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Hans Matter schreckte aus unruhigen Träumen hoch. Kein Laut drang zu ihm. Benommen drehte er den Kopf. Alles war noch da. Der Brief mit dem USB-Stick oben drauf, sein Notizbuch, sein Handy und selbst das Buch, das er gerade gelesen hatte. Mit etwas Mühe setzte er sich auf. Alles um ihn wirkte weltfremd. Als er sein Handy an sich nahm, durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Ihm war plötzlich klargeworden, wer den Mann umgebracht hatte. Und er hatte verschlafen ... Warum musste der anerkannte Schweizer Krimiautor Wolfgang König sterben? Ausgerechnet Hans Matter findet seinen Kollegen in dessen Landhaus tot auf. Peter Liechti von der Kripo Bern macht sich auf Spurensuche und merkt schon bald, dass nichts so ist, wie es scheint. Denn wer Opfer wird, kann auch Täter sein ... Dies ist der zweite Fall für Hans Matter und Peter Liechti und erschien zum ersten Mal 2014 unter dem Titel »Wolfsstunde«.
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Seitenzahl: 198
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Zum Buch
Warum musste der anerkannte Schweizer Krimiautor Wolfgang König sterben? Ausgerechnet Hans Matter findet seinen Kollegen in dessen Landhaus tot auf. Peter Liechti von der Kripo Bern macht sich auf Spurensuche und merkt schon bald, dass nichts so ist, wie es scheint. Denn wer Opfer wird, kann auch Täter sein ...
Dies ist der zweite Fall für Hans Matter und Peter Liechti und erschien zum ersten Mal 2014 unter dem Titel »Wolfsstunde«.
Zum Autor
Jean-Pascal Ansermoz wurde als Schweizer im September des Jahres 1974 in Dakar (Senegal) geboren. Er ist einer, der mit Leichtigkeit über den Röschtigraben springt, schrieb er doch bis 2009 nur in französischer Sprache. Weltenbürger, Romand und Deutschschweizer in einem: Ein Autor mit Hang zum Kriminellen aber auch zu Poetischem, Literarischem, Alltäglichem und Besonderem.
Mehr Infos unter: www.jeanpascalansermoz.ch
Impressum
Alle Rechte vorbehalten
© 2014-2020 Jean-Pascal Ansermoz
ISBN: 9783752640380
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Umschlaggestaltung & Satz: AZ Productions, Fribourg (CH)
unter Verwendung eines Bildes von shttefan/unsplash
Lektorat: Christiane Kathmann, www.lektorat-kathmann.de
Diese Geschichte ist frei erfunden. Alle Namen, handelnde Personen, Orte und Begebenheiten entspringen der Fantasie des Autors. Jede Ähnlichkeit mit real lebenden oder toten Personen, Ereignissen oder Schauplätzen ist völlig unbeabsichtigt und reiner Zufall.
Donnerstag 10.30 Uhr
Hans Matter schreckte aus unruhigen Träumen hoch. Der Morgen trug die Stille eines Wintertages, dabei war es schon Mitte März. Kein Laut drang zu ihm. Benommen drehte er den Kopf. Alles war noch da. Der Brief mit dem USB-Stick oben drauf, sein Notizbuch, sein Handy und selbst das Buch, das er gerade gelesen hatte. Mit etwas Mühe setzte er sich auf. Alles um ihn schien unwirklich. Als er sein Handy an sich nahm, durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Ihm war plötzlich klar geworden, wer den Mann umgebracht hatte.
Und er hatte verschlafen.
Es begann zu regnen, als er in aller Eile seine Wohnung verliess. Die nassen Partikel suchten sich wie in Panik geraten einen Weg durch das Grau der tief hängenden Wolken. Der Wind schien von überall her gleichzeitig zu kommen und Hans Matter wurde langsam, aber sicher trotz des aufgespannten Regenschirms nass.
Jede Stille beginnt mit einem Moment der Ungeduld. Matter stapfte seinem weissen Atem hinterher, die eine Hand bereits schmerzlos kalt den Schirm umklammernd, die andere tief in der Tasche seines Mantels vergraben, und dachte immer wieder daran, dass eigentlich bereits Frühling sein sollte. Sanftes Grün, schöne Blumen und die Wintermäntel, die man wieder im Keller verstauen konnte. Sie hatten versprochen, es würde wieder wärmer. Aber heutzutage versprach man vieles.
Der Name »Wolfgang König« stand auf dem Briefkasten, den Matter jedoch nicht weiter beachtete, denn es waren noch gut zweihundert Meter zum Haus hin und genau in dem Moment, als er das Grundstück betrat, schien der Wind noch an Stärke zuzunehmen. Seine Nase tropfte, der Himmel leckte und ihn fröstelte.
»Ich liebe den Frühling«, dachte er.
Matter war schon lange nicht mehr hier gewesen. Als Wolfgang den Hof gekauft und umgebaut hatte, war er einmal dorthin eingeladen worden. Haus- und Buchpremiere gleichzeitig. Der Herr König hatte schon immer einen gewissen Hang zur Selbstinszenierung bewiesen. Danach hatte sich ihr Kontakt auf unzählige Mails reduziert. Doch er erkannte das Haus ohne weiteres wieder. Aussen hatte sein Schriftstellerkollege nichts verändert, was auch gut so war, denn das ehemalige Bauernhaus war vor über einhundertfünfzig Jahren in einem typisch ländlichen Stil gebaut worden.
Matter schaute erst wieder auf, als er vor der Eingangstür stand. Den Schirm liess er offen, da das schmale Vordach ihn eher höhnisch verachtete, als ihm wirklichen Schutz gegen das Unwetter zu bieten.
Er klingelte, wobei ihm sein Rucksack von der Schulter glitt. Im letzten Moment hielt er den Tragriemen fest und behielt ihn dann in der Hand. Er blickte sich kurz um. Zu seiner Linken weite Felder, die, wie er wusste, zum ehemaligen Hof gehörten. Eine mannshohe Hecke umrahmte wie ein Schutzwall einen Gemüsegarten und schirmte die Terrasse notdürftig vor neugierigen Blicken ab. Auf der anderen Seite stand der grosse Schober mit den Landwirtschaftsmaschinen.
Nichts regte sich im Haus. Matter klingelte ein zweites Mal, trat dann einen Schritt zurück und musterte die Fenster im ersten Stock. Keine Bewegung hinter den weissen Vorhängen. Nicht einmal ein Jaulen als Reaktion auf sein Kommen war zu vernehmen. Matter machte seinen Regenschirm zu und klopfte diesmal lautstark an die Tür. Und diese gab nach.
Verunsichert blickte er sich noch einmal um, stiess sie dann mit dem Fuss gänzlich auf. Der Flur lag verlassen vor ihm. Er trat zögernd ein.
»Hallo? Wolfgang? Ist da jemand?« Er stellte den Schirm neben das Schuhmöbel und entledigte sich auch seines Rucksackes, um dann vorsichtig weiterzugehen.
»Ist da jemand?«
Die Stille erschien ihm mit einem Male unheimlich, zumal der Regen mit nicht nachlassender Gewalt gegen die Scheiben schlug, als wolle eine ganze Horde wilder Geister das Haus im Sturm nehmen. Nach wenigen Schritten blieb Matter stehen.
Tick-tick-tick-tick.
Leise, deutlich und regelmässig. Wolfgang hasste Uhren. Chronophobie. Angst vor der Zeit. Angst vorm Älterwerden. Matter versuchte das Geräusch zu orten und kam zu dem Schluss, dass es aus einem der ersten Zimmer kommen musste.
Vorsichtig blickte Matter durch den Türspalt und erschrak so sehr, dass er einen Schritt zurücktrat. Im Gegenlicht erkannte er jemanden, der vornüber gebeugt an einem Schreibtisch sass, den Kopf auf der Tastatur eines Computers, welcher das Ticken von sich gab.
Matter musste erst einmal leer schlucken, sah dann den Flur hinunter. Die Stille des Hauses schien nach ihm greifen zu wollen. Er atmete tief durch und näherte sich der Person.
Der graue Pullover hatte sich dunkel verfärbt. Dunklere Flecken zeigten an, wo die Einstichstellen waren. Der Schreibtisch war von Blut getränkt. Wolfgang König schrieb mit seinem Kopf eine sinnlose Zeichenfolge auf den Bildschirm. Ein Arm hing schlaff herunter, der andere lag unter dem vornüber gebeugten Oberkörper.
Vorsichtig trat Matter näher und tastete nach dem Puls. Der Hals war noch warm. Keine Regung war zu spüren. Was nicht unbedingt etwas heissen musste, denn er war ja kein Arzt. Matter berührte seinen Freund leicht an der Schulter, was zur Folge hatte, dass der Kopf von der Tastatur glitt. Matter machte einen Sprung zurück. Das Ticken hörte auf. Erst jetzt bemerkte er, dass sich auch am Boden eine Blutlache ausgebreitet hatte und er hineingetreten war. Sein Schuhabdruck war deutlich zu sehen. Die Gesichtszüge seines toten Kollegen zeigten Überraschung und Schmerz. Die Augen starrten ins Leere, als suchten sie dort die Antwort auf eine Frage.
Matter konnte seinen Blick nicht von König abwenden. So sehr er sich auch darum bemühte, es ging einfach nicht. Er stand unter Schock.
Irgendwo fiel eine Tür ins Schloss. Matter zuckte zusammen. Erst jetzt spürte er den Luftzug. War da noch jemand? Sein Blick glitt unruhig vom Toten zur Tür. Er musste nachsehen. Langsam bewegte er sich in Richtung Flur, blieb dann aber vor der offenen Tür stehen und horchte. Ganz schwach vernahm er das Surren der Geschirrwaschmaschine in der Küche. Aber wo war der Hund?
Er blickte noch einmal zu König zurück, trat dann entschlossen in den Flur hinaus.
Die Tür am Ende des Korridors, welche vorher noch offen gestanden hatte, war nun geschlossen. Matter überlegte fieberhaft, was er als Nächstes tun sollte, entschied sich dann nachzusehen. Sein Herz schlug immer schneller, als er sich der geschlossenen Tür näherte. Langsam streckte er seine Hand nach dem Knauf aus, hielt dann im letzten Moment inne, als er eine Bewegung am Rande seines Gesichtsfeldes bemerkte. Er blickte in das grosszügige Wohnzimmer. Die Schiebetür zur Terrasse stand offen. Der Wind trieb den Regen hinein und liess die Vorhänge tanzen. Und da verliess Matter der Mut. Schnell holte er sein Handy aus dem Rucksack und eilte zurück. Erst als er die Tür des Arbeitszimmers hinter sich geschlossen hatte, atmete er auf. Seine Finger glitten über den Bildschirm des Telefons.
»Liechti«, tönte es unwirsch.
»Hallo Peter, ich bin’s ...«, flüsterte Matter.
»Hans?« Die Stimme seines Freundes kam von weither. Er schien sich draussen aufzuhalten, denn Matter verstand schlecht, was er sagte. Zu viel Lärm im Hintergrund.
»Ich hab ein Problem ... bin bei König ...«
»Wem?«
»Wolfgang König.«
»Dem Schriftsteller?«
»Ja ... er ist tot ...«
»Was?«
»Tot. Ermordet. T.O.T.«
Im Schweigen, das folgte, hörte Matter, wie jemand die Eingangstür des Hauses öffnete. Sein Herz setzte für einen Moment aus. »Scheisse, da kommt jemand. Ich brauche Hilfe, schnell ...«
Er legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten und stellte sich mit dem Rücken neben die Tür. Schritte näherten sich im Flur. Dann hielten diese plötzlich inne. Sein Rucksack! Er hatte ihn im Eingang liegen lassen!
Donnerstag 10.45 Uhr
Peter Liechti hatte die Linie 12, die ihn von seinem Zahnarzttermin zurückbrachte, gerade am Bahnhofplatz verlassen, als das Handy in seiner Tasche zu vibrieren begann.
Seine Laune war nicht sonderlich gut, zumal seine rechte Backe langsam unter immer grösser werdenden Schmerzen zu erwachen begann. Und er hasste nichts mehr als Zahnschmerzen. Er hatte den Moment des Besuchs immer wieder hinausgezögert und bezahlte nun dafür. Liechti schalt sich einen Narren. Er war Kripobeamter und hatte mulmige Gefühle bei einem Zahnarztbesuch! Aber er mochte es einfach nicht, wenn ihm jemand im Mund herumfingerte.
Auf dem Bahnhofplatz herrschte reger Betrieb. Viel Lärm auf einer Baustelle nebenan. Die Sirenen eines Krankenwagens. Liechti musste sich sehr auf die Stimme aus dem Handy konzentrieren, denn er konnte fast nichts verstehen. Schnell schritt er auf die Rolltreppe zu, die in den Bahnhof führte. Doch da hatte Matter schon aufgelegt.
Der kurze Wortwechsel beunruhigte ihn. Matter war bei König und König war tot. Sein Freund war vielleicht in Gefahr. Schnell wählte Liechti den Notruf, während er durch den Bahnhof hastete, sagte, wer er war und warum er anrief, konnte jedoch die genaue Adresse nicht angeben. Die Leute sahen ihn neugierig an, als er telefonierend und rennend die Neuengasse durchquerte. In seinem Kopf ein dumpfes Pochen.
Er legte auf, rief dann seine Sekretärin Susanne Steiner an und gab ihr den Auftrag, die Adresse von König herauszusuchen und an die Kollegen von der Streife weiterzugeben. Als er den Anruf beendete, war er auch schon auf dem Waisenhausplatz und kam kurz darauf etwas ausser Atem in seinem Büro an.
»Die Adresse, schnell.«
Frau Steiner sagte nichts, aber ihr Blick verriet so einiges über ihre Gefühle. Wenn er so weiter machte, würde sie ihm sicherlich den Schweizer Knigge zum Geburtstag schenken.
Er lächelte ihr schuldbewusst zu.
»Matter ist vielleicht in Gefahr. Ein Mord, so wie es scheint«, versuchte er eine Erklärung.
Aber sie lächelte nicht zurück, gab ihm nur die Adresse.
»Danke, Frau Steiner, Sie ...«
»... sind mir eine grosse Hilfe. Ich weiss, ich weiss.«
Er grinste und war auch schon wieder im Flur. Mochte sie doch denken, was sie wollte. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal und hätte im Erdgeschoss fast Thomas Baumann über den Haufen gerannt, der auf den Fahrstuhl wartete.
»Ja, wenn das nid dr Liechti isch!«, gab Baumann gut gelaunt und im feinsten Berndeutsch von sich.
»Guten Morgen, Herr Baumann.«
»Wohin denn so schnell?«
»Notfall. Ich muss los.« Liechti hatte weder Lust noch Zeit seinem Vorgesetzten zu erklären, weshalb Matter ihn angerufen hatte.
»Genial. Ich komme mit!«
Baumann wartete nicht einmal ab, bis Liechti sich fassen konnte, und war schon an der Tür, die zur Tiefgarage führte.
»Kommen Sie?« Er blickte Liechti fragend an. »Sie können mir alles Wichtige unterwegs erklären«, fügte er aufmunternd hinzu, während er mit einer Hand die Tür aufhielt, um dann trotzdem vor Liechti ins Treppenhaus einzutreten.
Gemeinsam erreichten sie Liechtis Privatwagen in der Tiefgarage. Zeit zum Verhandeln blieb jetzt nicht. Das Gefühl, sein Freund befinde sich in Gefahr, liess Liechti nicht mehr los. Baumann nahm auf der Beifahrerseite Platz, Liechti gab die Adresse in den GPS-Empfänger ein und fuhr los. Sie würden etwas mehr als eine Viertelstunde brauchen. Zum Glück war der Morgenverkehr bereits vorüber und so erreichten sie schnell die Autobahn. Liechti gab Gas, während Baumann am Radio herumfingerte. Jeder Rundfunksender, den er einstellte, berichtete über die Papstwahl. Ein Argentinier. Liechti hatte sich am Vorabend durch sämtliche Fernsehprogramme durchgekämpft und nur mit Mühe und Not der direkten Übertragung vom Petersplatz in Rom entrinnen können. Baumann schaltete weiter zum nächsten Analysebericht, gab nach nicht mal einer Minute auf und stellte das Radio ab. Er seufzte und sah aus dem Fenster.
»Ein bisschen weisser Rauch, und die Welt ist gleich in Aufruhr. Sind Sie katholisch?«
Er blickte Liechti von der Seite an.
»Ja ... nein ... ich meine, auf dem Papier, ja.«
Baumann nickte, als hätte er die Antwort erwartet.
»Dann sind wir uns einig.« Liechti fragte sich, womit er sich einverstanden erklärt hatte, beliess es aber dabei.
»Ein Argentinier. Was halten Sie davon?«
»Ich denke, die Kardinäle wissen, was sie tun.«
»Das denke ich auch. Und niemand weiss wirklich, was da hinter verschlossenen Türen vor sich geht.«
»Muss man ja auch nicht.«
»Sie haben recht.«
Baumann sah aus dem Fenster, Liechti fuhr sich mit der einen Hand übers Gesicht. Seine Kopfschmerzen wurden immer stärker und sein Kiefer tat weh. Er verfluchte den Zahnarzt.
»Haben Sie Schmerzen?« Besorgter Blick Baumanns. »Sie sehen irgendwie krank aus.«
»Nichts Schlimmes. War heute Morgen vor der Arbeit beim Zahnarzt.«
»Das kenn ich. Aber das wird schon!«
Für kurze Zeit schwiegen beide. Liechti konzentrierte sich auf die Strasse, Baumann sah aus dem Fenster.
»Ich wollte mich noch bei Ihnen bedanken«, setzte Liechti an.
»Wofür denn?«
»Nun, dass ich intern wechseln durfte.«
»Sie arbeiten ja immer noch für dieselbe Abteilung.«
»Ich weiss, aber ich fühle mich einfach wohler im Fachbereich der Kriminalanalyse.«
»Ich hab’s gemerkt.« Baumann zwinkerte ihm zu. »Mordfälle sind etwas anderes. Man braucht eine gewisse Intuition und die haben Sie schon immer gehabt. Deswegen habe ich Sie ja auch damals an den Waisenhausplatz geholt.«
Liechti erinnerte sich daran. Baumann hatte sich für ihn eingesetzt, als er mit dem Studium noch nicht einmal fertig gewesen war.
»Vermisste suchen liegt mir einfach nicht ...«
»... und Tote brauchen auch Gerechtigkeit, ich weiss.« Sein Chef lächelte ihm wohlwollend zu.
»Wohin fahren wir denn eigentlich?«
»Ich erhielt eben einen etwas beängstigenden Anruf. Hans Matter ...«
»Ihr Schriftstellerfreund?«
Liechti nickte. »Er hat mich um Hilfe gebeten. Er ist bei einem seiner Kollegen, Wolfgang König.«
»Und?«
»Allem Anschein nach wurde dieser ermordet.«
Baumann pfiff anerkennend durch die Zähne.
»Ein Mord also!«
Liechti wusste nicht, was daran so lobenswert sein sollte.
»Das hat er mir jedenfalls gesagt.«
»Wo Rauch ist, ist auch Feuer. Grosses Papstehrenwort!«
Liechti schwieg. Baumann hatte manchmal einen eigenwilligen Humor.
»Das wird interessant. Hat eine gute Spürnase, der werte Matter. Freu mich, ihn wiederzusehen. Kann mir auf alle Fälle nicht schaden, wieder einmal an einem Tatort zu sein. So nach dem Motto back to the roots.«
Baumann wirkte fröhlich, Liechti machte das Radio wieder an und wechselte mit der Fernbedienung am Lenkrad auf einen lokalen Sender.
Musik erfüllte den Raum. The Doors.
Come on baby, light my fire ...
Wie konnte es auch anders sein.
Donnerstag 11.00 Uhr
Schon seit geraumer Zeit beobachtete er das Bauernhaus und davon konnte ihn auch der Regen nicht abhalten. Er hatte nicht lange warten müssen.
Zuerst war die Haushälterin gegangen, wie jeden Donnerstag. Und dann war da dieser Mann erschienen. Er hatte beobachtet, wie der Mann ankam und klingelte und dabei fast seinen Rucksack verlor. Hatte sehen können, wie er ins Zimmer trat und beim Schreibtisch stehen blieb, um dann wieder aus dem Zimmer zu verschwinden. Dann hatte er sich ein wenig strecken müssen, stand auf den Zehenspitzen im Regen, um einen Blick aufs Wohnzimmer zu erhaschen, dorthin, wo die grosse Fensterfront offen stand. Doch der Mann war wieder im Arbeitszimmer erschienen, hatte telefoniert. Dann kam die Haushälterin zurück und selbst aus dieser Distanz konnte er die Angst des Mannes förmlich spüren, als er hörte, wie die Tür zum Haus geöffnet wurde.
Kurz darauf hatte er sie schreien hören. Laut und schrill. Als würde das etwas ändern.
Er hatte beobachtet, wie sie gestenreich aufeinander einredeten. Der Mann hatte ihr das Handy gezeigt und sie sehr wahrscheinlich darüber informiert, dass er bereits die Polizei gerufen hatte. Ein Streifenwagen fuhr kurze Zeit später vor. Zwei Beamte in Uniform gingen ins Haus. Er sah sie im Arbeitszimmer erscheinen. Der eine kam zum Fenster und schaute hinaus, während der andere mit dem Mann und der Haushälterin diskutierte.
Der Mann verschwand wieder im Korridor und kam mit seinem Rucksack zurück, aus dem er etwas holte. Der zweite Beamte trat ebenfalls in den Flur und erschien nur Sekunden später im Wohnzimmer. Er ging auf die Terrasse und blickte sich um. Einen kleinen Augenblick befürchtete er, der Polizist könnte ihn sehen. Doch der Ordnungshüter blieb nicht lange im Regen stehen, sondern drehte sich um und ging zurück ins Haus. Im Zimmer mit dem Toten wurde heftig geredet. Die Frau hatte sich gesetzt, der Mann ging nervös auf und ab.
Er hatte ihn schon einmal gesehen, konnte sich aber in diesem Moment nicht mehr erinnern, bei welcher Gelegenheit das gewesen war. Das würde ihm schon noch in den Sinn kommen. Er hatte eigentlich nicht mit ihm gerechnet. Aber das Leben brachte nun einmal Unvorhergesehenes mit sich. Daran hatte er sich auch zuerst gewöhnen müssen. Er konnte nicht alles beherrschen, nicht wirklich alles kontrollieren. Noch nicht.
Während der nächsten zehn Minuten blieben alle vier im selben Raum und ihm wurde langsam kalt. Seine Jacke liess die Feuchtigkeit durchsickern, seine Haare waren längst völlig nass. Der Regen lief ihm in den Nacken und über den Rücken. Der Wind hatte noch an Stärke gewonnen und kräftige Windstösse zerrten an seinen Nerven. Was zu Beginn noch ein wohliges Gefühl gewesen war, bekam nun einen bitteren Beigeschmack.
Schliesslich, als er bereits gehen wollte, fuhr ein dunkler Privatwagen vor. Auch diesem entstiegen zwei Männer, allerdings nicht in Uniform. Der Beifahrer rettete sich augenblicklich vor dem Regen ins Haus, während der Fahrer sich Zeit nahm, das Haus und die Umgebung zu begutachten, bevor er dem anderen folgte.
In wenigen Minuten würde es hier nur so vor Polizei wimmeln. Er musste sehen, dass er wegkam. Bevor jemand ihn bemerkte. Bevor er sich eine kräftige Grippe holte.
Ein letztes Mal blickte er zum Haus hinüber, dann verliess er seinen Beobachtungsposten.
Donnerstag 11.15 Uhr
Einige Tage vor dem Ende seiner Polizeikarriere sass Anton Fuchs an seinem Schreibtisch, starrte auf den Berg Papierkram, den es zu erledigen galt, und spielte gedankenverloren mit einem Kugelschreiber. Er war allein im Büro.
Noch sieben Tage.
Als ihm Thomas Baumann vor einigen Monaten das Angebot gemacht hatte, in Frührente zu gehen, hatte er zuerst einmal leer geschluckt. Natürlich hatte er schon mit der Idee gespielt. Aber so schnell? Mehrere Tage hatte er den Vorschlag überdacht und ihn schliesslich angenommen. Aus der anfänglichen Angst war schliesslich Gewissheit geworden. Das Ende seiner Polizeikarriere war nur der Anfang von etwas Neuem. Das wusste er mit inniger Überzeugung. Er fragte sich nur, von was. Etwas musste er machen. Allein der Gedanke an ganze Tage voller unzähliger Stunden, die es totzuschlagen galt, machte ihm mehr Angst als eine Gruppe stark bewaffneter Eliteterroristen in einer Schweizer Bank. Und trotzdem wurde er sentimental, wenn er sich umblickte. Sein ganzes Leben steckte in diesen Mauern. Er hatte nie etwas anderes gemacht. Und jetzt ...
So mussten sich wohl Häftlinge fühlen, die nach einer langen Freiheitsstrafe entlassen wurden. Er schüttelte den Kopf, starrte auf seine Finger, die den Kugelschreiber malträtierten. Dann legte er diesen entschlossen auf den Tisch vor sich ab und wollte gerade nach der ersten Akte greifen, als das Telefon klingelte.
»Fuchs?«
»Guten Tag, Herr Fuchs, Steiner hier. Herr Liechti möchte Sie sprechen.«
Fuchs hörte im Hintergrund Steiners zweites Telefon klingeln.
»Darf ich durchstellen?«
»Natürlich, danke.«
Klick.
»Fuchs?«
»Guten Tag, Herr Fuchs. Wir brauchen Verstärkung. Ist Andreoli schon da?«
»Nein, den hab ich heute noch nicht gesehen.«
»Wir haben hier einen Mord. Wir brauchen einen Arzt, Spurensicherung, Fotograf und den Leichenbestatter an die Adresse von Wolfgang König, dem Schriftsteller.«
»Geht klar, natürlich, ich kümmere mich darum.«
»Und bringen Sie Andreoli mit, sobald er da ist.«
»Bis gleich.«
»Bis gleich.«
Das Gespräch wurde unterbrochen. Fuchs blickte konzentriert auf den Hörer in seiner Hand. Etwas sagte ihm plötzlich, dass seine letzten Tage bei der Kripo Bern nicht so ruhig sein würden, wie er sich das eigentlich vorgestellt hatte.
Donnerstag 11.50 Uhr
Rolf Andreoli und Anton Fuchs erreichten das Haus von Wolfgang König zeitgleich mit Christophe Blanc, dem Polizeiarzt. Andreoli parkte seinen einfachen Renault hinter der teuren Limousine Blancs, als der Rechtsmediziner aus seinem Wagen stieg und sie mit einer knappen Handbewegung grüsste, um dann eiligen Schrittes vor dem Regen ins Haus zu fliehen.
Andreoli stellte den Motor ab. Fuchs hatte sich nicht gerührt und blickte in den nachlassenden Regen hinaus. Ein Polizist in Uniform stand vor der Haustür und blickte zu ihnen herüber. Er zählte sechs Autos und eine Ambulanz. Sie waren sehr wahrscheinlich die Letzten am Tatort. Aber das war es nicht.
Andreoli blickte seinen Kollegen von der Seite an.
»Alles klar?«
»Was?« Fuchs zuckte zusammen. »Ja, alles gut.«
Sie stiegen aus, zeigten dem Uniformierten ihre Ausweise und wurden eingelassen. Im Flur arbeiteten bereits die Kollegen von der Spurensicherung. Aus dem ersten Zimmer links drang ein dumpfes Stimmengewirr. Fuchs liess Andreoli vor. Die Tür am Ende des Flurs war zu. Es war kalt im Haus. Als sie das Zimmer betraten, herrschte reges Treiben. In einer Ecke standen Liechti, Baumann und Matter. Etwas weiter hatte sich Blanc Handschuhe übergestreift und begann, den Toten zu untersuchen. Zwei Kollegen von der Spurensicherung warteten auf ihren Einsatz. Der Fotograf verliess das Zimmer. Fuchs grüsste in die Runde.
»Ah, da seid ihr ja!« Baumann blickte auf. »Kommt, wir gehen nach nebenan.«
Sie überliessen das Zimmer den Kollegen, gingen den kurzen Flur entlang und gelangten ins Wohnzimmer, wo eine schluchzende Frau auf einem Sofa sass, ein weisses Taschentuch in der Hand. Ein Polizist in Uniform war bei ihr und blickte auf, als sie eintraten. Weil er neben ihr so gross war, wirkte sie so klein. Und es war deutlich zu erkennen, dass ihr die ganze Situation zu schaffen machte. Von Tränen gerötete Augen, hängende Schultern, ein leerer Blick.
»Frau Zumbrunnen, ich danke Ihnen für Ihre Geduld«, begrüsste Baumann die Frau in einem Ton, der sowohl tröstend als auch aufmunternd sein sollte. Sie reagierte nicht, starrte indessen auf das Taschentuch, das sie in den Händen hielt.
»Das hier sind meine Kollegen Fuchs und Andreoli. Sie kennen ja bereits die Herren Liechti und Matter.«
Liechti nickte dem Uniformierten zu, welcher den Raum verliess, Matter setzte sich auf das Sofa. Fuchs blieb stehen und Andreoli begann, im Wohnzimmer auf und ab zu gehen. Die Inneneinrichtung war einfach und hell gehalten. Zwei Sessel, zwei grössere Sofas, die um einen eckigen Glastisch arrangiert waren. Auf einen der Sessel setzte sich nun Baumann, Frau Zumbrunnen gegenüber. Ein dicker Teppich, ein flacher Bildschirm an der Wand, eine Bibliothek. Vorwiegend Krimis, einige Klassiker, thematische Nachschlagewerke und Wörterbücher.