Zwischenräume - Jean-Pascal Ansermoz - E-Book

Zwischenräume E-Book

Jean-Pascal Ansermoz

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Beschreibung

»Vielleicht«, flüsterte sie, »ist es genau dort - zwischen den Schatten und dem Licht -, wo das Leben beginnt. Denn es sind Zwischenräume die uns tragen.« In den schillernden Zwischenräumen unserer Existenz liegen die Geheimnisse, die das Leben lebenswert machen. Oft übersehen, bilden sie die stillen Brücken zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Bekannten und dem Unbekannten.

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Für alle Suchenden und die, die es werden wollen

In den Falten des Moments, wo das Jetzt die Zeit streift, liegen sie – die unsichtbaren Räume, still, wie Atem, den du hältst.

Zwischen dem Aufbruch und dem Ankommen, zwischen Fragen und Antworten, sind sie da, wie eine Pause im Fluss, ein leises Innehalten, wo das Leben sich entfaltet, ohne Eile, und ohne Ziel.

Inhautsverzeichnis

Menschlicher als man denkt

Tryptichon aus bunten Blumen

Kapuzinerliebe

Zimmer mit Himmelblick*

Längiziti

Der alte Professor

Einfamilienhäuser

Gott gegeben

Liebe ist leise*

Zuflucht

Zwischenräume

Schuld und Schweigen

Aareschwümme

Herbstlose*

Heissi Schoggi

Der Atem des Lebens

Wo der Himmel aufhört

Zugreisende

Menschenherz*

Wimpernschlag

Zwischen Wänden

Blaue Himmel

Riesen erwachen

Ihre Wangen in zartrosa*

Wahnsinn und Liebe

Menschlicher als man denkt

Ich lernte John an einem Bahnhof kennen. Wie ich wartete auch er auf einen Zug – nur dass er sich schon seit langer Zeit fühlte, als wäre sein Leben bereits abgefahren. Er hatte einen gut bezahlten Job, doch Erfüllung fand er darin nicht. Er lebte in einer langjährigen Beziehung, die ihren Reiz verloren hatte, und kämpfte mit dem Gefühl, nicht mehr wirklich lebendig zu sein.

Es war ein grosser Tag für ihn gewesen, als er sich entschied, sein Leben zu verändern. Damals wusste er noch nicht genau, was er tun würde, aber eines war ihm klar: Er musste etwas unternehmen, um wieder in Einklang mit sich selbst zu kommen. Er begann damit, eine Liste der Dinge zu erstellen, die er immer schon gerne tun wollte, für die ihm aber manchmal die Zeit und manchmal das Geld gefehlt hatte. Daraus wurde die Frage, was ihm im Leben wirklich etwas bedeutete und was ihn noch mit einem Gefühl der Lebendigkeit erfüllte.

Dabei erinnerte er sich an seine frühere Leidenschaft fürs Fotografieren. Er hatte sogar Kurse besucht, um seine Technik zu verbessern. Als Kind war er stundenlang mit der Kamera umhergestreift, stets auf der Suche nach dem perfekten Schnappschuss. Die Freude, die er verspürte, wenn er denn ein gutes Foto schoss, war mehr als eine Belohnung für den Jungen gewesen. Und genau das wollte er wieder spüren.

John begann, seine Kamera überallhin mitzunehmen. Die Welt vor seinen Augen veränderte sich und er bemerkte alltägliche Szenen, an denen er früher achtlos vorbeigegangen wäre. Das weckte seine Neugierde.

Mit dem Eintauchen in sein altes aber neu entdecktes Hobby veränderten sich auch andere Bereiche seines Lebens.

In seinem Beruf trat er selbstsicherer auf, wurde zielstrebiger, und auch seine Beziehung erblühte neu – zumal seine Frau ihm nun gerne als Modell diente.

»Ich sah sie nach all den Jahren mit ganz neuen Augen«, gestand er.

Wir kommen oft zu spät. Die Züge, auf die wir warten, oft zu früh. Und manchmal wird man sich seines Zuges erst bewusst, wenn man zwischen zwei Abfahrtszeiten steht. Als die Lautsprecherdurchsage verkündete, dass unser Zug ausfiel, lächelten wir nur.

»Manchmal liegt der Schlüssel zum Glück darin, sich eine neue Perspektive zu schaffen – eine, die deine Gedanken inspiriert, neue Energien freisetzt und deine Hoffnungen beflügelt. Und das ist menschlicher, als man denkt.«

Tryptichon aus bunten Blumen

Ich achtete nur noch auf die kleinen Zeichen des Lebens. Eine Strassenbahn, die an der Ausstellungshalle vorbeifuhr. Der Duft von kaltem Kaffee, wenn ich die Tasse nah genug an meine Nase hielt. Der improvisierte Tanz einer aufgescheuchten Taube auf dem Gehsteig. Das Ticken der grossen Uhr an der Wand. Der Mann im langen Mantel, der hastig eintrat, die Tür schloss und mit gebeugtem Rücken hinausblickte, als würde er verfolgt.

Ich lächelte ihm zu, als er sich mir zuwandte. Er passte so gar nicht zu den üblichen Besuchern der Galerie, wirkte etwas verwirrt und irgendwie ziellos, als er durch die Ausstellung streifte. Irgendwann verspürte ich den Wunsch, ihn anzusprechen. Er stand vor einem Triptychon aus bunten Blumen, als ich mich ihm vorstellte und nach seinen Interessen fragte. Zunächst zögerte er, doch dann erzählte er mir, dass er durch eine Reihe unglücklicher Umstände – auf die er nicht näher einging - seine Arbeit, sehr wahrscheinlich seine Familie und sein Zuhause verlieren würde. Er fühlte sich allein und hilflos, und plötzlich hatte er viel zu viel Zeit, mit der er nichts anzufangen wusste.

Ich beschloss, ihn durch die Ausstellung zu führen, sprach über die Entstehungsgeschichten einiger Werke. Mein Gast hörte aufmerksam zu. Allmählich entspannte sich seine Körperhaltung, und in seinen Augen lag plötzlich Interesse.

Schliesslich fragte ich ihn, ob er nicht selbst einmal malen wolle. Der Mann zögerte, er habe noch nie gemalt, sagte er. Doch ich ermutigte ihn: In jedem Menschen steckt ein Künstler, der nur darauf wartet, entdeckt zu werden.

Mit einer kleinen Leinwand, Pinseln und Farben, im Atelier, das normalerweise am Samstagmorgen den Kindern gehörte, begann er unbeholfen zu malen. Natürlich war er zunächst vorsichtig und ängstlich – die Angst, beurteilt zu werden und die Furcht vor sich selbst, vor den Anteilen, die er sich durch seine Lebensgeschichte nicht mehr zugestehen wollte. Doch mit jeder Bewegung wurden seine Gesten sicherer, die Farben bunter, seine Energie lebhafter. Er vergass den unbequemen roten Plastikstuhl, auf dem er sass, und den runden blauen Tisch, übersät mit den Spuren grosser Malstunden kleiner Künstler.

Als er ging, fragte er mich, wie lange die Ausstellung noch zu sehen sei. Er wolle unbedingt wiederkommen. Ich sah ihm nach, wie er die Strasse entlangging – das Bild in der einen Hand, und immer noch viel Zeit in der anderen.

Gesehen habe ich ihn nie wieder Doch das ist letztlich nicht wichtig.

Oder vielleicht doch?

Kapuzinerliebe

Es war ein Montagmorgen, wie jeder andere – oder zumindest schien es so. Der Himmel über Luzern war blau, der Vierwaldstättersee glitzerte in der Morgensonne, und sie sass wie immer an ihrem Stammplatz in einem kleinen Café nahe der hölzernen Brücke.

Sophie hatte die Eigenart, ihren Kaffee stets auf eine besondere Art zu geniessen. Nie in Eile und ohne jede Hektik. Sie trank ihren Cappuccino wie ein Ritual – erst der Duft, dann das sanfte Kreisen des Löffels im Schaum, und schliesslich der erste Schluck, ganz langsam und mit geschlossenen Augen. Der Barista wusste das längst und brachte ihr den Cappuccino genau so, wie sie ihn mochte.

Sie beobachtete ihn, wie er den Kaffee mit ruhigen, geübten Bewegungen zubereitete. Die Art, wie er den Espresso durch die Maschine laufen liess, wie er den Milchschaum behutsam auf den Kaffee goss, schien ihr fast wie eine Kunst. Alles geschah in einem perfekten Rhythmus. Es war langsam, aber präzise. Kein Stress, keine Hektik.

An diesem Morgen war Sophie abgelenkt. Nicht vom Alltag oder der Arbeit, sondern von einem Mann, der ein paar Tische weiter sass. Er war in seinen Laptop vertieft, tippte mit schneller Hand, aber alle paar Sekunden hielt er inne, um an seinem Espresso zu nippen. Und genau das war es, was Sophie irritierte – seine Art, Kaffee zu trinken. Kurz, hastig, als wäre der Kaffee ein notwendiges Übel, das nur dazu diente, den Kopf wachzuhalten. Weil man eben in dieser Welt keine Zeit mehr hatte oder keine Zeit mehr verlieren wollte.

Sophie nahm ihren den ersten Schluck des Tages behutsam, wie immer. Sie konzentrierte sich dabei auf die Wärme, die vom Getränk ausging, auf den Duft, auf die milchige Konsistenz. Jede Tasse