielleicht war die Teenagerin ja einfach nur abgehauen und würde sich in einigen Tagen wieder einfinden. Spätestens, wenn sie kein Geld mehr hatte.
Und trotzdem. Seine Erfahrungen im Fachbereich der Kriminalanalyse hatten seine Intuition geschärft und ihn gelehrt, ihr zu vertrauen. Und etwas an diesem Verschwinden weckte seine ganze Aufmerksamkeit, auch wenn er sich das nicht sachlich erklären konnte. Einer Sache war er sich jedoch sicher: Mit der Übernahme des Falles hatte er auch die Verantwortung für das Kind übernommen.
Er seufzte und wandte sich wieder seinem Schreibtisch zu, wo die aufgeschlagene Akte der Vermissten lag. Das Mädchen war bei der Polizei nicht bekannt. Kein Vergehen, kein Eintrag, kein Anhaltspunkt. Die Mutter hatte am Telefon versprochen, am Nachmittag mit einem Foto ihrer Tochter vorbeizukommen. Sie würden dann erst in einem zweiten Schritt eine Fahndung einleiten.
Liechti schloss die Akte wieder und liess sich in den Sessel fallen. Ein kurzer Blick fiel auf seine Uhr.
»Mist! Hans!« fuhr es ihm durch den Kopf.
Liechti verliess sein Büro in aller Eile und meldete sich im Vorbeigehen bei seiner Sekretärin ab. Wie erwartet fragte sie, wann er zurückkommen würde, was er ihr auch beantwortete, ohne jedoch auf den Grund seiner Abwesenheit einzugehen. Dann ging er seines Weges, spürte aber ihren fragenden Blick durch die grosse Brille noch in seinem Rücken, als sie ihn schon lange nicht mehr sehen konnte. Sie war eine sehr neugierige Person hatte er festgestellt, machte aber einen zuverlässigen Eindruck. Als Baumann ihm ihre Personalakte gegeben hatte, hatten ihn in erster Linie die vielen Diplome beeindruckt und Liechti fragte sich seitdem, ob sie nicht für diesen Posten ein wenig überqualifiziert war.
Auf der grossen Treppe zum Gebäudeeingang hielt er einen Augenblick inne, rückte sich den Jackenkragen zurecht und grüsste einen Arbeitskollegen, der ihm auf der Treppe eilig entgegen kam, um dann im Gebäude zu verschwinden. Das Wetter würde halten und das trotz der negativen Wettervorhersage. Die wenigen Wolkenbilder, die über der Stadt entlangzogen, schienen harmlos und so entschied er sich, den Weg zu Fuss zu machen.
Es war inzwischen schon mehr als nur ein einfaches Treffen zwischen den ehemaligen Schulkameraden. Jeden Montag, am frühen Nachmittag, am selben Ort. Das »Bärenhöfli« lag nur wenige Gehminuten von seinem Büro entfernt. Schon zu ihren Schulzeiten hatten sie dort Halt gemacht, und obwohl jeder seit der Matura seinen eigenen Weg gegangen war, hatten sie nie auf dieses Ritual verzichtet. Die Woche in dieser Weise anzufangen, erschien beiden Freunden eine gute Sache. Peter Liechti holte es aus dem Alltag und Hans Matter lockte es aus seinem Haus.
Wie eigen Lebenswege sein können. Nach dem Abitur hatte Liechti sein Kriminalistikstudium absolviert und sich gleich darauf bei der Kripo engagieren lassen. Nach mehreren internen Wechseln, die auch dazu dienten, alle Facetten der kriminalistischen Arbeit kennenzulernen, war er in der zweiten Spezialfahndung gelandet.
Seinen ersten richtigen Fall jedoch hätte er sich anders vorgestellt. Ihm, der sich bisher immer hinter einem erfahrenen Kollegen hatte verstecken können, behagte der Gedanke um die Verantwortung für das verschwundene Kind wenig. Jedes Mal bekam er Gänsehaut, wenn er sich vorstellte, was geschehen sein könnte. Heutzutage wusste man nie.
Sein Freund Matter hingegen hatte sein Studium erfolgreich abgebrochen, um sich mit einer blonden Schönheit auf Weltreise zu begeben. Danach hatte er sich wieder allein mit Nebenjobs über die Runden gebracht, bis er schliesslich an einem der Arbeitsplätze seine Frau Cécilia kennenlernte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie heirateten. Matter suchte sich eine Arbeit im Lehramt und wurde sesshaft. Tina wurde geboren. Doch dann starb Cécilia nach einer langen Krankheit. In dieser schweren Zeit begann Matter zu schreiben und hatte Glück im Unglück: Sein erstes Manuskript kam im richtigen Moment an den richtigen Mann. Seit der Publikation des Erstlings war von einer anderen Arbeit keine Rede mehr. Heute machte er, was er wollte, nämlich schreiben.
Peter Liechti stiess als Erster die Tür zum Lokal auf und wandte sich dem Tisch zu, den er jeden Montag neben dem Fenster reservieren liess.
»Grüessech, Herr Kommissar!«, begrüsste ihn der Kellner fröhlich. Liechti hatte ihm bereits mehrere Male zu erklären versucht, dass er diesen Titel eigentlich nicht besass. Vergebens. Jedes Mal hatte er jedoch ein schlechtes Gewissen, wenn er ihn nicht korrigierte.
»Grüess Gott!«
»Wiä immer?«
Er nickte ihm zu und der junge Mann verschwand hinter der Theke. Liechti zog seine Jacke aus und legte sie über die Lehne seines Stuhls, den er danach zurechtrückte. Er mochte diesen Tisch, da er ihm die Möglichkeit gab, zum Fenster hinauszusehen und gleichzeitig die Eingangstür im Auge zu behalten. Er konnte Stunden damit verbringen, den Leuten zuzusehen.
Der heutige Tag schien nicht nur ein besonderer zu sein, er war es auch, in jeglicher Hinsicht, und seine Gedanken wandten sich wieder dem fünfzehnjährigen Mädchen zu.
Was mochte es wohl erlebt haben?
Er stellte sich ein schwarzhaariges, bleiches Mädchen vor, mit grossen, hellen Augen, die ihn anblickten. Liechti las einen Vorwurf in ihnen und Trauer überkam ihn. Aber da war noch etwas anderes. Einsamkeit, grosse Einsamkeit. Erstaunt versuchte er, das innere Bild festzuhalten. Doch es entwand sich immer wieder seinen Versuchen, als wolle es sich nicht zu erkennen geben. Das verunsicherte ihn zutiefst.
Plötzlich sah er einen grossen Garten mit hohen Pappeln, die in der Dunkelheit verschwanden. Etwas Licht fiel auf den Rasen. Stimmen. Musik.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter und liess ihn zusammenfahren. Matters Grinsen reichte bis über beide Ohren.
»Der träumende Kommissar.« Amüsiert liess Hans sich auf den Sitz ihm gegenüber fallen. »Hätte schon früher an diesen Titel denken sollen.«
»Du schreibst ja keine Krimis.«
»Vielleicht sollte ich es einmal versuchen.«
Im selben Augenblick stellte der Kellner einen Latte macchiato vor Liechti, auf welchem die Marke des Kaffees in Grossbuchstaben zu lesen war. Er nickte Matter zu.
»Wiä immer?«
Matter nickte.
»U es Stückli Öpfuchueche.«
Der junge Bursche verschwand wieder zwischen den Tischen.
Eine Weile sagte keiner etwas. Liechti rührte gedankenverloren in seinem Macchiato, bis die verschiedenen Schichten zu einer unförmigen, braunen Masse vermischt waren. Den Löffel legte er tropfend neben das Glas.
Matter musterte ihn. »Wie geht’s denn, mein Freund?«
Liechti antwortete nicht gleich. Wie ging es ihm denn eigentlich? Er hatte sich diese Frage schon lange nicht mehr gestellt und auch keinen Grund gefunden, es zu tun.
»Ach ...«, antwortete er stattdessen.
»Sie ist also tatsächlich abgereist?«
»Wer?«
»Na deine Frau.«
»Ach so ... ja, am Samstag. Mit der Trudi.«
»Wo sind sie denn hingefahren?«
»Teneriffa. Eine Woche.«
»Scheint dich ja wirklich mächtig zu beschäftigen.«
»Das ist es nicht ...«, wich Liechti aus.
»Aber ...?« Matter sah ihn erwartungsvoll an.
»Das darf ich dir nicht sagen ...«
»Komm schon. Wie lange kennen wir uns nun schon?«
»Du bist aber Schriftsteller«, entgegnete Liechti.
»Eben gerade deshalb!«
Matter grinste, Liechti seufzte.
»Nun, ich habe heute Morgen ein neues Büro, eine neue Sekretärin und einen neuen Fall erhalten.«
Matter wusste plötzlich nicht mehr, was er sagen sollte. Sein Grinsen fror ein.
»Na sag mal ...«
Liechti behagte die Situation immer weniger. Er blickte nach links und nach rechts, obwohl sich eigentlich niemand in ihrer unmittelbaren Nähe befand.
»Dein erster wirklicher Fall also? Dann bist du jetzt kein Schattenmann mehr? Sondern ein richtiger Kommissar?«
»Ich bin kein Ko ...«
Der Kellner kam zurück und stellte ein Tablett vor Matter hin, auf dem der übliche Earl Grey mit Zucker und Milch stand. Matter bedankte sich und schnappte sich das kleine Gebäck, das neben der Tasse lag. Liechti wartete, bis sie wieder unter sich waren.
»Ja, mein erster Fall.«
»Herzlichen Glückwunsch! Und du machst dir Sorgen deswegen?«
»Es handelt sich um eine Jugendliche, die seit Samstag nicht mehr gesehen wurde.«
Matter musste sofort an Tina denken.
»Wenn Kinder beteiligt sind, ist das nie einfach.«
Liechti liess seinen Blick nach draussen schweifen.
»Ich weiss noch nicht viel darüber. Heute Nachmittag kommt die Mutter aufs Revier. Sie hat das Mädchen per Telefon als vermisst gemeldet. Ich denke, ich werde mal mit ihr sprechen. Dann sehen wir weiter.«
Matter erwiderte nichts und nahm den Apfelkuchen in Angriff. Einen Augenblick war Schweigen.
»So wie im Fernsehen also, Herr Kommissar?«
»Schon gut, schon gut. Ich bin kein Kommissar, sondern ein Fahnder.«
»Echt jetzt?«
Liechti beliess es dabei. Er kannte Matter nur allzu gut. Er würde nicht klein beigeben, nicht mit einem solchen Grinsen im Gesicht. Matter hatte immer das letzte Wort. Und daran änderten die Jahre nur wenig.
3
Gedanken halten mich wach. Wie Würmer in meinem Kopf. Wie die Bewegungen der Insekten auf meinen Armen, meinem Körper. Sie kitzeln. Manchmal stechen sie auch. Ich atme schwer, kann mich aber nur noch mit Mühe bewegen. Als würde mir jemand die Brust zuschnüren. Alles Leben scheint mir dieser Ort aus den Adern zu saugen. Ich fühle mich stetig schwächer werden. Es ist dunkel hier drin. Es ist auch dunkel draussen. Einmal mehr. Die einzige Verbindung zur Aussenwelt ist eine Öffnung im Stein, kaum grösser als eine Faust, aber so weit weg von mir, dass ich sie kaum noch erkennen, geschweige denn erreichen kann. Wie lange bin ich nun schon hier?
Meine Kleider sind durchtränkt. Ich weiss nicht, ob es mein Blut ist, mein Schweiss oder einfach die Feuchtigkeit des Ortes, die an mir klebt wie ein schlechter Traum. Ich fröstele häufig. Und dann wird mir wieder unendlich warm, als würde ich im Hochsommer in der prallen Mittagssonne liegen.
Schlafen. Einfach alles vergessen. Die Angst, diese Ohnmacht, nichts tun zu können. Und diese verfluchten Beine, die ich nicht mehr spüren kann und die es mir unmöglich machen, aufzustehen.
Ich könnte schreien, habe jedoch Angst vor meiner eigenen Stimme. Ich weiss gar nicht mehr, wie sie sich anhört. Wie sich das anfühlt. Kann ich überhaupt noch sprechen? Mein Hals ist trocken, mein Mund verdorrt.
Einfach schlafen möchte ich.
Aber ich weiss nicht, ob ich dann je wieder aufwachen werde. Jedes Mal, wenn ich die Augen schliesse, suchen mich Bilder heim. Bilder des Grauens, Bilder der Angst. Es spukt in meinem Kopf. Ich sehe mich sterben. Die Welt da draussen hat mich vergessen. Ich bin alleine. Und niemand wird mich hier je wieder finden.
Zum Glück ist es nie wirklich still. Auf der anderen Seite dieser unüberwindbaren Mauern höre ich das Leben. Es raschelt, etwas bewegt sich stetig. Es atmet. Geräusche wie von fern halten meine Aufmerksamkeit gefangen. Ich sauge sie in mir auf, versuche den dünnen Faden zum Leben nicht zu verlieren. Jedes Knacken, jeder Windstoss, jedes Kratzen kämpfen mit mir um mein Leben.
»Nicht aufgeben«, schreit es in meinem Kopf.
Meine linke Seite schmerzt. Ich habe Hunger. Draussen ist es dunkel. Ich friere und höre mir zu. Gedanken halten mich genauso wach wie die Angst vor den inneren Bildern.
4
Peter Liechti eilte die Treppe zum Gebäude der Kripo hinauf. Wie immer hatte sich sein Treffen mit Matter etwas in die Länge gezogen und er hatte nun ein schlechtes Gewissen.
»Sie wartet schon in Ihrem Büro«, war alles, was die Dame am Empfang von sich gab.
»Wer denn?«, fragte er leichthin und entledigte sich seiner Jacke.
»Na die Mutter des verschwundenen Mädchens«, kam es spitz zurück. »Und sie wartet nun schon eine lange halbe Stunde!«
Liechti überhörte den mütterlichen Unterton in ihrer Stimme und fragte sie auch nicht, inwiefern eine halbe Stunde lang oder kurz sein konnte, sondern schritt an ihr vorbei und betrat sein Büro.
»Frau ...?«
Sie stand nicht auf, als er die Tür hinter sich schloss. Mit ausgestreckter Hand ging er auf sie zu.
»Velázquez«, vollendete sie seine Frage.
»Ich bitte Sie, die Wartezeit zu entschuldigen. Es ist sonst nicht meine Art jemanden warten zu lassen«, sagte Liechti und schüttelte ihre Hand, welche sich wie ein kalter Lappen anfühlte.
Er umging seinen imposanten Schreibtisch und liess sich in den Sessel fallen.
»Wollen Sie etwas trinken. Einen Kaffee vielleicht? Ein Glas Wasser?«
»Wasser ist gut«, meinte sie.
Liechti nahm den Hörer von seinem Telefon ab, drückte auf eine Taste. »Frau Steiner, würden Sie uns freundlicherweise ein wenig Wasser mit zwei Gläsern organisieren? Danke.«