Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Als Alima und Kadir endlich die Küste Italiens erreichen, scheint für sie der Krieg in Syrien in weite Ferne gerückt. Sie stehen am Anfang eines neuen Lebens. Doch was sie vorfinden ist nicht das, was sie sich vorgestellt hatten. Das Lager aus Zelten, wahllos zusammengestellt und mit Gittern umgeben, ähnelt mehr einem Gefängnis, als der erhofften Freiheit. Doch als Kadir die Bekanntschaft von Namid macht, einem erwachsenen Syrer mit indianischem Vornamen, ändert sich alles. Denn Namid versteht es, ihm zu zeigen, dass das Leben selbst in schwierigen Zeiten immer ein Lächeln bereithält, vorausgesetzt man möchte es sehen. Der Junge schöpft neue Hoffnung. Bis zu dem Tag, als im Lager eine Gasflasche explodiert ...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 66
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
»Es ist ein Wunder, dass ich all meine Hoffnungen noch nicht aufgegeben habe, denn sie scheinen absurd und unerfüllbar. Doch ich halte daran fest, trotz allem, weil ich noch stets an das Gute im Menschen glaube.«
Anne Frank
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Epilog
»Hörst du den Regen?«
Die Frage war nicht, ob ich ihn hörte, sondern wie um alles in der Welt ich ihn nicht hätte hören können. Seit Tagen trommelte er sich in meine Gedanken, nur durch eine dünne Zelthaut getrennt, zählte für mich die Stunden und Minuten und legte sie mir zu Füssen. Es war kalt und nass; und der Tag ähnelte der Nacht.
Dieser noch mehr als alle anderen.
»Ich liebe es, ihm zuzuhören. Hast du gewusst, dass er Geschichten erzählt?«
Geschichten?
Geschichten schwirrten genug in meinem Kopf herum. Bei manchen Bildern wusste ich schon gar nicht mehr, ob ich sie je erlebt hatte, oder ob es sich einfach nur um Fantasiegebilde handelte, die mir das Leben schwer machten. Meine Gedanken liefen in die Irre, wenn die Stunden sich auszogen, wie Schlangen sich häuteten. Immer und immer wieder dieselben Reigen. Ich kannte die Kehrreime auswendig.
Und jedes Mal stimmten sie mich traurig.
Mit meinen zwölf Jahren hatte ich bereits genug Geschichten für ein ganzes Leben. Und jeden Tag kamen neue hinzu. Das Lager war voll von ihnen. Die Welt schrumpfte auf wenige Quadratmeter Frustration und Erschöpfung. Ein Horizont, der weinte und schrie, in der Nacht, wenn Erinnerungen plötzlich wieder lebendig wurden und Bilder wie Raketen in meinen Kopf schossen.
Alima drehte sich zu mir und sah mich aufmerksam an. Ich gab sicher kein schönes Bild ab. Zusammengekauert umschlossen meine Arme seit Stunden meine Beine. Ich zitterte fast nur noch, wenn nicht vor Kälte, dann vor Erschöpfung. Ein Wunder, dass ich noch nicht krank geworden war.
»Komm her«, sagte sie und hob einen Zipfel ihrer Decke. Das musste sie mir nicht zweimal sagen. »Soll ich dir eine Geschichte erzählen? Eine Geschichte des Regens?«
Die plötzliche Wärme ließ die Welt sich um mich drehen. Ihr Geruch, so vertraut und nach all den Kilometern doch so fremd, machte mich schwindlig. Das fühlte sich an wie Heimat. Diejenige, die wir vor Monaten verlassen hatten, meine Schwester, mein Bruder und ich. Ja, ich wollte eine Geschichte hören. Und sei es nur, um bei ihr sitzen bleiben zu dürfen.
Ich nickte. Sie strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Einen kurzen Augenblick zog sie die Augenbrauen zusammen und sah in den Regen hinaus. Dann lächelte sie und begann zu erzählen.
»Ein Strom floss vom Ursprung in fernen Gebirgen durch sehr verschiedene Landschaften und erreichte schließlich eine Sandwüste. Genauso, wie er alle anderen Hindernisse überwunden hatte, versuchte er nun auch, die Wüste zu durchqueren. Nach wenigen Metern aber merkte er, dass - so schnell er auch durch den Sand fließen mochte - seine Wasser verschwanden. Er war jedoch davon überzeugt, dass es für ihn der einzig mögliche Weg war, die Wüste zu durchqueren. Da hörte er eine Stimme: »Der Wind durchquert die Wüste, und das Wasser kann es auch.« Der Fluss wandte ein, dass er sich doch gegen den Sand werfe, dabei jedoch nur aufgesogen würde; der Wind aber fliegen könne und deshalb die Wüste zu überqueren vermochte. »Wenn du dich auf die gewohnte Weise vorantreibst, wird es dir unmöglich sein, sie zu überwinden. Du wirst entweder verschwinden, oder du endest als Sumpf. Du musst dem Wind erlauben, dich zu deinem Bestimmungsort zu tragen«, flüsterte die Stimme. »Aber wie soll ich das machen?«, fragte der Fluss. »Indem du dich von ihm aufnehmen lässt.« Diese Vorstellung war für den Fluss unannehmbar. Schließlich war er noch nie zuvor aufgesogen worden. Er wollte keinesfalls seine Eigenart verlieren. Denn wenn man sich einmal verliert, wie kann man da wissen, ob man sich je wiederfindet? »Der Wind weiß wie«, sagte die Stimme. »Er nimmt deine Flüssigkeit auf, trägt sie über die Wüste und lässt sie wieder fallen. Und als Regen wird dein Wasser wieder zum Fluss.« »Woher kann ich wissen, ob das wirklich wahr ist?« »Es ist so, und wenn du es nicht glaubst, kannst du eben nur ein Sumpf werden. Und auch das würde viele, viele Jahre dauern. Weiter kommst du dann aber nicht. Die Frage ist also, willst du hierbleiben, oder folgst du deinen Träumen?« »Aber kann ich nicht derselbe Fluss bleiben, der ich jetzt bin?« »Niemand bleibt, wie er ist«, flüsterte die geheimnisvolle Stimme. »Das Leben ist ständig in Bewegung. Und du bist ein Teil dieses Lebens. Ob du es wahrhaben willst oder nicht. Das Wesentliche an dir wird fortgetragen und bildet dann wieder einen neuen Strom. Heute wirst du nach dem genannt, was du jetzt gerade bist, doch du weißt nicht, welcher Teil deines Selbst morgen der Bestimmende sein wird.« Als der Strom dies hörte, stieg in seinem Innern langsam ein Gefühl auf. Dunkel erinnerte er sich an einen Zustand, in dem der Wind ihn - oder einen Teil von ihm? - auf seinen Schwingen getragen hatte. Das war lange, lange her, bevor er zu jenem Fluss geworden war, der nun die Wüste zu durchqueren suchte. Und da ihm keine andere Lösung zur Verfügung stand, als zu vertrauen, gab er sich schließlich hin. Er ließ seinen Dunst in die Arme des Windes aufsteigen, der ihn willkommen hieß und sachte vorwärts trug. Als sie nach vielen, vielen Kilometern endlich den Gipfel des Gebirges erreicht hatten, ließ der Wind ihn wieder herabfallen. Weil er zu Beginn voller Ängste gewesen war, konnte der Fluss nun diese Erfahrung mit all ihren Einzelheiten viel deutlicher empfinden. Sie prägte sich ihm ein. Der Strom hatte gelernt zu vertrauen. Und deshalb sagt man, dass der Weg, den der Strom des Lebens auf seiner Reise einschlagen muss, auch in den Sand geschrieben ist.«
»Das muss aber ein großer Fluss gewesen sein«, dachte ich laut und sah dabei zu den schweren Wolken hoch.
»Vielleicht waren es ja auch mehrere Flüsse, die sich zusammengefunden haben.«
»So wie wir hier?«, fragte ich sie.
»Schau, alle hier haben eine andere Herkunft, aber alle wollen dieselbe Wüste durchqueren.«
So hatte ich mir das noch nicht überlegt.
»Wir müssen durch eine Wüste?«
Ihr Lachen nahm mir meine plötzliche Befangenheit wieder. »Unsere Wüste hat einen anderen Namen. Aber sie tötet genau gleich, wenn man nicht aufpasst.«
»Du meinst den Krieg, nicht wahr?«
Sie nickte bedächtig und seufzte.
»Unsere Wüste heißt Krieg.«
Jetzt musste ich nicken, obwohl ich nicht alles begriffen hatte. Aber solange sie bei mir war, konnte kommen, was wollte. Auch eine Wüste. Wir würden es durchstehen. Da war ich mir sicher.
»Und jetzt ruhe dich aus. Du siehst müde aus.«
Sie nahm mich bei den Schultern und zog mich sachte zu sich hin, bis mein Kopf in ihrem Schoss lag. Ich wehrte mich nicht. Das war ein wunderbarer Moment.
»Alima?«
»Ja?«
»Wir sollten sein wie die Winde, nicht wie Flüsse.«
»Das würde vieles einfacher machen.« Sie lächelte gutmütig. Ich dachte noch einen kurzen Moment an ihre Geschichte und horchte dem Regen. Eigenartig, wie sich die Welt veränderte, wenn eine Begebenheit sie dir näher brachte. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als könne ich die Regentropfen unterscheiden, als hätte jeder von ihnen eine eigene Stimme. All diese Klangfarben zusammen ergaben eine Melodie, eine Symphonie des Regens. Etwas Sonderbares geschah mit mir. Der Fluss der Gedanken rückte in den Hintergrund. Ich war mir seiner zwar weiterhin bewusst, nahm ihn aber nicht mehr so wahr wie zuvor. Er verlor an Wirklichkeit, an Einfluss, an Intensität. Es gab nur noch diese Stimmen da draußen und die Wärme in mir drinnen. Die Gedanken machten