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Seit Tagen versank das Dorf unter den Schneemassen und kein Ende war in Sicht. Eine göttliche Plage. Und nun auch noch das! Nur wenige Schritte trennten ihn von den dunklen Umrissen, die sich deutlich im schummrigen Licht von der weissen Umgebung abhoben. Der Pater wusste, was er sah, hatte begriffen, was das bedeutete, konnte sich aber nicht dazu überwinden, die letzten Schritte in die Gewissheit zu wagen. Zweiter Advent. Seit Tagen schneit es ununterbrochen. Hans Matter und seine Tochter Tina verbringen die vorweihnachtliche Zeit in einem abgelegenen Dorf oberhalb von Brienz. Sie wollen Skifahren, lesen, entspannen. Mit der idyllischen Ruhe ist es jedoch schnell vorbei, als eine erste Leiche entdeckt wird... Dies ist der dritte Fall für Hans Matter und Peter Liechti und erschien zum ersten Mal 2015 unter dem Titel »Wintersterben«.
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Seitenzahl: 188
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Zum Buch
Zweiter Advent. Seit Tagen schneit es ununterbrochen. Hans Matter und seine Tochter Tina verbringen die vorweihnachtliche Zeit in einem abgelegenen Dorf oberhalb von Brienz. Sie wollen Skifahren, lesen, entspannen. Mit der idyllischen Ruhe ist es jedoch schnell vorbei, als eine erste Leiche entdeckt wird ...
Dies ist der dritte Fall für Hans Matter und Peter Liechti und erschien zum ersten Mal 2015 unter dem Titel »Wintersterben«.
Zum Autor
Jean-Pascal Ansermoz wurde als Schweizer im September des Jahres 1974 in Dakar (Senegal) geboren. Er ist einer, der mit Leichtigkeit über den Röschtigraben springt, schrieb er doch bis 2009 nur in französischer Sprache. Weltenbürger, Romand und Deutschschweizer in einem: Ein Autor mit Hang zum Kriminellen aber auch zu Poetischem, Literarischem, Alltäglichem und Besonderem.
Mehr Infos unter: www.jeanpascalansermoz.ch
Impressum
Alle Rechte vorbehalten
© 2015-2020 Jean-Pascal Ansermoz
ISBN: 9783752640397
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Umschlaggestaltung & Satz: AZ Productions, Fribourg (CH)
unter Verwendung eines Bildes von TheDigitalArtist/Pixabay
Lektorat: Christiane Kathmann, www.lektorat-kathmann.de
Diese Geschichte ist frei erfunden. Alle Namen, handelnde Personen, Orte und Begebenheiten entspringen der Fantasie des Autors. Jede Ähnlichkeit mit real lebenden oder toten Personen, Ereignissen oder Schauplätzen ist völlig unbeabsichtigt und reiner Zufall.
Zitat
»Nebel, stiller Nebel über Meer und Land.
Totenstill die Watten,
totenstill der Strand.
Trauer, leise Trauer
deckt die Erde zu.
Seele, liebe Seele,
schweig und träum auch du.«
Christian Morgenstern
1
Nicht genug, dass ihn Gott mit dieser unerbittlichen Kälte bestrafte – das Land hatte seit 1962 keinen solchen Winter mehr gesehen – aber nun auch noch das!
Seit Tagen versank das Dorf unter den Schneemassen und kein Ende war in Sicht. Man sah gerade mal vier Meter weit. Ununterbrochen fiel der Schnee. Eine göttliche Plage. Zum Glück hatte Moses in Ägypten gelebt und nicht in diesem abgelegenen Dorf im Berner Oberland. Er konnte sich glücklich schätzen, dass es in der Wüste keinen Schnee gegeben hat. Früher war halt alles besser gewesen. Anders, korrigierte er sich sofort. Früher war alles anders gewesen, nicht besser.
Pater Bonifatius stand an jenem Punkt des Weges, der ihm zum ersten Mal, seit er das Haus verlassen hatte, den Blick auf seinen Kirchturm freigeben würde. Wäre da nicht der ständige Wind. Wären da nicht die Schneeflocken, die ihm im Gesicht hängen blieben, sich an Augenbrauen und Bart festhielten wie kleine Kinder auf der Suche nach Aufmerksamkeit. Als er stehen blieb, fröstelte er nicht mehr, ihm war bitterkalt. Das Atmen fiel ihm schwer. Und das, seit der Winter vor zwei Monaten angefangen hatte.
Nur wenige Schritte trennten ihn von den dunklen Umrissen, die sich deutlich im schummrigen Licht von der weissen Umgebung abhoben. Obwohl es dunkel war. Obwohl der Schnee fiel. Der Pater wusste, was er sah, hatte begriffen, was das bedeutete, konnte sich aber nicht dazu überwinden, die letzten Schritte in die Gewissheit zu wagen.
»Weisst du, der ist echt süss.«
Tinas Augen bekamen etwas Verträumtes, das er nur selten bei ihr beobachtet hatte. Ob das ein erstes Zeichen von Verliebtheit war? Der Speisesaal war nur spärlich besetzt. Hans Matter hatte sich gerade nach einem wohltuenden Pilzrisotto über die Panna cotta mit Erdbeer-Rhabarberkompott hermachen wollen, als Tina plötzlich aus dem Nähkästchen zu plaudern begann. Er bemerkte verwundert, wie gross sie geworden war. Als ob er sie nicht täglich sehen würde.
»Hörst du mir eigentlich zu?«
»Natürlich. Du hast mir eben erzählt, wie süss der Typ ist. Verliebt?«
Matter nahm sich ein Stück Panna cotta und liess es im Mund zergehen.
»Echt lecker, willst du auch?«
Er reichte ihr den Löffel und schob zeitgleich seinen Teller in ihre Richtung. Doch sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich mag ihn einfach.«
»Und er dich auch?« Matter konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Also der Jonas, der ist echt sympathisch. Hat mir sogar die Tür aufgehalten, als wir uns das letzte Mal sahen. Echt cool! Und der hat Augen ...«, schwärmte sie.
»Und was ist mit Tobias?«
Ein kalter Luftzug erreichte ihren Tisch. Matter sah zur Tür hinüber, die sich hinter einem rothaarigen Mann im Wintermantel schloss. Sein Blick schweifte kurz über die verbleibenden Gäste. Ein Paar stand von seinem Tisch auf. Der Mann half der Frau in ihren Mantel. Alessandro, dem die neue Pizzeria und die Pension gehörten, stand strahlend daneben. Selbst mit seiner Körpersprache bedankte er sich. Er war eindeutig eher für die Rolle des Gastwirts geschaffen als seine Frau Anna, die sich meist im Hintergrund hielt.
»Der ist viel zu sportlich«, fuhr Tina fort. »Und der ist wirklich gross, findest du nicht auch?«
»Ich verstehe nicht ganz ... wo ist denn der DJ geblieben?«
»Das ist Jonas. Weil der so viel Musik hört, sagen wir eben DJ zu ihm.«
»Und den hast du auf dem Konzert kennengelernt?«
»Mensch Papa, nein, das war auf dem Skateboard-Contest.«
»Aber ...«
»Nee, auf dem Konzert waren Tim und Daniel.«
»Ach ja, der Tim ...«
»Erinnerst du dich nicht mehr? Ich hab dir das doch erzählt.«
Ihr Ton wirkte ein wenig vorwurfsvoll. Schnell löste aber ein zufriedenes Lächeln ihren besorgten Gesichtsausdruck wieder ab, als Elena, die Servicehilfe, ihr den Eisbecher brachte. Matter atmete innerlich auf. Seit Tina von Jungen schwärmte, war er in ihren Augen weniger peinlich geworden. Zumindest ging sein Gefühl in diese Richtung. Mit nach Hause gebracht hatte sie allerdings noch niemanden.
»Der hat dich auch heimbegleitet, nicht?«
Sie nickte nur und lutschte an ihrem Löffel Himbeereis. Ihr Blick verriet mehr als ihre Worte.
»Ja, das hat er.«
Schlotternd stand er da, verfluchte den Schnee um ihn und die Kälte. Dann betete er. Dann verfluchte er wieder den Schnee. Wie lange er so dagestanden hatte, konnte er im Nachhinein nicht mehr sagen. Irgendwann kam der Moment, wo er sich bewegen musste, wollte er sich nicht den Tod holen.
Bonifatius sah sich ergeben um, bekreuzigte sich abermals und ging neben der Gestalt auf die Knie. Der Schnee hatte sich bereits wie ein dünnes Grabtuch über die Frau gelegt. Er legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie fühlte sich selbst durch die Handschuhe des Paters starr und kalt an. Die Frau lag mit dem Gesicht nach unten vor ihm. Sein Blick schweifte von ihrem Hinterkopf über ihren Mantel hinunter zu den Schuhen. Nochmal blickte er sich um, sah zum Himmel hoch und liess einen Augenblick die Schneeflocken auf sein Gesicht fallen. Er wusste, wer sie war. Und das machte den Moment nur noch schlimmer. Langsam zog er einen Handschuh aus und versuchte, am Hals den Puls zu fühlen. Nichts. Vergeblich suchte er nach Blut oder Verletzungen. Ein Grauen ergriff Besitz von ihm. Bonifatius setzte sich neben die Tote in den Schnee und überlegte, was er jetzt machen sollte.
Es gab eigentlich nur eins, das er jetzt noch tun konnte.
2
»Mögen Sie Spiele, Herr Matter?«
Graue Augen musterten ihn unter buschigen Augenbrauen. Als keine Antwort kam, legte der Fremde Matters ersten Krimi neben die Panna cotta auf den Tisch.
»Ich mag sie, die Spiele, wissen Sie. Jegliche Art von Spielen übrigens. In meinem Alter hat man sonst nichts mehr zu verlieren. Nicht, dass ich mir darum Sorgen machen müsste. Ich gewinne immer.«
Der Mann lächelte. Matters Blick wanderte von seinem Dessert zum Buch und zurück. Dabei war der Abend bis dahin ein wirklicher Erfolg gewesen. Er blickte kurz zu Tina hinüber, der man die Überraschung ansah. Er konnte jedoch nicht erraten, ob sie über den Vorfall eher pikiert oder belustigt war. Mit einem Seufzer schob Matter den Teller etwas von sich und betrachtete den Mann genauer, während er die erste Seite aufschlug, um eine Widmung hineinzuschreiben.
Das Aussehen des Fremden widersprach seinem Auftreten. Obwohl er viele Falten im Gesicht trug, wirkten seine Bewegungen jung und geschmeidig. Die Augen des alten Mannes versprühten jugendlichen Glanz. Matter hätte Schwierigkeiten gehabt, sein Alter zu schätzen. Der Mann reichte ihm einen Füllfederhalter.
»Nun, ich spiele auch gerne«, gab er zur Antwort, »Aber, ohne Sie beleidigen zu wollen, ich gewinne ebenfalls meistens.«
Nun lachte der Mann auch mit seinen Augen. Die Welt schien wieder in Ordnung zu sein, bis auf den Schneesturm draussen natürlich. Trotzdem wurde Matter das beklemmende Gefühl in der Präsenz des Fremden nicht mehr los. Er nahm die Kappe des Füllfederhalters ab. Der Mann hatte sich nicht bewegt. Seine Augen musterten Matter mit, wie es schien, immer grösser werdendem Interesse. Er bewegte auch nicht den Kopf, als die Tür zur Pizzeria aufgerissen wurde und ein verwirrt aussehender Mann in einem schwarzen Habit hereinstolperte und fast der Länge nach hingefallen wäre. Ein eisiger Wind begleitete ihn.
»Alessandro, funktioniert dein Telefon?«, hörte Matter ihn rufen. Die Stimme war gebrochen, fast krächzend. Der Mann zitterte am ganzen Körper. Die Gespräche verstummten. Alle Augen richteten sich auf den Neuen. Im schwachen Licht der Pizzeria Bellavista erkannte Matter auf die Distanz nur, dass der Mann sich wohl hastig angezogen haben musste. Tunika und Soutane schienen bessere Zeiten gesehen zu haben. Der Geistliche hatte sich eine Kukulle übergeworfen, deren Kapuze von seinem Kopf gerutscht war. Schneeflocken lagen auf seinem Haar und auf der Kutte und gaben ihm ein gespenstisches Aussehen. Sein Gesicht war rot vor Erregung und Kälte und er atmete schwer. Der Geistliche war vermutlich längere Zeit gerannt. Nun stützte er seine Hände auf die Knie, um Luft zu schöpfen.
»Mein Name ist Stiller«, sagte der Mann vor Matter, ungeachtet dessen, was sich in seinem Rücken abspielte. »So wie der Roman.«
Mittlerweile war der Besitzer des Lokals herbeigeeilt. Einige Männer hatten sich von ihren Stühlen erhoben. Matter sah, wie der Neuankömmling aufgeregt auf Alessandro einredete. Beide gingen zur Bar, wo der Geistliche hastig nach dem Telefon griff, wählte und dann aufgeregt in den Hörer sprach.
»Haben Sie das Buch gelesen?«
Unruhe machte sich im Lokal breit.
»Welches Buch?«
»Stiller.«
Matter war abgelenkt, hatte Mühe sich auf die Worte des Fremden zu konzentrieren.
»Nun ... nein, ich muss zugeben, ich habe das Buch nicht gelesen.«
Er warf Tina einen kurzen Blick zu, die das Geschehen im Hintergrund ebenfalls beobachtete.
»Sollten Sie aber. Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie sich, während Sie die ersten Sätze eines Romans lesen, sagen: Das muss ich lesen?
»Einfach nur Stiller?«, wich Matter aus.
»Eigentlich Siegfried, aber das Buch einfach nur für Stiller bitte.«
Drei, vier Männer hatten sich um Alessandro versammelt. Auch der Rothaarige war dabei. Matter hatte ihn gar nicht zurückkommen sehen. Der Geistliche legte auf und gesellte sich mit betroffener Miene zu dem kleinen Grüppchen. Es wurde rege diskutiert.
»Entschuldigen Sie, Siegfried, aber ich bin ein wenig abgelenkt.«
»Für Stiller ... das Buch ...«
In Stillers Stimme war kein Unmut zu entdecken. Er hatte sich immer noch nicht umgedreht.
»Für Stiller ... natürlich.« Matter signierte und gab dem Mann das Buch zurück. Dann stand er auf.
»Haben Sie vielen Dank auch.«
Stiller hielt ihm die Hand hin. Als Matter sie ergriff, zog dieser ihn näher zu sich heran und flüsterte: »Ich gewinne immer!«
Ohne ein weiteres Wort und ohne die kleine Versammlung am Tresen zu beachten, schritt der Mann in Richtung Treppe und war Sekunden später aus seinem Gesichtsfeld verschwunden.
Matter blickte Tina an, die ihn wiederum fragend ansah. Die eben noch verspürte Gemeinsamkeit war verflogen. Er hob kurz die Schultern. Bis hierher war der Aufenthalt eigentlich sehr zufriedenstellend verlaufen. Alessandro hatte Matter und seine Tochter zu deren zweiwöchigen Ferien ganz herzlich begrüsst und las ihnen seit ihrer Ankunft jeden Wunsch von den Lippen ab. Er habe nicht jeden Tag einen Buchautor zu Gast, entschuldigte er sich immer wieder. Matter kam direkt von einer zehntägigen Lesereise und wollte eigentlich ausspannen. Die gute Laune des gebürtigen Italieners war einfach ansteckend und die Müdigkeit nach wenigen Tagen schon Erinnerung. Für einige Zeit war die Welt in Ordnung gewesen. Bis jetzt.
Matter blickte wieder hinüber zum Tresen. Jetzt war es ein Mann mit einer Uniformjacke, der telefonierte. Die Unruhe schien Alessandro in Verlegenheit zu bringen. Als er den fragenden Blick Matters bemerkte, setzte er ein entschuldigendes Lächeln auf, das ihm nicht so recht gelingen wollte. Kurz darauf gesellte er sich zu ihnen an den Tisch.
»Signore Matter, alles ist gut. Möchten Sie noch etwas trinken? Ich kann Ihnen einen wundervollen Grappa anbieten, den mein Cousin mir vor wenigen Tagen direkt aus Italien gebracht hat. Eine Farbe, sage ich Ihnen! Und erst der Geschmack!«
»Was ist denn da los, Alessandro?«, unterbrach ihn Matter mit einer Kopfbewegung in Richtung Tresen. Der Wirt blickte kurz hinüber und sein Gesicht bekam einen traurigen Ausdruck.
»Ach, ein grosses Unglück, Signore.«
Er hob beide Hände zum Himmel.
»Der Padre musste einen Todesfall melden.«
Er bekreuzigte sich.
»Einen Todesfall?«
»Der Gerber muss nur schnell telefonieren ...«
Alessandro deutete auf den Mann in Uniformjacke, den Matter den ganzen Abend am Tresen gesehen hatte. Immer mit halbvollem Glas.
»Mamma mia, wir haben eine Tote da draussen!«
Alessandro seufzte. Dann huschte ein Strahlen über sein Gesicht.
»Aber Sie sind doch Detektiv!«, rief er, als würde das die ganze Situation ändern.
»Ich ... nein! Ich bin Schriftsteller.«
»Im Buch steht etwas anderes. Da steht, dass Sie der Polizei helfen, Fälle zu lösen.«
Der Italiener schien enttäuscht.
»Nun ja, da ist etwas Wahres dran, aber hier gibt es doch keinen Mord. Was sollte es denn da aufzuklären geben?«
»Madre di Dio, Herr Matter, kommen Sie. Sie müssen uns helfen!«
Alessandro packte Matter beim Ellbogen und zog ihn hoch. Tina wollte aufspringen, doch ihr Vater winkte beruhigend ab.
»Schon gut, schon gut.«
Er legte seine Serviette auf den Tisch und folgte Alessandro zur Bar.
»Il signore Matter«, stellte der Pensionsbesitzer ihn vor. Der Uniformierte war nun auch wieder zur Gruppe gestossen. Sein Blick streifte Matter kurz, dann blickte er zu Boden.
»Die können heute nicht kommen.«
»Was? Wieso denn nicht?«, fragte der rothaarige Mittvierziger, dessen Hände Matter an raue Rinde erinnerten. Auch sonst war der Mann kräftig gebaut, wenn auch von eher kleiner Statur.
»Es gab ... es gab einen Schneerutsch, etwas weiter unten.« Der Mann hatte sichtlich Mühe, seine Gedanken zu ordnen und Matter fragte sich, wie viel der Wachtmeister an diesem Abend schon getrunken hatte. Einen kurzen Moment schwiegen sie.
»Wir sind auf uns allein gestellt.«
»Du meinst, wir sind wirklich von der Aussenwelt abgeschnitten?«
Der Befragte nickte schwach.
»Und wir haben einen Toten da draussen?«
»Eine Tote«, mischte sich ein anderer ein. Neben dem Rothaarigen sah er aus wie ein Lamborghini neben einem Militärjeep. »Ich bin übrigens Christoph. Christoph Hermann.« Der Mann gab Matter eine kräftige Hand.
»Oh«, meinte der Rothaarige, »und ich bin Rolf, Rolf Künzi.« Sein Händedruck fühlte sich an wie ein Schraubstock. Matter hatte einen kurzen Moment Angst um seine Finger. »Christoph ist Gemeinderatsvorstehender und Rolf kümmert sich um die Arbeiten in der Gemeinde«, fügte Alessandro erklärend hinzu. »Richard Gerber ist unser Wachtmeister. Er arbeitet zwar im Tal, lebt aber immer noch hier im Dorf.«
»Und was machen wir jetzt?«, wandte er sich dann an die anderen.
Gerber seufzte.
»Die kommen erst morgen früh, wenn alles gut geht. Haben gesagt, es sei eine Sturmwarnung herausgegeben worden, für die frühen Morgenstunden.«
Zum ersten Mal meldete sich der Geistliche zu Wort. »Wir können sie nicht da draussen lassen. Das ist unmenschlich. Wir müssen sie irgendwo hinbringen, bis Hilfe kommt. Ich schlage vor, wir tragen sie in die Kirche. Ich halte dann Mahnwache bis morgen früh.«
Die Männer schwiegen. Tina war aufgestanden und kam zu der Gruppe hinzu.
»Was macht ihr denn für Gesichter? Als hättet ihr einen Geist gesehen!«
»Tina, das ist nicht der richtige Augenblick, glaub mir.«
»Was ist passiert?«
»Wir haben einen Toten da draussen«, sagte Künzi.
Das Grinsen verschwand aus Tinas Gesicht.
»Eine Tote, um genauer zu sein«, korrigierte Hermann.
»Und wir haben soeben eine Sturmwarnung für morgen früh erhalten«, fügte Matter hinzu.
3
Sie waren zu fünft, als sie die Pension verliessen. Matter, Gerber, Künzi, der Pater und Stiller. Alessandro hatte sich daran erinnert, dass der Mann früher Arzt gewesen war, und ihn deshalb gebeten, mitzukommen. Stiller war seit heute auch einer der Gäste der Pension, das hatte Matter soeben erfahren, und nicht gewusst, ob er darüber glücklich sein sollte, denn Stiller bewohnte nun das Zimmer neben seinem.
Ein eisiger Wind empfing sie. Er zwang die Männer dazu, den Blick zu senken und die Schultern hochzuziehen. Matter fror, noch bevor er den ersten Schritt auf die Strasse gemacht hatte, die still und verlassen vor ihnen lag. Die vereinzelten Strassenlampen pflügten Lichtkegel in den weissen Vorhang des fallenden Schnees. Niemand sollte um diese Zeit noch draussen sein müssen. Auch keine Tote. Sie überquerten die Hauptstrasse, welche unter einer dicken, weissen Schicht verschwunden war. Bei jedem Schritt knirschte der Schnee. Zwei Autos standen etwas verlassen vor dem Dorflädeli gegenüber. Keine Menschenseele weit und breit.
Matter hatte seine ganze Überzeugungskraft gebraucht, um Tina davon abzuhalten, mitzukommen, und er wagte nicht daran zu denken, wie sie nun vermutlich schmollend im Hotelzimmer sass, ein Kissen an sich gepresst, und Löcher in die Luft starrte. Sie war sauer und das würde er später zu spüren bekommen.
Es war ein eigenartiges Grüppchen, das sich durch das Schneegestöber kämpfte. Matter kam sich vor, als wären sie die letzten Überlebenden auf dem Planeten. Keine Spuren liessen den Schluss zu, dass je jemand vor ihnen durch diese Strasse gegangen war. Die alles durchdringende Kälte füllte seine Lungen bei jedem Atemzug und es schien ihm, als würde der Wind einfach durch seine Skijacke hindurchwehen. Der Pater ging voran. Den Kopf geneigt, blickte er auf seine Schuhe. Er schien ein schweres Kreuz zu tragen.
Nach einigen hundert Metern bog er von der Hauptstrasse ab. Matter konnte die Tannenspitzen in der Dunkelheit vor ihnen erahnen. Hier gab es keine Strassenlampen mehr. Taschenlampen blitzten auf. Der Gemeindearbeiter gab eine Hermann und behielt eine für sich. Wachtmeister Gerber kramte eine weitaus kleinere aus seiner Jacke. Schweigend gingen sie weiter. Der Wind pfiff ihnen um die Ohren. Matters Füsse wurden immer kälter. Einzig Künzi schien die Kälte nichts auszumachen. Er ging aufrecht und liess den Kegel der Taschenlampe umherschweifen. Er musste ja die Kälte gewohnt sein, als Gemeindearbeiter verbrachte er sicher die meiste Zeit draussen. Durch die sich bewegenden Lichtpunkte fühlte sich die Dunkelheit plötzlich schwerer an, als sie eigentlich war. Als würde sie die Gruppe einkreisen. Als warte sie nur darauf, dass in den Taschenlampen die Batterie versagte. Der Wind pfiff zwischen den Tannen hindurch. Matter blickte über die Schulter. In einigem Abstand sah er die helleren Flecken der Strassenlaternen und dahinter erahnte er das Dorf. Kurz glaubte er, eine Stimme zu hören. Aber die anderen gingen einfach weiter. Dann blieb der Geistliche plötzlich stehen. Künzi und Gerber taten es ihm gleich.
»Hier ist es.«
Der Pater musste sehr laut reden, um den Wind zu übertönen. Er deutete mit dem Finger auf eine Stelle zwischen zwei Tannen. Hermann trat von einem Fuss auf den anderen und versuchte, seine Hände zu wärmen, indem er sie aneinanderschlug, was anscheinend nicht die gewünschte Wirkung brachte. Stiller war ebenfalls stehen geblieben. Seine Lippen bewegten sich, als würde er mit sich selbst reden. Gerber und Künzi schritten voran. Matter sah, wie ihre Taschenlampen im Schneetreiben im Rhythmus ihrer Bewegungen Lichtbahnen warfen, spürte, wie die Kälte in seine Nase drang und seine Lungen schmerzen liess. Der Wind nahm noch an Kraft zu. Wie kalt war es? Minus 14 Grad? Minus 20 Grad? Schnee wurde vom Boden aufgepeitscht und zeichnete Bewegungen ins blasse Licht. Künzi hatte den Ort erreicht, auf den der Pater gezeigt hatte. Matter sah ihn den Kopf schütteln, seine Taschenlampe hin und her bewegen. Gerber machte einige Schritte in Richtung der Tannen, kam dann aber zurück.
»Hier ist nichts!«, hörte er ihn rufen.
»Was?« Hermann setzte sich in Bewegung, gefolgt von Stiller. Nur der Pater blieb wie angewurzelt stehen.
»Hier ist nichts!«, wiederholte Künzi etwas lauter.
Matter ging näher heran. Im schwachen Schein der Lampen konnte er sich selbst davon überzeugen. Weit und breit keine Leiche. Gerber war in die Hocke gegangen und begutachtete den Boden.
»Hier hat etwas Grosses gelegen.« Künzi leuchtete die Stelle aus. Der Pater kam zögernd näher. Er wirkte gefasst, obwohl Matter hinter seiner Miene spürte, wie seine Gefühle den Gedanken nachjagten. Er drehte sich um die eigene Achse und blickte verwirrt um sich. Er schien mit der Situation überfordert zu sein. Ob er sich geirrt hatte? Immerhin war er nicht mehr der Jüngste.
Gerber ging neben Künzi in die Hocke.
»Weiss nicht. Etwas hat hier gelegen, aber ich kann nicht sagen, was es war.« Auch Matter trat nun näher. Der Abdruck, den man unter dem fallenden Schnee noch sehen konnte, erinnerte ihn an die Schneeengel aus seiner Kindheit. Damals hatten sie sich rückwärts in den Schnee fallen lassen und mit den Armen gewedelt, um die Flügel zu zeichnen. Nur hatte dieser Engel deutlich gebrochene Flügel.
Gerber leuchtete die unmittelbare Umgebung ab. Überall Fussspuren im Schnee. Welche zu wem gehörte, konnte wohl jetzt niemand mehr sagen. Künzi war aufgestanden.
»Und du bist sicher, dass es hier war? Ich meine, in dem Licht kann man sich täuschen.« Unglauben schwang in der Stimme mit.
»Nein, nein, es war hier! Und sie war tot ... schon ganz kalt!« Der Geistliche schlotterte. Er würde sich den Tod holen, wenn er in seiner Kutte noch länger draussen unterwegs war. Künzi sah Gerber an.
»Ich glaube, wir sollten das hier abbrechen.«
Hermann blickte sich hoffnungsvoll zum Dorf um, während er in seine Hände blies.
Gerber schien unentschlossen. Er liess den Lichtkegel weiter über den Schnee schweifen. Dann machte er einige Schritte in die Dunkelheit. Die Gruppe sah ihm nach, wie er sich entfernte. Schon nach wenigen Metern hatte der Sturm ihn eingehüllt. Lediglich der Lichtpunkt seiner Taschenlampe verriet, wo er sich befand.
»Und du bist sicher, dass sie es war?«
»Absolut. Sie war noch heute Morgen bei mir in der Kirche.«
»Von wem sprecht ihr denn eigentlich?«, wollte Hermann wissen.
Künzi nickte dem Pater zu.
»Von Pia Lechner. Da gibt es keine Zweifel.«
Matter blickte sich um. Er, der seit Tagen versuchte, eine Idee für sein neues Buch zu finden, bekam das Gefühl, gerade im ersten Kapitel zu stehen. Gerber kam zurück und schüttelte den Kopf.