Mein Herz, das tiefe Meer - Jean-Pascal Ansermoz - E-Book

Mein Herz, das tiefe Meer E-Book

Jean-Pascal Ansermoz

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Beschreibung

Für Léo bricht eine Welt zusammen, als seine Mutter bei einem Autounfall ums Leben kommt. Sein Vater beschliesst, alles hinter sich zu lassen, um Hunderte von Kilometern entfernt bei Léos Grosseltern am Meer neu anzufangen. Ohne die gewohnten Bezugspunkte, ohne seine Mutter und ohne seine Freunde, findet sich Léo mitten im Sommer in einem kleinen südfranzösischen Dorf wieder, die Seele heimatlos und das Herz schwer. Erst als er den Besitzer des Tabakladens kennenlernt, verändert sich sein Leben zum zweiten Mal. Denn Jacques hat eine unfehlbare Methode, um einem Leben wieder einen Sinn zu geben ...

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»Das Herz des Menschen ist

sehr ähnlich wie das Meer,

es hat seine Stürme,

es hat seine Gezeiten

und in seinen Tiefen

hat es auch seine Perlen.«

Vincent van Gogh

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

1. Kapitel

Die Tür des Spiegelschranks knarrte fürchterlich in der Stille des Hauses. Léo hielt in der Bewegung inne. Hatte sein Vater ihn gehört? Es wäre überaus peinlich, sich in dieser Situation im Badezimmer erwischen zu lassen.

Im Flur bewegte sich jedenfalls nichts.

Auch ein Stockwerk tiefer rührte sich niemand.

Von dort, wo der Junge stand, hörte er nur das Geplätscher aus dem Fernseher. Das Geräusch, so familiär und doch so fremd, drang wie Wellen in sein Bewusstsein. Der Junge wusste, dass es noch viel zu früh war. Sein Vater schlief bestimmt noch nicht, zumal er die tägliche Flasche Rotwein gerade erst entkorkt hatte. Es würde ein paar Gläser brauchen, bevor das Schnarchen einsetzte.

Manchmal lief der Fernseher noch, wenn Léo sich zum Frühstück in die Küche begab. Er schaltete ihn dann aus, wobei er stets darauf achtete, seinen Vater nicht zu wecken. Das war die Aufgabe der Katze, wenn sie von ihrem nächtlichen Ausflug nach Hause kam. Léo würde zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Weg zur Schule sein. Und das war auch gut so. Sein Vater war morgens nie ein fröhlicher Mensch gewesen. Und seitdem er trank, versuchte Léo, so gut es ging, solch unwegsamen Situationen aus dem Weg zu gehen.

Im Moment gab es auf alle Fälle Dinge, die sein Vater nicht wissen musste. Ihn im Badezimmer mit dem Parfüm seiner Mutter zu erwischen, war eines davon.

Trotz der Möglichkeit entdeckt zu werden, stand Léo einen Augenblick regungslos vor dem offenen Spiegelschrank. Sein Herz hämmerte in seiner Brust. Er versuchte, den Anschluss an seine Gedanken zu finden. Aber sie waren vor der Angst in ihm geflüchtet.

Das Parfümflakon stand immer noch da. Mittlerweile war es fast leer. Niemand würde diesmal ein neues kaufen. Léo schluckte. Dann schüttelte er energisch den Kopf, um das traurige Gefühl loszuwerden.

Sie lauerten ihm schon seit einiger Zeit auf, diese unliebsamen Empfindungen. Der Junge hasste es, von ihnen überrascht zu werden, und er war sich sicher, dass sie ihn töten würden, wenn er nicht aufpasste.

Ein verstohlener Blick zur offenen Tür. Dann nahm er das Fläschchen an sich und schlich in sein Zimmer.

2. Kapitel

Das befand sich seit jeher im ersten Stock. Das einzige Fenster war halb in die Dachschräge eingelassen. Schon früh hatte Léo diese Möglichkeit genutzt, um unbemerkt das Haus zu verlassen.

Léo kletterte behände auf seinen Schreibtisch, schlüpfte aus dem Fenster, mied das heiße Blech um den Kamin und achtete darauf, der Dachkante nicht zu nah zu kommen. Dann folgte er dem Giebel zur anderen Seite, zu den Ästen, die ihm ein Apfelbaum entgegenstreckte.

Er musste schon lange vor dem Haus hier gestanden haben. Da war sich Léo sicher. Vielleicht sogar vor dem Tal selbst. Der gewundene Stamm gab ihm auch dieses Mal die nötigen Stützen und Griffe, um sicher hinabzusteigen.

Einen Moment lang hockte er neben der Steinmauer, spürte die von ihr ausgehende Wärmeabgabe aus sonnenreichen Stunden. Der Garten lag verlassen vor ihm. Die Tomatenstauden mussten Durst haben. Ihre Blätter hingen schlaff herab.

Gerade als er aufstehen wollte, spürte er die Katze an seinen Beinen. Das Tier sah ihn aufmerksam an, rieb seinen Kopf an seinem Arm, ihr Schwanz streckte sie in Form eines Fragezeichens in die Höhe. Als wollte sie wissen, was er vorhatte.

»Nicht jetzt, mein Großer«, flüsterte Léo ihr zu, während er ein besorgtes Auge auf die einzige Stelle der Veranda richtete, von der aus man ihn hätte sehen können. Es war nicht so, als würde sein Vater plötzlich auftauchen. Saß der erst einmal vor dem Fernseher, konnte ihn nichts mehr zum Aufstehen bewegen.

Vielleicht würde er sich bewegen, wenn das Haus brennen würde.

Oder wenn ein Mann mit Ledermaske und einer Kettensäge schreiend ins Wohnzimmer stürmte.

Vielleicht brauchte es auch beides.

Léo hatte weder das eine noch das andere ausprobiert.

Er streichelte über den Kopf der Katze. Dann nahm er zwei, drei schnelle Schritte, sprang über den Zaun und verschwand im Schatten des angrenzenden Wäldchens.

Die Sonne berührte gerade die Horizontlinie, als der Junge die Spitze des Hügels erreichte. Der Himmel war an diesem Abend nicht klar. Aber das war er hier nie. Wolken täuschten das Dämmerlicht und verbargen die Ankunft der Nacht, indem sie in verschiedensten Farben zu leuchten begannen. Das war der Moment, den er bevorzugte.

Der Moment, an dem alles kippte.

Der, der alles zum Kippen brachte.

Die Augen voller Licht und das Herz, das durch ein Gefühl anschwoll, das so weit wie der Himmel war.

Vom Ast des Baumes aus, der sich nur wenige Meter über dem Boden befand, hatte Léo einen atemberaubenden Blick auf das Tal und das kleine Dorf.

Die Berge bildeten an dieser Stelle eine dunkle Wanne, die die Nacht nun langsam mit Dunkelheit zu füllen begann. Man sah nur noch den Kirchturm, der sich tapfer gegen das Unwiderlegbare zu wehren schien. Dann rissen die Wolken auf. Die goldenen Zeiger brannten in der untergehenden Sonne. Tränen kamen hoch und dieses Mal hielt Léo sie nicht zurück.

Sein Herz brannte und morgen würde nur noch Asche übrig bleiben.

Wut kam hoch. Und Verzweiflung. Und Trauer.

Zwei Männer in Uniform waren an der Tür aufgetaucht. Er hatte ihnen stolz die Tür geöffnet, ihnen gesagt, alle wären außer Haus, und dass sie seine Mutter auf ihrem Handy erreichen würden, wenn es denn nötig sei. Er könnte ihnen sogar die Nummer geben. Die konnte man jederzeit auf dem gelben Post-it am Kühlschrank ablesen.

Die Beamten hatten einen verlegenen Blick ausgetauscht.

»Und was ist mit deinem Vater?«, hatten sie schließlich gefragt.

3. Kapitel

Drei Monate später

Léo blieb stehen.

Trotz seines keuchenden Atems versuchte er anhand der Geräusche, seine Verfolger zu orten. Alles, was er zu hören bekam, war sein eigener Herzschlag.

Er musste sich entscheiden.

Einmal in einer der kleinen Gassen gab es kein Zurück mehr. Keine Möglichkeit, diese wieder zu verlassen. Sie waren alle schmal hier, von Steinmauern flankiert und von Stufen gestützt, die sich im Laufe der Jahre zum Meer hinabgesenkt hatten.

Die Schreie hinter ihm wurden lauter, freudvoller. Sie wollten seine Angst schüren, ihn dazu bringen, eine falsche Entscheidung zu treffen. Léo konnte es spüren.

Aber nicht heute.

Seine Verfolger kamen von zwei Seiten. Sie hatten sich schließlich aufgeteilt, falls er auf die Idee gekommen wäre, zur Hauptstraße zurückzukehren, um sie im Kreis herumzuführen.

Blieb nur noch eine Möglichkeit: das Meer.

Sein Kopf sagte ihm, dass er die linke Gasse nehmen sollte. Sein Herz wollte in die mittlere flüchten. Sein Körper zog es nach rechts.

Nachdenken würde ihm hier nichts bringen und sein Körper neigte eh dazu, der Panik nachzugeben.

Deshalb wählte er die mittlere Straße.